Leitlinien für Organisationen, die Information über seltene

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Leitlinien für Organisationen,
die Information über seltene Erkrankungen anbieten
Vorbemerkung
Alle Menschen haben, ungeachtet ihrer Rasse, Religionszugehörigkeit oder Nationalität,
ein Anrecht auf einen hohen Standard der grundlegenden Gesundheitsversorgung. Entsprechend sollten auch bei der Praxis der Informationsdienste die höchsten Standards
und ethischen Grundsätze gefördert werden.
Der Zugang zu Informationen ist ein fundamentales Recht, unabhängig davon, ob die
Krankheit häufig oder selten ist. Die Information über seltene Erkrankungen ist eine der
bedeutendsten Dienstleistungen, die Patientenorganisationen bereitstellen können. Dies
ist insbesondere der Fall, da sich Menschen mit seltenen Erkrankungen oft isoliert fühlen,
sowohl auf Grund der Seltenheit der Erkrankung, von der sie oder ein Familienmitglied
betroffen ist, wie auch auf Grund der weiteren Umstände, die sich aus der genetischen
Ursache der meisten seltenen Erkrankungen ergeben. Ein weiterer Grund hierfür liegt in
existierenden Hindernissen beim Zugang zu brauchbaren, qualitätsgesicherten und verständlichen Informationen über seltene Erkrankungen. Vieles mag irritierend sein, da
seltene Erkrankungen oft komplexe Syndrome mit verschiedenen Definitionen und Synonymen darstellen, was die betroffenen Personen noch mehr isoliert.
Einige Daten über seltene Erkrankungen in Europa1:
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Ein Anteil von 5 bis 6% der EU-Bevölkerung (d.h. 27 Millionen Menschen nach
der Erweiterung)
6.000 bis 7.000 (oder sogar mehr) verschiedene Erkrankungen
Eine sehr heterogene Population, wobei die meisten Patientengruppen nur
wenige oder sehr wenige Menschen vertreten (regelmäßig weniger als 100
Betroffenen).
80 % der Erkrankungen sind genetischen Ursprungs
Sie verursachen Behinderungen (44 % mit Mobilitätsbeeinträchtigung) und
Entstellungen (37%), sowie Diskriminierungen und Probleme, nicht nur für
behinderte Kinder im täglichen Leben, sondern auch für behinderte Erwachsene
im Umgang mit gesunden Kindern.
Sie verlaufen chronisch; sie stellen 10 % aller Erkrankungen dar und sind
Hauptursache für den Tod junger Menschen (35 % Sterblichkeit vor dem ersten
Lebensjahr, 12 % zwischen dem 5. und 15. Lebensjahr)
Etwa der Hälfte aller betroffenen Menschen gelingt es nicht, eine Diagnose zu
erhalten.
Einleitung
Patientengeführte Selbsthilfegruppen sind bei seltenen Erkrankungen eine unvergleichliche Informationsquelle. Sie haben ein einzigartiges Spezialwissen entwickelt, das in Gänze genutzt werden sollte - sofern sich die Selbsthilfegruppen an die bewährte Praxis halten, wie sie europaweit von existierenden Gruppen identifiziert worden ist und praktiziert
wird.
Ein Informationsdienst ist immer selbst dafür verantwortlich, Informationen von hoher
Qualität bereitzuhalten, die an die Bedürfnisse der Ratsuchenden angepasst sind, was
auch immer der Anlaß für die Kontaktaufnahme sein mag. Bei der Vermittlung von
Informationen
sollte
der
Informationsdienst
immer
mit
Respekt
und
Einfühlungsvermögen handeln.
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Orphanet 2003
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Diese Empfehlungen sind als Leitfaden für anerkannte bewährte Praxis gedacht. Es wird
die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass die Leser alle Anstrengungen unternehmen,
um diese bewährte Praxis innerhalb des jeweils entwickelten oder überprüften
Informationsdienstes umzusetzen. Die jeweils bereitgestellte Information gründet auf der
Erfahrung von Patienten; selbstverständlich wird sie damit zu einem gewissen Grad durch
die verfügbaren Ressourcen bestimmt, sowie davon, ob der Informationsdienst durch
Ehrenamtliche oder bezahlte Mitarbeiter bereitgestellt wird. Dennoch gibt es einen
Kernbestand an Werten, der unabhängig von Größe, Erfahrung und Ressourcen
praktiziert werden sollte.
