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Inhaltverzeichnis
EINLEITUNG ............................................................................................................................................................... 3
1. DAS GESPROCHENE IM MUSIKHISTORISCHEN KONTEXT ................................................................ 4
1.1 DAS GESPROCHENE WORT IM MUSIKALISCHEN ZUSAMMENHANG: MUSIKALISCHE
RHETORIK-REZITATIV-MELODRAM…………………………………………………………………………4
1.2 DER SPRECHGESANG ALS EMANZIPATION DER SPRECHSTIMME .................................................. 5
2. BRIAN FERNEYHOUGH: OPUS CONTRA NATURAM …………..................................................….....9
2.1 BRIAN FERNEYHOGHS SHADOWTIME- AUFBAU UND LIBRETTO…………………….………...…..9
2.2 INTERAKTION VON SPRECH-UND KLAVIERPART IN OPUS CONTRA NATURAM………....……..11
2.2.1 I. SATZ……………………………………………………………………………………………...……...13
2.2.2 II. SATZ (KATABASIS)…………………………………………………………………………...………17
2.2.3 III. SATZ (KATAPLEXY)………………………………………………………………………...……….21
3. HELMUT LACHENMANN: SALUT FÜR CAUDWELL (1977) FÜR ZWEI GITARRISTEN………...25
3.1 KOMPOSITORISCHE UMSETZUNG DES CAUDWELL-TEXTES……………………………………...26
3.2 RHYTHMUS ALS BINDEGLIED……………………………………………………………………..……27
3.3 PHONETISIERUNG…………………………………………………………………………………...…….30
3.4 FUNKTIONEN DES GESPROCHENEN……………………………………………………………...…….35
4. ZUSAMMENFASSUNG……………………………………………………………………………………..37
ANHANG………………………………………………………………………………………………………...38
LITERATURVERZEICHNIS………………………………………………………………………………….41
2
EINLEITUNG
Eine nicht geringe Anzahl zeitgenössischer Kompositionen wählt einen Text als zentrales
musikalisches Material. Was jedoch einige Kompositionen besonders auszeichnet, ist die
Rolle bzw. Behandlung des Textes. Diese Rolle änderte sich – auch in Bezug auf den
musikalischen Fluss – durch die Entstehung und Entwicklung vokaler, vokal-instrumentaler
bzw. szenischer Formen und Gattungen.
Gesprochenes, das in musikalische Strukturen integriert wird, ist an sich kein Novum in der
neuen Musik, sondern spätestens seit der Entstehung des Rezitativs ein wichtiger Bestandteil
der Musiksprache verschiedener Epochen. Was die zwei in dieser Arbeit behandelten
Kompositionen – Ferneyhoughs Opus Contra Naturam und Lachenmanns Salut für Caudwell
– im musikhistorischen Kontext unterscheidet, ist die Tatsache, dass hier die
Instrumentalisten selbst zum Sprechen angeleitet werden. Sie produzieren also sowohl
instrumentalen als auch vokalen Klang.
Mit der vorliegenden Analyse soll gezeigt werden, wie sich die zwei Kompositionen von
historischen Herangehensweisen der Musik an (gesprochene) Sprache unterscheiden. Mein
Ziel ist es dabei der Frage auf den Grund zu gehen, weshalb der gesprochene Text von einem
Instrumentalisten und nicht von einem Sprecher interpretiert wird. Und welche Folgen haben
die besonderen kompositorischen Verfahrensweisen in diesen Werken für das musikalische
Gesamtgefüge?
3
1. DAS GESPROCHENE IM MUSIKHISTORISCHEN KONTEXT
1.1 Das gesprochene Wort im musikalischen Zusammenhang: Musikalische Rhetorik –
Rezitativ – Melodram
Das Verhältnis von Gesprochenem und Musik hat in der Geschichte immer wieder dazu
gedient, die Sprache (den Text) im musikalischen Kontext zu einem gleichberechtigten Träger
des Ausdrucks zu machen. Dabei denken wir in erster Linie an Rezitativ oder Melodram, im
Wesentlichen also an musikdramatische oder -szenische Gattungen.
Die Sprechkunst bzw. Rhetorik hat eine bis in die Antike zurückreichende Geschichte. Die
Übertragung der Rhetorik auf die Musik wurde vor allem im Barock unternommen. Die so
seit dem frühen 17. Jahrhundert entstehenden Figurenlehren kategorisierten melodische und
harmonische Wendungen nach ihrer rhetorischen Funktion und wirkten damit sehr stark auf
die Praxis der Textvertonung zurück. Insbesondere die ebenfalls um 1600 entstandene
Gattung des Rezitativs machte die musikalische Rhetorik zu einem vorrangigen Prinzip. Das
Rezitativ wird Teil der Oper, der Kantate, der Messe und des Oratoriums. Für das Rezitativ
charakteristisch ist einerseits die gesprochene Art des Singens, andererseits erzählerische oder
dialogische Elemente, die sich von Aria-Teilen unterscheiden. Vor allem im aus dieser
Frühzeit hervorgehenden recitativo secco, für das die continuo-Begleitung typisch ist, wird so
eine große rhythmische Freiheit gewonnen, im Gegensatz zur Form des recitativo
accompagnato, in dem die Orchesterbegleitung eine festere Struktur vorgibt.
Das Rezitativ ist auch fester Bestandteil der Oper des 19. Jahrhunderts geblieben. Mit Wagner
und dem Musikdrama ändert sich jedoch das bisherige Konzept der Sprachbehandlung
grundlegend und damit auch das Rezitativ und seine Funktion. Durch die „unendliche
Melodie“ wird eine musikalisch-dramatische Einheit erreicht, die ein Rezitativ durch seinen
sprechenden Charakter unterbrechen würde.
Während das Rezitativ und Wagners sprachnaher Gesang letztlich mit einer sängerischen
Technik
realisiert
werden,
ist
beim
Melodram
rein
gesprochene
Sprache
mit
Instrumentalmusik kombiniert. Dabei wurde allerdings wiederum ansatzweise versucht, über
die Notation eine Annäherung an den Gesang herzustellen, eine Entwicklung, aus der der
Sprechgesang resultierte (vgl. 1.2).
4
Die ersten Melodramen entstanden im ausgehenden 18. Jahrhundert.1 Jedoch wird das Prinzip
des Melodrams im 19. Jahrhundert zum Bestandteil einiger musikszenischer Formen wie
Singspiel und Oper, wobei es nicht selten für die Darstellung bestimmter dramatischer
Spannungen eingesetzt wird, so z.B. in der Gefängnisszene in Beethovens Fidelio, in der
Wolfsschluchtszene in Webers Freischütz, in Schuberts Zauberharfe und Des Teufels
Lustschloss sowie in Schuberts Melodram für Klavier und Sprechstimme Abschied von der
Erde. Auch Mendelssohn, Schumann, Liszt und viele andere erprobten dieses Genre. Der
gesprochene Part wurde dabei in der Regel rhythmisch und melodisch nicht ausnotiert,
sondern von Sprecherin oder Sprecher ad hoc mit dem musikalischen Fluss koordiniert.
Im 18. Jahrhundert formiert sich in europäischen Ländern, besonders in Deutschland, eine
Sprechkunstbewegung, die die verschiedenen Vortragsarten wie Rezitieren (basierend auf
einer „reine[n] und vollständige[n] Aussprache jedes einzelnen Worts“2) und Deklamieren
(eine kunstvolle, affektive Art des Redens, die sich gründsätzlich von der alltäglichen
Konversation unterscheidet) pflegte. Gleichzeitig unternahm die Dichtung mit Autoren wie
Goethe, Lessing oder Schiller eine starke Hinwendung zum Deklamatorischen.
1.2 Der Sprechgesang als Emanzipation der Sprechstimme
Dass das Melodramatische in der Musik auch am Beginn des 20. Jahrhunderts existiert und
sich in neue vokale bzw. instrumentale Formen fortsetzt, bestätigt in erster Linie Schönbergs
Pierrot Lunaire op. 21 (1912), das am Anfang der Einbeziehung der Sprechstimme in die
neuen Musik steht und damit neue Möglichkeiten des vokalen Ausdrucks eröffnete. 21
Melodramen bzw. „dreimal sieben Gedichte aus Albert Girauds Pierrot lunaire für
Sprechstimme, Klavier, Flöte, Klarinette, Geige und Violoncello“ ist eines der radikalsten
Beispiele in der Einführung einer kompositorisch festgelegten Art der Sprechmelodie, des so
genannten Sprechgesangs, als einem Hauptmittel des musikalischen Ausdrucks. Im Vorwort
der Partitur gibt Schönberg explizite Anleitungen zur Interpretation und führt dabei aus, wie
sich Gesangston und Sprechton unterscheiden sollen:
1
2
Vgl. Schwarz-Danuser, Melodram.
Meyer-Kalkus, Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, S. 229.
5
Die in der Sprechstimme durch Noten angegebene Melodie ist (bis auf einzelne besonders bezeichnete
Ausnahmen) nicht zum Singen bestimmt. Der Ausführende hat die Aufgabe, sie unter guter Berücksichtigung
der vorgezeichneten Tonhöhen in eine S p r e c h m e l o d i e umzuwandeln. Das geschieht, indem er:
I. den Rhythmus haarscharf so einhält, als ob er sänge, d. h. mit nicht mehr Freiheit, als er sich bei einer
Gesangsmelodie gestatten dürfte;
II. sich des Unterschieds zwischen G e s a n g s t o n und S p r e c h t o n genau bewußt wird: der Gesangston
hält die Tonhöhe unabänderlich fest, der Sprechton gibt sie zwar an, verläßt sie aber durch Fallen oder Steigen
sofort wieder. Der Ausführende muß sich aber sehr davon hüten, in eine „singende“ Sprechweise zu verfallen.
Das ist absolut nicht gemeint. Es wird zwar keineswegs ein realistisch-natürliches Sprechen angestrebt. Im
Gegenteil, der Unterschied zwischen gewöhnlichem und einem Sprechen, das in einer musikalischen Form
mitwirkt, soll deutlich werden. Aber es darf auch nie an Gesang erinnern.
