Zentrum und Netzwerk zur Erforschung der Musiküberlieferung im europäischen Kulturraum schriftlichen Eine umfassende und nicht auf Einzelaspekte beschränkte historische Erforschung der schriftlichen Musiküberlieferung im europäischen Kulturraum gehört zu den Desideraten der Musikwissenschaft. Das im folgenden skizzierte Projekt verfolgt das Ziel, im Sinne von Grundlagenforschung einerseits skripturale, notationsgeschichtliche, distributive und publizistische Aspekte musikalischer Quellen innerhalb wechselnder kulturgeschichtlicher Kontexte zu untersuchen, andererseits mittels Archivierung, Dokumentation und Edition Quellen zu ordnen und zu erschließen. Dabei soll die Verknüpfung historischer sowie systematischer Fragestellungen im Vordergrund stehen. Die Forschungsarbeit wird von einem Netzwerk von Projektgruppen oder bereits bestehenden Einrichtungen in mehreren Bundesländern gemeinsam zu leisten sein. Zur Koordination sollte bei Bedarf eine Zentralstelle eingerichtet werden, welche die vielfältigen Einzelprojekte aufeinander abstimmt. Die dabei geschaffene Kultur des stetigen und intensiven wissenschaftlichen Austauschs ist als ein wesentliches Merkmal dieses Modells anzusehen. Ausgangssituation Mit dem Abschluß einiger Gesamtausgaben eröffnet sich die Chance, deren personelle und institutionelle Ressourcen zu nutzen, um neu zu begründende Forschungsprojekte zu bündeln. So könnte musikwissenschaftliche Grundlagenforschung – die Domäne der deutschen Musikwissenschaft – auf erweiterter Basis geleistet werden. Günstige Voraussetzungen dafür bilden sowohl die Fachkompetenz der bisherigen Institutsmitarbeiter als auch die gewachsenen Archivbestände der Institute. Durch die Schließung von Editionsinstituten werden der Musikwissenschaft kompetente Ansprechpartner, die für sie auf dem Gebiet der Grundlagenforschung von zentraler Bedeutung sind, nicht mehr zur Verfügung stehen. Eine Zentralstelle des zu schaffenden Netzwerks, welche die an unterschiedlichen Orten angesiedelten Teilprojekte koordiniert, könnte nicht nur die gewachsenen Archivbestände der Editionsinstitute durch eine Vernetzung für neue Projekte nutzbar machen, sondern in einzelnen Fällen sogar die einzigartigen Materialsammlungen schließender Institute durch Zusammenführung vor der Zerstreuung bewahren. Erste Verhandlungen mit den Trägervereinen bezüglich der Weiternutzung von Institutsbeständen laufen bereits. Zielsetzung und Organisationsstruktur Die Auswahl der Themen ist auf die Organisationsstruktur abgestimmt: Es geht um Projekte, die inhaltlich und organisationstechnisch erweiterungs- und umstrukturierungsfähig sind, damit eine rasche Reaktion auf kulturpolitische Veränderungen und neue Erfordernisse der Wissenschaft ermöglicht wird. Die Planung sollte deshalb von Anfang an eine Projektsequenz ins 2 Auge fassen, wobei die Einzelunternehmungen modular und flexibel aufeinander bezogen sind, um größtmögliche Forschungskontinuität zu gewährleisten. Ausgehend von Initiativen im deutschsprachigen Raum wären frühzeitig Absprachen auf europäischer Ebene (eventuell auch darüber hinaus) notwendig, die auch interdisziplinäre Verknüpfungen einschließen, um die Offenheit des Konzepts zu garantieren. Langfristig wäre anzustreben, daß diese Projekte in eine europäische Zusammenarbeit münden. Einzelprojekte könnten zunächst aus den Arbeitsschwerpunkten der bereits bestehenden Editionsinstitute hervorgehen und gleichzeitig inhaltliche und methodische Neuansätze verfolgen, wobei die Vernetzbarkeit mit anderen Teilprojekten eine Grundbedingung darstellt. Gemäß dieser Vorstellung sorgt ein Gremium dafür, daß – anders als dies heute in Editionsinstituten üblich ist – Forschungsprojekte synergetisch gebündelt und deren Ergebnisse auf elektronischem Wege ständig allen Teilprojekten und mithin der Öffentlichkeit unmittelbar zugänglich sind. Dies spart Geldmittel, erhöht die Effizienz von Forschungsarbeiten und gewährleistet deren Kontinuität. Ein Koordinationsgremium organisiert ferner regelmäßige Arbeitstreffen. Dabei werden die Zielsetzungen der Teilprojekte und gemeinsame Arbeitsstrategien festgelegt, Ergebnisse der ansonsten autonomen Einzelprojekte miteinander in Beziehung gesetzt und Modalitäten der Ergebnispräsentation vereinbart. Aufgrund der quellenkundlichen Orientierung der Einzelunternehmungen ist dabei vorwiegend an Katalogisierung, Editionen, Monographien, Aufsatzpublikationen (Symposien, Jahrbücher u. ä.), InternetDatenbanken gedacht. Die Finanzierung der integrierten Einzelprojekte kann nicht über einen einzigen Zuwendungsgeber (wie etwa die Union der Akademien) erfolgen. Vielmehr wird sie sich an den jeweiligen Projekten orientieren müssen, für die sehr unterschiedliche Förderer – sowohl aus dem öffentlichen als auch dem privaten Bereich – in Frage kommen. Projekte Unter besonderer