Thema Buchvorstellung mit Prälat Karl Jüsten, Leiter des Katholischen Büros Berlin Wie viel Religion verträgt der Staat? Warum die Menschenrechte in einer pluralen Gesellschaft der bessere Bezugsrahmen sind von Karin Nungeßer »Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.« Mit diesem Satz hat Bundes­ präsident Christian Wulff viele Konservative gegen sich aufgebracht. Prompt parierten Angela Merkel, Horst Seehofer und andere mit dem Verweis auf die »christlichjüdische Tradition«. Die Leitkultur-Debatte geht in die nächste Runde, und wieder geht es dabei vor allem um Religion. U m nicht missverstanden zu werden: Niemand verlangt von PolitikerInnen, dass sie ihren Glauben an der Garderobe abgeben – die Religionsfreiheit gilt für sie wie für alle anderen. Und es ist ihr gutes Recht, ihre eigenen, auch religiösen Überzeugungen zum Maßstab ihres politischen Handelns zu machen. Problematisch wird es jedoch, wenn in einer 20 FrauenRat 6/10 weltanschaulich pluralen Gesellschaft versucht wird, religiöse Traditionen zum verpflichtenden Wertefundament für alle zu erklären. Genau dies ist der Fall, wenn nun erneut von führenden Konservativen eine christlichjüdische Leitkultur ausgerufen wird. Worauf wird sich da eigentlich berufen? Eine jüdisch-christliche Kultur – wenn überhaupt – hat es in Deutschland nicht gegeben. Natürlich haben jüdische Intellektuelle, SchriftstellerInnen, PhilosophInnen, KünstlerInnen, PolitikerInnen, die Kultur dieses Landes, insbesondere seit dem 19. Jahrhundert in hohem Maße mitgeprägt. Meist waren sie assimiliert – auch weil ein gleichberechtigtes Nebeneinander von Christen und Thema Juden in Deutschland nie gewollt war. Genutzt hat es ihnen bekanntlich wenig. Vor siebzig Jahren wurden sie wegen ihres Jüdischseins verfolgt, ins Exil vertrieben, ermordet. Von einer »christlich-jüdischen Tradition« zu reden, gar von einer, die »über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende zurückreicht«, wie die Bundeskanzlerin es kürzlich getan hat, stellt die historischen Tatsachen auf den Kopf. Dagegen haben sich zahlreiche, auch jüdische Intellektuelle zu Recht öffentlich verwahrt. Der Begriff ist aber auch aus anderen Gründen falsch. Eine Beschränkung auf jüdische und christliche Traditionen unterschlägt nämlich, so die katholische Theologin Magdalene Bußmann, welche kulturellen Leistungen auch der Islam zur europäischen Geistesgeschichte beigetragen hat: »Wir wüssten nichts von Aristoteles und der griechischen Philosophie, wenn islamische Gelehrte deren Werke nicht übersetzt hätten.« Umgekehrt mussten viele Ideen der Aufklärung, die heute unter ein vermeintlich »christlich-jüdisches Erbe« subsumiert werden, gegen die Kirchen durchgesetzt werden: »Freiheit, Individualität, Personsein, Menschenrechte – das sind alles Konzepte, mit denen die Kirche anfangs überhaupt nichts anfangen konnte und die sie ganz massiv bekämpft hat«, gibt Bußmann zu bedenken. Werte haben viele Quellen Ä hnlich einseitig ist die Rede von den christlichen Werten. Natürlich können ChristInnen Toleranz, Barmherzigkeit, Nächstenliebe oder das Tötungsverbot aus ihrem christlichen Glauben ableiten. Aber dieselben Werte lassen sich eben auch aus anderen Quellen schöpfen: aus der antiken Literatur und Philosophie, aus sozialistischen oder sozialdemokratischen Traditionen, aus dem Bürgerlichen Strafgesetzbuch oder schlicht aus dem Zusammenleben mit anderen. Angehörige anderer Religionen können sich zudem mit Recht darauf berufen, dass diese Werte auch in ihrem Glauben eine zentrale Rolle spielen. Deshalb ist es falsch, so zu tun, als ob es sich dabei um Überzeugungen handelt, die exklusiv christlich sind. Doch wozu überhaupt diese Verengung auf religiöse Wurzeln und Traditionen? Viele für unser Zusammenleben zentrale Prinzipien sucht man im Neuen Testament vergebens, ebenso in der Tora oder im Koran. Das ist den Religionen nicht vorzuwerfen, zeigt aber, dass sich auf ihrer Basis das Zusammenleben im 21. Jahrhundert eben nicht regeln lässt. Die Freiheit des Individuums, die Gleichberechtigung der Geschlechter, das Folterverbot oder das Recht auf freie Meinungsäußerung, um nur einige grundlegende Errungenschaften des modernen Rechtsstaates zu nennen, sind in unserer Verfassung formuliert und in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, auf die wir im Ausland so gerne verweisen. JedeR kann sie dort nachlesen. Und – für eine plurale Gesellschaft essenziell – es können sich darin auch diejenigen wiederfinden, die sich nicht in eine christliche Tradition stellen können oder wollen. Tatsächlich kann die Vielzahl öffent­ licher Bekenntnisse zum Christentum nämlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die beiden großen christ­ lichen Kirchen in den vergangenen Jahren massiv an gesellschaftlicher Relevanz verloren haben. 