Im übrigen sei über die Ausführung folgendes gesagt:
Niemals haben die Ausführenden hier die Aufgabe, aus dem Sinn der Worte die Stimmung und den Charakter
der einzelnen Stücke zu gestalten, sondern stets lediglich aus der Musik. Soweit dem Autor die tonmalerische
Darstellung der im Text gegebenen Vorgänge und Gefühle wichtig war, findet sie sich ohnedies in der Musik.
Wo der Ausführende sie vermißt, verzichte er darauf, etwas zu geben, was der Autor nicht gewollt hat. Er würde
hier nicht geben, sondern nehmen.3
Sprechgesang steht so für eine eigenständige Art der Emanzipation der Sprechstimme. Er ist
ein integraler, interaktiver Teil der musikalischen Idee. Schönberg selbst führt als Modell das
so genannte „gebundene Melodram“ an, dessen Prinzip er von Engelbert Humperdinck
übernahm und erweiterte.4 In der ersten Fassung seines Bühnenmelodrams Königskinder
(1895) fixiert Humperdinck nicht nur den Rhythmus der Sprechstimme, sondern auch die
Tonhöhen, wobei er die Notenköpfe jedoch mit einem x markiert, d.h. dass er anstelle der
üblichen, runden Notenköpfe ein Kreuz benutzt. Alles ist jedoch in einem „normalen“ FünfLinien-System geschrieben. Mit dieser damals neu geschaffenen Notation wollte
Humperdinck bewusst auf die Verschiedenheit zwischen dem Gesprochenem und
Gesungenen hinweisen, auf einen „Zwischenraum“, in dem sich das Vokale bewegt: „Die
Sprechnoten geben im allgemeinen nicht die absolute Tonhöhe, sondern die relative an, die
Linie der Hebungen und Senkungen in der Stimme.“5 Der Text ist jedoch insofern
vollkommen an den musikalischen Fluss gebunden, als er sich in seine rhythmische und teils
harmonische bzw. Intervall-Struktur einfügt. Diese Verbundenheit zeigt auch der Text, den
wir in der Partitur finden: „Die in den melodramatischen Sätzen angewandten ‚Sprechnoten’
3
Schönberg, Pierrot lunaire op. 21, Partitur, Vorwort.
Krämer, Zur Notation der Sprechstimme bei Schönberg, S. 6
5
Ebd., S. 11.
4
6
sind dazu bestimmt, Rhythmus und Tonfall der gesteigerten Rede (Melodie des Sprachverses)
mit der begleitenden Musik in Einklang zu setzen.“6
Von Schönbergs Beschäftigung mit der Sprechstimme zeugt eine nicht geringe Anzahl an
Kompositionen, deren Entwicklung sich über ein halbes Jahrhundert erstreckt, begonnen mit
den Gurre-Liedern (1900/1901), der Glücklichen Hand op. 18 (1910–1913) über Pierrot
Lunaire (1912), Moses und Aron (1930–1933) bis Ode an Napoleon op. 41 (1942), Ein
Überlebender aus Warschau op. 46 (1947) und seine letzte Komposition, den Modernen
Psalm op. 50c (1950).
Während die Notation der Sprechstimme im Fünf-Linien-System noch ein rhythmisches
Zusammenlegen und Koordinieren mit dem musikalischem Fluss erfordert und zugleich
Tonhöhen evoziert, geht Schönberg mit Kompositionen wie Ode an Napoleon und Ein
Überlebender aus Warschau einen anderen Weg, indem er hier den deklamierten Text nur auf
einer Linie markiert. Der Text wird so stärker von jeglicher Art der Prädestination distanziert,
seine Wiedergabe ist stärker an textspezifischen Charakteristika orientiert. Der Rhythmus
dagegen wird – so wie auch die konventionelle rhythmische Notation – beibehalten.
Die partielle Unabhängigkeit des gesprochenen Textes im musikalischen Zusammenhang
wirft verstärkt die Frage über die Beziehung textlicher und musikalischer Strukturen auf.
Unter diesem Gesichtspunkt erscheint Pierrot lunaire als Ausgangspunkt für viele spätere
Entwicklungen. Die Anweisungen Schönbergs zur Ausführung des Sprechparts in Partitur
und Vorwort zeugen von der Absicht, die spezifische Qualität des Gesprochenen
hervorzuheben. Sinn und Qualität der Komposition aber werden erst durch die Interaktion der
Sprechstimme mit der musikalischen Idee eingelöst.
Unter „Vokalmusik“ kann heute mehr oder weniger jede Form der stimmlichen Artikulation
zusammengefasst werden. Die Kombinationen und Möglichkeiten der Stimmbehandlung
insgesamt sind kaum vollständig fassbar, vor allem aufgrund der Tatsache, dass die
Entwicklung der Vokalmusik und der Einfluss „musikalischer“ Artikulationsweisen auf die
Literatur der Moderne Hand in Hand gingen. Dadaismus, Lautpoesie, Konkrete Poesie und
experimentelle Literatur, Autoren wie Franz Mon, Gerhard Rühm, Ernst Jandl u. a. öffneten
auch der vokalen Musik neue Wege und waren ihrerseits von Tendenzen der neuen Musik
beeinflusst. Insbesondere nach 1945 erweiterte sich das Spektrum der Vokaltechniken und
6
Allende-Blin, Über Sprechgesang, S. 49.
7
damit die Ausdruckspalette der Vokalmusik erheblich, nicht zuletzt in Wechselwirkung mit
einer Erweiterung der Klangräume in der instrumentalen Musik. Flüstern, Schreien, aber auch
Sprechgesang bzw. Sprechen wurden zum festen Bestandteil neuer Vokalwerke, und traten
gleichberechtigt neben konventionellere stimmliche Formen der Artikulation.
8
2. BRIAN FERNEYHOUGH: OPUS CONTRA NATURAM
Mit den folgenden Analysen werde ich die Interaktion zwischen dem Gesprochenem und
Instrumentalen in zwei Schlüsselwerken der neuen Musik erläutern. Untersucht werden die
verschiedene Umgangsweisen mit dem Text, genauer: die Art und Weise seiner
kompositorischen Behandlung und seiner Beziehung zum instrumentalen Klang.
2.1. Brian Ferneyhoughs Shadowtime – Aufbau und Libretto
Die Oper Shadowtime (2000, uraufgeführt 2004 bei der 9. Münchener Biennale für neues
Musiktheater, Libretto: Charles Bernstein) ist bisher der einzige Beitrag Brian Ferneyhoughs
zum Musiktheater. Sie ist um Leben, Werk und Tod des deutschen Kulturphilosophen Walter
Benjamin herum entwickelt, der sich im Jahr 1940 in Portbou an der franzözisch-spanischen
Grenze das Leben nahm. Benjamins Philosophie ist zentrales dramaturgisches Movens von
Ferneyhoughs Oper.
Auch die Anordnung der sieben Szenen und die musikalischen Strukturen der Oper lassen
sich auf den Kontext von Benjamins philosophischem Denken beziehen. Text und Musik
stehen in Shadowtime in einer engen Abhängigheit zueinander. Jede der sieben Szenen steht
dabei einzeln für sich, wobei die Szenen durch unterschiedliche Texte, Instrumentation/
Besetzung und musikalische Anlage voneinander abgehoben sind, und zugleich durch eine
gemeinsame dramaturgische Linie verbunden werden. Die Beziehungen zwischen den Sätzen
sind auf mehreren Ebenen ersichtlich. Vor allem dient hier die Figur Walter Benjamins als
Bindeglied, indem er als Ausführender von der ersten bis zur 5. Szene immer wieder
transformiert erscheint. In seiner Rolle als Joker bzw. Clown in der vierten Szene wird er
zugleich zum Rezitator. Nach der 5. Szene verschwindet die Figur Walter Benjamins, was
Ferneyhough selbst für einen bedeutsamen Moment in der Komposition hält, nämlich als
Übergang zu einer anderen Ebene. „...just as the avatar of Benjamin is becoming increasingly
insubstantial and, at the end, has disappeared completely, so we are moving more and more
into the world of the focused, subjective individual in Western culture. I like to think there’s a
sort of cross-fade in this scene, between these two levels.“7
7
Ferneyhough, Content and Connotation, Distance and Proximity, S. 12.
9
„‚Before‘ and ‚after‘ were always in my mind at some level or another throughout this
opera“8, sagte Ferneyhough, und dies ist höchstwahrscheinlich das stärkste gedankliche
Bindeglied zwischen den Szenen der Oper Shadowtime. So stellt beispielsweise die erste
Szene – New Angels/Transient Failure (Prologue) – eine „Reise“ in diverse Zeitdimensionen
dar; eine Reise von der „Echtzeit“ über „reflektierende Zeit“ bis in die „erlösende Zeit“, vom
Konkreten, namentlich Walter Benjamins Selbstmord, bis in die Sphäre der Besinnung und
Rückerinnerung. Diese Reise durch die Zeit ist wesentlich für die Zeitkonzept des Werkes
und ist ein bedeutendes Zusammenhang stiftendes Element, nicht nur innerhalb der einzelnen
Sätze, sondern auch zwischen den Sätzen. In jeder der sieben Szenen realisiert Ferneyhough
sein Material entweder durch unterschiedliche zeitliche Epochen oder Verweise auf bekannte
Persönlichkeiten mit verschiedenen künstlerischen, philosophischen und auch politischen
Profilen. Auf musikalischer Ebene werden dabei Formen und Gattungen früherer Epochen
evoziert.
Die 2. Szene – Les Froissements des Ailes de Gabriel (First Barrier) – ist ein rein
instrumentaler Satz. Ein Teil dieses musikalischen Materials wird erneut in der 4. Szene Opus
Contra Naturam verwendet, wodurch die Verknüpfung des musikalischen Materials in der
Oper noch verstärkt wird. In der 3. Szene – The Doctrine of Similarity (13 Canons) – sowie in
der 7. Szene Stelae for Failed Time (Solo for Melancholia as the Angel of History) dominiert
der Chor mit verschiedenen Instrumentalensembles. Der Text der 6. Szene Seven Tableaux
Vivants Representing the Angel of History as Melancholia (Second Barrier) wird – wie in der
4. Szene Opus Contra Naturam – gesprochen. Die 7. Szene bezieht sich auf Albrecht Dürers
Kupferstich Melencolia I (1514).
Auch die Skizzen zum formalen Ablauf, also zu den Verhältinissen zwischen den Szenen,
suggerieren unzweifelhaft einen gemeinsamen Faden, der sich durch die Sätze zieht (vgl.
