Leseprobe - Verlag Karl Alber

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Perrakis (48448) / p. 1 /1.3.2011
VERLAG KARL ALBER
A
Perrakis (48448) / p. 2 /1.3.2011
In der Geschichte der Philosophie gilt die Musik als Ausdruck von Affekten. Friedrich Nietzsche setzt sich mit diesem klassischen Topos aus
einer metaphysischen, einer historisch-genealogischen und einer physiologischen Perspektive auseinander. Dabei gewinnt er ihm neue Dimensionen ab, indem er die Musik als eine Sprache zur Bewusstmachung des Unbewussten deutet und aus ihr ein Konzept affektiv
gegründeter Vernunft entwickelt. Seine Deutung erfolgt unter dem
Primat der praktischen Vernunft, da die Musik, indem sie die Affekte
in Bewegung setzt, auf die Pluralität von Anschauungen und unbewussten praktischen Bedürfnissen aufmerksam macht.
Der Autor:
Manos Perrakis promovierte 2009 in Philosophie an der HumboldtUniversität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Nietzsche
und die Philosophie der Musik. Sein aktuelles Interesse gilt der Verbindung von Musikästhetik und philosophischer Anthropologie.
Perrakis (48448) / p. 3 /1.3.2011
Manos Perrakis
Nietzsches Musikästhetik
der Affekte
Perrakis (48448) / p. 4 /1.3.2011
musik M
philosophie
Band 1
Herausgegeben von:
Oliver Fürbeth (Frankfurt am Main)
Lydia Goehr (Columbia, New York)
Frank Hentschel (Gießen)
Stefan Lorenz Sorgner (Erfurt)
Wissenschaftlicher Beirat:
Andreas Dorschel (Graz)
Bärbel Frischmann (Erfurt)
Georg Mohr (Bremen)
Albrecht Riethmüller (Berlin)
Günter Zöller (München)
Perrakis (48448) / p. 5 /1.3.2011
Manos Perrakis
Nietzsches
Musikästhetik
der Affekte
Verlag Karl Alber Freiburg / München
Perrakis (48448) / p. 6 /1.3.2011
Die vorliegende Studie wurde als Dissertation vom
Institut für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin
am 15. Mai 2009 angenommen.
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds
Wissenschaft der VG WORT.
Originalausgabe
© VERLAG KARL ALBER
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011
Alle Rechte vorbehalten
www.verlag-alber.de
Satz: SatzWeise, Föhren
Herstellung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei)
Printed on acid-free paper
Printed in Germany
ISBN 978-3-495-48448-7
Perrakis (48448) / p. 7 /1.3.2011
Inhaltsverzeichnis
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
1.
2.
Einführung
Die Sprache der Musik und die affektive Natur der Vernunft .
13
Philosophie der Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
24
2.1. Mousikffi als Einheit von Wort und Ton.
Der antike Begriff der Musik . . . . . . . . . . . . . . .
2.2. Kant und die Rätselhaftigkeit der Affekte . . . . . . . . .
2.3. »Abstrakte Subjektivität«. Die Stellung der Musik bei Hegel
2.4. »Musikalisches Ideen-Instrument«. Musik in der
Frühromantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.5. Schopenhauer und die metaphysische Würdigung
der Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.6. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.
Die metaphysische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . .
Das Fragment Ueber Stimmungen . . . . . . . . . . . .
Nietzsches Umkehrung der Willenssymbolik Schopenhauers
Die Musik als Sprache einer »unendlichen Verdeutlichung«
Musik versus Historismus. Die Musik als »unhistorische«
Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.5. Die Meeresmetaphorik. Eine Dramatisierung der
Willenssymbolik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.6. Synkretismus als Beschreibungsmodell der
Willenssymbolik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.7. Schlussbemerkung zur ersten Perspektive . . . . . . . . .
3.1.
3.2.
3.3.
3.4.
24
26
30
32
34
39
42
42
47
55
66
77
83
91
7
Perrakis (48448) / p. 8 /1.3.2011
Inhaltsverzeichnis
4.
Die historisch-genealogische Perspektive . . . . . . . . . .
4.1. Die genealogische Erklärung der musikalischen
Bedeutsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2. Die Musik und die Frage nach den metaphysischen
Bedürfnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3. Zur Kritik der »unendlichen Melodie« als Paradigma der
Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.4. Eine neue Symbolik des Erhabenen: Die Nachtmetapher
4.5. Zwischen Metaphysik und Formalismus:
Die »unschuldige Musik« . . . . . . . . . . . . . . . .
4.6. Schlussbemerkung zur zweiten Perspektive . . . . . . .
93
.
93
.
97
. 103
. 109
. 111
. 122
5.
Die physiologische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . .
125
5.1.
5.2.
5.3.
5.4.
5.5.
Die Immanenz der Affekte als Wille zur Macht . . . . .
Physiologie der Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Wille und Leib. Die vergessene Prämisse Schopenhauers
Ecce Homo. Das »verstimmte Instrument« Mensch . . .
Die anthropologischen Konsequenzen der musikalischen
Metaphorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
125
128
135
139
.
.
.
.
. 143
6.
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
145
7.
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
152
8
Perrakis (48448) / p. 9 /1.3.2011
Danksagung
Mein Dank gilt vor allem Prof. Dr. Dr. h. c. Volker Gerhardt und
Prof. Dr. Renate Reschke, die die Arbeit eingehend betreut haben. Den
Kollegen vom Institut für Philosophie an der Humboldt-Universität zu
Berlin verdanke ich zahlreichen Anregungen, wie auch den vielen
Freunden in Athen und Berlin. Mein Dank gilt ferner der Stiftung
Sofia Saripolou der Universität Athen für die Gewährung eines großzügigen Promotionsstipendiums wie auch dem Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG-WORT für die Übernahme der Druckkosten. Dr. Stascha Rohmer und Jasmin Mersmann danke ich für ihr
sorgfältiges Korrekturlesen und ihre wertvollen Hinweise. Nicht zuletzt möchte ich mich noch bei dem Leiter von Karl Alber, Lukas
Trabert und den Herausgebern Lydia Goehr, Frank Hentschel, Oliver
Fürbeth und Stefan Lorenz Sorgner bedanken, die das Buch in der
neuen Reihe Musikphilosophie aufgenommen haben.