Berücksichtigung von skripturalen, publizistischen, notationsgeschichtlichen oder distributiven Aspekten musikalischer Quellen erwächst aus der Arbeit der auslaufenden Editionsinstitute neben der Archivierung der Institutsmaterialien unmittelbar ein breites thematisches Spektrum philologischer Grundlagenforschung. Unter den oben genannten Voraussetzungen sind u.a. Projekte unter folgenden Aspekten denkbar: 1. Schreib- und Schreiberforschung: • Untersuchungen individueller Schreibprozesse • Untersuchungen von spezifischen Schreibtraditionen und Schreibdialekten • Entwicklung von Verfahren zur Trennung simultaner Textschichten (Zusammenarbeit mit dem Institut für Materialforschung, mit Schriftsachverständigen und mit Spezialisten der forensischen Schriftanalyse) • Entwicklung von Darstellungsmethoden zur Textgenese • Kopisten und Komponisten: Kooperation zwischen Komponist und Schreibern • Kopierpraktiken 3 • Entwicklung von Arbeitstechniken und -kriterien zur Schreiberidentifizierung (Kooperation mit der Kopistenforschung in Rostock; Anknüpfung an Kobayashis Arbeiten zu J.S. Bach etc.) • Deutsche/europäische Schreiberkataloge (geordnet nach Zentren der Musikausübung) • Notationsgeschichte: Wandel und Erweiterung des Symbolrepertoires, Abbreviaturensysteme, Wechselbeziehung zu anderen Notationssystemen • Datenbanken zu Schreibmitteln und zu papierkundlichen Daten 2. Musiküberlieferung: • Europäische Zentren der Musiküberlieferung vor 1500 • Handschriftliche Musikdistribution • Vertriebs- und Austauschwege im europäischen Kontext • Quellenaustausch • Erfassung und Erforschung privater Musikalienkonvolute (Funktion, Repertoire, Herkunft, Tauschverhältnisse) 3. Drucke und Verlage: • Dokumentation zu Geschichte und Techniken des Musikaliendrucks (Kooperation z.B. mit GutenbergMuseum, Mainz, Plantin-Moretus-Institut in Antwerpen, universitären Forschungsinstituten für Buchgeschichte) • Entwicklung einer Fachterminologie zur Beschreibung von Druck-Verfahren und publizistischen Erscheinungsformen (Abzug, Auflage etc.) • Publikationsformen im aufführungsgeschichtlichen Funktionszusammenhang • Erfassung und Auswertung datierter Verlagskataloge • Musikalienhandel und -publizistik im nationalen und/oder europäischen Kontext • Verlagsvernetzungen (hier könnte ein europäisches Großprojekt angepeilt werden) • Geschichte des Urheberrechts (hier wäre anzuknüpfen an frühere Versuche, das Thema „Musikaliendrucke“ aufzuarbeiten) 4. Editionsgeschichte und -methodik: • Editionskonzepte im geschichtlichen Wandel • Lexikon musikphilologischer Fachtermini (Kooperation mit dem im Aufbau befindlichen Lexikon der literaturwissenschaftlichen Editionsphilologie) • Neue Editionsmethoden unter Verwendung elektronischer Darstellungsmöglichkeiten • Entwicklung von Modellen elektronischer Editionen im Musik- und Textbereich • Bereitstellung von Tools für die Erarbeitung elektronischer Kritischer Berichte • Vernetzung elektronischer Projekte (z. B. durch Zusammenführung der Ergebnisse bestandserschließender und inhaltlich aufarbeitender Maßnahmen) • Entwicklung technisch gestützter Kollationierungsverfahren • Entwicklung neuer Editionsmethoden für Musik des 20. Jahrhunderts (insbesondere für Kompositionen aus dem Zeitraum von ca. 1950–1980 sowie der Elektroakustischen Musik: multimediale Dokumentation und Erstellung von Aufführungspartituren), Verhältnis von Musiktheorie und Komposition sowie von Materialvorordnung und Komposition • Aufbau eigener Publikationsformen sowohl im Netz als auch im Printbereich auf der Basis flexibler und dauerhafter Datenstrukturen 4 Von übergeordnetem Interesse wären auch bibliographische Arbeiten wie etwa: • Vernetzung von Quellendatenbanken: Bestehende oder im Aufbau befindliche Quellenkataloge zu einzelnen Komponisten sollten erweitert und miteinander verlinkt werden, woraus gemeinsame Fragestellungen resultierten (z. B. Quellentypen, Schreiberpraktiken, Schaffensweisen, Musikdistribution etc.), die ihrerseits systematisch weiterverfolgt werden könnten • Musikalische Indrucke ca. 1780–1850 (Katalog von Musikbeilagen in Zeitschriften, Almanachen, Taschenbüchern sowie Untersuchungen zu deren Rezeption) • Datenbank des deutschen Liedes im 19. Jahrhundert • Systematische und historische Forschungen zu Verlagsarchiven, städtischen Musikvereins- und Orchesterarchiven, Musiktheaterbibliotheken, privaten Sammlungen und ihrer institutionellen Verbindung Die Einzelprojekte sollten trotz wechselseitiger Bezugnahme inhaltlich selbständig definiert sein und autonom durchgeführt werden können. Neue Arbeitsformen (z. B. vernetztes Homework) sollten auch in Hinblick auf die Reduktion von Betriebskosten diskutiert werden. Alle diese hier nur grob skizzierten Teilprojekte verstehen sich als Mosaiksteine, die im Laufe der Zeit ineinander gefügt ein Gesamtbild ergeben werden.