Anhang, Beispiel 1: formale Skizze Ferneyhoughs). Obwohl die Szenen zu unterschiedlichen
Gelegenheiten entstanden sind und auch als einzelne Stücke aufgeführt werden können,
scheint aufgrund dieser dichten Beziehungen zwischen den Sätze eine Auskoppelung aus dem
Kontext der Oper nur bedingt sinnvoll. Ebenso hängen Szenographie und Regie eng mit der
Gesamtanlage des Werkes zusammen. Als Beispiel dafür kann die 4. Szene dienen: Das
Klavier wird während der Aufführung fortwährend über die Bühne geschoben und
verschwindet am Ende wieder im Dunklen.
8
Ebd.
10
In der Produktion der Uraufführung bestimmten auch die Akteure – Instrumentalisten und
Sänger – die Szenographie selbst mit. „The singers and the musicians are the artists the
production is constructed around“, so der Regisseur der Uraufführung Frédéric Fisbach.9
Das Szenarium der Oper, aber auch die Gliederung in Szenen sowie deren Aufbau und Inhalt,
ist das Produkt einer engen Zusammenarbeit zwischen Ferneyhough und Charles Bernstein,
einem
amerikanischer
Literaturtheoretiker
und
Dichter.
Ausgangspunkt
war
die
Voraussetzung, dass der Text für die Oper eine eigenständige Kunstform darstellen müsse:
„Poesie sollte es sein, kein Schauspiel.“10 Ferneyhough selbst spricht von einer
„Gedankenoper im Gegensatz zur Spieloper“.11
Bernsteins Text für Shadowtime ist eine poetisch-philosophische Collage. Das verarbeitete
Textmaterial besteht aus Passagen aus Originaltexten Benjamins, aus Texten von Autoren,
denen sich Benjamin verwandt fühlte, etwa von Gershom Scholem oder Friedrich Hölderlin,
aber teilweise auch von Ferneyhough selbst (wie z. B. im ersten Satz von Opus contra
Naturam). Daneben besteht der Text auch aus Zitaten aus dem Briefwechsel zwischen
Benjamin und Theodor W. Adorno. Viele Textquellen wurden von Bernstein stilisiert und
poetisch überarbeitet. Das resultierende Libretto hat somit eigenständiges ästhetisches
Gewicht und erscheint als „für sich stimmiges Sprachkunstwerk“.12
2.2 Interaktion von Sprech-und Klavierpart in Opus Contra Naturam (2000)13
Das Klavierstück Opus Contra Naturam, die 4. Szene der Oper, steht für den Abstieg
Benjamins in die Unterwelt und ist, in den Worten des Komponisten, „der zentrale slowdown,
das gefrorene Herz der Oper“.14 Diese Szene ist allein für einen „sprechenden“ Pianisten
bestimmt, der als Personifkation Benjamins einen Dialog mit dem Klavier führt. Die Szene
spielt in einer Bar in Las Vegas, von Ferneyhough als Symbol für die westliche kulturelle
Dekadenz verstanden:
9
Shadowtime, in: 9. Münchener Biennale, S. 44
Ebd., S. 42.
11
Ebd.
12
Ebd.
13
Uraufgeführt am 14. Oktober 2000 von Ian Pace beim Festival van Vlaanderen Vlaams-Brabant.
14
Shadowtime, in: 9. Münchener Biennale, S. 45.
10
11
Las Vegas ist für mich die Hyper-Simulation der Welt auf engstem Raum, Nachbildungen der Pyramiden stehen
direkt neben Nachbildungen des heutigen New York. Die Stadt in der Wüste bietet eine unglaubliche und
beängstigende Sammlung von Sinnbildern der westlichen Kultur. Und Las Vegas ist für mich das Hauptportal
zur Unterwelt.15
Der Komponist merkt zur Gestaltung des Sprechparts an:
The texts (in frames, usually above the staves to which they apply) are to be spoken approximately where their
placement suggests. At several points, individual words are so located as to suggest exact coordination with
individual attacks in the piano part. This coordination is intentional, but not specifically indicated as such, so that
performers should consider themselves at liberty to adopt slightly different conventions.
The texts should be spoken as if the pianist is engaged in a private, if somewhat conflictual conversation with the
piano. In particular, careful consideration must be given to musical context when selecting a tone of voice for
each vocal insert, since many are intended to appear to be reactions on the part of the performer to wayward
tendencies on the part of the piano itself, i.e., its frequent veering into the realm of distorted late Romantic tonal
harmony.16
Intendiert ist also, dass der Text vom Pianisten durchaus in individueller Weise gesprochen
wird, als ob er sich in einem konflikthaftem Gespräch mit seinem Instrument (dem Klavier)
befände. Bei der Wahl der Sprech-Intonation, der Sprech-Tonhöhe soll bei jedem Einsatz der
durch den Klavierpart vorgegebene musikalische Kontext berücksichtigt werden. Es bestehen
dabei Tendenzen einer suggerierten gegenseitigen Abhängigkeit: Das Klavierspiel scheint den
Sprechduktus zu beeinflussen und umgekehrt.
15
16
Ebd.
Ferneyhough, Shadowtime, Partitur, Perfomance Note.
12
2.2.1 I. Satz
Der Text des ersten Satzes stammt vom Komponisten und versucht sich der Ästhetik und
Sensibilität Walter Benjamins zu nähern. (Beispiel 1, Text 1).
Beispiel 1:
Im freien Versmaß beruht der Text auf einer klaren strukturellen Gliederung. Die ersten zwei
Drittel des Textes folgen in Zweizeilern dem Schema Frage-Antwort, das in der ersten
„Strophe“ vorgegeben ist. „Are the shadows of objects on cave walls themselves objects? /
Undecidable.“ (Beispiel 2, Takt 5-6)
Beispiel 2:
13
Das letzte Drittel des Textes verdichtet satzkettenartig knappe Bilder. Die Interpunktion ist
von großer Bedeutung für die musikalische Struktur.
Die ersten vier einführenden rein instrumentalen Takte deuten bereits ein rhetorisches Prinzip
an: kurze von Pausen unterbrochene rhythmische Figuren kann man leicht mit der Gestalt
kurzer Fragen identifizieren. Die längeren Notenwerten bezeichnen interpunktische
musikalische Gesten.
Im 5. Takt des I. Satzes, wo der gesprochene Text einsetzt, werden Musik und Sprache schon
grafisch bzw. von der Partituranordnung her als zwei getrennte Ebenen ersichtlich. Der
gesprochene Teil ist vom musikalischen Ablauf abgelöst. Genau dieser Abstand bzw. die
Entkopplung von Musik und Sprache ist der entscheidende Faktor in Ferneyhoughs
kompositorischem Modell, den wir in allen drei Sätzen verfolgen können.
Das Prinzip der Entkopplung entfaltet seine Bedeutung schon in den ersten Takten durch die
Tatsache, dass sich die Klavierstimme in zwei weit voneinander entfernten Lagen befindet
und diesen Klaviersatz den ganzen ersten Satzes über beibehält. Wir können so nicht nur
einen Dialog zwischen dem Pianisten und Benjamin, sondern auch zwischen Benjamin und
seinem alter ego beobachten. Der gesprochene Text bildet, genau wie der instrumentale Part,
eine Ebene für sich, was man unter anderem aus der Notation herauslesen kann: „The piano is
deliberately objectivised, does not react in any way to the pianist’s soliloquy.“17 Die zwei
getrennten Ebenen Text und Musik sind einem alchemistischen Prozess unterworfen, wie es
der Titel der Komposition suggeriert (Opus Contra Naturam „is a term taken from
renaissance alchemy and signifies one of the essential moments of transition/transformation
which typify that arcane discipline“18).
Klavier und Sprechstimme wechseln zunächst dialogisch ab. Die instrumentalen und
gesprochenen Teile stehen in einer komplementären Beziehung. Der gesprochene Text ist in
die Pausen der instrumentalen Syntax hineingesetzt. Die „Frage/Antwort“-Struktur des Textes
wird konsequent im instrumentalen Part reflektiert. Später werden während der Rezitation des
Textes die Notenwerte länger, was die dialogischen Beziehung von Stimme und Klavier
potenziert (Beispiel 3, Takt 6-7). Auf diese Art und Weise wird eine Frage-Antwort-Form von
Sprecher und Instrumentalisten geschaffen, und zwar sowohl auf der textuellen Ebene, als
auch im Dialog mit sich selbst bzw. mit dem alter ego. Klavier und Stimme entwickeln dabei
gemeinsame rhetorische Figuren. Evidente Beispiele gegenseitiger Abhängigkeit finden sich
17
18
Ferneyhough, Content and Connotation, Distance and Proximity, S. 10.
Ferneyhough, Shadowtime, Partitur, Composer’s Note
14
schon in den ersten Takten der Komposition; nach dem gesprochenen Wort „Undecidable“
wird die Zensur in Takt 7 (Beispiel 3, Takt 6-7) fast zwangsläufig als „unentschlossene“
Geste gehört. Musik und Text greifen ineinander.
Beispiel 3:
Das Beispiel ist aber nicht isoliert; man kann annehmen, dass hier als Prinzip die Rhetorik des
Textes in die Gestik der Musik einfließt. In Takt 8 – „Semantic insufficiency“ – stellt die
Pause in der Klavierstimme einerseits eine interpunktische Geste dar und drückt anderseits
semantisch das semantisch Unzureichende, die „Leerstelle“ aus, von der der Text spricht
(Beispiel 4, Takt 8).
Beispiel 4:
In Takt 12 die rhythmische und gleichzeitig die melodische Figur als Echo der
ausgesprochenen Wörter: „Then as when“ (Beispiel 5, Takt 12).
15
Beispiel 5:
Die instrumentalen Interludien stellen ebenfalls eine musikalische Interpunktion des Textes
dar; sie stehen immer am Ende einer Frage oder Antwort (Takt 6, 7, 9-12, 14, 16-17, 19, 2527).
Nach vier Zweizeilern (T. 5-18) entwickelt sich eine neue textliche Struktur, eine
Wortreihung, was die musikalische Rhetorik wiederum deutlich beeinflusst. Ab dem 20. Takt
folgen die rhythmischen Figuren fast synchron mit dem gesprochenen Text aufeinander. Die
musikalischen Gesten stimmen dabei mit den Charakteristika der gesprochenen Wörter
überein. Das betrifft Artikulation, Sprechrhythmus und Bewegungsrichtung (Beipiel 6, T. 2021).