9
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Perrakis (48448) / p. 11 /1.3.2011
Siglen
Für die Ausgaben der Werke Nietzsches werden die in der Nietzscheforschung und in den Nietzsche-Studien gebräuchlichen Abkürzungen
verwendet:
KGW (I 1–VIII 4) Kritische Gesamtausgabe, Werke
KSA (1–15)
Kritische Studienausgabe, Werke
KSB (1–8)
Kritische Studienausgabe, Briefe
GT
GMD
DW
UB
HL
WB
MA
M
FW
Za
JGB
GM
WA
GD
EH
NW
Die Geburt der Tragödie
Das griechische Musikdrama
Die dionysische Weltanschauung
Unzeitgemäße Betrachtungen
Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben
Richard Wagner in Bayreuth
Menschliches, Allzumenschliches (I und II)
Morgenröthe
Die fröhliche Wissenschaft
Also sprach Zarathustra
Jenseits von Gut und Böse
Zur Genealogie der Moral
Der Fall Wagner
Götzen-Dämmerung
Ecce Homo
Nietzsche contra Wagner
NF
Nachgelassene Fragmente
11
Perrakis (48448) / p. 12 /1.3.2011
Perrakis (48448) / p. 13 /1.3.2011
1 Einfhrung
Die Sprache der Musik und die affektive
Natur der Vernunft
M e i ne Aufgabe: alle Triebe so zu sublimiren, daß die Wahrnehmung für
das Fremde sehr weit geht und doch noch mit Genuß verknüpft ist: der Trieb
der Redlichkeit gegen mich, der Gerechtigkeit gegen die Dinge so stark, daß
seine Fr e ud e den Werth der anderen Lustarten überwiegt, und jene ihm
nöthigenfalls, ganz oder theilweise, geopfert werden. Zwar giebt es kein interesseloses Anschauen, es wäre die volle Langeweile. Aber es genügt die z a rte st e Emotion! (KSA, NF, 9, 211) 1
Für Nietzsche ist das Ziel der Philosophie, die sinnliche Erfahrung so zu
steigern, dass ein Maximum an Erkenntnis über sich selbst (»Trieb der
Redlichkeit gegen mich«) und die Welt (»Gerechtigkeit gegen die Dinge«) erlangt wird, damit »die Wahrnehmung für das Fremde«, nämlich
alles, was sich einem Subjekt als Objekt – inklusive seines eigenen
Selbst – gegenüberstellt, »sehr weit geht«. Die Aufforderung, man solle dabei Vergnügen finden, verweist auf die Produktion und Rezeption
von Kunst, auf eine an die Interessen des Individuums gebundene ästhetische Erfahrung.2
Für diesen Sublimierungsprozess engagiert Nietzsche die Musik,
also jene symbolische Sprache, die die Affekte zum Gegenstand hat
und die wirkungsmächtigste aller Künste ist. Insofern sie Affekte nachahmen und hervorrufen kann, ist die Musik »eine Sprache, die einer
unendlichen Verdeutlichung fähig ist« (KSA, NF, 7, 47) und die Vernunft zu erweitern vermag. Denn Nietzsche denkt die Musik in Analogie zu dem Übergang von der sinnlichen Erfahrung zur übersinnlichen bzw. interpretatorischen Bestimmung.
Siehe auch KSA, FW, 3, 627.
Vgl. KSA, NF, 8, 36: »Das einzige Glück liegt in der Vernunft, die ganze übrige Welt
ist triste. Die höchste Vernunft sehe ich aber in dem Werk des Künstlers […] Glück liegt
in der Geschwindigkeit des Fühlens und Denkens: alle übrige Welt ist langsam, allmählich und dumm. Wer den Lauf des Lichtstrahls fühlen könnte, würde sehr beglückt sein,
denn er ist sehr geschwind.«
1
2
13
Perrakis (48448) / p. 14 /1.3.2011
Einfhrung
Für Nietzsche ist die Vernunft nichts anderes als die Bewegung
einer »unendlichen Verdeutlichung« und keine Manifestation einer
absoluten Wahrheit wie in der dogmatischen Metaphysik. Als Bewegung einer »unendlichen Verdeutlichung« ist die Vernunft deshalb mit
der Mannigfaltigkeit und ständigen Erneuerung der Perspektiven
gleichzusetzen. Die Mannigfaltigkeit der Perspektiven wiederum ist
von der Mannigfaltigkeit der Affekte nicht zu trennen, denn: »je m e h r
Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je m e hr Augen,
verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um
so vollständiger wird unser ›Begriff‹ dieser Sache, unsre ›Objektivität‹
sein.« (KSA, GM, 5, 365)
Wie nun kann die Musik zu einer Erweiterung der Vernunft beitragen, und wie hängt diese Erweiterung mit den Affekten zusammen?
Vorweg: Mit der Erweiterung der Vernunft ist hier kein neues Paradigma, keine besondere Art oder alternative Form der Vernunft, wie etwa
eine ›ästhetische Vernunft‹ oder ein ›Anderes der Vernunft‹ gemeint,
sondern die Rede von einer Erweiterung dient bloß dazu, auf die affektiven Qualitäten der Vernunft und auf die ihr zugrundeliegenden praktischen individuellen Bedürfnisse aufmerksam zu machen.
Beschreibt man die Musik als Sprache der Affekte, muss die philosophische Einstellung gegenüber der Musik von der Einstellung gegenüber den Affekten abhängig sein. Und tatsächlich weisen die Stellung der Musik im System der Künste und das Verständnis der Rolle
der Affekte in der Geschichte der Philosophie viele Parallelen auf. Für
fast zwei Jahrtausende war weder die eigenständige Musik innerhalb
der Künste noch waren die Affekte in der Philosophie hoch geschätzt.
Bis zum 18. Jahrhundert war die Musik vom Wort oder von einer bestimmten Funktion abhängig und unterlag einer strengen metaphysischen und sozialen Ordnung. Trat sie doch einmal als etwas Selbstständiges auf, erregte dies Verdacht und wurde zum Gegenstand heftiger
Polemik. Denn in einer langen stoisch-christlichen Tradition waren die
Affekte als Gefährdung der Vernunft gefürchtet, sie waren zu bändigen
– wenn auch nicht um verbannt, so doch um einigermaßen kontrolliert
zu werden.
