Katholische und evangelische Ethik im Nebeneinander

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Protestantismus
Katholizismus
Orthodoxie
Ökumene
Mai / Juni
59. Jahrgang
MATERIALDIENST
des Konfessionskundlichen I n s t i t u t s Bensheim
03/2008
LEITARTIKEL
V o n der Ö k o n o m i e der einen Ethik
zur Ö k u m e n e der Ethiken! 0 4 5
Reiner
Themenheft:
Ökumenische Ethik
Marquard
HAUPTAUFSÄTZE
Chancen u n d Grenzen ökumenischer
Sozialethik 0 4 7
Ulrich
H. J.
Körtner
Ö k u m e n i s c h e Ethik? o 5
Karl-Wilhelm
4
Merks
Katholische u n d evangelische Ethik im
Nebeneinander - fördernd oder h e m m e n d
für den Ethikdiskurs? 0 5 9
Hartmut
Kreß
Philosophische Perspektive auf die augenblick­
liche Diskussionslage zwischen evangelischer
u n d katholischer Ethik a m Beispiel der
Stammzellenforschung 0 6 5
Nikolaus
Knoepffler
„Gerechtigkeit e r h ö h t ein Volk" 0 7 i
Peter
Dabrock
INFORMATIONEN
REZENSIONEN
078
0 7 9
säkularisierten Welt. Bezüglich der a n d e r e n Religionen m u s s die
sitionen. Die Welt geht nicht unter, w e n n katholische u n d evangeli­
Religionen
sche Kirchen zu gesellschaftlichen Problemen auch mal unterschied­
und moderner Welt auf sich n e h m e n , i n d e m sie auf G r u n d ihrer eige­
liche Positionen e i n n e h m e n . Schließlich ist es eine gemeinsame
nen historischen Erfahrungen die möglichen Ü b e r e i n s t i m m u n g e n
christliche Überzeugung, dass das Sittliche zwar z u m Unbedingten,
zwischen religiösen Traditionen u n d säkularer Ethik aufzeigt.
aber doch z u m Vorletzten gehört.
christliche Theologie die Rolle einer Vermittlerin
zwischen
5. Ein letztes Stichwort heißt: Berechtigung des Pluralen. Dies gilt
vor allem u n d gerade in heißumstrittenen konkreten moralischen P o ­
Katholische und
evangelische Ethik im
Nebeneinander - fördernd
oder hemmend für den
Ethikdiskurs?
1
Professor
Dr.
Karl-Wilhelm
Merks,
Bonn/Tilburg
führt in bestimmter Hinsicht in die Irre. Ähnliches gilt für den Begriff
„Ökumenische Ethik", der z u m M o t t o dieser T a g u n g geworden ist.
D e n n der Begriff der Ö k u m e n e ist z u r Projektionsfläche ganz unter­
schiedlicher Anschauungen geworden, die v o n der „versöhnten Ver­
schiedenheit" bis zur derzeit sogenannten Ö k u m e n e der Profile rei­
chen. Insofern ist unklar, worauf das W o r t „ökumenische Ethik" prä­
zis abzielt. Keinesfalls wird m a n konfessionsübergreifend v o n „öku­
menischer" oder „christlicher Ethik" sprechen k ö n n e n , so als h a n d e ­
le es sich u m ein einheitliches Gebilde. Schon allein die protestanti­
sche Ethik ist für sich g e n o m m e n plural; u n d für die katholische M o ­
rallehre gilt dies trotz der Vorgaben durch das zentrale Lehramt letzt­
lich ebenfalls. Nicht weniger plural sind die jüdische, islamische u n d
Von
Hartmut
o h n e h i n die philosophische Ethik zu begreifen. Jedenfalls sollte m a n
Kreß
das V o r h a n d e n s e i n einer einheitlichen oder in sich geschlossenen
„christlichen" oder „ ö k u m e n i s c h e n " Ethik begrifflich gar nicht erst
suggerieren. Der Sache nach ist viel bescheidener zu überlegen, in
welchem M a ß eine Kooperation - u n d zwar eine möglichst aktive,
Als ich im Wissenschaftlichen Beirat des Konfessionskundlichen In­
konstruktive Kooperation - zwischen d e n verschiedenen katholi­
stituts 2007 auf den Gedanken kam, das Erscheinen des „ H a n d b u c h s
schen u n d den u n t e r e i n a n d e r divergierenden evangelischen Ethik­
2
der christlichen Ethik" im Jahr 1978 z u m Anlass zu n e h m e n , dass die
ansätzen vorstellbar ist.
Tagung des Jahres 2008 z u m Stand interkonfessioneller Ethik eine Bi­
In diesem Sinn wende ich mich n u n in einem ersten Schritt der
lanz zieht, w u r d e dies ad h o c sehr z u s t i m m e n d a u f g e n o m m e n - was
Frage zu, inwiefern die Initiative von 1978, in einem ethischen H a n d ­
m i r selbst gar nicht so recht war; d e n n mein Vorschlag hatte u n d h a t
buch interkonfessionell zu kooperieren, d e r Sache nach wegweisend
eine Kehrseite. I m Kern ist meines Erachtens eine negative Bilanz zu
war. Es soll m i r zunächst u m potentielle Perspektiven oder anders ge­
ziehen. V o r 30 Jahren war das „ H a n d b u c h der christlichen Ethik", in
sagt: u m vertane C h a n c e n eines evangelisch-katholischen Ethikdia­
dem sich evangelische sowie katholische Beiträge finden u n d das von
logs gehen. Aus meiner Sicht vermögen eine Kooperation u n d der
Fachvertretern beider Theologien herausgegeben w u r d e , bei all sei­
Dialog zwischen katholischer u n d protestantischer Ethik theoretisch
n e n konzeptionellen Schwächen u n d inneren Brüchen als zukunfts­
die Chance zu eröffnen, die Stärken beider Traditionslinien z u s a m ­
weisend anzusehen. Seitdem h a t sich gezeigt, dass für einen k o n s ­
menzuführen. U m dies zu verdeutlichen, spreche ich an, in welcher
truktiven Dialog zwischen katholischer u n d evangelischer Ethik rela­
Hinsicht die protestantische v o n der katholischen Ethik profitieren
tiv wenig Spielraum u n d k a u m wirkliche Perspektiven übrig geblie­
k ö n n t e (der gleiche Gedankengang ließe sich fraglos auch in u m g e ­
ben sind. Klassisch gab es eine sogenannte Kontroverstheologie zu
kehrter Blickrichtung entfalten).
T h e m e n der Dogmatik. H e u t e h a t sich zwischen den christlichen
Konfessionen geradezu eine Kontrovers-Ethik etabliert. Dies ist wohl
auch im Licht dessen zu verstehen, dass ethische T h e m e n in den
1. Stärken katholischer Ethik in protestantischer
VV ahrnehmung
theologischen u n d vor allem in den kirchlichen Debatten teilweise ge­
radezu dogmatisiert w o r d e n sind. Die Entwicklung, dass sich inter­
1,1.
Güterabwägungen
konfessionell eine Art Kontrovers-Ethik ausgebildet hat, ist schon für
Die „starken" Seiten katholischer Ethik, die für die protestantische
sich g e n o m m e n zu bedauern. N o c h problematischer ist es, dass dies
Ethik m.E. von h o h e m sachlichen Interesse sind, beruhen darauf, dass
den Ethikdiskurs in unserer Gesellschaft generell belastet. Hierauf
k o m m e ich noch zurück.
Sofern G r u n d bestehen sollte, andere Akzente zu setzen u n d mei­
ne skeptische Bilanz zu korrigieren, fände ich dies überaus erfreulich.