Beispiel 6:
Der erste Satz ist homorhythmisch angelegt. Der Rhythmus des Klavierparts verläuft in
beiden Stimmen, mit Ausnahme der Takte 19 und 21, den ganzen Satz über gleich. Die
extremen Lagen und die rhythmischen Figuren sind durch das Spiegelprinzip geprägt. Der
Klavierpart besteht in erster Linie aus kleinen intervallischen Schritten. Diese sind allerdings
nicht in beiden Stimmen gleich, es handelt sich also eher um vergleichbare Gesten, die auf
16
dem Prinzip der Spiegelung basieren und in einer Gegenbewegung resultieren. Daneben
dominieren im Klaviersatz chromatische Schritte, wobei sich die Bewegungsrichtung oft als
Geste zwischen einer Frage (aufwärts) und einer Antwort (abwärts) interpretieren lässt.
Sprech- und Klavierstimme sind in diesem Dialog gleichberechtigt. Daneben zeigen Text und
Musik des ersten Satzes eine semantische Klarheit. Der Text, wenn auch überaus poetisch
assoziativ, ist in seiner Struktur klar verständlich. Fragen und darauffolgende Antworten sind
deutlich als aufeinander bezogen vernehmbar. Es entsteht eine logische Folge wie sie
charakteristisch für einen Dialog ist. Man kann also sagen, dass das Klavier auch auf eine
eigene Art und Weise „spricht“ und somit einen „Sprachcharakter“ zeigt. Paradox ist dabei,
dass sich auf diese Weise zugleich die Ebenen Klavier und Sprache zunehmend voneinander
distanzieren und sich der Eindruck von zwei Meinungen bzw. Persönlichkeiten verstärkt.
Entkopplung bleibt – auch bei offensichtlicher Interaktion zwischen Text und Musik – das
Hauptcharakteristikum des I. Satzes. Trotz seiner klaren Stuktur und semantischen
Verständlichkeit verhält sich der Text zum instrumentalem Part wie ein Fremdkörper. Und
trotz der deutlichen, jedoch gescheiterten Versuche der Identifikation der Musik mit dem Text
bleibt der musikalische Part isoliert.
2.2.2 II. Satz (Katabasis)
Bereits der Titel des II. Satzes ist symptomatisch: Katabasis (Abstieg) steht hier für
Benjamins Gang in die Unterwelt. Obwohl es sich um eine zentrale Figur der barocken
Figurenlehre handelt, kommen klar als Figur abgegrenzte ausschließlich fallende Tonfolgen
in diesem Satz kaum vor.
Das Prinzip der Entkopplung der zwei Ebenen Text und Musik wird fortgeführt. Der erste
Satz betonte semantische Klarheit, dies ändert sich im II. Satz grundlegend. Hier ist die
musikalische Faktur dichter, wirrer, hektischer, und entspricht damit auch dem hier deutlich
fragmentarischeren Text Bernsteins. Die Gedanken sind unterbrochen und dadurch nicht
eindeutig (Beispiel 7).
17
Beispiel 7:
Die Wörter stehen untereinander in Konflikt, was sich auch auf den musikalischen Fluss
auswirkt. In diesem Satz sind Sprech- und Instrumentalpart zwar nach wie vor getrennt, auch
hier ist aber Interaktion zu beobachten. Sprechpart und Klavierpart sind in sich geschlossen,
jeder Part hat seinen eigenen Fluss, wobei der musikalische Fluss genauso frei ist wie der
Sprachfluss (Beispiel 8, Takt 42-44).
Beispiel 8:
18
Gegenseitige Opposition ist auch in der rhythmischen Struktur sichtbar. Der Klavierpart ist
über weite Strecken in drei Systemen notiert, jedes System hat eine eigene rhythmische
Grundstruktur. Die drei Schichten greifen häufig durch Stimmkreuzungen ineinander, die
musikalische Faktur wird dabei durch „strong reminiscences of chromatic, tonal sonorities
and progressions“19 bestimmt. Chromatik, intervallische Sprünge, aber auch agogische
Expressivität sowie Pedalisierung sind die Mittel, mit denen der Klavierpart, zumeist gestisch,
aber auch harmonisch immer wieder die rhapsodischen Formen der romantischen
Klavierliteratur erinnert.
Die unvollständige Struktur des Textes lässt Raum für eigenständige musikalische
Entwicklungen; dies zeigt sich besonders in der großen Anzahl an rein instrumentalen Takten.
Der „Konflikt“ zwischen Klavier und Sprechstimme schlägt sich in einem erhöhten Grad der
Entkopplung nieder. Jedoch scheint es hier um eine andere Art von Konflikt zu gehen als im
I. Satz. Letztendlich ist dabei neben der Entkopplung auch die Interaktion viel intensiver als
sie im I. Satz war.
Der Text bleibt eine Einheit für sich. Seine Anordnung innerhalb der Partitur ist genau so frei
wie seine sprachliche Struktur. Nur gelegentlich stimmt der Rhythmus des Gesprochenen mit
den rhythmischen Figuren des Klavierparts überein, sodass deren gestischer Charakter
besonders hervortritt, z. B. in den Takten 94 („Does it frag?“), 96 („or does it mock?“), 102
(„skin you“), 126 („like as“) und 127 („as like“). Sehr ähnlich ist auch Takt 51 (Beispiel 9,
Takt 51) wo die Wiederholung des Wortes „as“ im Klavierpart durch eine gleichsam
„steckenbleibende“ Geste wird (vergleichbare Situation tauchen auch im III. Satz wieder auf,
vgl. Takt 28-29).
19
Ferneyhough, Content and Connotation, S. 11.
19
Beispiel 9:
Solche repetitiven Figuren kann man in allen drei Sätzen finden (Beispiel 10 a, Takt 22, I
Satz; Beispiel 10b, Takt 28, III. Satz).
Beispiel 10a:
Beispiel 10b:
20
Dadurch nähert sich das Instrumentale dem Gesprochenen an, wobei dies nur eine von vielen
Spielarten der Interaktion zwischen Musik und Sprache ist.
2.2.3 III. Satz (Kataplexy)
Die Entkopplung als Komplement von Interaktion, die auch der Titel der Komposition
suggeriert (Opus/Naturam – Kunstwerk/Natur), erscheint in jedem der drei Sätze in
verschiedenen Stadien bzw. Formen. Im III. Satz finden wir auf den ersten Blick das
Gegenteil von Entkopplung, ein Amalgam vom Text und Musik, in äußerst enger Interaktion.
Die Dichte des Textes ist dabei höher als in den ersten zwei Sätzen. Wieder orientiert sich die
musikalische Anlage an der Struktur des Textes (Beispiel 11).
Beispiel 8:
Die Wörter folgen aufeinander ohne Interpunktion, wie ein unverbundener „Gedankenfluss“,
in dem jedes Wort gleich relevant ist. Dieser Strom von Worten ist auch im instrumentalen
21
Teil präsent, der hier vom sprachlichen untrennbar ist. Im Prinzip entfällt auf jedes Wort ein
Klang. So wird ist eine maximale Koordination zwischen Text und Musik hergestellt. Der
musikalische Fluss mit seiner ab- oder aufsteigenden Linie beeinflusst dabei die Aussprache
des Textes. Man kann vermuten, dass der Sprecher die Tonhöhen des Klavierparts instinktiv
aufgreift.
Der Rhythmus des musikalischen Ablaufs bestimmt den Rhythmus des gesprochenen Textes
und umgekehrt. Die Stimme und der Klavierpart zeigen eine maximale Verbindung: „[T]he
pianist finds himself utterly imprisoned in the piano’s meaninglessly frenetic motions.“20 Hier
könnte man vielleicht eine Verbindung zum Titel des Satzes ziehen: Kataplexie ist ein akuter
Anfall von Muskelversagen, „unkontrollierte“ Bewegungen sind im Klavierpart in höchster
Komplexität auskompniert.
Die repetitiven Töne, die im III. Satz sogar vorübergehend einen „alla marcia“ Charakter
suggerieren (Beispiel 12, T. 41), „self-absorbed ‚fanfares‘ accompanying the arrival of the
Benjamin avatar at the gates of Hades“.21
Beispiel 12:
Worte und Klänge sind weitläufig in ständig wechselnde Lagen zerteilt und treffen immer
wieder in Knotenpunkten zusammen, bei denen jede gesprochene Textsilbe einem
Klangereignis entspricht.
Man könnte sagen, dass der Text des III. Satzes, ein frei assoziativer Gedankenfluss,
weitgehend auf nachvollziebare semantische Bedeutung verzichtet (vgl. z.B den Eingriff in
die Worte „avail ables“; weiters die hauptsächlich klanglich orientierten Wortfolgen „lull to
swell bell book cant to cant“ usw.). Gerade dadurch aber wird die Interaktion bzw. Beziehung
zwischen Musik und Text gestärkt. Die bereits im II. Satz konstatierte paradoxe Situation
20
21
Ebd., S.12
Ebd., S. 11.
22
spitzt sich zu: Je unbestimmter sowohl Text als auch musikalische Struktur sind, umso mehr
kann sich die Interaktion zwischen den beiden Medien entfalten. Anders gesagt: Auf der
Interaktionsebene zwischen Sprech- und Klavierparts wird die entkoppelte Struktur immer
mehr zu einer gekoppelten. Beide Strukturen (Text und Musik) scheinen sich immer stärker
zu verbinden, je mehr sie auseinander gehen. Es entsteht so eine neuen übergeordnete Ebene,
auf der beide Strukturen miteinander identifiziert werden können.
