Zionismus 50 1. EINLEITUNG Im späten 19. Jahrhundert entstandene, auf die Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina 5 gerichtete religiös-politische Bewegung. Ihren 55 Namen gab der Bewegung 1890 der österreichische jüdische Philosoph Nathan Birnbaum, er leitet sich ab von Zion, im Alten Testament der Name der von David eroberten 10 Jebusiterfestung in Jerusalem. 60 2. HISTORISCHER HINTERGRUND milation an die europäische Gesellschaft zu ermöglichen versucht. Die liberale jüdische Reformbewegung in Deutschland strebte danach, das Judentum auf ein bloßes religiöses Bekenntnis zu reduzieren, das es den Juden erlauben würde, die deutsche Kultur anzunehmen. Einer der bedeutendsten Theoretiker des Reformjudentums, der Rabbiner Abraham Geiger, führte 1854 dazu programmatisch aus: „Jerusalem und Zion sind die Orte, von denen die Lehre ausgegangen ist, an welche sich heilige Erinnerungen knüpfen, sie sind aber im Ganzen mehr als eine geistige Idee, also die Pflanzstätten des Gottesreiches ... an welche sich etwa besonders die Vorsehung Gottes für alle Zeiten knüpfte”. Die Errungenschaft der politischen Gleichheit für das europäische Judentum (Judenemanzipation) nahm 1791 in Frankreich während der Französischen Revolution ihren Anfang und breitete sich in den nächsten Jahrzehnten über ganz Europa aus. Als eine organisierte politische Bewegung entstand der Zionismus im 19. Jahrhundert; doch 65 seine Wurzeln reichen bis in das 6. Jahrhundert 15 v. Chr. zurück, als die Juden in die Gefangenschaft nach Babylon verschleppt wurden und ihre Propheten ihnen Mut zusprachen, dass Gott sie eines Tages wieder nach Palästina, Der Aufstieg des modernen Antisemitismus oder Eretz Israel (Land Israel), zurückkehren 20 lasse. Über die Jahrhunderte verknüpften die 70 Die politische Emanzipation stellte sich aber Juden der Diaspora die Hoffnung auf eine als eine falsche Morgenröte heraus. In der Heimkehr mit dem Kommen des Messias, zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden eines Erlösers, den Gott zu ihrer Befreiung in Deutschland und Österreich-Ungarn organischicken würde. Einzelne Juden wanderten oft sierte antisemitische Parteien. In Russland, wo 25 nach Palästina aus, um sich dort jüdischen 75 die Emanzipation ohnehin nur eine oberflächGemeinden anzuschließen, die hier von jeher liche gewesen war, löste die Ermordung des weiterbestanden; doch die Juden blieben unter Zaren Alexander II. 1881 eine Welle von natioder arabischen Bevölkerung immer in der nalen Gefühlen aus; im ganzen Land kam es Minderheit. zu Pogromen an den Juden. 80 Um den Verfolgungen zu entgehen, verließen 30 Die Haskalah und die viele russische Juden das Land. Viele emigrierAssimilierungsbewegung ten in die Vereinigten Staaten. Nur wenige gingen in das damals türkisch beherrschte Ein weltlicher Zionismus konnte nicht entPalästina. Sie wurden von dem französischen stehen, bevor das jüdische Leben nicht selber 85 Juden Baron Edmond de Rothschild unterbis zu einem gewissen Grad verweltlicht war. stützt. 35 Dieser Vorgang setzte im 18. Jahrhundert mit der Haskalah (hebräisch: Aufklärung) ein, 3. DIE GRÜNDUNG DER ZIONISTISCHEN einer Bewegung, die von der europäischen BEWEGUNG Aufklärung angeregt war und anfangs ihre wesentlichen Impulse von dem deutschen jüdi1896 veröffentlichte Theodor Herzl, ein öster40 schen Denker Moses Mendelssohn erhielt. Die 90 reichischer jüdischer Journalist, eine BroHaskalah markiert den Beginn der Abkehr schüre mit dem Titel Der Judenstaat, in der er vom überkommenen strenggläubigen Judendie Gründe für den Antisemitismus analysierte tum und stand für ein noch zu schaffendes und die Gründung eines eigenen jüdischen jüdisches Nationalgefühl, das neben die ReliStaates vorschlug. Obwohl Herzl Audienzen 45 gion als einheitsstiftende Kraft treten sollte. 