Eine Ethik der Affektivitåt: Die Lebensphånomenologie Michel Henrys

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Frdric Seyler
Eine Ethik der Affektivitt:
Die Lebensphnomenologie
Michel Henrys
VERLAG KARL ALBER
A
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Beinhaltet die Lebensphnomenologie Michel Henrys eine Ethik
und, wenn dies der Fall ist, welches sind ihre Grundzge? Das vorliegende Buch will dieser Fragestellung nachgehen und den von
Henry nur skizzierten ethischen Ansatz systematisch untersuchen. Die henrysche Alternative zwischen Barbarei und Kultur,
sowie die zentrale Stellung des Lebensbegriffs als immanenter
Affektivitt bieten sich als Leitfaden an, um die Mglichkeit und
den Sinn einer Ethik der Affektivitt zu erfassen. Doch wie kann
ein ethischer Diskurs ber das immanente und somit vorintentionale Leben berhaupt stattfinden? Der im letzten Teil der Untersuchung entwickelte Begriff der Quasi-Performativität soll dieses
Problem lsen helfen und zugleich aufzeigen, dass die Lebensphnomenologie als solche eine ethische Praxis darstellt.
Zum Autor:
Frdric Seyler (geb. 1967 in Marburg), Dr. phil., Promotion ber
die Lebensphnomenologie Michel Henrys (Universitt Metz),
Lehrbeauftragter fr Philosophie an den Universitten Metz und
Luxemburg; Publikationen in den Bereichen Phnomenologie und
Ethik, Forschungs- und bersetzungsarbeiten zu Fichte (GEFLFParis).
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Seele, Existenz und Leben
Band 13:
Frdric Seyler
Eine Ethik der Affektivitt:
Die Lebensphnomenologie
Michel Henrys
Verlag Karl Alber Freiburg / Mnchen
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Seele, Existenz und Leben
Herausgegeben von
Gnter Funke und Rolf Khn
in Zusammenarbeit mit dem
Institut fr Existenzanalyse und Lebensphnomenologie Berlin
(www.guenterfunkeberlin.de)
sowie dem
Forschungskreis Lebensphnomenologie, Freiburg i. Br.
(www.lebensphaenomenologie.de)
Gedruckt mit freundlicher Untersttzung
der Erzdizese Freiburg
Originalausgabe
VERLAG KARL ALBER
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010
Alle Rechte vorbehalten
www.verlag-alber.de
Satz: SatzWeise, Fhren
Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten
Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier (surefrei)
Printed on acid-free paper
Printed in Germany
ISBN 978-3-495-48403-6
Inhalt
VORWORT
7
EINLEITUNG: ETHIK UND PATHOS
9
I. DER GEGENSATZ BARBAREI/KULTUR ALS LEITFADEN
EINER ETHIK DER AFFEKTIVITÄT
1. Kulturkritik am Beispiel der Technik
2. „Praktiken der Barbarei“ und „Praxis“ der Kultur
3. Die lebensphänomenologische
Interpretation der christlichen Ethik
II. LEBENSPHÄNOMENOLOGISCHE GRUNDLAGEN DER ETHIK
31
35
40
66
89
1. Gewissheit als Paradigma
der Lebensphänomenologie
2. Lebendiges Tätigsein und Pathos
3. Intersubjektivität und Affektivität
91
116
134
III. DIE ETHIK DER AFFEKTIVITÄT ALS PRAXIS
151
1. Gegen-Reduktion und Quasi-Performativität im
lebensphänomenologischen Diskurs
2. Die Ethik der Affektivität als Übersetzungspraxis
153
190
ZUSAMMENFASSENDE SCHLUSSBETRACHTUNG:
DIE ZWEIFACHE BEDEUTUNG DER ETHIK DER AFFEKTIVITÄT
211
LITERATUR
219
5
Vorwort
Während Kierkegaard die Verzweiflung als „Krankheit zum Tode“
bezeichnet, die einem Tod im Leben gleichkommt, thematisiert der
französische Phänomenologe Michel Henry diesen Sachverhalt als
„Vergessen“ des Lebens und seiner wesenhaften Affektivität. Doch
wenn sich das Leben als Affektivität „vergisst“ bzw. selbst verneint, wird notwendig die ethische Frage nach der Bedeutung und
Überwindung einer derartigen Lebensverneinung aufgeworfen.
Die vorliegende Arbeit untersucht daher die Möglichkeit einer
Ethik in der Lebensphänomenologie Michel Henrys, die als „Ethik
der Affektivität“ bezeichnet werden kann. Dabei konnte ich mich
auf Ergebnisse einer vierjährigen, an der Universität Metz unternommenen Forschung stützen und diese für deutschsprachige Leser erneut aufnehmen. Auch im französischsprachigen Raum fehlte
es bis jetzt an systematischen Untersuchungen zur Ethik in der
Lebensphänomenologie, was unter anderem daran liegen mag, dass
Henry selbst keine allgemeine Abhandlung zu diesem Thema verfasst hat. Der Versuch, die Ethik der Affektivität zu erkunden,
muss daher zunächst eine hauptsächlich „werkimmanente“ Perspektive einnehmen, bei der die ethischen Implikationen und der
Ethikbegriff der Lebensphänomenologie soweit wie möglich explizit gemacht werden. Dies schließt die Problematisierung der verschiedenen Etappen keineswegs aus, begrenzt aber vorläufig die
Konfrontation mit anderen ethischen Ansätzen. Erst wenn deutlich
geworden ist, welche Ethik aus der Lebensphänomenologie hervorgeht, kann eine solche Diskussion stattfinden. Daraus, dass
Letzterer hier nicht vorgegriffen werden soll, ergibt sich ein Vorgehen, welches die Ethik aus der Sicht der Lebensphänomenologie
behandelt und entwickelt. Da sich aber zeigen lässt, dass die Lebensphänomenologie als solche, und somit auch in ihrer Gesamtheit, „ethisch“ ist, eignet sich die hier eingenommene Perspektive
zugleich als Einführung in das Werk Henrys unter diesem besonderen Blickwinkel.
7
Um möglichst genaue Darstellungen und Analysen zu erlauben,
wurden zahlreiche Stellen aus diesem Werk ausführlich zitiert und
kommentiert bzw. mit Bezug auf eine mögliche Ethik der Affektivität problematisiert. Dabei wurde auf bestehende Übersetzungen
zurückgegriffen oder, falls diese nicht vorlagen, eine eigene Übersetzung erstellt. Es ist kaum verwunderlich, wenn sich das Übersetzen von Michel Henrys Schriften als schwierig herausstellt, da
sich diese bereits in ihrer französischen Originalfassung durch
komplexe Ausdrucksweisen und neu geschaffene Begriffe auszeichnen. Um die Rezeption für den deutschsprachigen Leser zu
erleichtern, wurde deshalb häufig der französische Ausdruck seiner
Übersetzung in Klammern beigefügt. Zudem kann auf die überaus
nützlichen Glossare zurückgegriffen werden, die von Rolf Kühn
für seine Übersetzungen von ‚Ich bin die Wahrheit’ (dt. 1997) und
‚Inkarnation’ (dt. 2002) angefertigt wurden und die hier aus Platzgründen nicht als Anhang übernommen werden konnten. Auch die
weiterführenden Konsequenzen der Lebensphänomenologie für die
politische Philosophie, sowie eine vergleichende Analyse mit der
ethischen Problematik beim späten Fichte, hätten den für dieses
Buch vorgesehenen Rahmen gesprengt, sodass auf die detaillierte
Einführung dieser Themen fast gänzlich verzichtet wurde, obwohl
sich ihre Kontinuität zur Ethik der Affektivität aufzeigen lässt und
somit weitere Perspektiven für die Rezeption und Diskussion der
Lebensphänomenologie offen stehen.