Vorab sei aber noch folgendes festgehalten: Der Titel des damali­
gen Sammelwerkes v o n 1978 - „ H a n d b u c h der christlichen Ethik" -
1
Ü b e r a r b e i t e t e Fassung des Referats a u f d e r 52. E u r o p ä i s c h e n T a g u n g für Konfessi­
o n s k u n d e ü b e r „ Ö k u m e n i s c h e E t h i k " a m 29.02.2008 in B e n s h e i m .
2
A n s e l m H e r t z u. a. ( H g . ) , H a n d b u c h d e r christlichen Ethik, 3 B ä n d e , Freiburg/Br.
u n d G ü t e r s l o h 1978ff, N e u a u s g a b e 1993.
HAUPTAUFSÄTZE
// 0 5 9
die katholische Morallehre auf eine lange Tradition der Theorie ethi­
Erstaunlich ist indessen - und dies höre ich gerade auch von Me­
scher Vernunft zurückblicken kann, zu der die Begriffe Klugheit oder
dizinern u n d von Juristen - , dass ehemals sogar der Papst selbst im
Epikie oder der Rekurs auf den Syllogismus der praktischen Vernunft
U m g a n g mit d e m menschlichen Leben Güterabwägungen v o r n a h m ,
gehören. Die katholische Morallehre hat jahrhundertelang Güterab­
wohingegen die jetzige katholische Kirche zu den T h e m e n , die das
wägungen eingeübt u n d Wertvorzugsregeln durchdacht. Dies sei in
menschliche Leben, den Lebensbeginn u n d das Lebensende betreffen,
der materialethischen Konsequenz an einem medizinischen Beispiel
vor allem V e r b o t s n o r m e n errichtet. Hierzu gehören das Verbot der
veranschaulicht, für das ich nicht auf ein akademisches V o t u m , son­
künstlichen Befruchtung, das 1987 in der Instructio „ D o n u m vitae"
dern auf die Ä u ß e r u n g eines offiziellen kirchlichen Amtsträgers
ausgesprochen wurde, oder das Verbot hormoneller Kontrazeptiva
zurückgreife. In den Jahren 1957 u n d 1958 hat Papst Pius XII. das
bereits in „Hurnanae vitae" (1968), das faktische Verbot h u m a n e r
Denkmodell der Güterabwägung an einer besonders sensiblen Ein­
embryonaler Stammzellforschung, das Verbot der Beendigung künst­
zelfrage vor Augen geführt, nämlich der indirekten Sterbehilfe, die er
licher E r n ä h r u n g beim apallischen Syndrom u n d vieles andere. Wa­
für bestimmte Fälle legitimierte.' Sein Gedankengang w u r d e danach
r u m - so fragt m a n sich - hat sich die katholische Seite eigentlich von
in der Ethik, der Rechtswissenschaft u n d der Medizin oft zitiert. Bei
ihrer Tradition der Güterabwägung u n d der Wertvorzugsregeln so
indirekter Sterbehilfe geht es d a r u m , dass das Leben eines Schwerst­
nachdrücklich verabschiedet und w a r u m denkt sie jetzt stattdessen so
kranken bzw. Sterbenden nicht unter allen U m s t ä n d e n aufrecht er­
stark in der Kategorie von Verbotsnormen? Und wäre es nicht gera­
halten oder künstlich verlängert werden muss. Gegebenenfalls dürfen
dezu die Aufgabe der protestantischen Ethik, die katholische Seite an
Schmerzmittel gegeben werden, die sein Leben eventuell abkürzen.
ihre eigene, argumentativ überaus überzeugungsfähige Überlieferung
Seinerzeit hatte der Papst die indirekte Sterbehilfe - heute wird sie
zu erinnern?
präziser u n d korrekter als indirekt-aktive Sterbehilfe bezeichnet - ak­
zeptiert, weil er in b e s t i m m t e n Situationen die Schmerz- u n d Lei­
1.2. Überwindung
partikularer
Argumentationsstrukturen
denslinderung für höherrangig hielt als die Lebenserhaltung, so dass
Mit der letzten Frage ist gegenüber der aktuellen katholischen Moral­
durch die Gabe von Opiaten eine Lebensabkürzung in Kauf g e n o m ­
lehre bereits Kritik angedeutet worden, die ich an späterer Stelle wie­
m e n werden darf. Für diese Überlegung war methodisch leitend, dass
der aufgreifen werde. Zunächst kehre ich aber zu m e i n e m Gedanken
es ethisch erlaubt ist, das kleinere Übel zu wählen. Hierfür k o n n t e
zurück, der besagt, dass eine Kooperation zwischen evangelischer und
sich der Papst auf die alte katholische Lehre von der actio duplici ef-
katholischer Ethik eigentlich überaus konstruktiv sein k ö n n t e . D e n n
fectus stützen. Eine unerwünschte Nebenfolge, die als solche nicht in­
sie k ö n n t e daraufhinauslaufen, die Stärken der jeweils anderen Seite
tendiert war - in diesem Fall: der T o d des Menschen durch die Me­
zu rezipieren, z.B. auf evangelischer Seite das Verfahren der Güterab­
dikamente, die der Arzt gibt - darf in Kauf g e n o m m e n werden, weil
wägung. Das gleiche ist im Blick auf die Sozialprinzipien der katholi­
diese Nebenfolge nicht beabsichtigt war u n d weil das Gut, das ange­
schen Soziallehre zu sagen: Auch sie hätten protestantisch entschlos­
strebt w u r d e - hier: die Schmerzlinderung - größeres Gewicht be­
sener ü b e r n o m m e n werden sollen. Klassisch k e n n t die katholische
4
Gesellschaftslehre vier ethische Prinzipien: das Personprinzip, Solida­
Ein solcher Argumentationstyp, die Güterabwägung, stellt in der
rität, Subsidiarität, das Gemeinwohlprinzip; seit den 1990er Jahren ist
neueren evangelischen Ethik weitgehend einen F r e m d k ö r p e r dar.
die Nachhaltigkeit (als sogenanntes Retinitätsprinzip) h i n z u g e k o m ­
sitzt.
Dies liegt daran, dass m a n c h e evangelisch-theologischen D e n k m o ­
men. Diese Sozialprinzipien zeichnen sich datJurch aus, im Horizont
delle, vor allem im Gefolge der Wort-Gottes-Theologie Karl Barths
praktischer Vernunft plausibilisierbar und verallgemeinerungsfähig
u n d der Lehre von der Glaubensanalogie, sich den Zugang zu ratio­
zu sein. Sie sind gerade nicht exklusiv theologisch u n d nicht partiku­
nalen n o r m a t i v e n Abwägungen versperrt haben. Eine Kooperation
lar christlich gemeint. Die Resonanz, die das Werk Oswald von Neil-
zwischen protestantischer u n d katholischer Ethik hätte dazu führen
Breunings und das Subsidiaritätsprinzip fanden' , zeigt, dass sie
k ö n n e n , dass sich die protestantische Seite ihrerseits zielstrebiger auf
tatsächlich über die katholische Theologie hinaus ausgestrahlt haben.
die Logik ethischer Güterabwägungen u n d Wertvorzugsregeln hätte
Der Impuls der katholischen Soziallehre, allgemein rational u n d uni-
einlassen k ö n n e n . Ihrer Anschlussfähigkeit an den m o d e r n e n Ethik-
versalisierbar zu argumentieren, verdient Beachtung - auch auf Sei­
u n d Rechtsdiskurs wäre es zweifellos zugute g e k o m m e n , wenn sie
ten der protestantischen Ethik. Charakteristisch ist es, dass es im
1
diese „starke" Seite der katholischen Tradition entschieden sowie
„ H a n d b u c h der christlichen Ethik" von 1978 ein katholischer Autor
frühzeitig integriert hätte.