***
Es kann insgesamt gezeigt werden, dass der Text in allen drei Sätzen, strukturell und
vermutlich auch inhaltlich, wichtige Auswirkungen auf die musikalische Form hat. Aus der
genauer Analyse der drei Sätze bezüglich der Interaktion zwischen Text und Musik, kann man
folgende Schlüsse ziehen:
1. Textinhalt und -struktur scheinen die Gestaltung des Klavierparts nachhaltig zu prägen;
2. Die gesprochenen Teile prägen das akustische Gesamtgeschenen entscheidend; der Text
zieht die Aufmerksamkeit des Hörers auf sich, willentlich oder unwillentlich versuchen wir
ihn zu „verstehen“. Er drängt sich gegenüber dem musikalischen Ablauf fast „aggressiv“ auf:
„Die Texte wirken wie Kontrahenten der Musik, wie verbale Attacken auf ein musikalisches
Kontinuum, dem sie fremd sind und fremd bleiben, auch wenn sie es beeinflussen“.22
3. Die Entkopplung von Text und Musik, ein Prinzip, dass auch im Titel Opus Contra
Naturam anklingt, ermöglicht zugleich eine neue Form der Interaktion. Die extreme
Virtuosität und die „Überforderung“ des Instrumentalisten ist dabei, wie häufig bei
Ferneyhough, Teil der Konzeption und zwingt den Interpreten zu eigenständigen Lösungen,
die über die Interpretation eines Notentextes hinausweisen.
4. Jeder der drei Sätze findet auf der Grundlage einer jeweils unterschiedlichen Text-MusikStruktur eigenständige musikalisch-formale Lösungen.
Die Interaktion zwischen dem Text und dem musikalischen Fluss ist evident. Wichtig dabei
ist, dass der Text bei Ferneyhough trotzdem eine Kategorie für sich bleibt, auch wenn er in
jedem der drei Sätze eine Symbiose mit der Musik eingeht. Sein Fluss wird aber nie zum
integralen Bestandteil der musikalischen Struktur. Der Text bleibt sozusagen „unberührt“, ein
unbearbeiteten Material. Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zu Helmut Lachenmanns
Verfahren (vgl. 3).
22
Shadowtime, in: 9. Münchener Biennale, S. 42.
23
Kann man davon sprechen, dass der Text bei Ferneyhough „musikalisiert“ ist? Ferneyhough
stellt dem Text das Instrument entgegen. Die zwei Kategorien – musikalische und sprechende
– bringen sich gegenseitig hervor. Der Zusammenhang zwischen gesprochenem Text und
Instrumentalmusik wird erst auf einer neuen, übergeordneten Ebene hörbar.
In dem Dialog zwischen dem Pianist und seinem alter ego bleiben Grundelemente aus der
Geschichte des Melodrams präsent. Der wesentliche Aspekt, in dem Opus Contra Naturam
sich von einer melodramatischen Form unterscheidet, ist die Besetzung: Der Pianist wird
gleichzeitig zum Sprecher. Und sobald sich der Instrumentalist in die Rolle eines Sprechers
transformiert, wird aus dem Konzertstück eine Art Theater. Die Tendenz zum Szenischen ist
ein wichtige Eigenschaft, die Ferneyhoughs Werk mit Lachenmanns Salut für Caudwell
verbindet.
24
3. HELMUT LACHENMANN: SALUT FÜR CAUDWELL (1977) FÜR ZWEI
GITARRISTEN23
Der gesprochene Text in Helmut Lachenmanns Salut für Caudwell unterscheidet sich nicht
nur hinsichtlich Kontext und Inhalt von jenem in Ferneyhoughs Werk, sondern hat auch eine
ganz andere Rolle und folgt einem grundsätzlich verschiedenen ästhetischen Zugang. Die
Textbehandlung, bzw. die Musikalisierung des Textes durch sprachlich-phonetische
Verfremdung wird bei Lachenmann zum kompositorischen Hauptmerkmal.
Der von Lachenmann herangezogene Text Christopher Caudwells hat eine politische Basis:
Weil Eure Freiheit nur in einem Teil der Gesellschaft wurzelt, ist sie unvollständig. Alles Bewußtsein wird von
der Gesellschaft mitgeprägt. Aber weil ihr davon nicht wißt, bildet ihr euch ein, ihr wäret frei. Diese von euch so
stolz zur Schau getragene Illusion ist das Kennzeichen eurer Sklaverei. Ihr hofft, das Denken vom Leben
abzusondern und damit einen Teil der menschlichen Freiheit zu bewahren. Freiheit ist jedoch keine Substanz
zum Aufbewahren, sondern eine im aktiven Kampf mit den konkreten Problemen des Lebens geschaffene Kraft.
Es gibt keine neutrale Kunstwelt. Ihr müßt wählen zwischen Kunst, die sich ihrer nicht bewußt und unfrei und
unwahr ist, und Kunst, die ihre Bedingungen kennt und ausdrückt. Wir werden nicht aufhören, den bürgerlichen
Inhalt eurer Kunst zu kritisieren. Wir stellen die einfache Forderung an euch, das Leben mit der Kunst und die
Kunst mit dem Leben in Einklang zu bringen. Wir verlangen, daß ihr wirklich in der neuen Welt lebt und eure
Seele nicht in der Vergangenheit zurücklaßt. Ihr seid noch gespalten, solange ihr es nicht lassen könnt,
abgenutzte Kategorien der bürgerlichen Kunst mechanisch durcheinander zu mischen, oder Kategorien anderer
proletarischer Bereiche mechanisch zu übernehmen. Ihr müßt den schwierigen, schöpferischen Weg gehen, die
Gesetze und die Technik der Kunst neu gestalten, so daß sie die entstehende Welt ausdrückt und ein Teil ihrer
Verwirklichung ist. Dann werden wir sagen...“24
Der Text ist eine Montage von Passagen aus Christopher Caudwells (1907–1937) Schrift
Bürgerliche Illusion und Wirklichkeit (1937). Caudwell war ein englischer marxistischer
Dichter, Journalist, Literaturkritiker und Philosoph. Lachenmann wählte die Fragmente des
Textes aus dem Schlusskapitel Die Zukunft der Poesie. Er adaptierte dabei den Text an
einigen Stellen. Die Abweichungen vom Original (vgl. Anhang, Beispiel 1) sind
Lachenmanns persönliche Antwort auf Caudwells politischen Traktat. Mit der Auswahl der
Fragmente wollte Lachenmann nicht die marxistische Ideologie propagieren, sondern
identifizierte sich als Künstler mit der von Caudwell dargestellten Problematik: „Es lag mir
nichts daran, die Caudwell’schen Heilsversprechungen mit aufzunehmen, vielmehr wollte ich
jenen Worten ein Denkmal setzen, die – am Ende einer aufrüttelnden Schrift – das
aussprechen, worum es mir selbst von jeher beim Komponieren gegangen ist.“25 Die
Einbeziehung des Textes versteht Lachenmann als eine Art Denkmal für Caudwell, gewidmet
23
Uraufgeführt am 3. Dezember 1977, Baden-Baden.
Caudwell, Die Zukunft der Poesie, S. 48.
25
Lachenmann, Struktur und Musikantik, S. 155.
24
25
„allen Außenseitern, die, weil sie die Gedanklosigkeit stören, schnell in einen Topf mit
Zerstörern geworfen werden“.26 „So gedachte ich seiner auf meine Weise, bemächtigte mich
jenes Textes, inszenierte in der Mitte des Werks eine Reihe von Salut-‚Schüssen‘, ließ am
Ende der Form so etwas wie spanisches Kolorit durchscheinen und gab dem Werk seinen
Namen“.27
Im Jahr 1937 wird Caudwell als Soldat der internationalen Brigaden im Kampf gegen das
Franco-Regime ein Opfer des spanischen Bürgerkriegs. Genau 40 Jahre später, angeregt
durch Caudwells Text, entsteht Lachenmanns Komposition, in der der Komponist auf seine
eigene Art und Weise seine Haltung zu Künstler, Kunstwerk und Gesellschaft äußert.
Lachenmann findet an Caudwells Text „das Insistieren auf einem auch technisch-ästhetischen
Fortschritt der künstlerischen Mittel und des Materials“ sehr aktuell.28
3.1 Kompositorische Umsetzung des Caudwell-Textes
Im Vorwort der Partitur gibt der Komponist genaue Anweisungen zur Aussprache des
gegebenen Textes:
Das ab Takt 55 eingefügte Caudwell-Zitat soll bei genauer Beachtung des vorgeschriebenen Rhythmus und der
durch internationale Lautschrift präzisierten phonetischen Artikulation mit halblauter Stimme und völlig
neutralem Ausdruck gesprochen, quasi ‚laut gelesen‘ werden. Instrument und Stimme sollen einander nicht
übertönen. Akustische Textverständlichkeit sollte trotz der gefordeten quasi-staccato Sprechweise angestrebt
werden.29
Die Art und Weise wie Lachenmann mit dem Text umgeht, zeigt eine doppelte Intention.
Einerseits ist die Hervorbringung der semantischen Ebene deutlich: Caudwells Äußerungen
über die Entstehung und Rezeption von Kunst sind für Lachenmanns Ästhetik wichtig,
dadurch ist wohl zu erklären, dass Textverständlichkeit stark hervorgehoben wird.
Andererseits inszeniert Lachenmann durch die Phonetisierung des Textes dessen klangliche
Ebene und bringt sie in den Vordergrund des musikalischen Geschehens. Im Gegensatz dazu
reduziert Ferneyhough die Wörter nicht auf einzelne Phoneme, der Text mit seiner stark
26
Lachenmann, Salut für Caudwell.
Lachenmann, Struktur und Musikantik, S. 155.
28
Lück, Philosophie und Literatur im Werk Helmut Lachenmann, S. 50.
29
Lachenmann, Salut für Caudwell, Vorwort zur Partitur.
27
26
assoziativen und semantisch viel komplexeren Ebene bleibt in seiner Wortgestalt
unangetastet.
Aus Lachenmanns Ausführungsanweisung und aus der genaueren Analyse der Komposition
treten insgesamt einige Charakteristika der musikalischen Struktur deutlich hervor, die im
folgenden durch die Analyse erhellt werden sollen:
1. Rhythmisierung/Phonetisierung
2. Verständlichkeit bzw. Semantisierung
3. Musikalisierung.
3.2 Rhythmus als Bindeglied
Der gesprochene Teil beginnt in Takt 55 (Beispiel 13).
Beispiel 13:
Ab diesem Moment bis inklusive Takt 176 folgen wir einer konstanten antiphonischen
Abwechselung zwischen zwei Gitarren/Sprechern. Diese „Antiphonisierung“, die schon in
einigen Takten des vorangehenden instrumentalen Teils durch das rhythmische Pulsieren (vgl.