Für die freundliche Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Seele,
Existenz und Leben“ danke ich herzlich dem Verlag Alber und
ganz besonders Rolf Kühn, dem dieses Buch gewidmet ist.
Metz und Marburg,
Sommer 2009
F.S.
8
EINLEITUNG: ETHIK UND PATHOS
Ob1 die Lebensphänomenologie Michel Henrys eine Ethik impliziert und um was für eine Ethik es sich dabei handeln könnte, muss
zunächst als eine offene Frage angesehen werden. Ein Blick auf die
Bibliografie des Autors macht deutlich, dass Henry selbst keine
explizite und systematische Behandlung der Ethik im Sinne der
Lebensphänomenologie abgefasst hat. Hinzu kommt, dass auch die
Sekundärliteratur bzw. die weiterführenden Analysen zur Lebensphänomenologie vonseiten anderer Autoren dieses Thema sehr
selten direkt angehen (vgl. jedoch Kühn 1996; 2008; Maesschalck
u. Kokoszka 1999; Audi 2005). Und doch scheint die Schlussfolgerung, die Lebensphänomenologie könne nicht zum ethischen Diskurs beitragen, falsch zu sein. Zwei Ansatzpunkte sind hier ausschlaggebend: Erstens die Tatsache, dass einige Arbeiten Henrys
explizit auf die Ethik verweisen (vgl. Henry 2004b), zweitens der
Eindruck, dass weit größere Teile seines Werks keineswegs als
wertneutrale Ausführungen gelten können, sondern einen, wenngleich oft impliziten, axiologischen Standpunkt beinhalten und sich
somit auch ein möglicher Übergang zur Ethik abzeichnet.
Ich will im Folgenden diesem Eindruck nachgehen und zunächst diese vorwiegend implizite ethische Dimension der Lebensphänomenologie aufzeigen. Im Anschluss daran soll aber auch die
Problematik einer Ethik im Sinne Michel Henrys aufgezeigt werden, sodass, drittens, entsprechende Lösungsperspektiven sich
einführend eröffnen.
1. Die ethische Dimension der Lebensphänomenologie
Dass die Lebensphänomenologie nicht auf einem wertneutralen
und rein deskriptiven Standpunkt beruht, geht zunächst aus dem
1987 verfassten Essay ‚La barbarie’ (dt. 1994) hervor. Die dort
unternommene Kritik der „Barbarei“ sowie die Bildung eines lebensphänomenologischen Kulturbegriffs können kaum als an sich
1
Die vorliegende Einleitung wurde als Beitrag mit dem Titel: ‚Ethik und Pathos.
Perspektiven zur Ethik der Affektivität in der Phänomenologie Michel Henrys’ in
Psycho-logik. Jahrbuch für Psychotherapie, Philosophie und Kultur 4 (2009)
veröffentlicht.
11
indifferente Beschreibungen eines objektiven Weltgeschehens
gelten, denen sich ein wissenschaftlich-neutraler Beobachter widmen würde, ohne selbst dabei Stellung zu beziehen. Schon der
Terminus „Barbarei“ zielt fast notwendigerweise auf das zu Verurteilende, und der Ausdruck der „Kultur“ auf das Erstrebens- oder
Verteidigenswerte. Man kann also durchaus in diesem Sinne von
einem normativ-axiologischen Aspekt ausgehen, auch wenn diese
Terminologie von M. Henry nicht benutzt wird und sie im theoretischen Rahmen der Lebensphänomenologie nicht unproblematisch
ist, wie wir noch sehen werden. Dass jedoch eine solche Position
die Priorität der phänomenologischen Wahrheitsfindung nicht beeinträchtigen muss, kann in Analogie zu Freuds ‚Unbehagen in der
Kultur’ verdeutlicht werden.
Auch wenn Freud sich der Formulierung eines Werturteils über
die Kultur ausdrücklich enthält (Freud 1960, 189 f.) und der Ethik
mit psychoanalytischer Skepsis begegnet (ebd. 188), so muss doch
das, was er im letzten Absatz dieser Schrift als „Schicksalsfrage
der Menschenart“ (ebd. 190) darlegt – der Kampf zwischen Eros
und Todestrieb, der durch die Beherrschung der Naturkräfte zu
einem Kampf auf Leben und Tod für die Menschheit wird – als
eine ethisch relevante Frage angesehen werden. Die psychoanalytische Praxis selbst hätte gar keinen Sinn, wenn sie keinen Wertunterschied zwischen psychischer Gesundheit und zum Beispiel der
Neurose machen würde, das heißt wenn sie sich nicht grundlegend
an dem ethischen Prinzip der Lebensbejahung orientieren würde.
Analog dazu schließt ‚Die Barbarei’ ebenfalls mit einer Schicksalsfrage für den „Kulturmenschen“: „Sie möchten gern diese Kultur weitervermitteln; einem jeden erlauben, das zu werden, was er
ist; der unerträglichen Langeweile des technisch-medialen Universums zu entkommen, dessen Drogen, seinem monströsen Auswuchs, seiner anonymen Transzendenz. Aber dieses Universum hat
die Individuen ein für allemal zum Schweigen gebracht. Kann die
Welt noch durch einige von ihnen gerettet werden?“ (Henry 2004a,
247; dt. 1994, 373) Die Rettung der Kultur wird hier zur Heilsfrage
der Menschheit. Doch die Frage nach dem Heil ist ihrem Wesen
nach eine ethische. Und das, obwohl, ähnlich wie bei Freud, die
Normativität der Ethik einer Kritik unterzogen wird: Wer die Ethik
12
als eine normative Disziplin versteht, deren Aufgabe darin besteht,
das Handeln einem Prinzipienwissen unterzuordnen, wird sich
Henry zufolge immer der Ironie Schopenhauers aussetzen: Der
Wille bzw. das Leben2 lassen sich nicht durch an sie von außen
herangetragene Prinzipien gestalten oder korrigieren, denn diese
Prinzipien bestimmen nur das Erkenntnisvermögen, nicht aber den
Willen selbst (ebd. 167, dt. 272 f.). Und doch bedeutet dies keine
Ausgrenzung jeglicher Ethik, sondern eben nur einer solchen, die
das Erkenntnisvermögen mit einer derartigen Bestimmung des
Lebens beauftragt. Ist jedoch das Bestreben, das Leben nach einer
Norm bzw. einem Normengeflecht zu bestimmen, nicht selbst
Ausdruck des Lebens? Und wäre andererseits eine Ethik, die sich
auf das „bloße Leben“ berufen würde, noch eine „Ethik“? Kann
noch von einer Ethik gesprochen werden, wenn die einzige Normativität im Leben selbst liegt? Diese letzte Frage deutet darauf hin,
dass die Ethik der Lebensphänomenologie, falls es eine solche
geben sollte, eine „Lebensethik“ sein muss, und zwar in dem Sinne, dass sie das Leben selbst zur absoluten „Norm“ erhebt. Das
wiederum impliziert, dass auf den Begriff des Lebens und seine
phänomenologische Erschließung durch Henry zurückgegriffen
werden muss.
