Leseprobe - Verlag Karl Alber

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Schmitz (48668) / p. 1/ 2.8.14
Hermann Schmitz
Gibt es die Welt?
VERLAG KARL ALBER
A
Schmitz (48668) / p. 2/ 2.8.14
Die Welt gibt es nicht als fest vorgegebenen, wenn auch veränderlichen Bestand. Sie ist eine Form mit bestimmter Struktur,
ein Rahmen, der nie durchgängig auf eine einzige Weise gefüllt
ist. Dieser Rahmen versteht sich nicht von selbst. Zu seinen Voraussetzungen gehören Einzelheit und Selbstheit (dass etwas
selbst ist, gleichsam in eigener Person). Diese Voraussetzungen
hängen von Ereignissen ab, die auch ausbleiben können. Die
Schichten des Vorgegebenen und des Konstruierten im Aufbau
der Welt werden sorgfältig unterschieden. Dabei erledigt sich
mit dem Realismus auch der konstruktive Idealismus.
Der Autor:
Hermann Schmitz, geb. 1928 in Leipzig, promoviert 1955, habilitiert für Philosophie 1958; 1971 bis 1993 ordentlicher Professor
für Philosophie an der Universität Kiel. Begründer der Neuen
Phänomenologie. Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze. Zuletzt im Verlag Karl Alber erschienen sind: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung (2007), Logische Untersuchungen (2008), Kurze Einführung in die Neue
Phänomenologie (2009), Jenseits des Naturalismus (2010),
Bewusstsein (2010), Das Reich der Normen (2012), Kritische
Grundlegung der Mathematik (2013) und Phänomenologie der
Zeit (2014).
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Hermann Schmitz
Gibt es die Welt?
Verlag Karl Alber Freiburg / München
Schmitz (48668) / p. 4/ 2.8.14
Originalausgabe
© VERLAG KARL ALBER
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2014
Alle Rechte vorbehalten
www.verlag-alber.de
Satz: SatzWeise, Föhren
Herstellung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei)
Printed on acid-free paper
Printed in Germany
ISBN 978-3-495-48668-9
Schmitz (48668) / p. 5/ 2.8.14
Dem Andenken an
Erich Rothacker (1888–1965)
gewidmet
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Inhalt
Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Realismus und Idealismus . . . . . . . . . . . . . . .
11
. . . . . . . . . . . . . . . . .
21
3. Faktizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
4. Objektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
5. Einzelheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59
6. Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
82
2. Was heißt: »Es gibt«?
7. Widerlegung des Realismus und des Idealismus . . . 109
8. Innenwelt und Außenwelt . . . . . . . . . . . . . . . 116
9. Der erkenntnistheoretische Explikationismus . . . . 131
10. Vorgegebenheit und Konstruktion . . . . . . . . . . 141
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
7
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Vorrede
Philosophie ist, meiner Bestimmung ihres Wesens nach, Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung
auf Grund einer Beirrung dieses Sichfindens. Die Umgebung
besteht zunächst in den Situationen, in denen er lebt, aber er
kann in diesen Situationen nicht befangen bleiben und übersteigt sie auf einen Rahmen hin, der alle Situationen umfasst
und übertrifft: die Welt. Der Abstand des Menschen von dieser
ihn überragenden Umgebung ist so groß, dass er zur Beirrung
einlädt und Fragen weckt wie diese: Gibt es sie überhaupt, die
Welt? (Frege und Carnap hielten diese Frage für sinnlos, doch
wird sich ihr Irrtum schnell herausstellen.) Und wenn ja, wie
gibt es sie? Wie stabil, wie verlässlich ist sie? Die Erörterung
dieser Fragen und meine Antworten darauf bilden den Inhalt
dieses Buches. Es schreibt für wichtige (wenn auch nicht alle)
Themen mein älteres Buch Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie (Bonn 1994) fort. Ich erinnere auch an meinen Artikel
»Welt« in: Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe,
Band 3, Freiburg / München 2011, S. 2466–2486.
Das Buch ist dem Andenken an Erich Rothacker gewidmet.
Der Grund dafür wird am Ende des 9. Kapitels angegeben.