Takt 45-46) antizipiert ist, wird also im gesprochenen Teil zur Regel. Der rhythmische
Verlauf wird durch den Achtelpuls geprägt, der zum ersten Mal in Takt 29 angedeutet wird
(Beispiel 14, Takt 29-32).
27
Beispiel 14:
Diese „Taktierung“ bzw. „Achtelrasterung“ des Hauptpulses wird in der Folge auch den
Rhythmus des gesprochenen Textes und der Phonetisierung bestimmen (Beispiel 15).
Beispiel 15:
Die Pausen, auf die wir im gesprochenen Teil treffen, stehen ebenfalls im Zusammenhang mit
dem Achtelpuls.
Der deutlich werdende Marschcharakter bzw. -rhythmus ist schon in den Anfangstakten des
Werkes angelegt, wobei er durch die Verteilung zwischen zwei Gitarren eher latent und
„abgeschwächt“ ist (vgl. T. 6). Etwas konkreter wird er ab Takt 18. In den ersten Takten bzw.
bis zum Takt 55, wo der Text zum ersten Mal erscheint, scheinen die Gitarrenklänge ein
Gespräch anzudeuten. Die Präsenz eines Pulses wird in diesem Teil durch die Verwendung
verschiedener Spieltechniken (wie z.B. Zupfen mit Plektrum, Flageolett) zusätzlich verstärkt.
Der Text fügt sich so zunächst fast unbemerkt in den musikalischen Fluss und den
bestehenden Charakter und integriert sich damit vollständig in die musikalische Struktur. Eine
der wichtigsten Eigenschaften, die den gesprochenen Text zum Bestandteil des
Strukturflusses werden lässt, ist die Homogenität des Rhythmus.
Der rhetorische Charakter des instrumentalen Teils wird im Gespochenem reflektiert und
umgekehrt. So ist beispielweise in den rhythmischen Figuren der rechten Hand im Takt 22-23
(Beispiel 16) in beiden Gitarren das Deklamieren des Textes antizipiert.
28
Beispiel 16:
Neben solchen offensichtlichen besteht auch eine inhaltliche Verbindung zwischen dem
instrumentalen ersten Teil und dem durch die Sprechstimmen dominerten zweiten Teil: Der
Verzicht auf alles Pathetische charakterisiert instrumentale wie deklamatorische Abschnitte.
Das kurze aufsteigende Glissando (Takt 19-20, Beispiel 17) lässt sich ebenfalls leicht mit dem
Gesprochenen in Verbindung bringen.
Beispiel 17:
Die den gesamten Sprechtteil durchlaufenden ostinaten Viertelpulse mit eingefügten
Achtelfiguren wirken, so der Komponist, wie ein „nacktes Metrum“30; der Puls bleibt stets
konstant, wird jedoch an manchen Stellen „maskiert“ bzw. „verformt“. Im Takt 19-21 zum
Beispiel, wird der Puls auf dem jeweils vierten Sechzehntel jeder Taktzeit, wie Hans-Peter
Jahn in seiner Analyse bemerkt31, als Hauptimpuls wahrgenommen. Dazu tragen die
gegensätzliche Dynamik der ersten und zweiten Gitarre sowie die scharfen, glissandoartigen
Gesten bei, die in der ersten Gitarre auftaktig zu diesen verschobenen Akzenten hinführen. In
Takt 22 wird der Puls scheinbar unterbrochen. Die Dynamik der Hauptbewegung wird
schwächer, Flageoletts und zusätzliche Akzente verunklaren die rhythmische Situation.
„Diese Art rhythmische Illusion ist ein kompositionstechnisches Detail, an dem sich zeigen
lässt, wie sich Lachenmann der musikalischen Gewohnheit durch die Verfremdung tonaler
30
31
Lachenmann, Struktur und Musikantik, S. 158.
Jahn, „… meinetwegen mickrig… schäbig… nicht bösartig…“.
29
Rhythmik verweigern will, indem er das Nichtzusammenspiel strikt komponiert.“32 So ist
nicht nur das Gesprochene bzw. der Gitarrenklang verfremdet, sondern auch der Rhythmus,
und dies in erster Linie durch Zusammenhang bzw. das konstante Variieren und Ausbrechen
aus dem Konventionellen in das Unkonventionelle.
Das rhythmische, ermüdende Pulsieren wirkt fast „hypnotisierend“, auch aufgrund der
Tatsache, dass sich der rhythmische Fluss mit dem „Unbekannten“ vereinigt: “Lachenmann
baut Hörerwartungen auf, die er aber sofort wieder enttäuscht.“33
3.3 Phonetisierung
Das „Textliche“ ist also die Hauptcharakteristik der kompositorischen Struktur. Die
musikalische Umsetzung ist davon wesentlich geprägt. Um jedoch die Verständlichkeit
hervorzubringen, nutzt der Komponist entsprechende musikalische Mittel, darunter das
Rhythmisieren bzw. Phonetisieren des Textes.
Der Rhythmus, den Lachenmann im gesprochenen Teil verwendet, ist wie dargestellt dem
instrumentalen Part entnommen. Jedoch unterscheidet sich der „komponierte“ Rhythmus vom
Textrhythmus. So nutzt Lachenmann eine besondere Art der Phonetisierung; die spezifische
Klangqualität jedes Phonemes wird durch die Dekonstruktion der Worte durchsichtig
gemacht, wobei sich Lachenmann der internationalen Lautschrift (IPA) bedient. Die Sonorität
der einzelnen Buchstaben und Laute hat dabei stets Vorrang vor dem Wortzusammenhang.
Der Grund für diese Konzentration auf die kleinsten Wortelemente liegt in Lachenmanns
klangorientierter Ästhetik. Deklamierte man die Wörter so wie bei einer üblichen Textlesung,
verlöre ein großer Anteil der Buchstaben bzw. Laute an Ausdruckskraft. Dies lässt sich vor
allem anhand der Frikative, aber auch der Plosive sowie der nasalen Konsonanten zeigen, die
erst mit Hilfe des kompositorischen Eingriffs bzw. mit Hilfe des komponierten Rhythmus ihre
Qualität voll entfalten können. Jedes Wort wird dabei bis zum Ende, bis zum letzten
Buchstaben ausgesprochen, sodass eine Art von textlichem Tenuto entsteht. In der üblichen
Aussprache „entfernte“ Phoneme können dabei durchaus erklingen. Dadurch wird eine
geräuschhafte Qualität erreicht. Eine solche Form der rhythmisierten Phonetisierung ist eine
wesentliche Idee der Komposition.
32
33
Sielecki, Das Politische in den Kompositionen von Helmut Lachenmann und Nicolaus A. Huber, S. 144.
Ebd., S. 146.
30
Die Interaktion des Gesprochenen mit der musikalischen Struktur wird auf mehreren Ebenen
deutlich. Dabei beeinflusst die rhythmische bzw. instrumentale Rhetorik jene des
Gesprochenen und umgekehrt. Die Akzente des Achtelpulses finden eine Entsprechung in den
Betonungen einzelner Wörter oder auch Phoneme. So werden etwa die Konsonanten im
Rahmen der phonetischen Sprechart besonders akzentuiert. Ebenso werden zahlreiche
instrumentale Gesten auf das Gesprochene projiziert und umgekehrt. Das Gitarren-Glissando
in Takt 57 zum Beispiel schafft in Verbindung mit der Aussprache des Konsonants L eine
neue, einzigartige Klangqualität. Das Glissando wird noch über eine bestimmte Anzahl an
Schlägen wiederholt, den Viertelpuls fortsetzend. Das Instrumentale und das Gesprochene
folgen demselben Gestus.
Lachenmann will in seiner „Präsentation“ und Wahrnehmung von Caudwells Text jede Form
von historisch etablierter Pathetik und Emotionalität vermeiden, mit der die menschliche
Stimme so eng verbunden ist. Diese Absicht realisiert sich darin, die Aufmerksamkeit auf die
dumpfe, fast mechanische, „entpersönlichte Sprechweise“34der Instrumentalisten zu lenken.
Der musikalische Fluss dient dabei als Filter , durch den sich der Text neu erschließt: „Es geht
also um den Transport eines Textes. Es geht um eine spezielle Musikalisierung der Sprache
und ihrer Sprechweise.“35
Die menschliche Sprache ist „mechanisiert“, sie wird zur „Anti-Rede“. Unnatürlich und
fremd, im Gegensatz zur gewohnten Art der Rede, wird die Sprache vollständig musikalisiert.
Die besondere Form der Phonetisierung ist hier, in der Formulierung von Hans-Peter Jahn
„nicht nur eine Flucht vor falscher Prononcierung, sondern auch ein Versuch, durch Sprache
noch einmal neu zu ergreifen und zu ‚outen‘“.36 Solch eine Art des Redens betont nicht nur
Wörter und Silben, sondern auch die besonderen Klangqualitäten einzelner Phoneme.
Lachenmann mechanisiert/musikalisiert einerseits die Sprache bis zum kleinsten Bestandteil
des Wortes, andererseits wird eine „Mechanisierung“ durch die Gitarrenspielbewegungen
erreicht. Das Spielen erzeugt durch der Bewegung eine zusätzliche Rhythmusschicht, eine
Choreographie. Die Instrumentalisten sind gleichzeitig Spieler, Sprecher, aber auch
Schauspieler, genau wie es auch bei Ferneyhoughs Komposition der Fall ist.
34
Jahn, „… meinetwegen mickrig… schäbig… nicht bösartig…“, S. 216.
Ebd.
36
Ebd., S. 217.
35
31
Die zwei Gitarristen sprechen den Text abwechselnd, wobei an manchen Stellen auch die
Phoneme einzelner Wörter auf die beiden Parts aufgespalten werden. Dieses antiphonische
Prinzip lässt einen eng verwobenen Dialog entstehen und trägt entscheidend zum sprechenden
Charakter der Komposition bei. Dieses Dialogisieren wird auch auf den komponierten
Rhythmus übertragen. Zwischen dem phonetisierten bzw. rhythmisierten Text und dem
instrumentalen Teil realisiert sich auch ein resultierender übergeordneter Rhythmus, der
vorwiegend in Achteln verläuft. Im Takt 71 wird zum ersten Mal ein Wort auf die beiden
Instrumentalisten aufgeteilt (Beispiel 18, Takt 71).