war, der a n m a h n t e , die theologische Ethik solle im Verhältnis zum
Da ich soeben der Sache nach die indirekte Sterbehilfe angespro­
chen habe, ergänze ich, dass sich die konkrete medizinethische P r o ­
allgemeinen Ethikdiskurs ihre argumentative
Anschlussfähigkeit
wahren bzw. wiederfinden u n d argumentative Partikularismen über­
blematik inzwischen verschoben hat. D a n k des Fortschritts in der
winden. Aus gutem G r u n d h o b er hervor: „[...] die theologische Ethik
Pharmakologie u n d der Schmerzforschung wird man es heute ärztli­
verliert den Anschluss an die durch sie selbst initiierte neuzeitliche
cherseits k a u m noch in Kauf zu n e h m e n b r a u c h e n , bei einem Men­
Vernunft- u n d Freiheitstradition. Glaubens- u n d Lebenswelt treten
schen ungewollt das Leben abzukürzen, u m seine Schmerzen zu lin­
auseinander [...]. Dem expliziten christlichen Ethos droht [...] die Ge­
dern. Stattdessen sind andere Fragen zu durchdenken, u. a. die pallia­
fahr, seine Universalität zu verlieren, in den Verdacht eines bloßen
tive Sedierung, die auch als terminale oder finale Sedierung bezeich­
t h e o n o m e n Moralpositivismus zu geraten u n d so zur bloßen Binnen­
net wird." Die M e t h o d e der Güterabwägung, die Pius XII. vor 50 Jah­
moral zu degenerieren". Diese Gefahren des Verlustes der Anschluss­
ren in Bezug auf die indirekte Sterbehilfe vor Augen führte, muss sich
fähigkeit u n d der Reduktion theologischer Ethik auf eine B i n n e n m o ­
gegenwärtig an zahlreichen medizinischen Sachverhalten bewähren,
ral haben sich inzwischen verstärkt, u n d zwar für die katholische
die ganz anders gelagert sind als damaligen Problemkonstellationen.
Ethik, aber gleicherweise für die evangelische Ethik.
Sie reichen von der künstlichen Befruchtung und der h u m a n e n em­
bryonalen Stammzellforschung bis zur Transplantationsmedizin oder
1.3. Reflexion von
Handlungsnormen
den verschiedenen F o r m e n der Sterbehilfe, die in der heutigen De­
Konzeptionell war die katholische Moral- oder Soziallehre seit lan­
batte im Vordergrund stehen.
gem davon geprägt, n o r m a t i v zu argumentieren - mit der schon er-
()6l>
II
HAUPTAUFSÄTZE
MD
0
3/08
wähnten Konsequenz, Güterabwägungen v o r z u n e h m e n - u n d Nor­
klika „Veritatis splendor" (1993) zu n e n n e n . Auf Einzelheiten der
men bereichsspezifisch auszudifferenzieren. Die evangelische Theolo­
verschiedenen D o k u m e n t e kann ich nicht eingehen. Insgesamt laufen
gie zumindest des 20. Jahrhunderts weist in dieser Hinsicht Desidera­
sie darauf hinaus, die Gewissensfreiheit, die Forschungsfreiheit u n d
te auf. N o c h in neuerer Zeit fällt auf, dass Kriterien u n d N o r m e n im
die Lehrfreiheit katholischer Theologen, namentlich auch katholi­
Blick auf Bereichsethiken oder Anwendungsprobleme, z. B. zur öko­
scher Moraltheologen oder Ethiker, stark einzuengen. Ihnen zufolge
logischen Ethik, zur intergenerationellen Ethik oder zu ethischen Fra­
sind katholische Theologen zur „Unterwerfung" oder z u m „Glau­
gen des Gesundheits- oder des Bildungswesens, viel zügiger auf ka­
bensgehorsam" gegenüber der lehramtlich vertretenen ethischen Auf­
8
tholischer Seite entwickelt worden sind ; die evangelische Ethik hink­
te häufig hinterher. Dasselbe gilt für das Anliegen, den Gerechtig­
fassung verpflichtet.
Demgegenüber seien ihre individuellen Freiheitsgrundrechte, zu
keitsbegriff fortzuentwickeln. Die allgemeine Ethikdiskussion kon­
denen
zentriert sich inzwischen auf eine fortgeschriebene Gerechtigkeits­
gehören, nachrangig. Das Lehramt besitze das Recht u n d die Pflicht,
idee, nämlich die partizipative Gerechtigkeit oder Beteiligungs- u n d
gegenüber einem Theologen „beschwerliche M a ß n a h m e n " zu ergrei­
Befähigungsgerechtigkeit. Hierzu haben in der Vergangenheit neben
fen, darunter den Entzug der Lehrbefugnis. In der „Hierarchie der
Philosophen (Martha N u s s b a u m ) oder Ö k o n o m e n (Amartya Sen)
Rechte" stehe die vom Lehramt verwaltete W a h r h e i t höher als die
ebenfalls katholische Stimmen Impulse gesetzt. Bei den Debatten
Freiheit des Einzelnen."
die
Gewissens-,
Meinungs-
oder
Wissenschaftsfreiheit
1
über ethische N o r m e n - sei es in grundsätzlicher Hinsicht oder im
Die Enzyklika „Veritatis splendor" verurteilt sodann namentlich
Anwendungshorizont - spielen katholische oftmals eine größere Rol­
einige Moraltheorien, die mit der katholischen Lehre nicht vereinbar
le als protestantische Autoren. Ein H i n t e r g r u n d wird darin zu sehen
seien, insbesondere die teleologische Ethik, also eine Ethiktheorie, die
sein, dass sich die evangelische Ethik im 20. Jahrhundert, insbesonde­
an Handlungsfolgenabschätzungen interessiert ist." Innerkatholisch
re im Anschluss an das Werk Karl Barths, dem Diskurs über N o r m e n
ist hiermit ein Verdikt über den Ethikansatz ausgesprochen worden,
u n d Werte weitgehend entzogen hat, und zwar auch dadurch, dass sie
der z. B. von dem Bonner katholischen Moraltheologen Franz Böck-
normative oder wertethische Reflexionen mit Hilfe des Schlagworts
le vertreten worden ist. Aus protestantischer Sicht ist dies sehr zu be­
einer „Tyrannei der Werte" abwies." So gesehen hätte die evangelische
dauern; denn Böckles a u t o n o m e Morallehre u n d seine Sicht der
Seite von einer Kooperation mit katholischer Ethik dahingehend pro­
Handlungsfolgenabschätzung sind mit protestantischen Positionen
fitieren können, dass sie eigene Engführungen hätte überwinden und
besonders gut vereinbar, insoweit protestantische Ethikansätze sich
in der Konsequenz sogar wesentliche Einsichten ihrer eigenen Theo­
auf die Idee der A u t o n o m i e bei Kant oder auf den Gedanken der Ver­
riegeschichte zügiger hätte wiederentdecken k ö n n e n . D e n n vor zwei­
antwortungsethik im Sinn Max Webers stützen. Als Alternative rück­
h u n d e r t Jahren war es der protestantische Theologe Friedrich Schlei­
te die Enzyklika die deontologische moraltheologische Theorie ins
ermacher gewesen, der die Ethik konzeptionell als Güterlehre ver­
Z e n t r u m , der zufolge bestimmte H a n d l u n g e n in sich selbst schlecht
stand. Für eine abwägungsoffene, kulturphilosophisch angelegte,
(intrinsece m a l u m ) seien. Zu den H a n d l u n g e n , die als intrinsece
ethische N o r m e n sowie den normativen Wandel aufartleitende Ethik
lum gelten u n d daher verboten sind - zum Teil sogar explizit „abso­
bietet sein Werk Ansatzpunkte, die wieder neu w a h r z u n e h m e n sich
lut" verboten sind - , gehören die hormonelle Kontrazeption, die
lohnt.