Das aber ändert sich seit der Aufklärung Schritt für Schritt, bis es
im 19. Jahrhundert zu einer bedeutenden Umkehrung kommt. Musik
und Affekte gewinnen immer mehr an systematischer Bedeutung und
erfahren eine allmähliche Aufwertung, für die das Auftreten der Ästhetik als selbständige Disziplin als Katalysator wirkt. Ästhetik wird
14
Perrakis (48448) / p. 15 /1.3.2011
Die Sprache der Musik und die affektive Natur der Vernunft
nun von einer ›gnoseologia inferior‹ zu einer akzeptierten, der rationalen Logik ähnlichen Erkenntnisform. 3 Die Affekte, die von der Antike
bis in die Neuzeit in Affektenlehren klassifiziert wurden, werden im
Gefühl aufgelöst. Das Gefühl ist etwas, was im eigenen Selbst anerkannt wird, für die Eigenständigkeit des Individuums steht und den
an objektiver Erkenntnis orientierten Verstand ergänzt. 4 Kants schillernder Begriff vom ›Geistesgefühl‹ in der ersten Einleitung der Kritik
der Urteilskraft zeigt, wie sinnliche Erfahrung und übersinnliche Bestimmung zusammenfallen, und Schleiermacher wird in seiner Ethik
(§ 207, § 216) ausdrücklich das Gefühl als unmittelbares Bewusstsein
einer »echt synthetischen Combination« definieren, die den »relativen
Werth alles Einzelnen für das Individuum« festsetzt. 5 Das Gefühl wird
also nun ein Oberbegriff für die Affekte und immer auf ein ›Ich‹ bezogen, das die Romantik in ihrem Versuch, die Frage ›Wer bin ich?‹ zu
beantworten, als ein inneres konzipiert. Die Aufwertung der Affekte
durch den Übergang zum Gefühl geschieht allerdings auf Kosten ihres
einstigen objektiven Charakters, da sie nun als ›Gefühl‹ auf ein ›Ich‹
bezogen werden. Dies betrifft auch die Musik. Gab es von der Antike
bis zum Barock musikalische Affektenlehren, in denen z. B. jeder Tonart eine bestimmte Wirkung zugeschrieben wurde, ist jetzt die Deutung der Tonarten einem subjektiven Gefühl überlassen.
Diese Aufwertung der Affekte zum Gefühl durch die Ästhetik ist
verknüpft mit der Emanzipation der Instrumentalmusik, die im ausgehenden 18. Jahrhundert beginnt und im 19. Jahrhundert kulminiert.
Der berühmteste Musikästhetiker des 19. Jahrhunderts, Eduard Hanslick, kann deshalb in Einklang mit dem damaligen Zeitgeist behaupten:
Denn nur was von der Instrumentalmusik behauptet werden kann, gilt von
der Tonkunst als solcher. Wenn irgendeine allgemeine Bestimmtheit der Musik untersucht wird, etwas so ihr Wesen und ihre Natur kennzeichnen, ihre
Grenzen und Richtung feststellen soll, so kann nur von der Instrumentalmusik die Rede sein. Was die Instrumentalmusik nicht kann, von dem darf
Vgl. Alexandra Kertz-Welzel: Die Transzendenz der Gefühle: Beziehungen zwischen
Musik und Gefühl bei Wackenroder/Tieck und die Musikästhetik der Romantik, Sankt
Ingbert 2001, 29.
4 Zum Übergang vom Affekt zum Gefühl siehe Stefan Hübsch: Vom Affekt zum Gefühl, in: Stefan Hübsch und Dominic Kaegi (Hrsg.): Affekte. Philosophische Beiträge
zur Theorie der Emotionen, Heidelberg 1999, 137–150.
5 Vgl. ebd., 140 f.
3
15
Perrakis (48448) / p. 16 /1.3.2011
Einfhrung
nie gesagt werden, die Musik könnte es; denn nur sie ist reine, absolute Tonkunst. 6
Diese Emanzipation bereitet jedoch der philosophischen Ästhetik große Probleme, da das dominante mimetische Paradigma der Kunst vor
der Unbildlichkeit der Affekte versagt, zumal diese durch den Übergang zum Gefühl ihren quasi-objektiven Charakter verlieren.
Insofern sie ohne gesungenen Text auskommt, lässt sich die Instrumentalmusik kaum auf eine bestimmte Aussage festlegen. Kein
anschauliches Objekt vermag die von ihr erregten Affekte des Publikums zu steuern, was dieses in eine große Verlegenheit brachte, die
sich exemplarisch bereits in der berühmten Frage des französischen
Dramatikers Fontenelle zeigt: »Sonate, que me veux-tu?«
Anders als in den anderen Künsten, denen eine mimetische Funktion attestiert wird, ahmt die Musik nichts nach. 7 Tut sie es doch und
imitiert z. B. einen natürlichen Klang, das Fließen eines Baches, ist sie
bloß ›Tonmalerei‹, dekorative Begleitung, und nicht Musik im eigentlichen Sinne. Eine solch deskriptive Komposition ist dem Wesen der
Musik nicht adäquat. 8 Da sie nicht von einem nachgeahmten räumlichen Objekt bedingt ist, kann sie nur eine Sprache sprechen, die wir in
sie hineinlegen. Den Inhalt, den wir in der Musik wahrnehmen, können wir nur durch unsere eigene Sprache verstehen. Einen allgemeinen
Konsens kann es folglich nicht geben, denn Affekte oder Gefühle sind
nur individuell erfahrbar. Nur ein Teil von ihnen lässt sich mitteilen,
der wichtigste, intimste und persönlichste Teil jedoch bleibt notwendig
unsagbar. Die Schwierigkeit der Mitteilbarkeit dieses begrifflich unauflösbaren Teils ist der Grund, warum Affekte sich als hochabstrakt
kennzeichnen, oder auch mystifizieren lassen.
Insofern das Gefühl nur individuell zu denken ist, ist das Verstehen der Musik eng mit der subjektiven Welt des Individuums verbunden. Die Philosophie der Musik muss nach langen und schwierigen
Formulierungen immer wieder zu dieser profunden Wahrheit gelangen. Denn die Musik wird von dem Paradox bestimmt, als Sprache der
6 Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, in: Klaus Mehner (Hrsg): Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen. Aufsätze. Musikkritiken, Leipzig 1982, 57.