2008 – also noch vor dem großen Missbrauchsskandal – verließen nach Berechnungen der Forschungsgruppe für Weltanschauungen fast 170.000 Mitglieder die evangelische Kirche, bei den KatholikInnen waren es über 120.000, jeweils rund 30.000 mehr als im Vorjahr. Das hat – stärker als die Einwanderung aus muslimischen Ländern und ebenso wie die Tatsache, dass einerseits mehr Kirchenmitglieder sterben als jüngere nachkommen und andererseits die Zahl der ChristInnen in den fünf neuen Ländern niedrig ist – die weltanschauliche Zusammensetzung der Bundesrepublik in den letzten vier Jahrzehnten nachhaltig verändert. Machten KatholikInnen und ProtestantInnen 1970 zusammen noch fast 95 Prozent der Bevölkerung aus, bilden heute die Konfessionsfreien mit knapp 35 Prozent die größte Gruppe, gefolgt von Angehörigen der evangelischen und der katholischen Kirche mit jeweils knapp dreißig Prozent. ExpertInnen gehen davon aus, dass um das Jahr 2025 eine Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung keiner der beiden großen christlichen Kirchen mehr angehören wird. Was die Frage eröffnet, wie lange die zahlreichen gesellschaftlichen Privilegien (vgl. S. 22), die die christlichen Kirchen hierzulande genießen und zu deren Finanzierung alle SteuerzahlerInnen herangezogen werden, eigentlich noch gerechtfertigt sind. Ethik und Moral auch ohne Religion S ich auf säkulare Prinzipien zu beziehen meint übrigens nicht, Religionen völlig aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen. Im Gegenteil: Die in den Menschenrechten wie im Grundgesetz garantierte Religions­ freiheit sowie die weltanschauliche Neutralität unseres Staates sind es, die Angehörigen aller Religionsgemeinschaften das Recht zur freien Religionsausübung einräumen. MenschenrechtsexpertInnen betrachten Minarett- und Kopftuchverbote deshalb zu Recht ausgesprochen kritisch. In Deutschland gilt zudem: Sollen die Privilegien der christlichen Kirchen Bestand haben, müssen auch andere Religionsgemeinschaften daran teilhaben können. Wer also am christ­ lichen Religionsunterricht festhalten will, kann den islamischen nicht verbieten. In diesem Sinne gehört der Islam in der Tat zu Deutschland. Aber auch wenn der öffentliche Diskurs es ungern wahrhaben will, unsere Gesellschaft ist inzwischen mehrheitlich säkular orientiert. »Ich führe ein eigenständiges, selbstbestimmtes Leben, frei von Religion und dem Glauben an einen Gott, das auf ethischen und moralischen Grundsätzen beruht«, mit diesem Lebensprinzip können sich mittlerweile 56 Prozent der Deutschen identifizieren. Es wäre schön, wenn das in künftigen Debatten berücksichtigt würde. Karin Nungeßer lebt als freie Journalistin in Berlin und Brandenburg. FrauenRat 6/10 21 Thema Das Kirchenprivileg Wie der Staat die christlichen Kirchen mitfinanziert von Karin Nungeßer W ohlwollende Neutralität«, so nennen KirchenrechtlerInnen das Konzept, nach dem der Staat in Deutschland sein Verhältnis zu den Religionsgemeinschaften organisiert. Einerseits gibt es hier seit 1919 eine institutionelle Trennung von Staat und Kirche. Anders als laizistische Staaten, wie Frankreich oder die USA, betrachtet der deutsche Staat die Frage der Religionsausübung jedoch nicht als Privatangelegenheit seiner BürgerInnen. Er selbst ist zwar weltanschaulich neutral, verpflichtet sich aber, Religionsfreiheit und kirchliches Selbstbestimmungsrecht zu gewährleisten. So ist der Religionsunterricht an staatlichen Schulen verfassungsrechtlich geschützt »ordentliches Lehrfach«. Erteilt wird er jedoch in der Verantwortung und nach den Grundsätzen der betreffenden Religionsgemeinschaft – ein typisches Beispiel für die »hinkende Trennung« oder die »wohlwollende Neutralität« des Staates