künstliche Empfängnisverhütung, gleichgeschlechtliches Verhalten
ma-
Damit gelange ich zu einem ersten Fazit. Stärken der katholi­
oder der Schwangerschaftsabbruch. Auf dieser Basis hat der Vatikan
schen Ethik sehe ich darin, in der Logik von Wertvorzugsregeln u n d
nach 1998 bekanntlich dann den Ausstieg der deutschen katholischen
ethischen Abwägungen zu denken, auf Universalisierbarkeit zu setzen
Kirche aus der gesetzlich geregelten
u n d n o r m a t i v e Kriterien zu entwickeln. Im Gegenzug setzen genau
tung durchgesetzt. Auf der gleichen Linie liegt das Verbot der In-
Schwangerschaftskonfliktbera­
an dieser Stelle jedoch auch meine skeptischen Bemerkungen u n d
vitro-Fertilisation, das die Kongregation für Glaubenslehre im Jahr
Abgrenzungen ein. D e n n spätestens seit den 1990er Jahren taucht
1987 ausgesprochen hatte, und zahlreiches anderes.
eine alte Problematik katholischer Morallehre wieder auf: Der Rekurs
U m diese Entwicklung genauer zu charakterisieren, greife ich
auf N o r m e n d r o h t in ein kirchlich-autoritatives, klerikales Verständ­
eine katholisch-kirchenrechtliche Interpretation auf. Ihr zufolge hat
nis von N o r m e n umzuschlagen; er kippt in einen Normativismus
das Lehramt den Umfang der Lehren, die als unverrückbares Glau­
u m , der ethische Kompromisse oftmals faktisch ausschließt. Ich hatte
bensgut gelten u n d nicht angetastet werden dürfen, das
ja schon angedeutet, dass die Kultur ethisch-rationaler Abwägung,
fidei, in der jüngeren Zeit bewusst ausgedehnt. D a r ü b e r hinaus habe
depositum
die in der katholischen Tradition angelegt war, heute in beträchtli­
chem Umfang verlassen worden ist u n d stattdessen V e r b o t s n o r m e n
errichtet w u r d e n . H i e r d u r c h ist eine zukunftsweisende Kooperation
zwischen katholischer u n d evangelischer Ethik sehr erschwert wor­
den.
2. Trennungslinien zwischen katholischer und
evangelischer Ethik
2.1. Die Beschneidung
von Wissenschafts-
und
Publikationsfreiheit
Für die neuere katholische Moral- u n d Soziallehre sind amtskirchli­
che römisch-katholische D o k u m e n t e wichtig, die seit den 1990er Jah­
ren verfasst wurden. Zu ihnen gehören die Instruktion über die kirch­
3
Vgl. K a r l - H e i n z Pcschkc, C h r i s t l i c h e Ethik. Spezielle M o r a l t h e o l o g i e , T r i e r 1995,
345.
4
Vgl. A d r i a n Holderegger, Z u r E u t h a n a s i e - D i s k u s s i o n in d e n USA, in: ders. (Hg.),
Das m e d i z i n i s c h assistierte Sterben, F r e i b u r g / S c h w e i z u n d Freiburg/Br. 1999, 123-137,
hier 133fif.
5
Vgl. H a r t m u t Kreß, Sterbehilfe u n d Sterbebegleilung im Licht der P a t i c n t e n a u t o n o m i e , in: Der G y n ä k o l o g e 40 (2007), 960-965.
6
Vgl. A r n o A n z e n b a c h e r , Christliche Sozialethik, P a d e r b o r n 1998, 21 Off, 215ff.
7
Ludger H o n n e f e l d e r , Die ethische Rationalität der N e u z e i t , in: H a n d b u c h der
christlichen Ethik, B d . l , 1978, 19-45, hier 2 3 .
8
Vgl. M a r i a n n e H e i m b a c h - S t e i n s ( H g . ) , Christliche Sozialethik, Bd. 2, K o n k r e t i o ­
nen, R e g e n s b u r g 2005.
9
Vgl. E b e r h a r d Jüngel, W e r t l o s e W a h r h e i t , M ü n c h e n 1990, Xllff, 90-109.
10
Vgl. K o n g r e g a t i o n für die G l a u b e n s l e h r e , I n s t r u k t i o n ü b e r die kirchliche Berufung
des T h e o l o g e n , 24. M a i 1990, hg. v. Sekretariat der D e u t s c h e n Bischofskonferenz, Ver­
l a u t b a r u n g e n des Apostolischen Stuhls 9 8 , B o n n , N r . 36ff - Z u einigen weiteren Ein­
zelheiten: H. Kreß, G e m e i n s a m e E r k l ä r u n g e n d e r k a t h o l i s c h e n u n d evangelischen Kir­
che z u r Ethik. V e r b i n d l i c h e Lehre o d e r a r g u m e n t a t i v e W e r t o r i e n t i e r u n g ? , in: ZEE 45
(2001), 121-134, bes. 123ff
1
liche Berufung des Theologen (1990) sowie das päpstliche M o t u pro­
prio „Ad t u e n d a m fidem" (1998). Darüber hinaus ist z. B. die Enzy­
11
Vgl. Enzyklika „Veritatis s p l e n d o r ' v o n P a p s t J o h a n n e s Paul IL, 6. A u g u s t 1993,
hg. v. Sekretariat d e r D e u t s c h e n Bischofskonferenz, V e r l a u t b a r u n g e n des Apostolischen
Stuhls 111, B o n n , Nr. 79ff.
HAUPTAUFSÄTZE
sich das Lehramt stärker als je zuvor die Definitionskompetenz da­
Vorgaben eines zentralen Lehramts rigide eingeschränkt wird, weil
rüber zugesprochen, welche Aussagen als unverrückbar feststehend
das Postulat der Wissenschaftsfreiheit für die Geistesgeschichte der
gelten. Der katholische Kirchenrechtler zieht die Schlussfolgerung:
evangelischen Theologie u n d generell für die Selbstdeutung des Pro­
„Der gegen theologische Kritik [gemeint ist hier: gegen die Kritik von
testantismus seit der Reformation essentiell ist. '
1
Seiten der katholischen Theologie] bekräftigte amtliche Gebrauch des
Behutsam u n d o h n e an der hierarchischen Lehramtsstruktur
Begriffs Depositium fidei ist ein Beleg für den die römisch-katholi­
oder den Kirchenrechtsvorgaben als solchen Kritik zu üben, weisen
sche Kirche kennzeichnenden engen Z u s a m m e n h a n g von Glaube
sogar katholische Ethiker selbst darauf hin, dass die Wissenschafts­
u n d Recht, der auch vor besondere ökumenische Vermittlungsaufga­
ben stellt."
12
u n d Meinungsfreiheit an katholischen Fakultäten gefährdet ist: „Aus­
einandersetzungen", die zwischen der Amtskirche und Theologen
Diese Tendenzen des neueren katholischen Kirchenrechts bzw.