Die Originalität der Lebensphänomenologie besteht darin, das
Leben als immanente Selbstaffektion (auto-affection immanente),
als transzendentale Affektivität zu verstehen, welche somit zugleich die Grundlage jeder Phänomenalisierung bildet. Was damit
gemeint ist, lässt sich konkret am Beispiel des Biologiestudenten
zeigen, das Henry in ‚La barbarie’ anführt: Stellen wir uns einen
Biologiestudenten beim Lernen bzw. Lesen vor, so können zunächst zwei Formen des Wissens bei dieser Handlung unterschieden werden: Das Erfassen und Erlernen idealer Bedeutungen läuft
hier auf die Aneignung eines Wissens im Sinne der empirischen
Wissenschaften hinaus. Diese Aneignung ist aber nur durch ein
intentionales Gerichtetsein auf das vorliegende Material, zum Bei2
Zur Rezeption Schopenhauers und Freuds durch Michel Henry vgl. Henry 1985
(dt. Teilübersetzung 2005, 93–105), sowie unseren Beitrag in: Psycho-logik 3
(2008).
13
spiel das auf dem Tisch liegende Buch, möglich. Die Intentionalität
des Bewusstseins, das Sehen und Schauen des Schreibtisches, des
Buches, der Buchstaben und Wörter, ist somit die Bedingung, die
jedes empirische Wissen notwendig begleitet. Doch worauf gründet wiederum dieses Wissen des Bewusstseins? Was ermöglicht es
dem Studenten, dieses intentionale Wissen auf sich selbst zurückzuführen, das heißt zu wissen, dass er gerade sieht, liest usw., und
welches Wissen ermöglicht es ihm, die damit verbundenen Handlungen auszuführen: im Buch zu blättern, eine Zeile nach der anderen mit seinen Augen zu erfassen, aufzustehen, um sich in die Cafeteria zu begeben usw.? Wie Henry unterstreicht, kann es sich hier
nicht um ein Objektwissen handeln: Wäre es dies, so würde eine
unüberbrückbare Kluft das handelnde Subjekt von sich selbst trennen, und es würde nie zu einer Handlung kommen.
In Anlehnung an Henrys Rezeption des cartesianischen Cogito
muss es sich um ein immanentes Wissen handeln, das nicht in die
Intentionalität aufzulösen ist, sondern ihr zugrunde liegt. Dieses
Wissen ist nach Henry das Wissen des Lebens um sich selbst (savoir de la vie). Ein Wissen, das nur dem Lebendigen zukommt und
es gerade als solches auszeichnet. Das lebendige Subjekt affiziert
sich kontinuierlich selbst als Sehendes, Lesendes, Aufstehendes
usw. Dies ist zugleich die Bedingung dafür, dass es selbst ist und
dass es etwas für es geben kann. Die immanente Selbstaffektion
macht somit das Wesen des Lebens aus, sie ist identisch mit der
Ipseität und transzendentale Bedingung der Phänomenalisierung.
Nicht das empirische Wissen also, zum Beispiel das der Biologie,
ist Wissen um das Wesen des Lebens, sondern das Leben selbst,
verstanden als Affektivität, das heißt als kontinuierlicher Prozess
der Selbstaffektion. Da es sich dabei nicht nur um ein Wissen des
Lebens um sich selbst, sondern gleichzeitig auch um die immanente Erprobung eben dieses sich kontinuierlich wandelnden Lebens
handelt, ist die Affektivität mit einem Moment der Passivität verbunden. Daher bezeichnet Henry die Affektivität auch als Pathos
und ihre phänomenologische Erscheinungsweise als pathisches
Erscheinen (apparaître pathétique). Was aus dieser hier nur kurz
skizzierten Darstellung des Lebensbegriffs bei Henry folgt, kommt
einem „Schichtenmodell“ der Phänomenalität und des damit ver14
bundenen Wissens nahe: Die pathisch-immanente Erscheinungsweise muss als grundlegend und als bedingend für die intentionaloder ekstatisch-transzendente Phänomenalität (apparaître ekstatique) gelten, und das, obwohl es sich um zwei radikal verschiedene
Erscheinungsweisen handelt: Transzendent sind die intentionalen
Objekte, immanent die Affektivität eines sich stetig wandelnden
und dabei doch sich selbst gleichbleibenden Lebens. Und dennoch
gäbe es für uns keine Transzendenz, das heißt auch keine Welt,
wenn wir nicht am und im Leben wären, weil es ein „Für-uns“ nur
geben kann, insofern wir uns als Lebendige selbst affizieren. Nicht
das intentionale Bewusstsein ist es also, das den letzten Grund des
„für uns“ Gegebenen liefert, sondern eine tiefere Schicht der Gegebenheitsweise, die das Bewusstsein selbst bedingt: die Affektivität als Wesen des Lebendigen und Subjektiven. Henrys Lebensphänomenologie radikalisiert somit den Ansatz Husserls durch eine
vor-intentionale Komponente, die Husserl selbst in der Hylé angesiedelt hatte.3
Die vermeintliche Ethik der Lebensphänomenologie kann deshalb als „radikale Lebensethik“ oder auch als „Ethik der Affektivität“ bezeichnet werden. Doch inwiefern könnte Henrys Lebensbegriff eine Ethik beinhalten? Und welchen Sinn könnte die Rede
vom Leben als oberster oder absoluter „Norm“ haben? Ein wesentliches Indiz dafür, dass es in der Tat eine Ethik der Lebensphänomenologie geben könnte, ist gegeben mit dem Gegensatz zwischen
Barbarei und Kultur und dem zentralen Stellenwert, der diesem
Gegensatz in Henrys Essay von 1987 eingeräumt wird. Die zum
Teil heftige Polemik, die diese Schrift bei ihrem Erscheinen auslöste, geht einher mit der Beobachtung, M. Henry habe hier die Position eines Moralisten eingenommen (Cherlonneix 1987, 311). Henrys Kritik der Barbarei bezieht sich nicht auf das selbstverständlich
verurteilte und herkömmliche Bild des Barbarischen im Sinne brutaler physischer oder psychischer Gewalt, sondern auf das wissen3
Zu diesem Begriff bei Henry und der wichtigen Diskussion mit Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins vgl. M. Henry, Phénoménologie matérielle (1990). Daher auch die Termini „phénoménologie matérielle“ oder „phénoménologie radicale“, mit welchen die Lebensphänomenologie ebenfalls bezeichnet wird.