Hermann Schmitz
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1. Realismus und Idealismus
Die Rede ist hier von der Welt schlechthin, im bestimmten Singular, der den Plural (»Welten«) ausschließt. Für philosophische
Standpunkte in der Frage, ob und wie die Welt existiert, sind
»Realismus« und »Idealismus« geläufige Titel. Für den Realisten ist die Welt einfach da, wenn auch vielleicht nicht von selbst
und nicht fertig, aber weitgehend ohne Rücksicht auf den Menschen, der in ihr vorkommt. Für den Idealisten ist die Welt ein
Beiwerk (Epiphänomen) menschlichen Vorstellens (Bewussthabens) oder einer analog dazu im Menschen unbewusst wirkenden Gestaltungskraft oder eines Bewussthabens, das in gewissem Sinn übermenschlich ist, zu dem sich der Mensch aber
erheben kann, wenn er sich darauf besinnt, was er eigentlich ist.
Der Gegensatz beider Positionen ist zunächst ontologisch, wird
aber meist als erkenntnistheoretischer verstanden, obwohl er für
die Erkenntnis nicht sehr viel ausmacht. Schon Kant, ein Idealist, lehrt die Gleichgültigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis dieser Alternative gegenüber, in dem Maß, dass selbst der extreme
Idealismus, der Solipsismus, der die Welt im Bewussthaben
eines Bewussthabers untergehen lässt, dieser Erkenntnis keine
Schwierigkeit bereite: »Wie wenn das idealistische System (dass
ich selbst allein die Welt bin) das allein von uns denkbare wäre?
Die Wissenschaft würde dabei nichts verlieren – Es kommt nur
auf den gesetzmäßigen Zusammenhang aller Erscheinungen
an.« 1 Um so größer ist die anthropologische Bedeutung der Frage. Sie betrifft die Stellung des Menschen in und zur Welt, die
nach realistischer Ansicht dem Menschen im Wesentlichen vorAkademieausgabe von Kants Schriften, Band XXI, S. 88 Z. 3–6 (Opus
postumum).
1
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Realismus und Idealismus
gegeben ist, abgesehen von den verhältnismäßig kleinen Ausschnitten in ihr, die er durch sein Wirken gestaltet; das gelte
ebenso ontogenetisch (für den Einzelnen) wie phylognetisch (für
die Menschheit). Ein typischer Vertreter dieses – den Menschen
gewöhnlich selbstverständlichen – Realismus war Nicolai Hartmann, der das »anthropologische Grundverhältnis« als »die Einbettung des Menschen in die vorbestehende reale Welt, wozu
auch die ganze Mannigfaltigkeit seiner Anpassungen an sie gehört«, versteht. 2 »Der Mensch steht eben von vornherein und
unabhängig von allem Erkennen in der Welt, die ihrerseits auch
ohne ihn da war. Das Auftreten des Menschen in der Welt ist
sekundär und setzt, anthropologisch gesehen, sie schon als bestehend voraus.« 3 Der Idealismus kappt diese Überzeugung der
Vorgegebenheit, indem er die Welt zu einem Nachtrag menschlichen oder den Menschen wenigstens beteiligenden Vorstellens
und Gestaltens herabsetzt.
An dieser Stelle wird die Alternative philosophisch besonders
wichtig. Philosophie ist, wie ich seit 1964 oft gesagt habe, Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung. Dass es ihrer zum Menschsein bedarf, ergibt sich aus
dem Verhältnis des Menschen zu den Situationen, in denen er
sich befindet. Tiere sind in Situationen (aktuellen und zuständlichen) gefangen. Der Mensch kann dank seines Vermögens
satzförmiger Rede aus den Situationen, einzelne Bedeutungen
(Sachverhalte, Programme, Probleme) aus ihnen entbindend
und zu Konstellationen kombinierend, heraustreten, sie in den
Griff nehmen und überholen. Damit verliert er aber die den
Tieren selbstverständliche Fassung durch den Nomos (den Programmgehalt) der Situationen. Er findet sich selbst gleichsam
neben den Situationen und muss doch in ihnen leben. Dazu bedarf er – nicht immer, sondern erst, wenn instinktive Sicherheit
Kleinere Schriften I, Berlin 1956, S. 226 (Naturphilosophie und Anthropologie)
3
Ebd. S. 218
2
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Realismus und Idealismus
und Gewohnheit ihn nicht mehr fest tragen – der Besinnung auf
sein Sichfinden in seiner Umgebung, der Philosophie, sei es der
wissenschaftlichen oder meist der spontanen, alltäglichen seiner