95 beim deutschen Kaiser Wilhelm II. und bei Anfangs hatte diese Bewegung aber die AssiSultan Abdül-Hamid II. der Türkei erhielt, 100 105 110 115 120 125 blieb ihm deren Unterstützung versagt. 1897 veranstaltete Herzl den 1. Zionistischen Weltkongress in Basel. Die 200 Delegierten des Kongresses formulierten das Baseler Programm, ein Grundsatzpapier für die zionistische Bewegung. Das Programm definierte als Ziel des Zionismus die Schaffung „einer durch das öffentliche Recht garantierten Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina”. Der Kongress gründete die Zionistische Weltorganisation (WZO) und ermächtigte sie, in jedem Land mit einem nennenswerten jüdischen Bevölkerungsanteil Zweigstellen zu errichten. Als es Herzl nicht gelang, vom türkischen Sultan einen Freibrief zur Besiedlung Palästinas zu erhalten, richteten sich seine diplomatischen Aktivitäten auf Großbritannien; doch das britische Angebot, die Möglichkeit einer jüdischen Kolonie in Ostafrika zu untersuchen – der so genannte Uganda-Plan – spaltete die zionistische Bewegung. Die russischen Zionisten bezichtigten Herzl des Verrats an dem zionistischen Programm. Als der 7. Zionistenkongress (1905) den OstafrikaPlan ablehnte, gründete Israel Zangwill die Jüdische Territorialorganisation, deren Ziel es war, wo immer es auch sei, ein für die jüdische Besiedelung geeignetes Land zu suchen. Zangwills Organisation blieb jedoch ohne Einfluss. teien, die sich an weltlicher Macht beteiligten, 150 sahen sich der Kritik ausgesetzt, sie hätten im Tausch für die materiellen Insignien der Macht ihren Glauben kompromittiert. 5. ZIONISMUS IM 20. JAHRHUNDERT Die beiden größten politischen Erfolge des 155 Zionismus dieses Jahrhunderts sind die Verpflichtung, die die britische Regierung in der Balfour-Erklärung von 1917 einging, und die Errichtung des Staates Israel 1948. Während des 1. Weltkrieges umwarben die 160 Briten die Zionisten, um sich die strategische Kontrolle über Palästina zu sichern und die Unterstützung der Juden in der Welt für die Sache der Alliierten zu gewinnen. Die Erklärung, enthalten in einem Brief von Außen165 minister Arthur J. Balfour an einen Führer der britischen Zionisten, befürwortete die Errichtung „einer nationalen Heimstätte des jüdischen Volkes” in Palästina. Nach der Eroberung Palästinas durch die Briten 1917/18, bot 170 die Erklärung die lange erhoffte Chance auf einen eigenen Staat. Die Zwischenkriegszeit 175 4. VIELFALT DES ZIONISMUS 130 135 140 145 Der Zionismus brachte ein Fülle unterschiedlicher Ideen und Ideologien hervor. Der kulturelle Zionismus, dessen Hauptvertreter der russische Journalist Achad Haam war, hatte sich vor allem das Ziel gesetzt, Palästina zum Mittelpunkt des geistigen und kulturellen Wachstums des jüdischen Volkes, das aus unterschiedlichen Gründen in der Diaspora verbleiben musste oder wollte, zu machen. Experimente sozialistisch orientierter Zionisten, die in Israel einen sozialistischen Staat errichten wollten, brachten eine besondere Form landwirtschaftlicher Kooperativen hervor, den Kibbuz (hebräisch: Sammlung). Er bildete das politische, kulturelle und militärische Rückgrat des Yishuv (hebräisch: Siedlung, die jüdische Gemeinde in Palästina). Religiöse Zionisten (siehe orthodoxes Judentum) sahen ihr Ziel darin, die nationale Wiedererweckung der Juden in traditionellere Bahnen zu lenken; doch die politischen Par- 180 185 190 195 Nach dem Krieg musste der Zionismus zwei Rückschläge verkraften. Den russischen Juden, die traditionell die zahlenmäßig stärksten Kontingente zionistischer Auswanderer stellten, versagte das neue Sowjetregime die Auswanderung. Ein Streit zwischen dem Führer des amerikanischen Zionismus, Louis Brandeis, und Chaim Weizmann, dem Mann, dem das Verdienst zukam, die Balfour-Erklärung erwirkt zu haben, drohte schon bald die Bewegung zu spalten. Kernpunkt des Streites waren grundsätzliche ideologische Gegensätze in der Frage über die Zukunft des Zionismus. Weizmanns „synthetischer Zionismus”, der den politischen Kampf und die Besiedlung befürwortete, siegte über den pragmatischen Ansatz von Brandeis, der sich auf die Besiedlung konzentrierte, ohne auf die Frage der zukünftigen Nation einzugehen. Weizmann ging aus diesem Streit als der uneingeschränkte Sieger hervor; Brandeis und seine Gruppe spalteten sich ab und konzentrierten sich bis zum Beginn des 2. Weltkrieges auf die Hilfe für die europäischen Juden. 