7 Vgl. Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, 132: »Das Schaffen des Malers, des
Dichters ist ein stetes (inneres oder wirkliches) Nachzeichnen, Nachformen – etwas
nachzumusizieren gibt es in der Natur nicht.«
8 Vgl. KSA, GT, 1, 112.
16
Perrakis (48448) / p. 17 /1.3.2011
Die Sprache der Musik und die affektive Natur der Vernunft
Affekte eine affektive Dimension auszusprechen, welche die Wortsprache nicht auszusprechen vermag. Trotzdem können wir das, was die
Musik sagt und die Wortsprache nicht ausdrücken kann, nur mittels
der Sprache untersuchen.9 Die Tatsache, dass man in einen solchen
Zirkel gerät, mindert die Bedeutung dieses Versuchs nicht, denn jedes
Ringen um das Verstehen dessen, was zwar jenseits oder abseits der
Sprache, aber trotzdem in uns liegt, weil die Musik in unsere innere
Welt eindringt, führt zu einer tieferen Selbsterkenntnis, die schließlich
Grundstein und Anliegen aller Philosophie ist. Wenn wir in die Musik
eine Sprache hineinlegen, müssen wir uns selbst über die praktischen
Bedürfnisse, die uns dazu führen, befragen, denn: »Unsre Bedürfnisse
sind es, di e di e We l t a us l e ge n« (KSA, NF, 12, 315). Die Musik
stimuliert dazu, uns etwas bewusst zu machen, das uns vielleicht noch
nicht oder nicht mehr bewusst ist, uns mit den eigenen Affekten zu
konfrontieren, statt sie zu verbannen, sie für uns nützlich zu machen,
um auf diese Weise neue Perspektiven zu gewinnen. 10 Genau dies postuliert Nietzsche im Nachlass:
Üb e r wi nd ung de r Affe k te ? – Nein, wenn es Schwächung und Vernichtung derselben bedeuten soll. So nd e rni nd i e ns tne hm e n: […] Endlich
giebt man ihnen eine vertrauensvolle Freiheit wieder: sie lieben uns wie gute
Diener und gehen freiwillig dorthin, wo unser Bestes hin will. (KSA, NF, 12,
39).
Die Affekte bilden diejenige Instanz, die dem Individuum seine Individualität bewusst macht. Dies geschieht in einem Prozess der Selbsterfahrung, für den die Wahrnehmung der Musik exemplarisch steht.
Eine unentbehrliche Leistung jedes Philosophen ist die Mitteilung
der Selbsterfahrung, die er anhand der Dinge, über die er nachdenkt,
macht. Das gilt besonders für diejenigen Philosophen, bei denen Leben
und Werk so untrennbar miteinander verknüpft sind wie beispielsweise bei Augustinus und Pascal, Rousseau, Kierkegaard oder Wittgenstein, um nur ein paar Namen zu nennen. Ohne jeden Zweifel gehört
Siehe dazu Carl Dahlhaus: Das ›Verstehen‹ von Musik und die Sprache der musikalischen Analyse, in: Peter Faltin und Peter Reinecke (Hrsg.): Musik und Verstehen, Köln
1973, 37–47.
10 Ich benutze hier mit Absicht diese Redewendung, denn Nietzsches Begriff des Unbewussten besteht zum großen Teil in der Dimension des noch-nicht und nicht-mehr
Bewussten. Vgl. Erwin Schlimgen: Nietzsches Theorie des Bewusstseins, Berlin/New
York 1999, 187.
9
17
Perrakis (48448) / p. 18 /1.3.2011
Einfhrung
auch Nietzsche zu diesen Denkern, die philosophische Probleme immer
aus ihrer Lebenserfahrung heraus betrachten und ihre Einsicht für allgemeingültig halten, weil sie sich selbst als exemplarische Individuen
wahrnehmen.
Was die Musik betrifft, tut dies Nietzsche mit vollem Recht, denn
er hat sich nicht nur philosophisch mit der Musik auseinandergesetzt,
sondern auch als engagierter Hörer und leidenschaftlicher Klavierspieler. All dies in einer Epoche, in der die Musik eine außerordentliche
Bedeutung im sozialen Bewusstsein hatte und man musikalische Werke kennenlernte, indem man selber musizierte. Wie Curt Paul Janz
bemerkt, ist Nietzsche
nach Rousseau der einzige Philosoph, der sich in diesem Ausmaß und aktiv,
als Komponist mit der Musik auseinandergesetzt hat, und dies – im Gegensatz zu Rousseau – auch philosophisch fruchtbar werden zu lassen verstand.
Er hat, – ganz anders als Plato, der sie nur als Erziehungsmittel gelten lassen
wollte, oder Kant, der an dem klassischen Axiom festhält, Aufgabe der Kunst
sei es, das Schöne zu verwirklichen, oder Schopenhauer, der ihr den ganzen
Bereich, Kommunikationsmittel unter Menschen zu sein, nimmt, oder Kierkegaard, der ihre Aussagemöglichkeit auf das Unmittelbar-erotische einschnürt, – Nietzsche hat der Musik einen viel breiteren Aussagebereich zuerkannt, weil er selber deren einige durchschritten hat. 11
Dazu hatte Nietzsche das Glück, in enger Beziehung zu Richard Wagner und zahlreichen weiteren bedeutenden Persönlichkeiten des musikalischen Lebens seiner Zeit zu leben. 12
Da Nietzsches Verhältnis zur Musik zum großen Teil von Wagner
geprägt ist, gibt es eine unendliche Liste von Publikationen, die sich
mit dieser epochalen Beziehung beschäftigen. Nietzsches Auseinandersetzung mit Wagner macht ohne jeden Zweifel einen großen Teil seiner Beschäftigung mit der Musik aus, doch lässt sich Nietzsches Verhältnis zur Musik nicht auf diese Beziehung reduzieren: Zu lange hat
man Nietzsche einseitig mit Wagner verbunden und so seinen systematisch-philosophischen Ansatz verfehlt. 13 Folglich hat man erst rela11 Curt Paul Janz: Die Kompositionen Friedrich Nietzsches, in: Nietzsche-Studien 1
(1972), 184.
12 Zu Nietzsches musikalischer Praxis vgl. vor allem die Arbeiten von Curt Paul Janz zu
verweisen, besonders auf seine epochale Biographie. Janz hat auch den musikalischen
Nachlass Nietzsches herausgegeben.
13 Vgl. auch Christoph Landerer: Neuerscheinungen zum Thema Nietzsche und die
Musik, in: Nietzsche-Studien 36 (2007), 441.
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Die Sprache der Musik und die affektive Natur der Vernunft
tiv spät verstanden, was ein Dichter mit hohen philosophischen Ansprüchen wie Rainer Maria Rilke, der sich in der Frühphase seines
Schaffens auf Anregung von Lou Salomé intensiv mit Nietzsche auseinandergesetzt und einen immer noch überaus lesenwerten Kommentar zur Geburt der Tragödie geschrieben hat, sehr früh verstanden hatte:
Es scheint mir, daß der Zufall Wagner Schuld hat, daß N[ietzsche] seine Erkenntnisse und Hoffnungen […] gleich auf diese nächste (zu nahe!) Gelegenheit anwandte. 14
Dieser Verdacht Rilkes lässt sich in Ecce Homo, Nietzsches Bilanz seines Lebenswerkes bestätigen:
Ein Psychologe dürfte noch hinzufügen, dass was ich in jungen Jahren bei
Wagnerischer Musik gehört habe, Nichts überhaupt mit Wagner zu thun hat;
dass wenn ich die dionysische Musik beschrieb, ich das beschrieb, was i c h
gehört hatte, – dass ich instinktiv Alles in den neuen Geist übersetzen und
transfiguriren musste, den ich in mir trug. (KSA, EH, 6, 313 f.)