15
schaftlich-technische Weltbild, das seinen Ursprung in der Neuzeit
hat: „Wahrscheinlich zum ersten Male in der Geschichte der
Menschheit klaffen Wissen und Kultur auseinander, so sehr, dass
sie einander in einem gigantischen Kampf gegenüberstehen – einem Kampf auf Leben und Tod, wenn es zutrifft, dass der Triumph
des Ersten das Verschwinden der Zweiten zur Folge hat.“ (Henry
2004a, 1; vgl. dt. 1994, 75 f.) Die oben erwähnte Schicksalsfrage
der Menschheit wird auf eine Opposition zwischen Wissen und
Kultur zugespitzt. Das Wissen, das hier von Henry anvisiert wird,
ist das der modernen Wissenschaften, also ein empirisches und
objektivierbares Wissen. Dieses impliziert für Henry die Ausklammerung der lebendigen Subjektivität und bereitet ihre ontologische Negation durch den Szientismus vor. Er fasst das galileische
Paradigma, das zur Neubegründung der Wissenschaften führte,
folgendermaßen zusammen: „Galilei erklärt, dass die Erkenntnis,
der die Menschen seit jeher vertrauen, falsch und illusorisch ist.
Diese Erkenntnis ist die sinnliche Erkenntnis, die uns glauben
macht, die Dinge seien farbig, hätten Geruch, Geschmack und
Klang, dass sie angenehm oder unangenehm seien, kurz: dass die
Welt eine sinnliche sei. Während das reale Universum aus materiellen und sinnlich nicht erfassbaren Körpern besteht, die Ausdehnung, Form und Figur besitzen, was zur Folge hat, dass die Erkenntnis nicht aus den individuell verschiedenen Empfindungen,
die lediglich Erscheinungen produzieren, sondern aus der rationalen Erkenntnis dieser Formen hervorgeht: Die Geometrie, so heißt
das neue Wissen, das alle anderen Wissensarten ersetzt und sie zur
Bedeutungslosigkeit degradiert.“ (Ebd.; dt. 1994, 79)
Dieses Paradigma betrifft sowohl die Erkenntnistheorie als auch
die Ontologie: Es sagt nicht nur etwas über das Verfahren, das wir
anwenden müssen, um die Wirklichkeit zu erkennen, sondern auch
darüber, was das eigentliche Wesen eben dieser Wirklichkeit ist.
Aber was die Moderne hier eröffnet, ist nach Henry eine Wende
hin zu einer fatalen Trennung zwischen Wissen und Kultur, insofern dem subjektiven Empfinden kein Platz mehr gelassen wird, es
sei denn der einer Illusion, die sich mit Hilfe einer objektiven Naturerkenntnis hinreichend erklären lässt. Dies ist zum Beispiel der
Fall, wenn das subjektive Erleben im Sinne des Materialismus auf
16
neuronale Prozesse reduziert wird. Dagegen ist Kultur gerade das,
was der Potenzialität subjektiven Empfindens zur Aktualität und
zur Entfaltung verhilft, ja sie besteht in diesem Akt der Entfaltung
schlechthin. Unter Kultur versteht die Lebensphänomenologie „die
Gesamtheit aller pathischen Antworten, die das Leben erprobt, um
dem immensen Verlangen, das es durchzieht, gerecht zu werden.
Solche Antworten kann es nur in sich selbst finden, in einer Sensibilität, die mehr, die intensiver empfinden will“ (ebd. 3; dt. 1994,
81). Doch, so könnte man einwenden, ist nicht die Wissenschaft
selbst eine Entfaltung menschlicher und daher auch subjektiver
Potenzialitäten und somit ein unbestreitbarer Teil der Kultur? Einführend ist hier hervorzuheben, dass Henrys Kritik nicht die Legitimität der Wissenschaften bestreitet, mit Hilfe möglichst objektiver Methoden zu allgemeingültigen empirischen Ergebnissen zu
kommen, sondern die Rechtfertigung der daraus entstehenden
szientistischen Ideologie, welche eine philosophische Aussage über
das Wesen der Wirklichkeit trifft und diese auf das ObjektivMessbare reduziert. Paradoxerweise findet aber gerade auch diese
ideologische Reduktion ihren Ursprung in der lebendigen Subjektivität und ist ein möglicher Ausdruck derselben; denn es gibt
schließlich nichts Menschliches, was nicht darin seinen Ursprung
fände. Bemerkenswert ist allerdings, dass es sich in diesem Falle
um eine Praxis handelt, in der das subjektive Leben vor sich selbst
zu fliehen versucht: „eine Lebensform, die sich gegen das Leben
richtet, die ihm jeglichen Wert abstreitet und bis zu ihrer Existenz
bestreitet. Ein solches Leben, das sich selbst negiert, die Selbstverneinung des Lebens, dies ist das entscheidende Ereignis, das die
moderne Kultur als wissenschaftliche Kultur bestimmt“ (ebd. 113;
dt. 1994, 204, Hvh. M. H.). Diese Selbstverneinung des Lebens
bzw. der Kultur ist es, die Henry mit dem Terminus „Barbarei“
umschreibt.
Diese einführenden Betrachtungen zum lebensphänomenologischen Begriff der Kultur verstärken die Annahme einer ethischen
Dimension im Werk Michel Henrys. Die Kritik der Moderne und
des Szientismus kann nicht als wertneutral angesehen werden und
geht daher notwendig mit einer zumindest impliziten Normativität
einher. Es bleibt allerdings die Frage, wie denn diese „kritische
17
Normativität“ positiv und explizit zu formulieren sei. Darin würde
eine Aufgabe einer „Ethik der Affektivität“ bestehen – eine Aufgabe, die nur gelöst werden kann, indem der gesamte Diskurs der
Lebensphänomenologie berücksichtigt wird, weil erst dann der
Sinn dieser vermeintlichen Ethik systematisch herausgearbeitet
werden kann. Auch lassen die oben gemachten Angaben die Hypothese zu, die radikale Lebensethik Henrys sei gleichbedeutend mit
einer „Ethik der Kultur“; denn die Kultur wird als Intensivierung
und Potenzierung des Lebens verstanden, Barbarei hingegen als die
Selbstverneinung desselben. Schließlich muss dem Einspruch
nachgegangen werden, die Alternative Kultur/Barbarei sei nur auf
eine und dazu recht polemische Schrift Henrys beschränkt und
somit kaum für eine systematische Ausarbeitung einer Ethik im
Sinne der Lebensphänomenologie geeignet. Die Ethik der Affektivität auch als eine „Ethik der Kultur“ bezeichnen zu können, würde
erfordern, die Kontinuität dieser Alternative im Gesamtwerk Henrys aufzuzeigen. Die Chancen für eine Bestätigung dieser Hypothese scheinen jedoch gut zu stehen, wenn man bedenkt, dass Henry im Vorwort zur zweiten Auflage von ‚La barbarie’, also ca.
fünfzehn Jahre nach dem ersten Erscheinen der Schrift, deren zentrale Thesen erneut bekräftigt hat und dass, zweitens, Henrys späte
Werke, darunter das 1996 verfasste ‚Ich bin die Wahrheit’ (dt.