Diese Werte sind universell anwendbar, sowohl für kleine Gruppen wie für große, und sie
stellen langfristige Ziele dar, die erreicht werden sollten. Ihre Anwendung sollte den
kulturellen und politischen Hintergrund sowie den Tätigkeitsbereich und die Ressourcen
jeder Gruppe berücksichtigen. Die Zurverfügungstellung von Informationen ist schließlich
nur eine von vielen Leistungen, die Patientenorganisationen anbieten können.
Organisationsprinzipien
Expertenwissen der Patienten: Erkennen Sie die Bedeutung der Patienten und
Familien als Quelle von Informationen, Expertenwissen und Einfühlungsvermögen an.
Stellen Sie sicher, dass die Informationsdienste auf jeder Stufe der Leitung der
Organisation und der Entwicklung des Informationsdienstes immer möglichst auch
Menschen mit seltenen Krankheiten beteiligen.
Integrativer Ansatz: Erkennen Sie den Wert der Familie und der Unterstützer an und
beziehen Sie diese dort ein, wo dies angemessen ist. Denn die durch seltene
Erkrankungen betroffenen Personen können körperliche Einschränkungen haben oder von
einer neurologischen Behinderung betroffen sein. Bzgl. der Wertschätzung der
Gruppenmitglieder sollte nicht zwischen Patienten und Nicht-Patienten unterschieden
werden.
Zugänglichkeit: Stellen Sie Informationsdienste in einer Umgebung bereit, die
zugänglich ist und Vertraulichkeit gewährleistet. Schwere Behinderungen sind bei
seltenen Erkrankungen häufig. Wo immer dies möglich ist, sollten diese Dienste für
Patienten mit seltenen Erkrankungen und ihre Familienmitglieder kostenlos verfügbar
sein.
Sensibilität: Stellen Sie angemessene und effektive Dienste dadurch sicher, dass Sie
Menschen beteiligen, welche die Einstellungen von Nutzern und Unterstützern als
Experten bei der Bestimmung ihrer eigenen Wünsche und Bedürfnisse widerspiegeln.
Bzgl. der Wünsche und Bedürfnisse werden Fragen zur Erblichkeit als häufiges Anliegen
geäußert, da eine Mehrzahl der seltenen Erkrankungen genetischen Ursprungs ist.
Verpflichtungen gegenüber den Mitarbeitern: Stellen Sie den Informationsdienst
durch Mitarbeiter bereit, die – ob ehrenamtlich oder bezahlt – unterstützt und gut
ausgestattet werden und die verantwortlich sind.
Expertenbeirat: Da Informationen zu seltenen Erkrankungen meistens spärlich und von
nur begrenzt allgemeingültigen Quellen stammen, sollten Sie einen Expertenbeirat mit
Experten bilden (Sozialarbeiter, Juristen, Kliniker, Grundlagenwissenschaftler), an den
Sie soziale, medizinische oder wissenschaftliche Fragen richten können. Ein solcher Beirat
könnte ggf. auch Genetiker beinhalten.
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Ethische Prinzipien
Vertraulichkeit und Informationsnutzung: Respektieren Sie immer den Datenschutz
und die Anonimisierung von persönlichen Daten, sofern dies nicht schriftlich durch den
Betroffenen anders bestimmt wurde. Stellen Sie sicher, dass Daten immer
zweckgebunden gesammelt, genutzt und gespeichert werden. Jegliche Daten für
statistische Untersuchungen oder für Zwecke der Evidenzermittlung sollten nur anonym
und nach erfolgtem Einverständnis an ein größeres Publikum verbreitet werden.
Loyalität: Stellen Sie sicher, dass die erste Loyalität der Kontaktperson immer der
Person gilt, der sie Informationen liefert, und dies immer in einer Weise geschieht, die
Vertraulichkeit wahrt.
Anti-Diskriminierungs-Regel: Sehen Sie jede Person ohne Unterschied an und
verhüten Sie Diskriminierung in sozialen Situationen, in Bildung, Religion, Geschlecht,
sexueller Orientierung sowie bzgl. des ethnischen oder geographischen Ursprungs.
Dienste sollten für Menschen mit seltenen Erkrankungen aller Kulturen, Konfessionen
sowie ethnischen und sprachlichen Hintergrunds zugänglich sein.
Interessenkonflikte: Seien Sie um Unabhängigkeit und Autonomie bemüht und
versuchen Sie Interessenkonflikte so gering wie möglich zu halten.