Beispiel 18:
Dadurch wird die Phonetisierung des Textes bzw. die Interaktion zwischen Text und Musik
vertieft. Dieses phonetische Abspaltungsprinzip kommt in den Takten 96-105 noch deutlicher
zum Ausdruck. Hier wird das Material verdichtet. Dadurch wird eine Dramatisierung erreicht
und die Bedeutung des Gesprochenen verstärkt. Der Text wird nicht mehr als alternierend,
sondern als eine Einheit, als ein Gedanke erlebt. In der Folge werden nun auch Silben und
Phoneme von einem Sprecher zum anderen übertragen. In Takt 99 werden die Konsonanten s
und t aus dem Wort „Kunstwelt“ gleichzeitig von beiden Instrumentalisten gesprochen. Der
Viertelpuls beider Gitarren gliedert hier den Velauf markant und lässt so die synchronisierten
Sprechparts klar hervortreten. Eine ähnliche Situation finden wir in Takt 143: Auf der zweiten
und dritten Achtel erklingen synchron die Phoneme a und b[p] aus dem Wort „abgenutzte“.
Durch solche Momente eines verfremdeten Wort-Zusammenklangs oder „-akkords“ wird die
Eigenständigkeit der phonetischen Ebene besonders deutlich akzentuiert. Diese phonetischen
„Akkorde“ dienen dabei gleichzeitig einer inhaltlichen Akzentuierung: Die Worte
32
„Kunstwelt“ und „abgenutzt“ wurden gewiss nicht zufällig ausgewählt. Insgesamt sind die
inhaltlichen Schlüsselstellen des Textes durch eine besondere Verdichtung des Materials
gekennzeichnet. Die Interaktion von Instrumental- und Sprechparts erreicht ihre höchste
Intensität bei den Zeilen „Es gibt keine neutrale Kunstwelt. Ihr müßt wählen zwischen Kunst,
die sich ihrer nicht bewußt und unfrei und unwahr ist…“ und „Ihr seid noch gespalten,
solange ihr es nicht lassen könnt, abgenutzte Kategorien der bürgerlichen Kunst mechanisch
durcheinander zu mischen…“. Lachenmann hebt damit Caudwells Forderung, der Künstler
müsse auf die ihn umgebende Welt reagieren, besonders hervor.
Für die Eigenständigkeit des phonetischen Zusammenhangs ist auch die Herausbildung einer
spezifisch phonetischen Klangqualität, die sich vom Klang der Gitarre abhebt, von großer
Bedeutung. Auch auf dieser Ebene wird eine größtmögliche Interaktion erreicht. In Takt 78
setzt der vorzeitige Einsatz des zweiten Sprechers eine markante Geste, einen Impuls, ähnlich
der erste Sprecher in Takt 96. Die hohe Dichte von Impulsen, die ja grundsätzlich
Signalcharakter haben, erhöht die Aufmerksamkeit des Hörers, und hebt damit den
gesprochenen Teil auch innerhalb der Gesamtanlage besonders heraus. Die akzenthafte
Artikulation der Gitarren ist mit der phonetischen Impulshaftigkeit eng verbunden. Der
Komponist erwähnt im Vorwort, dass die Wörter „quasi staccato“ auszusprechen sind, nimmt
also eine (instrumental-)musikalische Anweisung zur Hilfe; das dazu analoge StaccatoZupfen der Saiten scheint also als archetypische Gitarrenspieltechnik in Ergänzung zu dieser
Sprechweise besonders schlüssig. Die Wörter klingen daher nicht wie Fremdkörper, sondern
fließen in die musikalische Rhetorik ein.
Lachenmanns Handhabung der Gitarre spielt dabei eine wesentliche Rolle. Die technischen
und klanglichen Möglichkeiten des Gitarrenspiels werden an äußerste Grenzen geführt:
Es ist klar, daß ich ein solches Instrument mit einer so ausgeprägten und eigenwilligen Aura nicht einfach
benutzen und mich seiner Musizierpraxis unterwerfen konnte. Weder konnte es darum gehen, mich dieser Aura
schlau zu bedienen, noch darum, mich ihrer verzweifelt zu erwehren, sondern darum, die typische Klangwelt mit
meinen Möglichkeiten zu durchdringen, aber auch mich selbst davon durchdringen lassen. In diesem Sinn bin
ich von charakteristischen Spielformen dieses Instruments ausgegangen, habe sie einerseits lapidar reduziert,
anderseits umgeformt und neu entwickelt, oft über die Grenzen der üblichen Praxis hinaus.37
37
Lachenmann, Struktur und Musikantik, S. 157
33
Lachenmann setzt also durchaus vertraute Techniken des Gitarrenspiels ein: Arpeggio,
Akkordespiel, Barré, Zupfen, Klopfen usw., bei denen er jedoch neue Klangpotenziale
entwickelt:
Im Grunde gibt es nur den Barré-Griff: die quer über die Bünde gelegte Hand oder den Gleitstahl, sodaß im
Harmonischen die Intervallverhältnisse der leeren Saiten dominieren. Die so zunächst erstarrte Harmonik
allerdings wird weit differenziert durch Mischungen, Verwischungen, Verzerrungen, Ausdämpfungen usw.38
All diese Techniken stehen in ständiger Interaktion mit dem Text. Die Plosive etwa können
eindeutig mit Klopfen, Pizzicato und „trocken“ gedämpftem Spiel in Verbindung gebracht
werden Frikative mit Verwischungen. Mit Kopfstimme gesprochene Phoneme (Beispiel, 19
Takt 121-122) sind zu Flageoletts in den instrumentalen Parts analog.
Beispiel 19:
Der Klang der Gitarre ebenso wie das phonetisch und rhythmisch umgeformte Gesprochene
sind also stark verfremdet und führen das Hören weg von etablierten Vorstellungen und
Stereotypen.
Im Takt 121 bringt der zweite Sprecher auf dem letzten Achtel des Taktes das Phonem L (aus
dem Wort „Leben“). Er antizipiert damit den Einsatz des ersten Sprechers am Beginn von
Takt 122. Auf solche isolierte Phoneme treffen wir auch in den Takten 122 und 124 (2.
Gitarre). Die Musikalisierung des Textes findet hier also auf der Ebene des Phonems statt. Die
dadurch entstehende auftaktige Geste ist aus den instrumentalen Parts vertraut (vgl. Takt 47).
Instrumentales Material fließt in das gesprochenene ein und umgekehrt.
Das Zitat „O Mensch, gib acht“ aus Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra in den
Takten 135-138, das den appellartigen Charakter des Textes verstärkt, lässt eine
kontrapunktische Situation entstehen: Das einzige Mal sprechen die beiden Ausführenden hier
38
Ebd.
34
unterschiedliche Texte. Die Worte „O Mensch, gib acht!“ sind dabei so rhythmisiert bzw.
phonetisiert, dass sie nicht mit den Phonemen des zweiten Sprechers zusammenfallen. Dabei
kommt es am Ende zu einer rhythmischen Verdichtung (T. 139). Das letzte Phonem (th von
„(gib) acht“) schließlich fällt auf dem vierten Achtel des Taktes mit dem Phonem t[d] (von
„Ihr seid noch gespalten…“) des zweiten Sprechers zusammen (Beispiel 20).
Beispiel 20:
So wie der rhythmisierte Text fast unmerklich an den musikalischen Fluss gekettet war, so
verliert er sich wieder in Takt 172. Das Pulsieren der Gitarren setzt sich noch einige Takte
lang fort (bis Takt 176) und verklingt perdendosi. In Takt 177 bricht der Puls ab.
3.4 Funktionen des Gesprochenen
Wie bereits dargestellt, war der Inhalt des Textes ein wichtiger Anreiz zur Entstehung der
Komposition. Der Text ist zugleich Mittel und musikalisches Material. Seine Botschaft
enthält einen Appell an die gesellschaftliche Rolle von Kunst, die Lachenmann affirmativ
aufgreift:
Kunst solchermaßen verstanden nicht nur als Aktivierung unserer Vorstellungskraft, sondern darüber hinaus als
Eingriff in unsere Vorstellungswelt und darüber hinaus in unser existentielles Selbstverständnis und unser
Weltbild, verdeutlicht die Wechselwirkung und den Zusammenhang zwischen individueller Empfindungswelt
und gesellschaftlich vorgegebenen Wertmaßstäben und erinnert den Menschen an seine Möglichkeit und
35
Bestimmung, im Spannungsfeld von Innerlichkeit und Öffentlichkeit sich zu erkennen, sich auszudrücken – und
verantwortlich zu leben und zu handeln.39
Vor diesem Hintergrund ist es von besonderer Bedeutung, warum und auf welche Art
Lachenmann den Text in die musikalische Struktur integriert. Der 116 Takte lange
gesprochene Teil bildet innerhalb von Salut für Caudwell nur eine Entwicklungsphase, die in
die Logik der Gesamtform eingeht: „Hier in meinem Stück bildet es [das Prinzip einer
Struktur-Halluzination, das Innenleben von Klang bzw. von Sprache als wesentliche
Komponente des Ausdrucks wahrzunehmen] eine Station, die angesteuert und wieder
verlassen wird, einen strukturellen Aggregatzustand, der sich ergibt und wieder wandelt.“40
Salut für Caudwell basiert auf den Prinzipien von Lachenmanns Musique concrète
instrumentale. Die Musique concrète Pierre Schaeffers betrachtete ein unbearbeitetes „rohes“
Material als musikalisches Objekt. Dieses Objekt ist ein „konkretes Produkt seiner
mechanischen Entstehung“.41 Lachenmann hat in einigen seiner Werke und vor allem im
Salut eine solche Auffassung „auf Aspekte der Musiktradition (samt ihrer ‚Aura‘)
verschoben“.42 Er nutzt standardisierte Gitarrentechniken und Sprachphoneme, die er jedoch
neu formt und dabei auf ihre elementaren Klangerzeugungs- und -entstehungstechniken hin
befragt. Klang und Sprache werden so auf einer höheren (oder „tieferen“) Ebene ineinander
verschränkt.
39
Ebd., S. 156.
Ebd., S. 158.
41
Hilberg, Geräusche?, S. 66.
42
Ebda.
40
36
4. ZUSAMMENFASSUNG
Lachenmann tendiert schon in den ersten Takten von Salut für Caudwell zu einem sehr engen
Zusammenhang
zwischen
Musik
und
Text.