Beide Äußerungen machen deutlich, dass Nietzsches musikphilosophischer Ansatz einen über den Bezug auf Wagner hinausgehenden, allgemein systematischen Anspruch besitzt. Nur so kann man ihn für die
Philosophie gewinnen. Und tatsächlich nimmt die Zahl der Arbeiten,
die sich aus verschiedenen Perspektiven mit Nietzsches Musikphilosophie auseinandersetzen, immer mehr zu. Der überwiegende Teil der
Sekundärliteratur besteht allerdings aus Abhandlungen über das Verhältnis von Musik und Sprache, wobei es zwei Interpretationsrichtungen gibt. Von Nietzsches musikalischer Genealogie der Sprache, die bei
diesen Arbeiten im Mittelpunkt steht, zieht die erste Gruppe eine negativ-theoretische Konsequenz, die zweite eine positiv-praktische. Die
erste Gruppe leitet Nietzsches Sprach- und Metaphysikkritik aus der
musikalischen Genealogie der Sprache ab und zeigt, inwiefern dadurch
das Wahrheitsmodell der Sprache unterminiert wird. 15 Der zweiten
Rainer Maria Rilke: Marginalien zu Friedrich Nietzsche. Die Geburt der Tragödie, in:
Sämtliche Werke, Bd. VI, Frankfurt a. M. 1966, 1174. Auf diese Passage verweist auch
Susanne Dieminger: Die Musik im Denken Nietzsches, Essen 2002, 27.
15 Rudolf Fietz: Medienphilosophie: Musik, Sprache und Schrift bei Friedrich Nietzsche, Würzburg 1992; Ruth Bolten-Kölbl: Das Pathos des Dionysischen. Zum Verhältnis von Philosophie und Musik bei Nietzsche, Bonn 2001; Roger Häußling: Zur Rolle
von Kreativität heute: Versuch eines Diskurses zwischen Gegenwartsphilosophie,
Nietzsches Denken und aktueller Musik, Würzburg 1999.
14
19
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Einfhrung
Gruppe zufolge hat die Musik bei Nietzsche den Status einer transzendentalen Bedingung der Sprache, da sie einen vorsprachlichen ›sensus
communis‹ stiftet. 16 Dazu kommen die Arbeiten, die Nietzsches musikalische Schreibweise behandeln, worunter die Studien von Babette
Babich besonders hervorzuheben sind. 17
Von den größeren systematischen Arbeiten, die sich auf die Musik
konzentrieren, ist vor allem die von Bertram Schmidt zu erwähnen, die
den frühen Nietzsche aus der Perspektive der Wiener Klassik untersucht.18 Georges Liébert, Éric Dufour, Wen-Tsien Hong und vor allem
Curt Paul Janz bemühen sich um eine Einbettung Nietzsches in den
musikästhetischen Kontext des 19. Jahrhunderts, wobei auch seine musikalischen Kompositionen starke Berücksichtigung finden. 19 Ein zentrales Thema dieser Arbeiten ist die Positionierung Nietzsches gegenüber den beiden Haupttendenzen des 19. Jahrhunderts, der Romantik
und dem musikalischen Formalismus, woraus sich die Frage ergibt, ob
Nietzsche der romantischen Musikästhetik verhaftet bleibt oder sie
überwindet. 20
16 Vgl. Kathleen Higgins: Nietzsche on music, in: Journal of the history of ideas 47
(1986), 663–672, Tracy B. Strong: Nietzsche and the Song in the Self, in: New Nietzsche
Studies 1:1/2 (1996), 1–14; Ders.: The Tragic Ethos and the Spirit of Musik, in: International Studies of Philosophy 35:3 (2003), 79–100.
17 Babette Babich: On Nietzsche’s Concinnity: An analysis of style, in: Nietzsche-Studien 19 (1990), 59–79; Dies.: Nietzsches Philosophy of Science, New York 1994. Siehe
auch Claudia Crawford: Nietzsche’s Great Style: Educator of the Ears and the of the
Heart, in: Nietzsche-Studien 20 (1991), 210–237; Gary Lemco: Nietzsche and Schumann, in: New Nietzsche Studies 1:1/2 (1996), 42–56; Luca Renzi: Das Ohr-Motiv als
Metapher des Stils und der »Zugänglichkeit«. Eine Lektüre der Aphorismen 246 und
247 von Nietzsches »Jenseits von Gut und Böse«, in: Nietzsche-Studien 26 (1997), 331–
349. Thomas Medicus und Manfred Geier: »Neue Ohren für neue Musik«. Gedanken
zur Musikalität der philosophischen Aphorismen und Gedichten Friedrich Nietzsches,
in: Manfred Geier und Harold Woetzel (Hrsg.): Das Subjekt des Diskurses. Beiträge zur
sprachlichen Bildung von Subjektivität und Intersubjektivität, Berlin 1983, 133–145.
18 Bertram Schmidt Der ethische Aspekt der Musik. Nietzsches »Geburt der Tragödie«
und die Wiener klassische Musik, Würzburg 1991.
19 Georges Liébert: Nietzsche and Music (1995), übersetzt von David Pellauer and Graham Parker, Chicago & London 2004; Éric Dufour: L’esthétique musicale des Nietzsche,
Villeneuve d’Ascq 2005; Wen-Tsien Hong: Friedrich Nietzsche und die Musik im Spiegel der Kompositions- und Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Komposition, Philosophie, Rezeption, Frankfurt a. M. u. a. 2004.
20 Curt Paul Janz: Nietzsche als Überwinder der romantischen Musikästhetik, in: Jörg
Albertz (Hrsg.): Kant und Nietzsche – Vorspiel einer künftigen Weltauslegung?, Wiesbaden 1988, 210.
20
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Die Sprache der Musik und die affektive Natur der Vernunft
Die vorliegende Arbeit beabsichtigt, auf diese Frage eine Antwort
zu geben. Ihr Hauptziel ist es jedoch zu zeigen, wie Nietzsche dem
klassischen Topos der Musik als Ausdruck von Affekten neue Dimensionen abgewinnt, indem er die Musik als eine Sprache zur Bewusstmachung des Unbewussten versteht und auf die affektive Natur der
Vernunft aufmerksam macht. 21 Darüber hinaus soll gezeigt werden,
dass Nietzsches Ausführungen über die Musik in eine umfassende kulturanthropologische These über die Natur des Menschen münden, indem sie zeigen, dass die Konfrontation mit dem ungegenständlichen
und affektiven Element der Musik dazu beitragen kann, Nietzsches
Bild des Menschen als einem nicht festgelegten Wesen im Werden zu
begreifen.