entstanden sind, „disziplinarisch abzukürzen, i n d e m z. B. Theologin­
der innerkatholischen Kirchenpolitik belasten auch das Verhältnis
nen u n d Theologen o h n e vorausgehende inhaltliche Debatte u n d
zwischen katholischer u n d evangelischer Ethik (das erwähnte Zitat
Prüfung von A r g u m e n t e n die kirchliche Lehrerlaubnis verweigert
hat diese Belastung dadurch umschrieben, dass es euphemistisch von
oder entzogen wird, dient weder der Wahrheitsfindung, noch ist es
„besonderen ö k u m e n i s c h e n Vermittlungsaufgaben" sprach, die die
ein Ausweis starker Identität, die eine notwendige Voraussetzung von
katholische Seite zu leisten habe). Die wesentlichen Punkte sind 1. die
Pluralitätsfähigkeit ist."" Es überrascht freilich, dass katholische Juris­
quantitative Ausweitung der verbindlichen Glaubenssätze d u r c h das
ten sich mit d e m Spannungsverhältnis zwischen lehramtlichen Vor­
Lehramt, u n d zwar ganz deutlich ebenfalls im Blick auf Punkte, die
gaben u n d der Wissenschaftsfreiheit k a u m beschäftigen. Als Ernst-
Ethik, Moral u n d die alltägliche Lebensführung von Menschen be­
Wolfgang Böckenförde im Jahr 2004 seine Texte zur Religionsfreiheit
treffen, 2. der Anspruch des Lehramtes auf Definitionskompetenz
neu edierte u n d k o m m e n t i e r t e , ließ er das Problem innerkirchlich
bzw. auf K o m p e t e n z k o m p e t e n z , welche Aussagen zu Glaube oder
geltender Freiheitsrechte, d a r u n t e r die Wissenschaftsfreiheit
Moral als verbindlich gelten u n d aufgrund eines „kirchlichen Rechts¬
Theologie, ganz u n e r w ä h n t . " Andererseits fällt d a n n u m s o m e h r auf,
befehls"" von Laien und Theologen als gültig zu akzeptieren sind, so­
dass er, wenngleich zeitlich verzögert, die Beschränkungen der Mei-
wie - im R a h m e n dieser Logik d a n n folgerichtig - 3. die weiter an­
nungs- oder Publikationsfreiheit für Katholiken d a n n doch kritisier­
steigende Verrechtlichung theologischer u n d ethischer T h e m e n .
te. Offenbar unter Anspielung auf die Verschärfung des kanonischen
Auch ethische Aussagen oder Urteile sind inzwischen in h o h e m M a ß
Rechts im Jahr 1998 (CIC can. 750), auf das M o t u proprio „Ad tuen-
juridifiziert u n d klerikalisiert oder - u m einen Neologismus zu ver­
dam fidem" u n d den Lehrmäßigen K o m m e n t a r der Kongregation für
w e n d e n - verkirchenrechtlicht worden. Das katholisch-lehramtliche
die Glaubenslehre zur Professio fidei sowie auch den C a n o n 752 des
Bestreben, in der katholischen Kirche u n d auch im Blick auf die ka­
CIC beklagte er im Dezember 2005 „eine deutliche Tendenz, A u t o ­
der
tholische Theologie eine Binnenklerikalisierung durchzusetzen, ist
rität und Verbindlichkeit von Ä u ß e r u n g e n des ordentlichen päpstli­
schon vor m e h r e r e n Jahrzehnten, noch vor den Verschärfungen
chen Lehramts, soweit möglich, aufzusteigern; sie zwar von der des
durch Johannes Paul II. u n d Kardinal Ratzinger bzw. Benedikt XVI.,
unfehlbaren Lehramts formell zu unterscheiden, aber in der Sache
14
stark an diese anzugleichen". Hieraus resultierte seine rhetorische
kirchensoziologisch aufgearbeitet u n d kritisch analysiert worden.
Angesichts der lehramtlichen Voten aus den 1990er Jahren sind die
Frage: „Soll in der Tat jeder Gläubige und Theologe still zusehen u n d
kritischen Akzente heutzutage zweifellos noch zu verstärken. Der
zuwarten müssen, o h n e sich selbst dafür engagieren zu k ö n n e n , bis
Sachverhalt, dass bestimmte Positionen, die von der Auffassung des
das Lehramt womöglich selbst zu einer besseren Einsicht kommt?" "
2
Lehramts abweichen, von Vertretern der katholischen Theologie nach
Im Jahr 2006 ging Böckenförde noch etwas weiter und beklagte die
a u ß e n nicht vertreten werden sollen, hat auch für den Dialog zwi­
kirchenrechtlichen Einschränkungen, die den Willen, das D e n k e n
schen katholischer u n d evangelischer Ethik H ü r d e n errichtet, mit de­
und die Meinungsäußerungen oder die Wissenschaftsfreiheit von Ka­
nen sich schwer u m g e h e n lässt. Dies betrifft im übrigen nicht n u r die
tholiken betreffen: „Auch eine sorgfältig geprüfte, zwingend erschei­
akademische
zwi­
nende Einsicht kann lediglich zur ausnahmsweisen inneren Suspensi­
schenkirchliche Kommissionen u n d kirchenoffizielle B e m ü h u n g e n
on der Z u s t i m m u n g , d e m sog. schweigenden Gehorsam führen; jede
u m ethische Fragen; d e n n es fällt auf, dass es u m die „Gemeinsamen
öffentliche Anfrage und Kritik, auch in der Form wissenschaftlicher
Erklärungen" der EKD u n d der katholischen Deutschen Bischofskon­
Diskussion, wird ausgeschlossen.'"'
Ethik, sondern
ganz offensichtlich
ebenfalls
ferenz sehr still geworden ist.
Anders gesagt: Zu einer Reihe von T h e m e n , d a r u n t e r bioethi­
Ein Kern des Problems besteht darin, dass für die katholische
schen T h e m e n , lässt das katholische Lehramt es nicht mehr zu, öf­
Theologie einschließlich der katholischen Ethik die Wissenschafts­
fentlich oder akademisch-moraltheologisch Möglichkeiten ethischer
freiheit u n d die Publikationsfreiheit n u r eingeschränkt gelten. Dies
Abwägung auszuloten. Genau das, was ich als die Stärke der katholi­
ergibt sich unmittelbar aus den maßgebenden D o k u m e n t e n des Vati­
schen Ethiktradition ansehe - die Orientierung an G ü t e r a b w ä g u n ­
1
kans ", steht jedoch in S p a n n u n g zu allgemein anerkannten ethischen
gen - , ist hiermit ins Abseits geraten. Stattdessen prägen sich N o r m a ­
u n d grundrechtlichen Standards u n d zu Artikel 5 Absatz 3 des
tivismen aus, indem Einzelnormen verabsolutiert u n d Verbotsnor­
Grundgesetzes, der die Wissenschaftsfreiheit garantiert. Der Antago­
m e n statuiert wurden. Dass dies ethische Dialoge, auch den evange­
nismus zwischen lehramtlich-autoritativen Vorgaben einerseits, dem
lisch-katholischen Ethikdialog, beeinträchtigt, liegt auf der Hand.
G r u n d r e c h t auf Wissenschaftsfreiheit andererseits wird auch in der
verfassungsrechtlichen Literatur erörtert.
16
Wissenschaftstheoretisch
u n d wissenschaftsethisch k a n n es nicht überzeugen, dass die katholi­
sche Theologie oder die katholische Ethik die Vorgaben des Lehramts
2.2.
auf
Die katholische Kirche im Widerspruch zum
Grundrecht
Selbstbestimmung
Gravierend ist, dass die amtliche katholische Morallehre sogar in un­
lediglich „auslegen" oder sie - wie es in katholischen D o k u m e n t e n
terschiedlicher Hinsicht in ein Spannungsverhältnis z u m allgemeinen
heißt - „verfeinern", aber nicht von ihr abweichen und sie nicht er­
Persönlichkeitsrecht oder d e m individuellen G r u n d r e c h t auf Freiheit
gebnisoffen debattieren soll. Gerade aus protestantischer Sicht be­
u n d Selbstbestimmung geraten ist. Hierzu nochmals ein einzelnes
fremdet es, dass die Freiheit der wissenschaftlichen Ä u ß e r u n g durch
Beispiel. Seit 2004 äußerten der Vatikan sowie deutsche katholische
Obi
II
HAUPTAUFSÄTZE
*iD
0
3/08
Bischöfe, dass Patientenverfügungen in bestimmten Fällen keinesfalls
für bestimmte T h e m e n , zu denen V e r b o t s n o r m e n statuiert worden
gültig seien. Konkret geht es u m die Beendigung lebenserhaltender
sind; 3. z u n e h m e n d e Distanz gegenüber Freiheit u n d Selbstbestim­
M a ß n a h m e n durch künstliche Ernährung, also durch invasiven Ein­
m u n g als individuellem G r u n d r e c h t generell. Angesichts der Aus­
griff mit Hilfe einer PEG-Sonde, beim irreversiblen apallischen Syn­
gangsfrage meines Referates — „Katholische u n d evangelische Ethik
d r o m . Bekanntlich enthalten Patientenverfügungen aus gutem Grund
im Nebeneinander - fördernd oder h e m m e n d für den Ethikdiskurs?"
i m m e r wieder die Bestimmung, dass im Fall des sogenannten W a c h ­
- gelange ich gegenwärtig mithin zu der Bilanz, dass die Möglichkei­
komas die künstliche E r n ä h r u n g nach einer längeren Frist, wenn kei­
ten zur Kooperation zwischen protestantischer u n d katholischer
ne Aussicht auf Wiederherstellung mehr besteht, beendet werden soll.