Einfälle und aufgegriffenen Annahmen. Weil er aber über die
Situationen hinaus ist, genügt ihm nicht die wendige Einstellung auf diese oder jene Situation, sondern sein Horizont ist
weiter, bis hin zu einer großen, alle Situationen umfassenden
Umgebung, der Welt. An sie richtet er die Frage: Was muss ich
gelten lassen, als Gebender (z. B. in Verpflichtungen) und als
Nehmender (z. B. in zugemuteten Überzeugungen)? Für die
Antworten, die er sucht, wird seine realistische oder idealistische
Einstellung ins Gewicht fallen. Wenn er an die wesentliche Vorgegebenheit der Welt glaubt, wird seine Neigung zur Anpassung
gestärkt werden, vielleicht aber auch auf dem Hintergrund der
Vorgegebenheit sein Mut und Eifer in Inseln selbständigen Gestaltens zunehmen. Wenn er dagegen als Idealist meint, an der
Welt im Ganzen trotz aller unvermeidlichen Details beteiligt zu
sein, wird seine Bereitschaft zur Anpassung einen breiteren
Spielraum für Vorbehalte haben. Auf jeden Fall wird die Besinnung des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung
dadurch beeinflusst, wie sehr er glaubt, sich auf diese Umgebung
verlassen zu können. Wenn er als Realist an die wesentliche Vorgegebenheit der Welt glaubt, wird dieser Verlass festere Wurzeln haben als im anderen Fall.
Carnap 4 unterscheidet, bezüglich auf einen durch eine geregelte Sprechweise abgegrenzten Gegenstandsbereich, interne
und externe Fragen. Die internen Fragen betreffen die Existenz
von Gegenständen innerhalb des Rahmens, die externen die
Existenz des ganzen Systems der betreffenden Gegenstände.
Die internen Fragen können nach Carnap mit logischen oder
Rudolf Carnap: Empiricism, Semantics, and Ontology, in: Revue Internationale de Philosophie 4, 1950, S. 20–40, leicht geändert wieder abgedruckt
in: R. C., Meaning and Necessity, enlarged edition, Chicago 1956, S. 205–
221, danach hier wiedergegeben.
4
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Realismus und Idealismus
empirischen Methoden beantwortet werden. Dagegen sei die Erledigung der externen Fragen keine Aufgabe der Erkenntnis,
sondern der Entscheidung für eine das Gebiet einführende systematische Sprechweise. »An alleged statement of the reality of
the system of entities is a pseudo-statement without cognitive
content.« (S. 214) Als erstes Beispiel diskutiert Carnap die Frage,
ob es die Dingwelt gibt.
»Realists give an affirmative answer, subjective idealists a negative one, and the controversy goes on for centuries without
ever being solved. And it cannot been solved because it is
framed in a wrong way. To be real in the scientific sense means
to be an element of the system; hence this concept cannot be
meaningfully applied to the system itself.« (207)
Carnap übersieht den Richtungsunterschied philosophischen
und spezialwissenschaftlichen Erkenntnisbemühens. Dass sich
der Mensch um Wissen auf speziellen Gebieten mit einer darauf
abgestellten geregelten Sprechweise bemüht, entspricht seiner
natürlichen Anlage und Aufgabe, aber unter dem Vorbehalt
einer philosophischen Besinnung auf sein Sichfinden in seiner
Umgebung. Indem er nämlich eine Sprechweise annimmt, die
belastbar genug für Existenzbehauptungen ist, hat er sich schon
entschieden, etwas gelten zu lassen, und damit die philosophische Besinnung, was er überhaupt gelten lassen muss, absolviert
oder übersprungen. Carnap will ihm diese vorrangige Aufgabe
abnehmen. Er argumentiert mit einer improvisierten Philosophie gegen das Philosophieren. Aus dem verlorenen Protreplikos
des Aristoteles, seiner Werberede für die Philosophie, wird folgendes Argument überliefert: Wenn zu philosophieren ist, dann
ist zu philosophieren; wenn aber nicht zu philosophieren ist,
dann ist auch zu philosophieren (nämlich, um sich wegen der
Ablehnung zu rechtfertigen); also ist zu philosophieren.5 Car5
Belege bei W. D. Ross, Aristotelis Fragmenta Selecta, Protreptikos Nr. 2
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nap befindet sich in der vertrackten Lage eines Mannes, der philosophiert, um das Philosophieren als überflüssig zu erweisen.