1929 gründete Weizmann die Jüdische Behörde (Jewish Agency), die sich um finanzielle 200 205 210 215 220 Unterstützung von Juden bemühte, die ihren Brüdern in Palästina helfen wollten, ohne unbedingt die politischen Ziele des Zionismus zu billigen. Während der britischen Mandatszeit (19201948) wuchs der Yishuv von 50 000 auf 600 000 Menschen. Die Mehrzahl der Neueinwanderer war vor der nationalsozialistischen Verfolgung in Europa geflohen. 1935 spaltete sich eine revisionistische Gruppe unter der Führung von Ze’ev Vladimir Jabotinsky von der zionistischen Bewegung ab und bildete die Neue Zionistische Partei. Während der späten dreißiger Jahre setzte sich Jabotinsky, der einen jüdischen Staat beiderseits des Jordans befürwortete, in einer fruchtlosen Kampagne für eine Massenevakuierung der europäischen Juden nach Palästina ein. Das Zusammenleben mit den Arabern in Palästina wurde zunehmend schwieriger. Wiederholte arabische Aufstände in den zwanziger Jahren gipfelten schließlich in einer mehrere Jahre anhaltenden Rebellion (1936-1939). Das Weißbuch 225 230 235 240 245 250 Kurz vor dem 2. Weltkrieg änderte die britische Regierung ihre Palästinapolitik, um die arabische Welt zu besänftigen. Das Weißbuch vom Mai 1939 beendete das Engagement Großbritanniens für den Zionismus und versprach innerhalb der nächsten zehn Jahre die Gründung eines palästinensischen Staates. Die arabische Mehrheit in Palästina wurde in einer Klausel festgeschrieben, nach der während der folgenden fünf Jahre weitere 75 000 Juden einwandern durften, danach aber eine Einwanderung nur noch mit arabischer Zustimmung möglich sein sollte. Das Weißbuch von 1939 zerbrach die traditionelle anglo-zionistische Allianz und rief im Yishuv heftige Proteste hervor. Im Mai 1942 verlangten zionistische Führer auf ihrem Treffen im Biltmore Hotel in New York einen Jüdischen Demokratischen Commonwealth – einen Staat – im ganzen westlichen Palästina. Dieses „Biltmore-Programm” stellte eine grundsätzliche Abkehr von der bisherigen zionistischen Politik dar. Der Holocaust, der systematische Massenmord der Nationalsozialisten an den europäischen Juden, überzeugte schließlich das westliche Judentum von der Notwendigkeit eines eigenen jüdischen Staates. 1944 begann die Irgun Zvai Leumi (Nationale Militärorganisation), eine zionistische Guerillaarmee unter der Führung des späteren israelischen Premierministers Menachem Begin, eine bewaffnete Revolte gegen 255 die britische Herrschaft in Palästina. Terrorangriffe richteten sich gegen britische Truppen und Beamte und gegen palästinensische Araber. Der Staat Israel 260 Am 14. Mai 1948 endete das britische Mandat über Palästina, und die Juden erklärten ihre Unabhängigkeit in dem neuen Staat Israel. Die leidvolle Erfahrung des Holocaust hatte die Einstellung der Juden in aller Welt gegenüber 265 dem Zionismus verändert. Ehemalige Gegner der Bewegung sahen nun in einem zionistischen Staat Israel das Symbol jüdischer Wiedergeburt, das Symbol der Einheit des jüdischen Volkes. Politisch verdankt Israel seine 270 Existenz nicht zuletzt dem politischen Einfluss der amerikanischen Juden, der die Unterstützung des amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman sicherte. Das Ziel des Zionismus während der ersten 275 Jahre der Staatlichkeit schien klar – Israel zu festigen und zu verteidigen. Doch die Beziehungen zwischen dem neuen Staat und den Zionisten erwiesen sich als problematisch. Der erste Premierminister Israels, David Ben280 Gurion, bestand darauf, dass zionistische Führer, die in der Diaspora blieben, keinen Einfluss auf die politischen Entscheidungen Israels haben sollten, auch wenn Israel seine Existenz ihnen verdanken sollte. 