Ausgabe A - Deutsches Ärzteblatt

Werbung
POLITIK
TAG DER SELTENEN ERKRANKUNGEN
Mehr Aufmerksamkeit für
Waisenkinder der Medizin
Etwa vier Millionen Menschen sind bundesweit von einer seltenen
Erkrankung betroffen. Häufig fehlen Ärzten Informationen über
Krankheiten jenseits des regulären medizinischen Spektrums. Das
Selbsthilfenetzwerk ACHSE möchte das ändern.
ür Patienten mit einer seltenen
Erkrankung kommen der Weg
zur Diagnose und die Behandlung
oft einer Odyssee gleich: Sie haben
komplexe körperliche Beschwerden, laufen häufig ergebnislos von
Arzt zu Arzt und leiden aufgrund
der Ungewissheit ihrer Situation
auch seelisch sehr stark. Durchschnittlich dauert es sieben Jahre,
bis eine seltene Erkrankung diagnostiziert werden kann. Und mit der
Diagnose beginnt erst die mühsame
Suche nach Therapien und Medikamenten. Als selten gilt eine Krankheit, wenn nicht mehr als fünf von
10 000 Menschen betroffen sind.
Etwa 7 000 seltene Krankheiten
sind weltweit bekannt. 80 Prozent
der Erkrankungen sind genetisch
bedingt. Mehrheitlich sind Kinder
davon betroffen.
Auch für Ärzte ist der Umgang
mit Patienten, die an schwer einzuordnenden Symptomen leiden, eine
Herausforderung. Denn das Wissen
über seltene Krankheiten ist nicht
groß. Dementsprechend schwierig
ist es, eine solche zu erkennen und
die Patienten an den richtigen Facharzt zu überweisen. Zudem bleibt
vielen Ärzten im Praxisalltag nur
wenig Zeit. „Die Ärzte können
Patienten, die von einer seltenen
Erkrankung betroffen sind, kaum
gerecht werden“, erklärt Dr. med.
Christine Mundlos von der Allianz
Chronischer Seltener Erkrankungen
e.V. (ACHSE), einem Zusammenschluss von Patientenorganisationen der Selbsthilfe. Allerdings fehle
es vielen Medizinern auch am Bewusstsein, dass der Patient an einer
seltenen Erkrankung leiden könnte,
sagt Mundlos. Mit Konsequenzen:
F
A 430
„Wenn Symptome nicht richtig eingeordnet werden können, hat das
Folgen für die Diagnosestellung
und Therapie. Das ist für die Patienten sehr frustrierend.“
Das Netzwerk ACHSE hat es
sich deshalb zur Aufgabe gemacht,
Ärzte für seltene Erkrankungen zu
sensibilisieren und ihnen konkret zu
helfen: Seit knapp einem Jahr steht
Mundlos an der Charité – Universitätsmedizin Berlin Ärzten aus dem
gesamten Bundesgebiet als Lotse
zur Seite, wenn sie Fragen zu seltenen Erkrankungen haben, Unterstützung bei der Diagnosestellung
benötigen oder bei der Behandlung
von Betroffenen an ihre Grenzen
stoßen. Mundlos spricht mit den
Ärzten über die fraglichen Krankheitsbilder, überprüft Patientenunterlagen, recherchiert zielgerichtet
und versucht, die Symptome besser
einzuordnen. Falls nötig, vermittelt
sie den ratsuchenden Arzt an einen
Experten. Dabei greift sie auf das
Know-how des ACHSE-Netzwerks
zurück: Mehr als 90 Gruppierungen
haben sich unter dem Dach der
Selbsthilfeorganisation zusammengeschlossen.
Zu den wenigen Experten auf
dem Gebiet der kaum bekannten
Krankheiten zählen zweifellos Dr.
med. Karin Jurkat-Rott und Dr.
med. Marc-André Weber. Sie bekamen anlässlich des Tages der seltenen Erkrankungen am 28. Februar
den Eva-Luise-Köhler-Forschungspreis für Seltene Erkrankungen verliehen. Damit ehrt die Stiftung von
Eva Luise und Horst Köhler in Kooperation mit der ACHSE Mediziner, die sich um die Erforschung
seltener Erkrankungen verdient gemacht haben. Jurkat-Rott und Weber erhielten den mit 50 000 Euro
dotierten Preis für ihren innovativen Ansatz zur Verbesserung der
Therapie von Patienten mit hypokaliämischer periodischer Paralyse.
Die Betroffenen leiden an Muskellähmungsattacken.
■
Nora Schmitt-Sausen
@
Die Allianz Chronischer Seltener
Erkrankungen im Internet:
www.achse-online.de
EINSATZ FÜR SELTENE ERKRANKUNGEN
In den vergangenen Jahren sind die Bemühungen, das Wissen auf dem Gebiet der seltenen Erkrankungen zu verbessern, europaweit verstärkt
worden. Die Europäische Kommission hat ihren
Mitgliedstaaten empfohlen, bis spätestens 2013
nationale Aktionspläne zu erarbeiten. Zudem sollen in den EU-Staaten nationale und regionale
Referenzzentren entstehen. Etwa 30 Millionen
Menschen leiden in der Europäischen Union an
einer seltenen Erkrankung.
Das Bundesgesundheitsministerium hat kürzlich
ein Aktionsbündnis für Menschen mit seltenen Erkrankungen (NAMSE) vorgestellt. NAMSE soll dazu
dienen, ein gemeinsames, koordiniertes und zielori-
entiertes Handeln der maßgeblichen Akteure im
deutschen Gesundheitswesen zu ermöglichen. Die
Initiative soll außerdem dabei helfen, europäische
Maßnahmen in Deutschland umzusetzen.
Auch im universitären Bereich kommt in
Deutschland in jüngerer Vergangenheit Bewegung
in die Behandlung und Erforschung seltener
Erkrankungen: Das Universitätsklinikum und die
Universität Tübingen haben Anfang 2010 das
bundesweit erste Zentrum für seltene Erkrankungen gegründet. Zudem sind die Universitätskliniken in Frankfurt am Main, Freiburg und Regensburg sowie die Berliner Charité für ihr Engagement
auf dem Gebiet bekannt.
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 107 | Heft 10 | 12. März 2010
Herunterladen