kurzfassung

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KURZFASSUNG
Marketing und Hirnforschung
Ein Blick über den Tellerrand
Autor: Christian Scheier
1. Neuromarketing = fMRT?
Fast alle Beiträge zum Neuromarketing setzen die Schnittstelle zwischen Hirnforschung und
Marketing gleich mit der Anwendung der bildgebenden Verfahren wie fMRT (funktionelle
Magnetresonanztomografie) oder PET (Positronen-Emissions-Tomografie) auf Marketingfragen. Wobei das Problem nicht in der Anwendung der neuen Messverfahren liegt, sondern
in der Gleichsetzung von „Neuromarketing = bildgebende Verfahren“. Schließlich hat die
Hirnforschung weit mehr als nur ein Messverfahren zu bieten: Längst stehen für die
Marktforschung gewinnbringende Erkenntnisse über die Funktionsweise des Gehirns zur
Verfügung. Setzt man Neuromarketing allerdings weiter gleich mit bildgebende Verfahren
wird es in naher Zukunft keine Relevanz in der Marketingpraxis finden! Chancen und
Erkenntnisse ergeben sich beim Blick über den Tellerrand – wenn man sich der
Hirnforschung insgesamt zuwendet.
2. Zwei-Prozess-Modelle
Wie können Erkenntnisse der Hirnforschung gängige Denkmodelle im Marketing verfeinern
und erweitern? Dazu bieten sich beispielhaft die so genannten Zwei-Prozess-Modelle an, die
sowohl im Marketing als auch in der Hirnforschung und in der Psychologie zu finden sind.
Zwei prominente Beispiele sind das ELM und das Hemisphärenmodell. Beide Modelle
überlappen sich, indem sie davon ausgehen, dass die periphere Verarbeitung etwa einer
Anzeige eher emotional ist, während die zentrale Verarbeitung eher rational beziehungsweise kognitiv verläuft. Auch 30 Jahre später, in der aktuellen Hirnforschung, findet die
Unterscheidung von zwei verschiedenen Prozessen weiterhin statt: Die Trennlinie verläuft
zwischen automatisierten (oder auch impliziten) und kontrollierten Prozessen. Automatische
Prozesse sind hocheffizient und laufen ohne Absicht ab, beim impliziten Lernen lernt das
Gehirn, obwohl keine bewusste Absicht besteht – das ist von großer Bedeutung für das
Marketing, da die wenigsten Werbebotschaften absichtlich gelernt werden. Viele Studien
zeigen, dass das Gehirn die Lösung einer Aufgabe wenn möglich automatisiert, damit es
weniger Ressourcen braucht, effizienter arbeitet. Und genau so wirken auch starke Marken:
Sie entlasten das Nachdenken. Das Markenlernen ist demnach ein Spezialfall einer
allgemeinen – gut untersuchten – Strategie des Gehirns. Das eröffnet neue Chancen für das
Verständnis, wie Marken gelernt werden – und wie Marken und Werbung im Gehirn wirken.
Viele Studien zeigen, dass automatisierte Prozesse oft in optimalen (rationalen)
Entscheidungen resultieren – gerade bei komplexen Entscheidungen spielen implizite
Mustererkennungsprozesse eine entscheidende Rolle. Das führt zu der Schlussfolgerung,
dass bei komplexen Produkten, insbesondere die automatisierten Lernvorgänge, aber auch
Emotionen und andere Vereinfachungsstrategien relevant sind und in der werblichen
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Ansprache berücksichtigt werden sollten. Vor diesem Hintergrund ist die Zweiteilung von
„Emotion“ und „Ratio“ zu hinterfragen.
Die Erkenntnisse der impliziten Lern- und Entscheidungsvorgänge widerlegen auch eine
andere Expertenmeinung: Demnach kann Markenkommunikation auch dann nachhaltig
wirken, wenn sie nur für eine kurze Zeitdauer betrachtet wird. Und: „Aufmerksamkeitswaffen“
schaden demnach mehr als sie nutzen, weil sie das implizite Lernen und die Mustererkennung verhindern. Also geht es darum, Werbung so zu gestalten, dass implizites Lernen
ermöglicht wird.
3. Implizites Lernen: Lernen ohne Absicht
Intuition ist das bewusste Erleben von implizit Gelerntem. Starke Marken lösen intuitives,
spontanes beziehungsweise automatisiertes Verhalten aus. Bei der Frage, welche
Informationen über implizites Lernen aufgenommen werden können, hat die Forschung
große Fortschritte erzielt, die für das Marketing nutzbar sind. So wie Kinder ihre Muttersprache implizit lernen, ist es Ziel des Marketings, Marken mit Bedeutung aufzuladen, mit
Assoziationen wie Frische oder Natürlichkeit. Die Forschung zum so genannten semantischen Priming zeigt, dass solche Assoziationen gelernt werden können. Auch Musik lädt
Marken implizit mit Bedeutung auf – und das sogar deutlich effizienter als etwa bei
sprachlichen Botschaften, wie beeindruckende Versuche zeigen. Musik in TV-Spots kann
konkrete und abstrakte Bedeutung effizient sowie implizit kommunizieren – und weit mehr als
emotionale Information vermitteln. Es gilt deshalb im Marketing, diese Bedeutung proaktiv zu
steuern. Insgesamt eröffnen die Erkenntnisse zum impliziten Lernen ein neues Verständnis
dafür, wie Markenkommunikation wirkt. Dabei zeigt die Hirnforschung nachdrücklich, wie eng
Emotion und Erinnerung zusammenhängen.
4. Marketingforschung
Ein Großteil der marketingrelevanten Vorgänge läuft im Gehirn automatisiert und implizit ab
– wie also können diese Prozesse erforscht werden? Implizites Wissen äußert sich in
Verhalten – und das kann man messen. Wir haben eine ganze Reihe solcher Verfahren
entwickelt, mit denen man das implizite Wissen und die spontanen Reaktionen auf
Marketingbotschaften, über die herkömmliche Befragung hinaus, abbilden kann. Solche
Studien zeigen, dass bei einem erheblichen Teil der Werbekampagnen die Marke nicht
genügend implizit kodiert ist – und entsprechend Handlungsbedarf besteht. Die große
Chance liegt in der systematischen Sichtung und Umsetzung bestehender Erkenntnisse über
die Funktionsweise des Gehirns in der Marketingpraxis!
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