Ethik limitiert sind. Zugleich ist zu beobachten, dass sich das belaste­
N u n b e r u h e n Patientenverfügungen ethisch sowie rechtlich auf dem
te Verhältnis zwischen evangelischer u n d katholischer Ethik negativ
G r u n d r e c h t auf Freiheit u n d Selbstbestimmung (Grundgesetz Art. 2
auf die allgemeine Ethikdiskussion in unserer Gesellschaft auswirkt.
Absatz 1). Andererseits lehnen katholisch getragene Kliniken oder
Pflegeeinrichtungen es aber ab, eine valide, auf freier Entscheidung
b e r u h e n d e Patientenverfügung zu beachten, die den Abbruch der
künstlichen lebenserhaltenden Interventionen beim lang a n d a u e r n ­
3. Der Gegensatz zwischen den konfessionellen
Ethiken — Problempunkt für den Ethikdiskurs
in Gesellschaft und Rechtspolitik im Allgemeinen
den apallischen Syndrom verlangt. Dies erfolgt unter Berufung auf
Vorgaben des Vatikans u n d auf das Grundrecht auf Religionsfreiheit,
Aus aktuellem Anlass - im Vorfeld der Bundestagsdebatte u n d -ab¬
das hierbei als korporatives G r u n d r e c h t , also als G r u n d r e c h t der ka­
s t i m m u n g zum Stammzellgesetz am 11. April 2008 - knüpfe ich an
tholischen Kirche u n d ihrer Kliniken oder Pflegeeinrichtungen als In­
die gesellschaftlichen und rechtspolitischen Debatten über die h u m a ­
stitution, gedeutet wird.
ne embryonale Stammzellforschung an. Bekanntlich votierten die
Auf diese Weise bricht in Deutschland und inzwischen auch in
deutschen katholischen Bischöfe sowie zahlreiche Vertreter evangeli­
anderen Ländern - USA", Österreich ' - ein schwerwiegender G r u n d ­
2
scher Kirchen oder evangelische kirchliche Gremien gegenüber hu­
rechtskonflikt auf: das individuelle Selbstbestimmungsrecht von Pa­
m a n e r embryonaler Stammzellforschung seit der Entdeckung dieses
tienten, das ggf. in Patientenverfügungen seinen Niederschlag findet
biologischen Materials 1998 scharf abweisend. Einzelne Gremien
u n d auf dessen Basis für das irreversible W a c h k o m a die Beendigung
oder Vertreter der evangelischen Kirchen haben sich in letzter Zeit
lebenserhaltender M a ß n a h m e n verlangt wird, versus korporative Re­
freilich etwas weniger negativ geäußert. In den zurückliegenden Jah­
27
ligionsfreiheit der katholischen kirchlichen Einrichtung, die absolut
ren waren es vor allem jedoch Vertreter der akademischen evangeli­
die Lebenserhaltung verlangt. Zahlreiche S t i m m e n aus den Rechts­
schen Ethik gewesen, die darlegten, dass eine normierte, transparent
wissenschaften u n d der Ethik haben dargelegt, dass u n d w a r u m das
durchgeführte embryonale Stammzellforschung auch im Inland ver-
individuelle Selbstbestimmungsrecht den Vorrang besitzen m u s s .
24
Im Einzelfall ist bereits von Gerichten in diesem Sinn entschieden
worden.
N u n ist zu beobachten, dass das Gebot der künstlichen Lebens­
verlängerung für die beschriebene Handlungssituation (lang a n d a u ­
erndes apallisches Syndrom) auch von katholischen Moraltheologen
d u r c h a u s in Frage gestellt wird. Dies geschieht freilich in der Form,
dass eventuelle A u s n a h m e n vom kirchlichen Gebot, das Leben des
aktuell nicht mehr äußerungsfähigen Patienten künstlich aufrecht zu
erhalten, aus den päpstlichen Texten selbst herausgelesen werden.
25
Wie weit diese T e x t d e u t u n g tatsächlich trägt, bleibe an dieser Stelle
unerörtert. Von Interesse ist hier vielmehr, dass die moraltheologi­
sche Reflexion nicht auf den normativen Widerspruch zwischen der
lehramtlichen Vorgabe u n d d e m G r u n d r e c h t auf Selbstbestimmung
als solchen hinweist. Sie hält sich vielmehr an die oben erwähnte for­
male kirchliche Vorgabe, der zufolge die katholische Theologie die
kirchlichen Aussagen nicht überschreiten, sondern sie n u r „auslegen"
u n d „verfeinern" darf. Der ethisch, juristisch u n d grundrechtlich
springende Punkt, dass die kirchliche Lehre in Widerspruch zum Individualgrundrecht auf Selbstbestimmung u n d zur Patientenautono­
mie geraten ist, wird nicht thematisiert - erklärlich wohl aus den
oben erwähnten Restriktionen, die die Äußerungs- u n d Publikations­
freiheit der katholischen Theologie betreffen.
Damit sind nochmals Aspekte herausgestellt worden, die zur Zeit
eine Trennungslinie zwischen evangelischer u n d katholischer Theo­
logie u n d Ethik markieren: 1. die faktische Einschränkung der Wis­
senschaftsfreiheit auf katholischer Seite (ausweitend gesagt: Dies be­
trifft in katholisch getragenen Universitäten nicht n u r die theologi­
schen, s o n d e r n ebenfalls nichttheologische Fakultäten; aktuell zeigt
sich dies an der Befürchtung der katholischen Universität Löwen, der
Vatikan beabsichtige, auch dort die Abteilung für Reproduktionsme­
2
dizin zu schließen "); 2. das Z u r ü c k d r ä n g e n ethischer Abwägungen
12
N o r b e r t Lüdecke, D e p o s i t u m fidei, in: Axel Frhr. v. C a m p e n h a u s e n u.a. (Hg.), Le­
xikon für K i r c h e n - u n d Staatskirchenrecht, ß d . 1 , P a d e r b o r n 2000, 4 0 3 - 4 0 4 , Zitat 404.
13
N . Lüdecke, a.a.O.
14
Vgl. Franz-Xaver K a u f m a n n , T h e o l o g i e in soziologischer Sicht, Freiburg/Br. 1973.
15
Z u m G e b o t , i m Fall a b w e i c h e n d e r M e i n u n g auf die Veröffentlichung d e r eigenen
Sicht in P u b l i k a t i o n e n zu verzichten u n d zu „schweigen", vgl. z. B. die I n s t r u k t i o n ü b e r
die kirchliche Berufung des T h e o l o g e n v o m 24. M a i 1990 N r . 3 1 .
16
Vgl. F r i e d h e l m Hufen, Wissenschaftsfreiheit u n d kirchliches S e l b s t b e s t i m m u n g s ­
recht an theologischen Fakultäten staatlicher H o c h s c h u l e n . Für eine g r u n d r e c h t s o r i e n ­
tierte L ö s u n g eines alten P r o b l e m s , in: Dieter D ö r r u. a. ( H g . ) , Die M a c h t des Geistes.