Die Grundannahme des Realismus, die Vorgegebenheit der
Welt, kann man sich durch das Gedankenexperiment verdeutlichen, dass es prinzipiell – mindestens für einen Allwissenden –
möglich ist, die Welt zu inventarisieren. Im menschlichen Leben
werden z. B. beim Tode eines Erblassers oder bei Schließung und
Scheidung einer Ehe Inventare eines Vermögens erstellt, um
dessen Weitergabe und / oder Verteilung regeln zu können. Die
Vorgegebenheit der Welt für deren partielle Fortführung durch
Menschen könnte entsprechend als Vergleichbarkeit des riesigen
Vermögens Welt beim Eintritt und beim Austritt der Menschen
durch entsprechende Inventare veranschaulicht werden. Die
Präzisierung dieses Vergleichs werde ich im Folgenden als Instrument einer kritischen Prüfung der realistischen Position benützen.
Während der Realismus ziemlich durchsichtig ist, macht die
Festlegung der idealistischen (genauer: subjektiv-idealistischen)
Position größere Schwierigkeiten. Die Abhängigkeit der Welt
von einem Bewussthaber genügt nicht, sofern dieser transzendent und also nicht dem Menschen (wenigstens unterschwellig)
eingegeben oder erreichbar ist; sonst wären alle Konzepte von
Gott als Weltschöpfer und -erhalter idealistische Positionen.
Mit Recht betont Fichte, dass Berkeleys System kein idealistisches ist 6 , trotz »esse est percipi«, weil Gott in diesem System
die Welt ersetzt. Auch Leibniz war kein Idealist. Der subjektive
Idealismus kommt erst nach ihm zur Sprache, indem Kant lehrt:
»Wir haben in der transzendentalen Ästhetik hinreichend bewiesen: dass alles, was im Raume oder in der Zeit angeschauet
wird, mithin alle Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung,
Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften,
1. Abteilung, Band 4, S. 198 Z. 8 f. (Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre)
6
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Realismus und Idealismus
nichts als Erscheinungen, d. i. bloße Vorstellungen sind, die, so
wie sie vorgestellt werden, als ausgedehnte Wesen, oder Reihen von Veränderungen, außer unseren Gedanken keine an
sich gegründete Existenz haben. Diesen Lehrbegriff nenne ich
den transzendentalen Idealismus.« 7
Das ist eine milde Version des Idealismus, Berkeleys »esse est
percipi« ohne Gott; Schopenhauer macht sie sich im ersten Paragraphen seines Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung
zu eigen, indem er als allergewisseste Erkenntnis den Satz »Die
Welt ist meine Vorstellung« verkündet, den er so interpretiert,
dass für den Menschen »die Welt, welche ihn umgibt, nur als
Vorstellung da ist, d. h. durchweg nur in Beziehung auf ein anderes, das Vorstellende, welches er selbst ist.« Freilich ist es mit
dieser Gewissheit nicht weit her, sie ist durch ein Wortspiel erschlichen. Unzweifelhaft richtig ist der Satz nur, wenn er besagt,
dass ich mir (jetzt gerade) die Welt vorstelle, was ich mühelos
kann, sobald ich das Wort verstehe, aber daraus folgt doch nicht,
dass die Welt nur in meiner Vorstellung ist. Kant ergänzt den
milden Perzeptionsidealismus (Sein der empirischen Welt als ihr
Vorgestelltwerden durch mich und meinesgleichen) durch den
weit schärferen konstruktiven Idealismus, indem er lehrt, dass
Gegenstände in der Welt nur mit Urteilsformen des menschlichen Verstandes durch eine davon geleitete Synthesis der Einbildungskraft hergestellt werden und die Welt nichts als die Idee
einer ins Unendliche verlängerbaren Ausbreitung dieser Synthesis ist. Der Hauptvertreter dieses konstruktiven Idealismus
ist Fichte in seinen späten Jenaer Jahren (etwa 1796–1799) nach
seinem ersten Hauptwerk Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95), in dem er statt des reinen Idealismus
noch eine Mischung von Idealismus und Realismus vertritt. 8 In
Kritik der reinen Vernunft A490 f. B518 f.