im Umgang mit Religionsgemeinschaften. Zurück gehen diese Regelungen auf den Weimarer Kirchenkompromiss von 1919, später haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes die entsprechenden Artikel der Weimarer Reichsverfassung übernommen. Daraus abgeleitet werden zahlreiche Privilegien, von denen bislang vor allem die beiden großen christlichen Kirchen profitieren. So finanziert der Staat die Ausbildung von christlichen ReligionslehrerInnen, Priestern und PfarrerInnen an den theologischen Fakultäten der staatlichen Hochschulen, er zieht Kirchensteuern ein und finanziert christliche Hilfs- und Missionswerke mit. Zudem kommt er – als Ausgleich für vor Jahrhunderten enteignete Kirchengüter – bis heute für die Gehälter kirchlicher WürdenträgerInnen auf. KritikerInnen beziffern die Kosten für die staatliche Unterstüt- 22 FrauenRat 6/10 zung der Kirchen hierzulande auf mehrere Milliarden Euro jährlich. Sonderrechte räumt der Staat den Kirchen auch im Arbeitsrecht ein: So gilt in kirchlichen Einrichtungen statt des Betriebsverfassungsgesetzes nur das deutlich weniger konkrete Kirchliche Mitarbeitervertretungsgesetz, in Konfliktfällen entscheiden nicht bundesdeutsche Arbeitsgerichte, sondern kircheneigene Schlichtungsstellen, Streiks sind verboten. MitarbeiterInnen in kirchlichen Betrieben werden oft unter Tarif bezahlt und unterliegen speziellen Loyalitäts­ obliegenheiten: Wer etwa als LeiterIn einer katholischen Kita aus der Kirche austritt, nach einer Scheidung erneut heiratet, offen lesbisch lebt oder in der Abtreibungsfrage öffentlich eine liberale Position vertritt, muss mit der Kündigung rechnen. Entsprechende Sonderrechte wurden den Kirchen im Allgemeinen Gleichbehandlungsrecht 2006 noch einmal ausdrücklich bestätigt. Auch im Hinblick auf ihre Repräsentanz in öffentlichen Gremien genießen die beiden großen christlichen Kirchen eine Sonderstellung. So sitzen ihre VertreterInnen im Beirat für den Zivildienst, in den Denkmalräten der Länder, der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien und im Nationalen Ethikrat. In den Rundfunkräten der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten sind die katholische und evangelische Kirche mit je mindestens einer Repräsentantin oder einem Repräsentanten vertreten, ebenso die Jüdischen Gemeinden. VertreterInnen anderer Religionsgemeinschaften sowie der Konfessionslosen sucht man dagegen vergebens. Andere gesellschaftliche Gruppen wie Frauen, behinderte Menschen, MigrantInnen oder Homo­sexuelle sind in diesen Gremien meist deutlich unter- oder überhaupt nicht repräsentiert. KritikerInnen sehen in der Privilegierung der christlichen Kirchen einen Verstoß gegen die grund­ gesetzlich garantierte weltanschauliche Neutralität des Staates. Das gilt auch für das sogenannte Drittsenderecht: Darin räumt der Staat den beiden großen christlichen Kirchen sowie den Jüdischen Gemeinden kostenlose Sendezeiten im Radio und Fernsehen ein. Produziert werden die sogenannten Verkündigungssendungen von den Religionsgemeinschaften, lediglich im Falle strafrechtlicher Verstöße dürfen die Sender einschreiten. So strahlt das ZDF jeden Sonntag im Wechsel evangelische und katholische Gottesdienste aus, an hohen christlichen Feiertagen tut dies auch die ARD, die mit dem »Wort zum Sonntag« zudem die prominenteste christ­liche Verkündigungssendung im Programm hat. Auch die Hörfunksender überlassen den Kirchen regelmäßig Sendezeiten; jüdische Verkündungssendungen haben unter anderem der Rundfunk Berlin-Brandenburg, der Südwestrundfunk (SWR), der Hessische, Norddeutsche und Bayrische Rundfunk im Programm. Das einzige islamische Format im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist bislang das »Islamische Wort« des SWR, es wird allerdings nicht ausgestrahlt, sondern lediglich als Text- und Audiodatei angeboten. Vom Grundgesetz her, so Rosemarie Will, ehemalige Richterin am Brandenburger Verfassungsgericht und Vorsitzende der Humanistischen Union, seien in einer weltanschaulich immer pluraleren Gesellschaft künftig beide Wege möglich: »Entweder der Staat verzichtet auf die Sichtbarkeit der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften im öffentlich-rechtlichen Raum – oder er muss die bisher bestehenden Privilegien umverteilen.«