Ein kurzer Überblick über die Philosophie der Musik soll im ersten
Teil der Arbeit mit dem klassischen Topos der Musik als Sprache der
Affekte vertraut machen. Dazu soll zuerst der antike Begriff der Musik
skizziert werden, der die Musik von der Sprache noch nicht trennt und
die gesamte geistige Tätigkeit des Menschen erschließt. Am Beispiel
von Kant, Hegel, den Frühromantikern und Schopenhauer wird dargestellt, wie sich die Philosophie vor Nietzsche am Paradigma der ›absoluten Musik‹ mit der Eigenartigkeit der musikalischen Form auseinandersetzt. Der Blick auf die musikphilosophische Tradition soll
zum besseren Verständnis von Nietzsches Ansatz beitragen, der diese
Tradition dramatisiert und ihre Positionen prüft, obwohl dies rein auf
der Ebene gedanklicher Analogien und – außer im Falle Schopenhauers
– nicht auf eine rezeptionsadäquate Weise geschieht.
Im zweiten Teil der Arbeit wird untersucht, wie der klassische
Topos von der Musik als Sprache der Affekte von Nietzsche rezipiert
wird. Es soll gezeigt werden, wie Nietzsche seine grundlegende philosophische Methode des Perspektivismus in die Musikästhetik überträgt, indem er diesen Topos aus drei verschiedenen Perspektiven, einer
metaphysischen, einer historisch-genealogischen und einer physiologischen, beleuchtet, wobei jede Perspektive einer seiner drei Werkphasen entspricht. Deswegen sollen die Texte Nietzsches ausgehend von
Wenn die Rede von einer Bewusstmachung des Unbewussten ist, geht es hauptsächlich um eine Perspektivierung und nicht um die Entzifferung des Unbewussten. Vgl.
dazu ausführlich: Günter Gödde: Nietzsches Perspektivierung des Unbewußten, in
Nietzsche-Studien 31 (2002), 154–194. Zum Nietzsches Begriff des Unbewussten siehe
auch: Erwin Schlimgen: Nietzsches Theorie des Bewusstseins, Berlin/New York 1999.
21
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Einfhrung
der in der Nietzscheforschung gängigen Einteilung seines Schaffens in
drei Phasen analysiert werden: einer ersten, an der Metaphysik Schopenhauers orientierten Phase (1871–1876), einer zweiten Phase unter
dem Primat einer objektiven Kritik an metaphysisches Denken (1876–
1882) und einer letzten, radikal antimetaphysischen Phase (1883–
1889). Diese Phasen sind in systematischer Hinsicht miteinander verflochten und voneinander bedingt, weshalb jede zugleich auch auf die
anderen verweist. Schließlich zeigt sich laut Karl Jaspers »eine Verwandtschaft aller Perioden dadurch, daß immer schon da ist, wenn
kaum merklich, was nach seinem eigentlichen Ausmaß erst später zu
kommen scheint, und daß auch das bleibt, was vorher war«. 22 Die chronologische Untersuchung soll trotz allen Brüchen und Differenzierungen eine Kontinuität im musikalischen Denken Nietzsches nachweisen.
Dabei wird der Metaphorik Nietzsches besondere Aufmerksamkeit geschenkt, denn Nietzsche verfügt über die seltene Gabe, schwierige
Konzepte durch eine metaphorische Sprache zu veranschaulichen. Vor
allem bei Inhalten, die über das Begriffliche hinausgehen, operiert er
mit Metaphern, die Hans Blumenbergs Konzept der ›absoluten Metapher‹ nahekommen.
Bei der Behandlung der ersten Phase und der metaphysischen Perspektive soll zunächst auf theoretischer Ebene gezeigt werden, wie
Nietzsche Schopenhauers eigene, zugespitzte Umschreibung der klassischen Auffassung der Musik als Sprache der Affekte, also seine Willenssymbolik der Musik, umkehrt und die Musik als Sprache einer
»unendlichen Verdeutlichung« interpretiert. Dann soll auf praktischer
Ebene untersucht werden, wie er die Musik unter dem Primat der praktischen Vernunft als Mittel zur Lösung des Problems des Historismus
engagiert, wobei die musikalische Metaphorik und das SynkretismusModell sich als wichtige methodologische Instrumente erweisen.
In der Besprechung der zweiten Phase soll Nietzsches Kritik an
der romantischen Auffassung der Musik, der er jetzt die Willensymbolik Schopenhauers zuschreibt, aus historisch-genealogischer Perspektive untersucht werden, wobei der systematisch-genealogische Zusammenhang zwischen Musik und Religion im Zentrum steht.
Außerdem ist zu zeigen, inwiefern die ›absolute Musik‹ als Erbin der
Religion eine wichtige Rolle übernehmen kann.
Karl Jaspers: Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin/New York 1974, 46.
22
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Perrakis (48448) / p. 23 /1.3.2011
Die Sprache der Musik und die affektive Natur der Vernunft
Bei der Besprechung der dritten Phase soll Nietzsches Ausgehen
von der ›großen Vernunft des Leibes‹ – Nietzsches Inbegriff der affektiven Natur der Vernunft – und die Annahme einer physiologischen
Perspektive als Rückkehr zur Willenssymbolik der Musik interpretiert
werden, die Schopenhauers Ansatz auf kongeniale Weise vollendet.
Abschließend soll die musikalische Metaphorik anhand einer
kaum beachteten Passage in Ecce Homo erneut eine wichtige Rolle
spielen, denn die aus den Texten der Frühromantiker bekannte Instrumentmetapher kann helfen, die anthropologische These Nietzsches
über das Wesen des Menschen als dem »n o c h n i c h t f e s t g e s t e l l t e [ n ] T h i e r « (KSA, JGB, 5, 81) zu deuten.
So versteht sich diese Studie als ein Versuch, Nietzsche als Klassiker der Philosophie der Musik zu profilieren und zwar nach dem Maßstab seiner eigenen Deutung des Klassischen: »Um Classiker zu sein,
muß man a l l e starken, anscheinend widerspruchsvollen Gaben und
Begierden haben: aber so daß sie mit einander unter Einem Joche gehn«
(KSA, NF, 12, 433)
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Perrakis (48448) / p. 24 /1.3.2011
2. Philosophie der Musik
2.1. Mousikffi als Einheit von Wort und Ton.
Der antike Begriff der Musik
Man verbindet die altgriechische Zivilisation mit dem Paradigma der
plastischen Kunst, insbesondere der Skulptur, und denkt dabei wenig
an die Wichtigkeit der Musik. Tatsächlich aber war die Musik wesentlich bedeutender. Es fällt auf, dass es keine Musen für die plastischen
Künste gab und anders als für die Musik nur wenige theoretische Texte
über die plastischen Künste existieren.