Fichte-Gesamtausgabe, Abteilung 1, Band 2, S. 412 Z. 20–30 »Dies, dass
der endliche Geist notwendig etwas Absolutes außer sich setzen muss (ein
7
8
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Realismus und Idealismus
der bald folgenden, durch eine Vorlesungsnachschrift unbekannter Schreiber belegten Wissenschaftslehre nova methodo
sind die Bedenken zu Gunsten eines reinen konstruktiven Idealismus entfallen. Folgende Zitate mögen das belegen:
»Die ganze Natur ist Produkt der Einbildungskraft.« 9 »Mein
reines Denken hingeschaut ist Erscheinung und gibt die
Welt.« 10 »Das Bestimmbare bezogen auf das Bestimmtsein ist
die ganze Welt. Also haben wir hier ein wichtiges Resultat,
nämlich Ich = x, Leib, Geist und Sinnenwelt ist ganz dasselbe,
nur verschieden angesehen. Dieses ist der Geist der Wissenschaftslehre. (…) Alles aber ist eines, der einzige Gegenstand
des Bewusstseins bin immer Ich selbst, und dieses Ich spaltet
sich immer nach den Gesetzen des Bewusstseins selbst.« 11
Mit dieser monistischen Wendung hat sich der subjektive Idealismus allerdings ad absurdum geführt, denn wenn die Welt Produkt des reinen Denkens oder der Einbildungskraft und ganz
dasselbe wie das Ich, nur anders angesehen, ist, wird auch das
Ich, das Subjekt, zum Produkt der Einbildungskraft, und es
bleibt nur noch Eingebildetes ohne Einbildenden übrig. Diese
Konsequenz hat Fichte selbst gezogen 12 , und sie wird dem subDing an sich) und dennoch von der anderen Seite erkennen muss, dass dasselbe nur für ihn da sei (ein notwendiges Noumen sei), ist derjenige Zirkel,
den er ins Unendliche erweitern, aus welchem er aber nie herausgehen
kann. Ein System, das auf diesen Zirkel gar nicht Rücksicht nimmt, ist ein
dogmatischer Idealismus; denn eigentlich ist es nur der angezeigte Zirkel,
der uns begrenzt und zu endlichen Wesen macht: ein System, das aus demselben herausgegangen zu sein wähnt, ist ein transzendenter realistischer
Dogmatismus. Die Wissenschaftslehre hält zwischen beiden Systemen bestimmt die Mitte, und ist ein kritischer Idealismus, den man auch einen
Real-Idealismus, oder einen Ideal-Realismus nennen könnte.«
9
Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften,
Abteilung 4, Band 2, S. 216 Z. 12 f.
10 Ebd. S. 243 Z. 14
11
Ebd. S. 228 Z. 12–15. 20–22
12
Fichte-Gesamtausgabe, Abteilung 1, Band 6, S. 251 Z. 17–20: »Alle Rea-
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Realismus und Idealismus
jektiven Idealismus in der Tat gerecht; denn wenn alles Gegenständliche nur vom Denken oder einem anderen Vermögen vorgestellt oder konstruiert sein soll, ist gar nicht einzusehen, wie
das Subjekt, das doch selbst ein Gegenstand des Denkens ist,
davon ausgenommen werden könnte.
Der radikale Konstruktivismus Fichtes ist in einer philosophischen Strömung oder Schule, die sich selbst so nennt und in den
letzten Jahrzehnten (bis vor einiger Zeit) virulent war, wieder
aufgelebt.
»Der Radikale Konstruktivismus kommt auf der Grundlage
physikalischer, chemischer und biologischer empirischer Theorien zu der Behauptung, Menschen als autopoietische Systeme
könnten nur in ihren Kognitionsbereichen handeln und die
Wirklichkeit als solche überhaupt nicht erkennen.« 13
»Die Frage – Was ist der Gegenstand der Erkenntnis? wird damit
sinnlos. Es gibt keine Gegenstände der Erkenntnis. Wissen heißt
fähig sein, in einer individuellen oder sozialen Situation adäquat
zu operieren.« 14 Soll das ohne Anpassung gehen, oder Anpassung ohne Erkenntnis von Gegenständen? Der steile Anspruch
des radikalen Konstruktivismus wirkt halsbrecherisch und ist
wegen mannigfacher Widersprüche und Fehleinschätzungen so
nicht haltbar 15, schon deshalb nicht, weil die Berufung auf Physik, Chemie und Biologie nicht mehr taugt, wenn man die Wirklität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein Leben, von
welchem geträumt wird, und ohne einen Geist, dem da träumt; in einem
Traum, der in einem Träume von sich selbst zusammenhängt.« (Die Bestimmung des Menschen, 2. Buch)
13
Siegfried J. Schmidt, Der radikale Kontruktivismus. Ein neues Paradigma
im interdisziplinären Diskurs, in: Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, hg. v. Siegfried J. Schmidt, Frankfurt a. M. 1990, S. 39
14 Humberto B. Maturana: Erkennen. Die Organisation und Verkörperung
von Wirklichkeit, Braunschweig 1985, S. 76. Maturana gilt als Stifterfigur
des radikalen Konstruktivismus.