1997), wesentliche Aspekte der Opposition Kultur/Barbarei wieder
aufgreifen.
2. Die Problematik einer Ethik
im Rahmen der Lebensphänomenologie
Die Barbarei, verstanden als Selbstverneinung des Lebens, wird
von M. Henry häufig in die Nähe der kierkegaardschen „Verzweiflung“ gerückt. Somit entspricht die Alternative zwischen Barbarei
und Kultur der zwischen Verzweiflung (désespoir) und Seligkeit
(béatitude); denn auch hier handelt es sich um ein Leben, das sich
entweder gegen sich selbst kehrt oder aber in sich selbst bzw. in
seinem absoluten Grunde ruht und zu einer Potenzierung gelangt.
Paradoxerweise ist dann aber die Verzweiflung bzw. die Barbarei
18
nicht nur Ausdruck einer Lebensverneinung, sondern Ausdruck des
Lebens selbst. Sie stehen dem Leben nicht gegenüber, befinden
sich nicht außerhalb desselben – denn ein „Außerhalb“ des Lebens
kann es gar nicht geben, solange dieses als Grund jeglicher Phänomenalisierung gilt –, sondern sie sind im Leben, das heißt bestehen in der Aktualisierung einer prinzipiell immer gegebenen Möglichkeit des Lebens. Daher ergibt sich die Schwierigkeit, das Leben
als absolute „Norm“ zu bezeichnen: Da Barbarei und Kultur gleichermaßen Ausdruck des Lebens sind, kann dieses anscheinend
nicht zu einem (absoluten) Wertmaßstab gemacht werden, von dem
aus über diese Formen der Affektivität verschieden geurteilt werden könnte. Die Tatsache, dass sowohl Kierkegaard als auch Henry
die Seligkeit notwendig mit der Verzweiflung verbinden, erschwert
um ein Weiteres eine solche Ausdifferenzierung. Eine erste
Schwierigkeit für eine „Ethik der Affektivität“ besteht also darin,
einerseits die Affektivität als solche zum letztmöglichen ethischen
Grund zu erheben, andererseits aber in der Lage zu sein, zwischen
lebensverneinenden und lebensbejahenden Formen eben dieser
Affektivität ethisch differenzieren zu können.
Eine zweite Schwierigkeit betrifft den Zugang zur Affektivität
im Sinne der Lebensphänomenologie. Einerseits kann dieser Zugang gar nicht problematisch sein, wenn die Affektivität gerade als
immanentes Erscheinen und zudem als Bedingung für das Erscheinen in der Transzendenz verstanden wird. So kann zum Beispiel
die Frage nach der Wahrnehmung der Affektivität nur als ein
Missverständnis gedeutet werden, insofern sie die Originalität des
affektiven Erscheinens verkennt und die Affektivität dem Erscheinungsmodus der Wahrnehmung, der Intentionalität, unterordnet.
Wer die Affektivität als vorintentionale Grundlage jeglicher Intentionalität und als Selbstgebung bzw. Selbsterscheinen des Lebens
ernst nimmt, kann die Frage nach dem Zugang zur Affektivität gar
nicht stellen: Die lebendige Subjektivität ist schon immer „in“ der
Affektivität, ja sie ist Affektivität, Leben das sich selbst erscheint
bzw. affiziert. Auf der anderen Seite jedoch zeichnen sich Barbarei
und Verzweiflung gerade dadurch aus, dass sie, obgleich sie notwendig Formen des Werdens der Affektivität sind, diese zugleich
verneinen und aus ihr zu fliehen suchen. So mündet die Verzweif19
lung in eine Negation des Wesens der Affektivität als Pathos, als
Selbstaffizierung: Es ist die Unerträglichkeit des Selbstseins, die
den Verzweifelten zur Flucht aus dem Leben, aus dem Selbstsein
bewegt. Die Unmöglichkeit einer solchen Flucht steigert diese
Unerträglichkeit weiter bis hin zum Nihilismus, den Henry in der
Objektivierung des Lebendigen am Werke sieht. Paradox ist auch
hier, dass, streng genommen, die Flucht aus dem Leben und aus
der Affektivität zwar ausweglos ist, sie aber trotzdem mit einem
„Verlust“ an Leben einhergeht. Wie Henrys Ausführungen zu einer
Philosophie des Christentums deutlich machen, ist die Duplizität
des Erscheinens verbunden mit einem „Vergessen“ der Affektivität
(oubli de la vie) zugunsten des in der Transzendenz der Welt Erscheinenden.
Zwar werden wir im Leben geboren, aber diese transzendentale
Geburt (naissance transcendantale) wird zugunsten des eigenen
Handlungsvermögens in der Welt in den „Hintergrund“ gedrängt,
was zu der Illusion des Ego führt, es sei die eigentliche Quelle
seines Vermögens – und nicht das (absolute) Leben in ihm. Mit
anderen Worten: Es gibt eine wesensbedingte „Diskretion“ des
affektiven Erscheinens, das heißt ein wesensbedingtes In-denHintergrund-Treten der Affektivität, die dem vordergründigen „Ich
kann“ zur Aktualisierung der scheinbar eigenen Potenzialitäten
verhilft. Dieses Sich-selbst-vergessen-Machen des Lebens kommt
dem Fluchtbestreben der Verzweiflung entgegen, das diese Tendenz verstärkt bis hin zur Negation des Lebendigen. Barbarei und
Verzweiflung können das Leben nicht verlassen, und dennoch
entfalten sie ein Potenzial an Zerstörung und Entfremdung (zum
Begriff der Entfremdung vgl. Henry 1976b, 70–137), entsprechen
einer Verminderung des Begehrens, gerade weil sich in diesem
Falle das Leben gegen sich selbst kehrt. Wenn es nach Henry ein
Merkmal der Barbarei ist, das Vergessen des Lebens ideologisch
und, wichtiger noch, praktisch zu untermauern und das Leben als
Affektivität als nicht-existent zu deklarieren, besteht dann nicht die
ethisch-politische Aufforderung der Lebensphänomenologie darin,
an das Leben zu „erinnern“? Doch: Wie kann an „etwas“ erinnert
werden, was sich seinem Wesen nach der Intentionalität der Erinnerung entzieht? An diesem Punkt angelangt, erweist sich die Fra20
ge nach dem erneuten Zugang zur Affektivität als problematisch
für eine Ethik der Affektivität, denn dem Vergessen des Lebens
steht ein Erinnern gegenüber, das im Rahmen der Lebensphänomenologie diesen Zugang retentional nicht gewährleisten kann.
