Mitgefühl - In Alltag und Forschung

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Handlung schließlich ist das Verhalten, das sich aus einem transformierten Zustand von Geist,
Herz und Sein speist[2].
Im Folgenden wird in einem kurzen Essay beschrieben, wie die tibetisch-buddhistische Tradition
Mitgefühl vor dem Hintergrund der Konzepte von Leid und dessen Ursachen versteht. Zudem wird
erläutert, wie das Mitgefühl über die dargestellten Konzepte von Sichtweise, Meditation und
Handlung geschult werden kann (siehe Box VII).
SICHTWEISE
Überblick und Quellen
In der tibetisch-buddhistischen Tradition stehen Unmengen von Texten zur Verfügung, die
entweder aus dem Sanskrit in das Tibetische übersetzt oder über Jahrhunderte hinweg als
tibetische Originale neu verfasst wurden. Der ursprüngliche Kanon ist in drei Kategorien unterteilt,
die als Sutras, Vinaya und Abhidharma bezeichnet werden. Die meisten der als Sutras
bezeichneten Texte beschäftigen sich mit den Lehrreden des Buddha sowie seinen
Lebensgeschichten, die Vinaya enthält die monastischen Verhaltensregeln und der Abhidharma[3]
behandelt im weiteren Sinne die buddhistische Psychologie und Metaphysik. Auf der Grundlage
dieser Quellentexte wurden viele Kommentare mit dem Ziel verfasst, die jeweiligen Bedeutungen
und Anwendungen zu beleuchten. Dabei werden Aspekte der Wirklichkeit untersucht sowie
Konzepte des Geistes, die Metaphysik, philosophische Systeme und die Meditation erklärt. Einige
dieser Texte sind sehr fachspezifisch, während andere eher praxisorientiert geschrieben sind. In
Bezug auf Meditation und Mitgefühlstraining stechen unter diesen vielen Quellen besonders zwei
hervor: „The Stages of Meditation“[4]von Kamalashila und „The Way of the Bodhisattva“[5] von
Shantideva. Beide Texte sind zwischen dem achten und neunten nachchristlichen Jahrhundert
entstanden und haben die Entwicklung des tibetischen Buddhismus enorm beeinflusst. Sie können
zudem als praktische Leitlinien für die Meditation, die Schulung geistiger Qualitäten und das
Verhalten im täglichen Leben dienen.
Beide Texte beleuchten, was destruktive Gefühle sind, warum sie zu Leid führen, und
untersuchen, ob es Kräfte gibt, die solch quälenden Gefühlen entgegengesetzt werden können.
Nach einer Identifizierung der geistigen Qualitäten, die solchen Leid induzierenden Emotionen
gegenüberstehen, wird in diesen Texten erläutert, wie sich tugendhafte Geistesqualitäten
entwickeln lassen, mit denen negative Emotionen überwunden werden, und wie sich der Geist
stabilisieren lässt, wenn er diese positiven mentalen Qualitäten erst einmal entwickelt hat.
Leid
Wenn wir Leid verstehen wollen, müssen wir die verschiedenen Arten von Leid betrachten. Aus
buddhistischer Weltperspektive lassen sich drei Kategorien von Leid unterscheiden:
1. Das Leid des Leidens
2. Das Leid der Veränderung
3. Das allumfassende Leid
ie erste Art des Leids ist das offensichtliche Leiden, etwa Fieber, eine Prellung oder eine
D
Krankheit. Diese Leiden werden auch als offensichtliche Formen des Leids bezeichnet, da es sich
um augenscheinliche und eindeutig unangenehme Empfindungen handelt. Aber diese Leiden sind
nicht nur evident, sondern setzen sich oft auch aus mehreren Sinnesempfindungen zusammen: So
fühlen wir uns nicht nur fiebrig, sondern haben gleichzeitig auch noch Kopfschmerzen. Darum wird
diese Erfahrung als „Leid des Leidens“ bezeichnet.
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