15
Sorgfältig untersucht in: Rolf Nüsse, Robert Groeben, Burkhard Freitag,
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Realismus und Idealismus
lichkeit nicht erkennen kann (und die Erkenntnis keinen Gegenstand hat), aber als philosophische Extremposition gleichwohl
der Beachtung und Diskussion wert.
Eine Sonderstellung nimmt der subjektive Idealismus ein,
den Husserl im 1. Buch seines Werkes Ideen zu einer reinen
Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, dem
Manifest seiner phänomenologischen Bewegung, vertritt. Folgende Zitate mögen das Wesentliche geben:
»Andererseits ist die ganze räumlich-zeitliche Welt, der sich
Mensch und menschliches Ich als untergeordnete Einzelrealitäten zurechnen, ihrem Sinn nach bloßes intentionales Sein,
also ein solches, das den bloßen sekundären, relativen Sinn
eines Seins für das Bewusstsein hat als in Bewusstseinssubjekten durch Erscheinungen erfahrbares und sich als Bewährungseinheit von Erscheinungen möglicherweise in infinitum bewährendes. Es ist ein Sein, das das Bewusstsein in seinen
Erfahrungen setzt, das prinzipiell nur als Identisches von einstimmig motivierten Erfahrungsmannigfaltigkeiten anschaubar und bestimmbar – darüber hinaus aber ein Nichts ist, oder
genauer, für das ein Darüberhinaus ein widersinniger Gedanke
ist.« 16
»Eine absolute Realität gilt genauso viel wie ein rundes Viereck. Realität und Welt sind hier eben Titel für gewisse gültige
Sinneseinheiten, nämlich Einheiten des ›Sinnes‹, bezogen auf
gewisse ihrem Wesen nach gerade so und nicht anders sinngebende und Sinnesgültigkeit ausweisende Zusammenhänge
des absoluten, reinen Bewusstseins.« 17
Margrit Schreier: Über die Erfindung/en des Radikalen Konstruktivismus.
Kritische Gegenargumente aus psychologischer Sicht, Weinheim 1991
16 Erstausgabe von 1913 S. 93, in: Husserliana III, hg. v. Walter Biemel
1950 S. 117
17
Erstausgabe S. 106, ed. Biemel S. 134
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Realismus und Idealismus
Dieses reine Bewusstsein ist dem einzelnen Menschen nicht unerreichbar; er kann sich nach Husserl durch Epoché, Enthaltung
vom sogenannten natürlichen Weltglauben, in es versetzen und
dann als vorweltliches reines Ich die Welt »konstituieren« und
auch sich selbst durch verweltlichende Selbstapperzeption zum
innerweltlichen Menschen mit Körper, Schicksalen usw. machen. Die Wendung, dass das Bewusstsein die Welt mit ihren
realen Inhalten in seinen Erfahrungen »setze«, klingt zwar nach
einer perzeptiven und konstruktiven Abhängigkeit wie bei Kant
und Fichte, aber das zweite Zitat weist eher auf eine Art magischer Bindung dem Sinn nach hin, als ob die Welt nur durch
Sinnzusammenhänge bestehen könne, die sich nach Sinnzusammenhängen des Bewusstseins richten. Warum das so sein soll,
bleibt zwar dunkel, aber ein erweiterter Sinn von Idealismus
zeichnet sich ab, der nicht wie bei Kant und Schopenhauer eine
Abhängigkeit der Welt vom bloßen Vorstellen oder wie bei Kant
und Fichte vom Konstruieren des Subjektes meint, sondern eine
Beteiligung anderer Art, womit der Bewussthaber und sein Bewussthaben einen unerlässlichen Beitrag dazu leisten, dass es die
Welt gibt. In diesem ganz weiten Sinne, der aber nur mit umständlichen Vorbereitungen in phänomenologisch geprüfter und
haltbarer Form herausgearbeitet und gegen Missverständnisse
geschützt werden kann, könnte ich mich selbst dem Idealismus
anschließen.
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