Dieses Problem zeigt des Weiteren eine interessante Parallele
auf, die zwischen erkenntnistheoretischen und ethischen Fragen in
Bezug auf die Affektivität besteht. Erkenntnistheoretisch ist die
Frage von Belang, wie ein Diskurs wie jener der Lebensphänomenologie überhaupt möglich ist. Denn wenn die Affektivität sich
durch Immanenz auszeichnet, dann bleibt zu fragen, wie die Idealitäten eines Diskurses diese erfassen und wiedergeben können. Als
Grundlage der Intentionalität bleibt die transzendentale Affektivität
selbst vor-intentional. Als eigenständiges und originäres Erscheinen scheint sie sich der intentionalen Wahrnehmung und dem Erfassen durch ideelle Bedeutungszusammenhänge notwendig zu
entziehen. Anders formuliert: Die Immanenz der Affektivität kann
als nicht-intentionale Gegebenheitsweise nicht in einer ihr fremden, das heißt intentionalen Gegebenheitsweise als solcher erscheinen. Doch wenn die Sprache und der Text nicht das Leben
sind, so ist doch ein Diskurs über das Leben möglich. Die Lebensphänomenologie wäre dann eine indirekte Erfassung der Affektivität, ein Sprechen „über“ die Affektivität, das nicht beansprucht, das
an sich Unsichtbare in den Status des Sichtbaren und Beschreibbaren zu erheben, sondern gerade in der phänomenologischen Grenzziehung zwischen dem Erscheinen der Affektivität und dem der
Transzendenz besteht. Doch auch diese Grenzziehung benötigt
einen Zugang zur Affektivität, muss ihn beanspruchen, damit Rede
und Text dem Wahrheitsanspruch genügen. Michel Henry hat diese Frage nach dem Wahrheitsanspruch der Lebensphänomenologie
und dessen Überprüfbarkeit nicht umgangen. Im Gegenteil, sein
vorletztes Werk ‚Incarnation’ (2000; dt. 2002a) hat sie explizit
gestellt.
Die Problemstellung ist folgende: Wenn das Leben als Affektivität notwendige Bedingung für das Schaffen ideeller Bedeutungszusammenhänge ist, dann ist es das ohne Rücksicht auf den Wahrheitsgehalt dieser Zusammenhänge: Konkret bedeutet dies, dass
zum Beispiel philosophische Aussagen und Argumentationen im21
mer Ausdruck des Lebens sind, das heißt in der lebendigen Affektivität ihren letzten Grund haben, mögen diese Behauptungen nun
wahr oder falsch sein. Parallel zum Gegensatz zwischen Barbarei
und Kultur sind beide Möglichkeiten unentrinnbar mit dem Leben
verbunden und im Leben verankert. Diese „Verankerung“ kann
also nicht als Wahrheitskriterium fungieren. Doch was vermag
dann diese Aufgabe zu erfüllen und damit Wahrheit und Irrtum
voneinander zu unterscheiden? Während Husserl in den Göttinger
Vorlesungen von 1907 die Evidenz als letztes und selbstbezügliches Wahrheitskriterium beanspruchen konnte, ist dies für Henry
kein gangbarer Weg mehr: Die Evidenz bleibt dem „Sehen“ und
somit der Intentionalität verhaftet, die für die Lebensphänomenologie immer erst „nach“ der Affektivität kommt. Das ek-statische
Erscheinen kann nicht zum Richtmaß des Pathischen werden. Es
bleibt also nur die Lösung, die Henry klar im wichtigen § 15 von
‚Inkarnation’ vorträgt, die Affektivität selbst als letztes und selbstbezügliches Wahrheitskriterium für Aussagen über die Affektivität
zu nehmen: Die Evidenz wird ersetzt durch die lebendige und affektive Gewissheit. Wenn also Wahrheit und Irrtum, Barbarei und
Kultur, Verzweiflung und Seligkeit gleichermaßen im Leben verankert sind, so ist es doch das Leben selbst, verstanden als innere
Gewissheit (als Wissen des Lebens um sich selbst), das um den
Unterschied dieser Lebensformen weiß.
Bezogen auf den Wahrheitsanspruch der Lebensphänomenologie bedeutet dies, dass er auf einer Gewissheit beruht (der des Autors) und nur durch eine andere Gewissheit (der des Lesers) zu
überprüfen ist. Konsequent lädt Henry den Leser zu dieser ihm
eigenen Überprüfung ein (Henry 2000, 265; dt. 2002a, 292 f.).
Doch aus der Tatsache, dass diese Gewissheit unter Umständen
nicht geteilt wird, muss geschlossen werden, dass das Wissen des
Lebens um sich selbst entweder keine allgemeingültigen Aussagen
über das Leben zulässt – was aber dann auch dem Anspruch der
Lebensphänomenologie auf allgemeingültige Wahrheit widersprechen würde – oder aber dass dieses Wissen sich nicht bei allen
Menschen mit der gleichen Stärke zu erkennen gibt. Diese Schlussfolgerung erweist sich als äußerst problematisch im Hinblick auf
die intersubjektive Überprüfbarkeit eines auf Gewissheit beruhen22
den Wahrheitsanspruches;4 sie ist jedoch kohärent mit der zuvor
erwogenen Ausdifferenzierung der Lebensformen, das heißt mit
der ethischen Alternative zwischen Verzweiflung und Seligkeit,
zwischen Flucht aus dem Leben und einer Gelassenheit im Leben,
letztendlich zwischen dem Vergessen des Lebens und der Wiederentdeckung der transzendentalen Geburt im Leben.
Das Problem, auf das sich Henrys Ethik zuzuspitzen scheint,
besteht in dieser Alternative und stellt uns vor die Frage, wie aus
der Lebensvergessenheit herausgetreten werden kann, um zu einer
„Wiedergeburt bzw. zweiten Geburt im Leben“ (seconde naissance) zu gelangen. Diese „zweite Geburt“ ist der genaue Gegenpart
zum Vergessen und zur verzweifelten Flucht aus der Affektivität;
sie wird daher auch als „Anerkennung“ des Lebens (reconnaissance de la vie) bezeichnet, denn der Terminus reconnaissance kann
sowohl „Wiedererkennen“ als auch „Anerkennung“ bedeuten.
Vergessenheit und Anerkennung betreffen nicht nur das affektive
Werden des individuellen Lebens, sondern auch und vor allem das
in Vergessenheit geratene absolute Leben, das jedem Leben
zugrunde liegt, wie Henry im Rahmen seiner lebensphänomenologischen Deutung der christlichen Ethik ausführt (vgl. u.a. Henry
1996; dt. 1997, Kap. 10). Doch der Austritt aus der Lebensvergessenheit ist mit einem Zirkel behaftet: „Ist dann nicht die Möglichkeit des religiösen Erlebnisses in einem Zirkel gefangen? Nur das
Hören auf das Wort des Lebens kann uns vom Bösen erlösen, aber
das Böse hat das Hören auf das Wort des Lebens unmöglich gemacht.“ (Henry 2002b, 153 f.; dt. 2010) Der Rekurs auf ein religiöses „Erlebnis“ bedeutet hier keine „Lösung“ des ethischen Problems durch den religiösen Glauben oder durch das Befolgen etwaiger religiöser Gebote. Zum einen, weil Henry den Begriff „Re4
Dies liegt auch daran, dass die intersubjektive Überprüfung von Aussagen im
letztgültigen Bezug auf Evidenz beruht. Wenn aber nun dieses Paradigma der
Evidenz durch das der Gewissheit „ersetzt“ wird, dann müsste gefragt werden, ob
es so etwas wie eine Intersubjektivität in der Gewissheit, das heißt in der Immanenz, geben kann. Eine weiter zu verfolgende Spur ist in diesem Kontext der
Begriff des „Ko-pathos“ bei Henry sowie die im Zuge seines Schaffens immer
stärker hervortretende Ansicht, individuelles Leben müsse von seinem Teilhaben
am absoluten Leben her gedacht werden.