Das von den Musen abgeleitete Wort ›mousikffi‹ hatte in der griechischen Antike eine sehr breite Bedeutung. Es bezeichnete nicht nur
die Kunstgattung Musik und die Musikwerke, sondern auch die »musische Erziehung durch musische Betätigung«. 1 Anders ausgedrückt,
stand das Wort Musik für nahezu alles, was die Ausbildung des Geistes
betraf.
Platon stellt im attischen Bildungssystem sogar die mousikffi der
Gymnastik gegenüber. Einerseits gab es die sportlichen Disziplinen zur
Ertüchtigung des Leibes, andererseits alles, was man als ›mousikffi‹ bezeichnete und die Einheit von Dichtung, Tanz und Tonkunst umfasste. 2
Dabei ist unbedingt zu berücksichtigen, dass Musik und Sprache
zwischen dem 6. und 4. Jahrhundert v. Chr. untrennbar waren und der
Begriff Musik mithin eine Einheit von Musik und Wort umfasste. 3
Doch auch wenn die Musik keine autonome Kunst im westlichen Sinne
war, wurde, wie Thrasybulos Georgiades schreibt, die »Einbindung der
Thrasybulos Georgiades: Musik und Rhythmus bei den Griechen. Zum Ursprung der
abendländischen Musik, Hamburg 1958, 45.
2 Zu diesen Ausführungen vgl. G. Scholtz.: Artikel: Musik, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel u. a. 1984, 242.
3 Für diese Tendenz stehen exemplarisch die Arbeiten von Thrasybulos Georgiades:
Nennen und Erklingen. Die Zeit als Logos, Göttingen 1985, 188 f.; Musik und Rhythmus bei den Griechen, 41–48.
1
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Der antike Begriff der Musik
Musik in ein ›polyästhetisches Ensemble‹ wie es im Begriff der mousiké als Einheit von Gesang, Tanz und musikalischer Begleitung ausgedrückt war, […] im Lauf des 5. Jahrhunderts abgelöst durch die freiere Entwicklung der solistischen Instrumentalmusik.« 4
Diese durch die Emanzipation der Instrumentalmusik im 19. Jahrhundert intensivierte Trennung von Musik und Wort wurde schon in
der Antike für ein Problem gehalten, welches die sittliche Einheit des
Menschen gefährdete, da die Musik allein eine unkontrollierte Bewegung der Affekte verursachte. Das ist schon bei Platon zu merken. Platon hat der Musik kein eigenes Werk gewidmet. Trotzdem finden sich
überall in seinen Schriften Gedanken über die Musik, die jedoch ein
sehr ambivalentes Bild ergeben. So wird die Musik an einigen Stellen
als das schlechthin Höchste erachtet, indem sie mit der Philosophie
identifiziert wird (Phaidon 61 a), und an anderen (z. B. Politeia 424 b–c)
als Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung verworfen.
Was von Platons Auseinandersetzung mit der Musik allgemein
bekannt ist, sind die Ethoslehre und die damit verbundene Kulturkritik. Die Musik als Mimesis menschlicher Charaktere baut die Sittlichkeit des Menschen auf. Das bedeutet, dass es eine ontologische Sphäre
des Wahren und Guten gibt, die die irdische Kunst nachahmen muss,
wobei Nachahmung hier kein strenges Vorbild-Abbild Verhältnis
meint. Mimesis war eine lebendige Darstellung und keineswegs eine
im malerischen Sinne treue Abbildung. Wäre Mimesis photographische Abbildung der Wirklichkeit, wäre die Mimesis von Charakteren,
die als Vorstellungen von Personen unsichtbar sind, nicht möglich. 5
Insofern ist die Musik – gerade weil sie keine Nachahmung ist – dem
antiken Begriff von Mimesis im Sinne einer lebendigen Darstellung
näher.
Als Mimesis von Charakteren ist die Musik in Platons Vorstellung
von einem ethischen Standpunkt her sehr wichtig, denn insofern die
Musik gute oder schlechte menschliche Charaktere nachahmen kann,
kann sie diese auch gefährden. Platon wendet sich gegen die freie instrumentale Musik, die zu seiner Zeit zunehmende Bedeutung gewann, und verurteilt sie als Gaukelei und Abirrung von den Musen
Thrasybulos Georgiades: Musik und Rhythmus bei den Griechen, 118.
»Die moderne Nachahmungstheorie mit ihrem Vorbild-Abbildlichem hat jene griechische Einsicht deformiert«. Dorothea Glatt: Zur geschichtlichen Bedeutung der Musikästhetik Eduard Hanslicks, Heidelberg 1969, 19.
4
5
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Philosophie der Musik
(Gesetze II. 670 a). Platon interessiert jene Musik, welche die besten
Vorbilder auf die beste Art und Weise nachahmt. Genuss ist ihm nicht
nur unwichtig, sondern sogar hochgradig verdächtig. Moralisches und
ästhetisches Urteil kommen überein: Nur ein sittliches Werk kann
schön sein.
Platon verlangt von der Musik einen sittlichen, vom Logos begreifbaren Sinn (Gesetze II. 660 b–670 a). Das Melos der Musik soll
einer ethischen Prüfung unterliegen, da jede Harmonie ein Ethos, eine
seelische Gesinnung repräsentiert, welche die klingende Musik dem
Hörer einprägt. Platon ist gegenüber der Musik, die kein Text begleitet,
sehr skeptisch, denn eine Musik ohne Text verweist auf nichts Konkretes, sondern bleibt interpretationsoffen und entzieht sich der Kontrolle
des Logos. An dieser Stelle zeigt sich in paradigmatischer Weise das
Problem der Philosophie mit der Unbildlichkeit der Musik, die erst
durch einen außermusikalischen Inhalt ›nützlich‹ oder zumindest
›sinnvoll‹ sein sollte.