Festschrift für H a r t m u t Schredermair, H e i d e l b e r g 2 0 0 1 , 623-642.
17
Vgl. H . K r e ß , Gewissen u n d Gewissensfreiheit: K r i s t a l l i s a t i o n s p u n k t p r o t e s t a n ­
tischer Theologie, in: I n t e r n a t i o n a l e Kirchliche Zeitschrift 96 (2006), 64-88; ders. (Hg. ),
T h e o l o g i s c h e F a k u l t ä t e n an staatlichen U n i v e r s i t ä t e n in der Perspektive v o n Frnst
Troeltsch, AdoH von H a r n a c k u n d H a n s v o n S c h u b e r t , W a l t r o p 2004, s. d o r t a u c h die
ausführliche Einleitung des V f s ( 5 - 9 0 ) ; H e r m a n n W e b e r , T h e o l o g i s c h e Fakultäten u n d
Professuren im w e l t a n s c h a u l i c h n e u t r a l e n Staat, in: N V w Z 2000, H. 8, 8 4 8 - 8 5 7 , bes.
856f.
18
M a r i a n n e H e i m b a c h - S t e i n s , Subsidiarität u n d Partizipation in der Kirche, in: dies.
(Hg.), Christliche Sozialethik, Bd. 2, K o n k r e t i o n e n , R e g e n s b u r g 2005, 281-313, hier 312.
19
Vgl. E r n s t - W o l f g a n g Böckenförde, Kirche u n d christlicher G l a u b e in den H e r a u s ­
f o r d e r u n g e n der Zeit. Beiträge z u r politisch-theologischen Verfassungsgeschichte 1957¬
2002, M ü n s t e r 2004.
20
E.-W. Böckenförde, R o m hat g e s p r o c h e n , die D e b a t t e ist eröffnet, in: Frankfurter
Allgemeine Z e i t u n g 7. D e z e m b e r 2005, 39.
21
E.-W. Böckenförde, Kirche u n d christlicher G l a u b e in d e n H e r a u s f o r d e r u n g e n d e r
Zeit, 2. erweiterte Auflage, fortgeführt bis 2006, M ü n s t e r 2007, 487.
22
Vatican: Food, water m u s t b e p r o v i d e d t o vegetative p a t i e n t s , in: calholic o n l i n e ,
www.catholic.org, 14.09.2007.
23
Vgl. U. H J . K ö r t n e r , P a t i e n t e n v e r f ü g u n g e n in d e r t h e o l o g i s c h e n D i s k u s s i o n , in:
ders., C h r i s t i a n Kopetzki, M a r i a Kletecka-Pulker ( H g . ) , Das ö s t e r r e i c h i s c h e Patienten¬
verfügungsgesetz, W i e n , N e w York 2007, 2 0 - 3 3 , hier 22ff.
24
Vgl. H. K r e ß , A m L e b e n s e n d e . P a t i e n t e n v e r f ü g u n g e n u n d das Recht auf Selbstbe­
s t i m m u n g in d e r Perspektive p r o t e s t a n t i s c h e r Ethik, in: Ulrich H J . K ö r t n e r u. a. ( H g . ) ,
Lebensanfang u n d L e b e n s e n d e in d e n W e l t r e l i g i o n e n , N e u k i r c h e n - V l u y n 2006, 95-114,
kritisch z u r k a t h o l i s c h e n Kirche ebd. I03ff ( m i t einigen E i n z e l n a c h w e i s c n ) ; Ernst A n ­
k e r m a n n , Sterben zulassen, M ü n c h e n , Basel 2004; C h r i s t o p h Meier, G i a n D o m e n i c o
Borasio, Klaus Kutzer ( H g . ) , P a t i e n t e n v e r f ü g u n g , S t u t t g a r t 2005; 'Forsten Vcrrel, Pati­
e n t e n a u t o n o m i e u n d Strafrecht bei der Sterbebegleitung, M ü n c h e n 2006.
25
Vgl. Karl Golser, Ehrfurcht vor d e m Leben an s e i n e m E n d e . A r g u m e n t a t i o n
k a t h o l i s c h e r M o r a l t h e o l o g i e , in: Ulrich FIJ. K ö r t n e r u. a. ( H g . ) , Lebensanfang u n d
Lebensende in d e n Wcltreligionen, N e u k i r c h e n - V l u y n 2006, 51-69, hier 62f.
26
Vgl. I. Brosens, Are C a t h o l i c Universities giving u p r e p r o d u e t i v e m e d i c i n e ? in:
R e p r o d u c t i v e B i o M e d i c i n e O n l i n e 2007, Vol. 15 S u p p l . 2, 43-46.
27
Vgl. Evangelische Kirche v o n Westfalen, Ethische Ü b e r l e g u n g e n zur F o r s c h u n g
mit m e n s c h l i c h e n E m b r y o n a l e n S t a m m z e l l e n , Bielefeld 2007.
HAUPTAUFSÄTZE
//
tretbar, ja sogar geboten sei. Relativ große Beachtung fand der Arti­
„starre" Stichtag erhebliche Probleme aufwirft u n d dass noch in ver­
kel,
schiedener anderer Hinsicht beim Stammzellgesetz Reformbedarf
den neun Fachvertreter der evangelischen Ethik (auch ich selbst)
be­
kurz vor der Bundestagsdebatte des 30. Januar 2002 in der Frankfur­
stand" - , sind d a r ü b e r teilweise geradezu verdrängt worden. So be­
ter Allgemeinen Zeitung publizierten. Dieser Artikel w u r d e oftmals
trachtet h e m m t das Nebeneinander oder Gegeneinander von evange­
zitiert; er w u r d e aber auch angegriffen, nicht zuletzt aufgrund der
lischer u n d katholischer Ethik - in diesem Fall ist zu sagen: das Ge­
Überschrift, u n t e r der er in der Zeitung erschien: „Pluralismus als
geneinander von kirchlich vertretenen moralischen Positionen
Markenzeichen". Die Überschrift w u r d e so gedeutet, als hätten die
letztlich sogar den Ethikdiskurs in unserer Gesellschaft im Allgemei­
-
Verfasser im Schwerpunkt den protestantischen Pluralismus heraus­
nen. Ethische Sachfragen werden überlagert, weil sie als konfessionel­
stellen wollen u n d als sei es ihnen d a r u m gegangen, der katholischen
le Streitfragen ausgetragen werden. Im Extremfall kann dies dazu
Seite mangelnden Pluralismus vorzuwerfen.
führen, die ethisch-rechtliche Sachdebatte zu konterkarieren.