23
ligion“ zunächst allgemein als Verbundenheit des individuellen mit
dem absoluten Leben versteht, das heißt etymologisch als religio.
Zum anderen, weil der Glaube und die Befolgung der Gebote ebenfalls in diesem Zirkel gefangen sind: Nur die Anerkennung des
(absoluten) Lebens, das erneute Hören auf das Wort des Lebens
(parole de la vie), können den Menschen von seinem Vergessen
befreien, aber gerade dieses Vergessen führt dazu, dieses Wort zu
überhören. So zum Beispiel, wenn Henry in Anlehnung an die
christliche Ethik betont, die Anerkennung des Lebens könne nicht
durch das Denken herbeigeführt werden, sondern werde im Handeln, genauer im sich selbst vergessenden barmherzigen Handeln
erfahren. Eine authentische Selbstvergessenheit ist jedoch nur dem
möglich, der diese Anerkennung bereits vollzieht oder vollzogen
hat. Jene ist eher Folge oder Ausdruck dieser als ihre Ursache und
scheint sie vorauszusetzen.
Wenn also weder das Denken – und somit auch der philosophisch-ethische Diskurs – noch das Befolgen von Handlungsgeboten zur Wiederentdeckung der Affektivität und der Kultur führen,
weil diese sozusagen von „Außen“, ausgehend von der Intentionalität des Wissens und des Willens, die Affektivität zu bestimmen
suchen, dann scheint der einzig mögliche „Weg“ in einem immanenten Wandel der Affektivität selbst zu bestehen, sodass es nicht
das bewusst handelnde Subjekt wäre, das aus der Lebensvergessenheit heraustreten könnte, sondern nur das Leben selbst. Hätte
dann aber die Ethik noch einen Sinn? Wenn die Wiederentdeckung
der Affektivität vom Werden der Affektivität selbst abhängt,
scheint eine philosophische Ethik keinen Einfluss darauf haben zu
können, ob es dem Menschen gelingt, sich aus Verzweiflung und
Entfremdung zu befreien – und die vermeintliche „Ethik der Affektivität“ würde damit einer praktisch-existentiellen Legitimität entbehren. Des Weiteren kommt eine erneute Parallele zum erkenntnistheoretischen Problem zum Vorschein, denn ist das Wissen um
die Affektivität nicht zugleich ihre Wiederentdeckung? Doch das
könnte bedeuten, dass ein solches Wissen nur von demjenigen
verstanden werden kann, der es eigentlich nicht mehr braucht, weil
er die diesem Wissen zugrunde liegende Gewissheit schon besitzt.
Und die Aneignung dieses Wissens könnte nicht durch die Rezep24
tion der Lebensphänomenologie geschehen, sondern würde von der
Kontingenz individueller „Wachstumsprozesse“ auf dem Niveau
der Affektivität abhängen. Nicht minder problematisch scheint die
Annahme zu sein, der Wandel der Affektivität würde sich notwendig auf deren eigene Befreiung hin orientieren und zu ihr führen.
Im ersten Falle wäre eine Ethik vergebens, im zweiten wäre sie
überflüssig. Von einer Ethik der Affektivität zu sprechen, wäre nur
möglich, wenn ihr eine praktische Relevanz nachgewiesen werden
könnte, das heißt wenn der theoretische Rahmen der Lebensphänomenologie eine solche Relevanz überhaupt zulässt. Erst dann
könnte, in einem zweiten Schritt, diese Ethik inhaltlich mit anderen
Ansätzen verglichen und diskutiert werden. Die folgenden Lösungsperspektiven verstehen sich als einleitende Skizzierung zur
ersten dieser beiden Fragen.
3. Lösungsperspektiven
Die gegenseitige Bedingtheit von Wissen und Werden der Affektivität würde, falls eine Ethik der Affektivität sich als unmöglich
erweisen sollte, zur Folge haben, dass die Lebensphänomenologie
insgesamt nicht zu einer Erweiterung des Verständnisses von Leben und Affektivität beitragen könnte. Sie würde bei ihrer Rezeption nur ein schon bestehendes Wissen bestätigen können und wäre
für den, der die entsprechende Gewissheit nicht besitzt, unnahbar.
Falls aber eine Ethik der Affektivität Sinn macht, dann liegt auch
die Vermutung nahe, die Lebensphänomenologie sei insgesamt,
per se und in all ihren Ausführungen, ethisch. Dieser letzte Fall
erscheint mir als der wahrscheinlichere. Zunächst kann angenommen werden, dass die Ausarbeitung der Lebensphänomenologie
einen durchaus praktischen Zweck für Michel Henry selbst erfüllt
hat, nämlich den, das von ihm in Anspruch genommene „Erlebnis“
der lebendigen Gewissheit philosophisch zu untermauern und in
eine sprachliche Form zu bringen. Der philosophische Diskurs
kann in diesem Falle als eine Übersetzung des affektiv Gelebten in
das Medium der Sprache und der philosophischen Begrifflichkeit
angesehen werden. Zwar enthält nach Henry jede Formulierung,
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und daher auch jede Philosophie, eine solche Übersetzung des Affektiven ins Sprachliche, doch kommt hier der Anspruch hinzu,
dass es sich um eine wahre Übersetzung handeln soll: Die Lebensphänomenologie soll eben nicht nur Ausdruck der Affektivität,
sondern ihre theoretische Darstellung sein.
Doch wozu eine solche Darstellung, wenn die sie fundierende Gewissheit schon besteht, und welcher praktische Zweck soll
damit erfüllt werden? Es ist kaum abwegig, Philosophie als eine
Kulturleistung anzusehen, und im Rahmen der Lebensphänomenologie bedeutet dies, dass die philosophische Begrifflichkeit eine der
Formen ist, mit denen das Leben sich selbst steigert, seinen Potenzialitäten zur Aktualität verhilft, was vom kontinuierlichen Werden
der Affektivität selbst erfordert wird. Die philosophische theoria
ist somit Teil einer lebendigen Praxis. Und für M. Henry gilt dies
gerade für die Ethik: Als Ethos verstanden, entspricht sie dem unendlichen Prozess, in dem das Leben sein Wesen erfüllt (Henry
1987, 169; dt. 1994, 274), das heißt vorrangig in den Formen der
Praxis, die zu seiner eigenen „Kultivierung“ beitragen und ihr entsprechen. Als philosophische Ethik hingegen ist sie für Henry
gleichzusetzen mit der Selbstobjektivierung des Lebens und der ihr
eigenen Gewissheit. Henry unterscheidet daher zwei Stufen der
Ethik: 1. eine originäre Ethik, ein Ethos, in dem sich das Leben
selbst erprobt und steigert; 2. eine theoretisch-normative Ethik, die
sekundär hinzukommt und mit Hilfe derer das Leben sich selbst in
seinem Bedürfen vorstellt: „Es kann sich dabei nur um Zwecke,
Normen oder Werte handeln, die dem Leben selbst entstammen
und mit deren Hilfe es sich zu repräsentieren versucht, was es will.