Zeichen setzten: Seltene Erkrankungen haben einen großen Einfluß auf den gesamten
Alltag, nicht nur auf die Gesundheit des Patienten. Seien Sie sich der Grenzen der
Selbsthilfeorganisation bewußt und unternehmen Sie dennoch erhebliche Anstrengungen,
um eine multi-disziplinäre Herangehensweise anbieten zu können, die sowohl
medizinische und therapeutische Themen wie auch rechtliche und politische Aspekte,
Fragen der Sozialgesetzgebung, der Ethik, finanzielle Fragen etc. beinhaltet. Seien Sie
sich darüber im Klaren, an wen Ratsuchende verwiesen werden sollten.
Objektivität: Stellen Sie sicher, dass die Beratung objektiv und vorurteilsfrei bleibt.
Verfahrensweisen
Ziele: Den Betroffenen, ihren Familien und den mit ihnen arbeitenden Hauptberuflichen
qualitätsgesicherte,
aktuelle
und
verständliche
Informationen
zu
allen
Krankheitsaspekten bereitzustellen.
Wie dies geschehen kann:
Bereich des Expertenwissens und Überprüfung der Diagnose. Bestimmen Sie den
Bereich des Expertenwissens, der einzigartig für den Informationsdienst ist. Seltene
Erkrankungen sind oft komplexe Syndrome mit verschiedenen Definitionen und
Synonymen. Ein Ratsuchender mag ohne exakte Diagnose anrufen, oder um
Informationen zu einer bereits bestätigten Diagnose zu erhalten. Da seltene
Erkrankungen und Syndrome verschiedene Namen und Synonyme haben, ist es
entscheidend sicherzustellen dass der Ratsuchende sich an den richtigen
Informationsdienst wendet.
Komplementäre Rolle: Stellen Sie sicher, dass der Informationsdienst nur aus
Erklärungen, Übersetzungen in eine verständliche Sprache sowie aus komplementärer
Information besteht. Der Dienst beabsichtigt nicht, eine Diagnose zu stellen oder einen
medizinischen Rat zu geben.
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Überprüfung der Informationen: Überprüfen Sie die Qualität der Informationen
regelmäßig und systematisch.
Bedeutung der Information: Seien Sie sich dessen bewußt, dass Informationen von
Menschen unterschiedlich interpretiert werden können, je nachdem in welchem
gefühlsmäßigen Zustand sie sich befinden, oder welche Erziehung und Erfahrung sie
haben. Passen Sie Ihre Herangehensweise hieran an, seien Sie ehrlich ohne zu
verschrecken und lassen Sie den Ratsuchenden das Tempo bestimmen, nach dem
Informationen gegeben werden. Die Prognose über den Verlauf einer seltenen
Erkrankung ist oft bestürzend.
Weiterbildung. Halten Sie sich bzgl. des medizinischen Wissens und des medizinischen
Fortschritts auf dem Laufenden, und bilden Sie Ehrenamtliche und
Mitarbeiter
kontinuierlich weiter.
“Isolierte” Menschen: Erleichtern Sie Kontakte zwischen Menschen mit nur vereinzelt
auftretenden Erkrankungen; bauen Sie strukturierte Informationswege für sehr seltene
Erkrankungen auf.
Kommunikationsfähigkeit: Stellen Sie sicher, dass sich der Ratsuchende im Zentrum
der Aufmerksamkeit befindet, indem Sie gute Kommunikationsfähigkeit zeigen,
persönliche Bedürfnisse beiseite stellen und dem Ratsuchenden so viel Zeit geben wie
benötigt.
Klarheit: Stellen Sie sicher, dass alle Methoden, nach denen Informationen bereitgestellt
werden (Informationswerkzeuge), fortlaufend auf ihre Genauigkeit, Klarheit und
Zugänglichkeit bzgl. Inhalt, Format und Darstellung überprüft werden.
Kommentar der ACHSE
Diese Leitlinien wurden von EURORDIS auf der Grundlage der im EU-finanzierten Pard-3Projekt gesammelten und diskutierten Vorschläge nationaler Patientenorganisationen und
Allianzen erstellt und von Mitgliedern der ACHSE (Allianz Chronischer Seltener
Erkrankungen, einer Sonderorganisation in der BAGH) als Diskussionsgrundlage vom
Englischen ins Deutsche sinngemäß übertragen. Die Mitgliedsorganisationen der ACHSE
werden gebeten, auf der Grundlage dieser vorliegenden Fassung Vorschläge für eine
Weiterentwicklung und Anpassung der Leitlinien an die deutsche Situation zu formulieren.
EURORDIS konzentriert sich bei diesen Leitlinien auf die Informationstätigkeit von
Patientengruppen und spricht hier von Informationsdiensten („Information Services“).
Dabei werden „Dienst“, „Dienste“ und „Informationsdienste“ offensichtlich synonym
verwandt.
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