N u n war es zwar so, dass der Artikel tatsächlich den b i n n e n p r o ­
4. Fazit
testantischen Pluralismus ins Licht rückte; denn es sollte deutlich
werden, dass die Öffentlichkeit keineswegs n u r das Nein evangeli­
scher Kirchenvertreter als „die" Stimme des Protestantismus (im Sin­
Folgende Schlussfolgerungen ergeben sich aus meiner Sicht:
gular) werten darf. Im Kern ging es in dem Zeitungsbeitrag vom
1. Der Tendenz, dass in der rechtspolitischen Debatte ethische
23.01.2002 d a n n aber u m etwas ganz anderes, nämlich u m einen
Sachfragen religiös oder konfessionell überlagert werden, sollte ent­
rechtspolitischen Kompromissvorschlag, der auf eine I m p o r t l ö s u n g
gegengewirkt werden. Auf eine Rückkehr zur ethischen Sachdiskussi­
abzielte, so wie sie v o m Deutschen Bundestag danach auch beschlos­
on hinzuwirken, ist eine Aufgabenstellung für die akademische Ethik,
sen w u r d e (wobei die Regulierung mit Hilfe eines starren Stichtags,
nicht zuletzt für die protestantische Ethik.
die der Bundestag 2002 ebenfalls beschloss, von den Autoren freilich
2. Die inhaltlichen Kontroverspunkte zwischen evangelischer
keinesfalls vorgeschlagen worden war). An dieser Stelle m ö c h t e ich
u n d katholischer Ethik sollten aufgearbeitet u n d debattiert werden.
n u n auf keine Einzelheiten der damaligen oder der jetzigen S t a m m ­
Z u m Beispiel bedarf es der Diskussion, ob die persönliche A u t o n o m i e
zelldebatte eingehen, sondern n u r darauf aufmerksam machen, dass
oder das persönliche Gewissen so stark beschnitten werden dürfen,
der Artikel eine Überschrift trug, der gemäß die Autoren mit Hilfe ei­
wie die katholische Lehre es in verschiedener Hinsicht fordert.
nes Kompromissvorschlages die „starren F r o n t e n " der rechtspoliti­
2
3. U m auf das „ H a n d b u c h der christlichen Ethik" von 1978
schen Kontroversen von 2001/2002 aufbrechen wollten. * Die Frank­
z u r ü c k z u k o m m e n : Gegenüber dem Jahr 1978 haben sich die kultu­
furter Allgemeine publizierte ihn stattdessen unter dem Titel: „Plura­
rellen R a h m e n b e d i n g u n g e n erheblich verändert. W e n n m a n von
lismus als Markenzeichen", der sofort dahingehend gedeutet wurde,
„christlicher Ethik" spricht, sind heute z. B. auch die orthodoxe oder
als sei die Stoßrichtung eine Polemik gegen die katholische Theologie
die altkatholische Ethik zu berücksichtigen. Z u d e m hat der interkul­
oder gegen die katholische Kirche gewesen.
turelle u n d interreligiöse Ethikdialog gesellschaftlich einen ganz neu­
An diesem Beispiel zeigt sich, dass ein hohes Interesse von Medi­
en Stellenwert erhalten; er müsste von den theologischen Ethiken auf­
en an konfessionellen Kontroversen besteht. Diese mediale Logik be­
gegriffen werden. Gemessen an der Wertepluralität, von der die Ge­
einträchtigt jedoch die Sachdiskussion. Noch problematischer ist es,
genwartsgesellschaft geprägt ist, ist das dreißig Jahre alte „ H a n d b u c h
dass sich katholische und evangelische Kirchenvertreter, am 27. De­
der christlichen Ethik" konzeptionell nicht m e h r breit genug ange­
zember 2007 auch der Ratsvorsitzende der EKD, auf diese Logik ein­
legt.
ließen. In dem Artikel von Wolfgang H u b e r wurde der Kurswechsel
4. In einer - hypothetischen - Neufassung des H a n d b u c h s wäre
der EKD, anstelle des früheren Nein zur embryonalen Stammzellfor­
es auf jeden Fall sinnvoll, die Pluralität, die innerhalb der christlichen
schung jetzt eine etwas forschungsfreundlichere Haltung einzuneh­
Ethiken selbst v o r h a n d e n ist, nach innen u n d nach außen zu verdeut­
men u n d eine Verschiebung des Stichtags auf ein den Forschungsin­
lichen. Gelänge es den katholischen u n d evangelischen Ethiken, mit
teressen e n t g e g e n k o m m e n d e s D a t u m h i n z u n e h m e n , von ihm als
der jeweiligen innerkonfessionellen u n d mit der interkonfessionellen
Ausdruck evangelischer V e r a n t w o r t u n g s ü b e r n a h m e dargestellt, die
Pluralität konstruktiv u m z u g e h e n , k ö n n t e dies sogar eine Modell­
sich von katholischer Unbeweglichkeit unterscheide. ' Der Ratsvor­
funktion für den Wertediskurs in der pluralistischen Gesellschaft als
sitzende der EKD distanzierte sich von N o r m a t i v i s m e n u n d von au­
ganzer besitzen. Die Aussichten, dies zu realisieren, sind zur Zeit aber
toritativen Tendenzen des katholischen Lehramts, die auch im hier
nicht günstig.
2
vorliegenden Beitrag problematisiert worden sind. Irritierend war in­
dessen, dass er ausgerechnet im Kontext der aktuellen Tagespolitik
Prof.
Kritik an der autoritativen Struktur des katholischen Lehramts als
lehrt Sozialethik
Dr.
Hartmut
Kreß.
Bonn
an der Evangelisch-Theologischen
Fakultät der Universität
Bonn
solcher übte u n d diese dazu nutzte, den Schwenk der EKD in der Fra­
ge des „Stichtags" nach a u ß e n zu legitimieren. Auf diese Weise verwob er eine tagespolitische Stellungnahme mit einer Grundsatzkritik
am Lehramt.'"
Der kontroverstheologische Zungenschlag, der hierdurch in die"
Debatte über die Novellierung des Stammzellgesetzes gebracht wur­
de,
ist bedauerlich. Nicht zufällig war angesichts der deutschen
Stammzelldebatte i m m e r wieder von der Eskalation eines Kultur­
kampfes oder vom „Weltanschauungskrieg" (Ernst-Ludwig W i n nacker) die Rede. Es wird sich schwerlich bestreiten lassen, dass die
Stammzellfrage Anfang 2008 von Medien in beträchtlichem M a ß als
evangelisch-katholischer Konfessionsstreit aufbereitet worden ist. Die
Sachfragen, u m die es eigentlich ging - z.B. der Sachverhalt, dass jeder
06-/
//
HAUPTAUFSÄTZE
28
„Starre F r o n t e n ü b e r w i n d e n . Eine S t e l l u n g n a h m e evangelischer E t h i k e r z u r D e ­
b a t t e u m die E m b r y o n e n f o r s c h u n g " ; A b d r u c k u n t e r d e m u r s p r ü n g l i c h e n Titel in: Rei­
ner Anselm, Ulrich H.). K ö r t n e r (Hg.), Streitfall Biomedizin, G ö t t i n g e n 2003, 197-208.
29
Vgl. W o l f g a n g H u b e r , Auch d e r k a t h o l i s c h e M e n s c h k a n n irren, in: FAZ,
27.12.2007, 29.
30
H i e r z u v e r s t ä n d l i c h e r w e i s e kritisch: d e r k a t h o l i s c h e M o r a l t h e o l o g e A n t o n i o A u tiero, Verletzender F u n d a m e n t a l i s m u s , in: Die Zeit, 03.01.2008.
31
Vgl. H. Kreß, E m b r y o n e n s t a t u s u n d G e s u n d h e i t s s c h u t z . R e f o r m b e d a r f im R a h ­
men eines u m f a s s e n d e n F o r t p f l a n z u n g s m e d i z i n - u n d Stammzellgesetzes, in: l a h r b u c h
für Recht u n d Ethik Bd. 15, Berlin 2007, 23-50; ders., Ein n e u e r s t a r r e r Stichtag? Offe­
ne Fragen bei der Reform des Stammzellgeset/.es, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 41
(2008), 53-54; J o c h e n T a u p i t z , E r f a h r u n g e n m i t d e m Stammzellgesetz, in: Juristenzei­
t u n g 2007, H. 3, 113-122, Peter Löser, Bettina H a n k e , Claudia Ferch, F o r s c h u n g an h u ­
m a n e n e m b r y o n a l e n S t a m m z e l l e n in D e u t s c h l a n d : Die gegenwärtige Situation im K o n ­
text d e r i n t e r n a t i o n a l e n F o r s c h u n g , in: J a h r b u c h für Wissenschaft u n d Ethik Bd. 12,
Berlin, N e w York 2007, 285-317.
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