Rhythmus
und
Phonetisierung,
die
Musikalisierung des Textes und die Semantisierung der Klänge werden ineinander
verflochten. Darin wird der wichtigste Unterschied zur Behandlung von Instrument und
Stimme bei Ferneyhough sichtbar. Bei Ferneyhough stellt der Text eine Ebene für sich dar,
auch wenn er in jeden der drei Sätze zugleich eine Art von Symbiose mit der Musik eingeht.
Sein Fluss wird aber nie zum integralen Bestandteil der musikalischen Struktur. Er unterliegt
keiner textlichen Rhythmisierung. Der Pianist hat bei der Interpretation des gesprochenen
Textes deutlich mehr Freiheiten als die Gitarristen bei Lachenmann. Text und Musik bilden
bei Ferneyhough als eigene Kategorien Ebenen der wechselseitigen Durchlässigkeit. Sie
folgen einander, kommen sich näher und trennen sich wieder, bleiben jedoch für sich, jede in
ihrem Fluss.
In beiden Kompositionen sind die Instrumentalisten mehr als nur Interpreten. Ein Klaviersolo
(Opus contra Naturam), welchem ein Text dazugegeben ist, wird so aus seiner rein
instrumentalen Welt herausgerissen, und gewinnt dabei auch eine stark theatralische Ebene
hinzu. Die Eröffnung dieser musikalisch-theatralischen Ebene macht es plausibel, dass dieses
Werk seinen Platz in einer Oper gefunden hat.
Äquivalentes geschieht auch bei Lachenmann. Das rein „instrumental“ besetzte Gitarrenduo
entwickelt durch das Sprechen der Musiker eine theatralische Ebene. Das Gitarrenspiel selbst
wird zu einer Choreographie von Bewegungen. So schafft es Lachenmann in diesem Stück
auf raffinierte Weise die Bewegungen der Gitarren- und Sprachklänge zu einer neuen
Dimension von Klang werden zu lassen.
In zwei unterschiedlichen Werken und in zwei verschiedenen Gattungen gelingt es beiden
Komponisten eine Synthese musikalischer Ereignisse zu schaffen, die Gestik, Sprache,
Instrumentalklang und Theater untrennbar werden lassen.
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ANHANG 1: FORMALE SKIZZE FERNEYHOUGHS
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ANHANG 2
Der Originaltext aus Christopher Caudwells Bürgerliche Illusion und Wirklichkeit. Die von
Lachenmann vertonten Textteile sind fett hervorgehoben.
“Weil eure (Konzeption der) Freiheit nur in einem Teil der Gesellschaft
wurzelt, ist sie (auch) unvollständig. (Alles Bewußtsein wird von der Gesellschaft, die
es erzeugt, determiniert, aber weil ihr von diesem Modus der Determination nicht wißt, bildet
ihr euch ein, euer Bewußtseinsei frei und nicht von eurer Erfahrung und der Geschichte
determiniert). Alles Bewußtsein wird von der Geselschaft mitgeprägt. (Diese von
euch so stolz zur Schau getragene Illusion ist das Kennzeichen eurer Sklaverei dem Gestern
gegenüber, denn könntet ihr die Gründe sehen, die euer Denken determinieren, dann befändet
ihr euch wie wir auf dem Weg zur Freiheit). Diese von euch so stolz zur Schau
getragene Illusion ist das Kennzeichen eurer Sklaverei. Die Einsicht in die
Notwendigkeit der Gessellschaft ist der einzige Weg zur Freiheit.
Aber wenn wir sagen, das Bewußtsein wird von der Gesellschaft determiniert, die es erzeugt,
dann meinen wir, daß das Denken letzlich vom konkreten Leben, von der Praxis nicht zu
trennen ist. Eines gewährleistet und entwickelt die Freiheit des anderen. Ihr glaubt, das
Denken von der “Zensur” zu befreien, wenn ihr die Theorie von der Praxis und von den mit
der Praxis verbundenen gesellschaftlichen Verpflichtungen und Formen trennt. (Ihr hofft, das
Denken vom Leben abzusondern, wenn ihr alles andere außer jenem aufgebt, und damit auf
irgendeine Art und Weise einen Teil der menschlichen Freiheit zu bewahren, wie der Mann,
der sein Talent im Vorborgenen hielt, anstatt es auf dem Markt einzusetzen).
Ihr hofft, das Denken vom Leben abzusondern und damit einen Teil der
menschlichen Freiheit zu bewahren. (Freiheit ist jedoch keine Substanz zum
Aufbewahren und Isolieren, sondern eine im aktiven Kampf mit den konkreten Problemen des
Lebens geschaffene Kraft. Ihr würdet das Denken der Knechtschaft unbewußt bürgerlicher
Kategorien ausliefern; ihr würdet die Praxis ihrer Seele berauben). Freiheit ist jedoch
keine Substanz zum Aufbewahren, sondern eine im aktiven Kampf mit den
konkreten Problemen des Lebens geschaffene Kraft.
Es gibt keine neutrale, (von Kategorien oder determinierenden Ursachen freie)
Kunstwelt. Kunst ist eine gesellschaftliche Betätigung. Euch gehört die trügerische Freiheit
des Traumes, der sich einbildet, spontan entstanden zu sein, obwohl er streng durch außerhalb
des Bewußtseins befindliche Kräfte determiniert wird. (Ihr müßt wählen zwischen
klassengebundener Kunst, die sich ihrer Kausalität nicht bewußt und entsprechend unwahr
und unfrei ist, und proletarischer Kunst, die sich ihrer Kausalität bewußt ist und sich als
wahrhaft freie Kunst des Kommunismus herausbilden wird.) Ihr müßt wählen
zwischen Kunst, die sich ihrer nicht bewußt und unfrei und unwahr ist, und
Kunst, die ihre Bedinungen kennt und ausdrückt. Es gibt außer der
kommunistischen keine klassenlose Kunst, doch diese ist noch nicht entstanden; und die
heutige klassengebundene Kunst kann nur die Kunst einer sterbenden Klasse sein, wenn sie
nicht proletarisch ist.
Wir werden nicht aufhören, den bürgerlichen Inhalt eurer Kunst zu
kritisieren.
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Ihr weist die “ökonomischen” Kategorien nicht deshalb unwilling zurück, weil sie unrichtig,
sondern weil sie ökonomisch sind. Aber was gibt es denn für richtige ökonomische
Kategorien außer den vom Leben bezogen? Wir stellen die einfache Forderung an
euch, das Leben mit der Kunst und die Kunst mit dem Leben in Einklang
zu bringen,(damit eure Kunst lebendig wird). Begreift ihr denn nicht, dass eben die
Trennung von Kunst und Leben ein bürgerliches Übel ist? Begreift ihr nicht, daß ihr euch in
dieser Sache in eine Reihe mit unseren Feinden stellt-ihr, unsere Bundesgenossen-, daß wir
eure Theorie in diesem Punkte deshalb so scharf bekämpfen?
Unsere Forderung, daß eure Kunst proletarisch sein soll, besagt nicht, ihr sollt dogmatische
Kategorien und marxistische Phrasen auf die Kunst anwenden. Das zu tun wäre bürgerlich.
Wir verlangen, daß ihr wirklich in der neuen Welt lebt und eure Seele nicht
in der Vergangenheit zurücklaßt. Wir achten eure künstlerische Persönlichkeit; doch
wie könnt ihr mit dem Herzen in einer neuen Welt weilen, wenn eure Kunst bürgerlich ist?
Wir wissen, daß sich der Übergang vollzogen hat, wenn eure Kunst lebendig geworden ist;
dann wird sie auch proletarisch sein. Dann werden wir aufhören, ihre Erstarrung zu
kritisieren.
Es liegt uns fern, eine Forderung zu stellen, die ihr im Reich der Kunst anerkennen sollt,
obwohl ihr sie als proletarische Diktatur empfindet. Im Gegenteil, wir werden solange sagen,
ihr seid noch bürgerlich, solange ihr euch selbst eine proletarische Diktatur aufbürdet und
Formulierungen von anderen Gebieten der proletarischen Ideologie übernehmt, um sie
mechanisch auf die Kunst anzuwenden. (Es besteht die Notwendigkeit, daß ihr, die Künstler
proletarische Führer auf dem Gebiet der Kunst werdet und nicht einen der beiden im Wesen
gleichen, bequemen Wege einschlagt-abgenutzte Kategorien bürgerlicher Kunst mechanisch
durcheinander zu mischen oder Kategorien anderer proletarischer Gebiete mechanisch zu
übernehmen). Ihr seid noch gespalten, solange ihr es nist lassen könnt,
abgenutzte Kategorien deer bürgerlichen Kunst mechanisch durcheinander
zu mischen, oder Kategorien anderer proletarischer Bereiche mechanisch
zu übernehmen. Ihr müßt den schwierigen schöpferischen Weg gehen, die
Kategorien und die (Technik) Gesetze und die Technik der Kunst
neugestalten, so daß sie die entstehende neue Welt ausdrückt und ein Teil
ihrer Verwirklichung ist. Dann werden wir sagen… Dann werden wir sagen, eure
Kunst ist proletarisch und lebendig, ihr habt als Künstler die Vergangenheit hinter euch
gelassen-ihr habt die Vergangenheit in die Gegenwart gezogen und die Verwirklichung der
Zukunft beschleunigt. Ihr seid nicht mehr nur “eben Künstler” (was in Wirklichkeit
bürgerlicher Künstler bedeutet); ihr seid proletarische Künstler geworden.”43
43
Caudwell, Bürgerliche Illusion und Wirklichkeit. S. 292–294.
40
LITERATURVERZEICHNIS
Lachenmann, Helmut: Salut für Caudwell, für zwei Gitarristen. Spielpartitur, Breitkopf &
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Jahn, Hans-Peter: »… meinetwegen mickrig… schäbig… nicht bösartig…« 12 Annäherungen
an die (komponierende) Person Helmut Lachenmann, in: auf (-) und zuhören. 14
essayistische Reflexionen über die Musik und die Person Helmut Lachenmanns, h. Hrsg.
Hans-Peter Jahn, von Hans-Peter Jahn. Hofheim: Wolke 2005, S. 211ff.
Krämer, Zur Notation der Sprechstimme bei Schönberg, in: Schönberg und der Sprechgesang
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41
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