Überdies geschieht eine solche Repräsentation nur gelegentlich
und kennzeichnet ein Innehalten oder ein Zögern in der Handlung,
die sich in der Unmittelbarkeit ihrer wesenhaft spontanen Selbstständigkeit abspielt, […]. Die explizite Setzung dieser Werte für
sich selbst, die außergewöhnlich bleibt, ist nur die Selbstbejahung
des Lebens in Gestalt seiner Selbstrepräsentation. Aber diese
Selbstbejahung als Selbstobjektivierung verbleibt sekundär gegenüber einer älteren Selbstbejahung, die mit der Bewertung des Lebens selbst zusammenfällt, insofern es kontinuierliche Anstrengung ist, um in seinem Sein fortzubestehen oder sich zu steigern.
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Eine solche Bewegung bildet die immanente Lebensteleologie, in
der jede mögliche Ethik wurzelt.“ (ebd. 168 f.; dt. 1994, 273 f.)
In Anlehnung an Spinoza versteht Henry das Leben als conatus.
Dabei erscheint die philosophische Ethik als die eher gelegentlich
vorgenommene Selbstobjektivierung eines an sich immanenten
Bestrebens. Da es aber dazu kommt, muss eine derartige Selbstobjektivierung auch einen praktischen Zweck besitzen. Die zuvor
zitierte Passage spricht dafür, dass es sich um den Zweck der begrifflichen Klarstellung handelt, und zwar im Kontext einer mit
Zweifel oder Zögern besetzten Handlung. Die Objektivierung an
sich ist daher nicht gleichbedeutend mit einer Flucht aus der Affektivität oder gar einer Negation derselben; entscheidend ist, inwieweit diese Objektivierung in ihrer Abhängigkeit zur Affektivität
anerkannt oder ob ihr eine ontologische Bedeutung bzw. Vorrangstellung beigemessen wird.
Wenn nun ein hinreichender Grund für die Produktion einer
theoretischen Ethik „in der ersten Person“ besteht, bleibt zu untersuchen, ob es einen solchen auch für die entsprechende Rezeption
durch Dritte gibt. Ein wichtiges Indiz dafür scheint der von Henry
verwendete Begriff der „immanenten Teleologie“ zu sein. Von
einer Teleologie der Affektivität auszugehen, erlaubt es, einen
„Mittelweg“ zwischen reiner Kontingenz und Notwendigkeit zu
finden: Die Wandlungen der Affektivität, zum Beispiel der Übergang von Vergessen zur Anerkennung des Lebens, entsprechen
demnach keiner absoluten Notwendigkeit, sondern einem im Wesen des Lebens enthaltenen Telos. Dies wiederum würde gestatten,
von einem immanenten Bestreben des Lebens nach Selbststeigerung zu sprechen und somit der theoretischen Ethik eine mögliche
Rolle in der Aktualisierung dieser Tendenz zukommen zu lassen.
Der ethische Diskurs hätte somit nicht die Aufgabe, die lebendige
Gewissheit und Wirklichkeit zu ersetzen oder gar zu schaffen – er
wäre also nicht performativ –, sondern nur quasi-performativ und
hinweisend, und zwar in dem Sinne, dass er auf die radikal nicht zu
entfremdende Gewissheit des Lebens hindeutet und an ihre
Schwelle führt. Doch wie könnte er das tun, wenn die Affektivität
als index sui und als Grund der Phänomenalisierung angesehen
wird? Die Rolle, die dem cartesianischen Cogito im Aufbau der
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Lebensphänomenologie zukommt, gibt hier einen wichtigen Ansatzpunkt: Die henrysche Interpretation des Cogito ist es nämlich,
die die Unterscheidung zwischen Evidenz und Gewissheit einsichtig machen kann.
Genau so verhält es sich mit dem für die Lebensphänomenologie charakteristischen Vorgehen der „Gegen-Reduktion“: M. Henry entdeckt sie bereits in der Zweiten Meditation Descartes’, und
diese Entdeckung entspricht einem Vorgehen, das in der Rezeption
dieser Schrift vom Leser angewendet und nachvollzogen werden
muss, sodass diese Rezeption durch das gegen-reduktive Ausschalten der Evidenz praktisch auf die Gewissheit der cogitatio zurückführt (vgl. Henry 2000; dt. 2002a, Kap. 11). Der hier vorgeschlagene Begriff der Quasi-Performativität trägt der Tatsache Rechnung, dass dieses Vorgehen die immanente Gewissheit zwar nicht
„schafft“, sie jedoch als alleiniges Resultat der Gegen-Reduktion
übrig bleiben lässt und somit einem „Sprung“ in diese Gewissheit
gleichkommt. Wieder bemerkt man, wie eng das erkenntnistheoretische Anliegen der (lebens)phänomenologischen Wahrheitsfindung mit dem der Ethik verbunden ist: Die immanente Selbstaffektion theoretisch einsichtig zu machen, ist nur möglich, wenn der
Diskurs praktisch auf diese zurückführt. Dieses praktische Zurückführen auf die lebendige Gewissheit ist jedoch genau das Anliegen
einer Ethik der Affektivität. Daher auch die Hypothese, die Lebensphänomenologie sei an sich ethisch: Als theoria des Lebens ist
sie dem telos der Wiederentdeckung des pathischen Erscheinens
„verpflichtet“. Doch als Philosophie kann sie „nur bis an den Rand
führen“ und bleibt „im Vor-letzten“, denn von „diesem Rand des
Möglichen in den Ruck zur Wirklichkeit führt nur das einzelne
Handeln selbst“ (Heidegger 1983, 257).
Die vorliegende Untersuchung geht den hier eingeführten
Hypothesen nach. Im ersten Teil wird der Gegensatz Barbarei/Kultur und dessen Kontinuität in Henrys Werk als ethischer
Ansatz der Lebensphänomenologie aufgezeigt. Der zweite Teil
befragt diesen Ansatz auf seine phänomenologischen Grundlagen
hin, insofern diese Bedingung für die Möglichkeit einer Ethik der
Affektivität sind. Der dritte und letzte Teil untersucht die hier eingeführten Perspektiven im Hinblick auf eine ethische Praxis im
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Sinne der Lebensphänomenologie. Er ist ausschlaggebend für die
Frage, ob und in welcher Form es eine Ethik der Affektivität geben
kann.
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