285 Nahum Goldmann, Leiter des WZO von 1951 bis 1968, vertrat den Standpunkt, dass der Zionismus auch das jüdische Leben in der Diaspora pflegen und bewahren sollte. Amerikanische Zionisten, vor allem Rabbi Mordecai 290 Kaplan, drängten auf eine Neudefinition des Judentums und warnten vor den Gefahren einer Spaltung zwischen Israel und den Juden in der Diaspora. Während der siebziger Jahre konzentrierten 295 sich die zionistischen Aktivitäten auf die sowjetischen Juden, denen endlich erlaubt wurde, in begrenzter Zahl auszuwandern. Wieder kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Zionisten und jüdischen Hilfsorgani300 sationen; diesmal über die Frage, ob die Auswanderung nach Israel die einzige Alternative für die sowjetischen Juden sein sollte. In den 305 310 315 320 325 330 335 späten achtziger Jahren setzte eine Massenauswanderung der sowjetischen Juden nach Israel ein. Die arabischen Staaten und ihre Anhänger haben wiederholt den Zionismus als ein „Werkzeug des Imperialismus” gebrandmarkt. 1975 erließ die UN eine Resolution, die den Zionismus als eine Form von Rassismus verurteilte; sie wurde erst 1991 von der Vollversammlung mit 111 zu 25 Stimmen annulliert. Die Zionisten ihrerseits haben betont, dass ihre Bewegung nie die arabische Selbstbestimmung abgelehnt habe, das grundlegende Ziel des Zionismus sei einzig die Befreiung des jüdischen Volkes. Mit dem so genannten Gaza-Jericho-Abkommen, das eine Selbstbestimmung der Palästinenser in den israelisch besetzten Gebieten vorsieht, hat die prinzipiell expansionistische zionistische Bewegung ihre politische Führerschaft im Staat Israel endgültig verloren, ohne von einer neuen mehrheitsfähigen Weltanschauung abgelöst worden zu sein. Die Notwendigkeit eines exklusiv jüdischen Staates als Zufluchtstätte für die Juden der Welt wird von vielen Israelis nicht mehr akzeptiert, da auf der Basis eines ethnischen Nationalismus kein moderner Sozialstaat aufrechtzuerhalten sei. So genannte Postzionisten sprechen sich daher für die Umwandlung Israels zu einem bürgerlich-demokratischen Staat aus. Für sie liegt die Zukunft Israels im Aufbau eines modernen laizistischen Staates. 1 1Microsoft® Encarta® Enzyklopädie 2000. © Zion 340 345 350 355 360 Der alte Name für den zwischen den Tälern der Flüsse Kidron und Tyropoeon gelegenen und heute auch als Tempelberg bekannten östlichsten Hügel der Stadt Jerusalem. Er liegt in der Jerusalemer Altstadt. Der Berg Zion wird erstmals um 1000 v. Chr. als Festung der Jebusiter erwähnt, die von König David erobert wurde, der diese zum Mittelpunkt der vereinten Monarchie und zum Kern der Davidstadt machte (A.T., Samuel 5, 6-7). Als ursprüngliche Aufbewahrungsstätte der Bundeslade und, nach Auffassung der meisten heutigen Wissenschaftler, Ort des Tempels, war der Berg das Zentrum des politischen und kulturellen Lebens der Israeliten. Der Name selbst wurde zum Inbegriff von Gottes „heiligem Berg” (AT, Psalmen 2, 6). Im Laufe der Zeit wurde der Name Zion auf ganz Jerusalem und Palästina erweitert. Die Töchter Zions ist eine poetische Umschreibung für das jüdische Volk. Nach dem Fall Judäas 70 n. Chr. wurde Zion zum Symbol der Hoffnung, dass das Verheißene Land der Juden eines Tages wiedererstehen könnte. Im Neuen Testament steht der Begriff für die Stadt Gottes, das Himmlische Jerusalem (Hebräerbrief 12, 22).2 2Microsoft® Encarta® Enzyklopädie 2000. ©