Platon fühlt sich verpflichtet, die Musiktradition zu durchmustern, um die verderblichen Instrumente und Gattungen auszuscheiden
und zu bestimmen, welche Musik dem Ideal seiner Politeia entsprechen
würde (Politeia III. 318 c–399 c). Wie die Mythen zeigen, ist die Macht
der Musik als Bewegung der Affekte so groß, dass sie der Begrenzung
des Gesetzes bedarf. Wenn die Bewegung der Seele, wie Platon mit den
Pythagoreern annimmt, mit der musikalischen Bewegung korrespondiert, ist die Musik unmittelbar mit der Eigenschaft des Menschen als
Bürger verknüpft. Sittliche Musik erzieht die Bürger und stabilisiert
den sittlichen Staat, während Änderungen der Tongeschlechter die
staatliche Ordnung gefährden können (Politeia IV. 424 c). Allein in
diesem Punkt wird sofort sichtbar, wie ernst Platon die Musik als Sprache der Affekte nimmt und versucht sie unter die Kontrolle des Logos
zu bringen.
2.2. Kant und die Rtselhaftigkeit der Affekte
Eine Einheit von Musik und Sprache, wie die Antike sie dachte, findet
sich auch in der neuzeitlichen Philosophie. Allerdings wird diese Einheit in der Neuzeit erst auf dem Umweg einer formalen Trennung erreicht, nämlich indem man Musik und Sprache zunächst als zwei Einzelphänomene betrachtet, um dann ihre Gemeinsamkeiten zu finden.
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Kant und die Rtselhaftigkeit der Affekte
Ganz gleich wie autonom eine Erscheinung ist, – wenn man sie als
Mitteilung wahrnehmen will – muss man sie in Analogie mit der Sprache denken. So geht beispielsweise Kant vor, wenn er die schönen
Künste nach Wort, Gebärde und Ton oder Modulation einteilt. In seinem Prinzip der »Analogie der Kunst mit der Art des Ausdrucks, dessen sich Menschen im Sprechen bedienen, um sich, so vollkommen als
möglich ist, einander, d. i. nicht bloß ihren Begriffen, sondern auch
Empfindungen nach mitzuteilen«, wird die Wichtigkeit deutlich, die
er dem Mitteilungsmoment in der Kunst zuschreibt. 6
Nach diesem Prinzip unterscheidet Kant zwischen drei Arten von
schönen Künsten: die redende Kunst (Rhetorik und Dichtkunst), die
bildende Kunst (Plastik und Malerei) und die Kunst des »Spiels der
Empfindungen«. 7 Als solche ist die Musik die »Sprache der Affekte«, 8
und folglich mehr »Genuß als Kultur«, 9 denn das von ihr erregte Gedankenspiel ist bloß assoziativ. Der anschauungslose Inhalt der Musik
ist nicht begrifflich darstellbar. Obwohl Kant die Musik aus diesen
Gründen weit unten in der Hierarchie der Künste ansiedelt, macht er
auf einige sehr wichtige Punkte aufmerksam, die explizit zeigen, wieviel Kultur in diesem Genuss steckt.
Zuerst weist Kant die Musik dem Bereich des Gemüts zu. Seine
Bemerkung aber, dass die mathematische Grundlage der Musik in keiner Weise mit dem Bereich des Gemüts in Zusammenhang steht, darf
nicht unberücksichtigt bleiben. 10 Denn er ist vielleicht der erste, der auf
einen der Musik inhärenten Widerspruch so deutlich – obwohl auf implizite Weise – aufmerksam gemacht hat. Einerseits verfügt die Musik
als solide Konstruktion über die Vollkommenheit der Zahlen, andererseits erzeugt sie eine skandalös abstrakte Wirkung im Gemüt, die nicht
definiert werden kann. Kurz gesagt: Die Musik mag noch so logisch
konstruiert sein, ihre Wirkung ist von außen her (objektiv) nicht rational begründbar.
Trotzdem lässt sich der Reiz der Musik nach Kant allgemein mitteilen. Dafür braucht er eine Analogie mit der tönenden Sprache, denn
die allgemeine Mitteilbarkeit der Musik beruht darauf,
Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Hamburg 2003, § 51, 211.
Ebd., § 51, 211, 216, 218.
8 Ebd., § 53, 222.
9 Ebd.
10 Ebd., 224.
6
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Philosophie der Musik
daß jeder Ausdruck der Sprache im Zusammenhange einen Ton hat, der dem
Sinne desselben angemessen ist; daß dieser Ton mehr oder weniger einen
Affekt des Sprechenden bezeichnet und gegenseitig auch im Hörenden hervorbringt, der denn in diesem umgekehrt auch die Idee erregt, die in der
Sprache mit solchem Tone ausgedrückt wird; und daß, so wie die Modulation
gleichsam eine allgemeine jedem Menschen verständliche Sprache der Empfindungen ist, die Tonkunst diese für sich allein in ihrem ganzen Nachdrucke,
nämlich als Sprache der Affekte ausübe […] 11
Die Bedeutung dieser Passage liegt in der Erläuterung der Musik durch
eine Analogie mit der Mitteilbarkeit der Sprache. Die Musik scheint die
Form der Sprache ohne deren Inhalt zu haben, daher lässt sich die Musik als affektive Sprache ohne Worte denken. Die Affekte als Mitteilungen bleiben ohne Inhalt, bloße Formen der Mitteilungen. Was Kant
also als das Spiel der Affekte bezeichnet, ist nichts anderes als die musikalische Form der Sprache, als wären die Worte die Interpretationen
der Affekte, die in der Musik als ›ästhetische Ideen‹, nämlich als Vorstellungen der Einbildungskraft funktionieren, die viel zu denken geben. 12 Sprache und Musik stehen in einer wechselseitigen Abhängigkeit: Die Musik bildet die vorsprachliche, affektive Ebene der Sprache,
besitzt jedoch zugleich selbst eine sprachliche Form. Dieser Punkt ist
sehr wichtig, denn er verweist auf die Rolle der Musik in der Genealogie der Sprache. Durch die Analogie der Musik mit dieser affektiven,
klingenden Ebene der Sprache lässt sich die Musik als Sprache vor der
Sprache oder als ursprünglichere Sprache bezeichnen. 13
Eine letzte Bemerkung, die hinsichtlich ihrer Konsequenzen wesentlich ist, ergibt sich aus der Kombination der mathematischen
Grundlage der Musik mit dem assoziativen Spiel der Empfindungen,
das ästhetische Ideen, aber keine Begriffe hervorbringen kann, denn
aufgrund dieser Kombination führt die Musik »die ästhetische Idee
eines zusammenhängenden Ganzen einer unnennbaren Gedankenfülle« mit sich. 14 Die Musik bringt folglich nicht nur ästhetische Ideen
hervor, sondern auch die Idee einer ästhetischen Idee selbst und wird
so zum wichtigen ›Gedankenstimulans‹ für das Subjekt! Mit Rückgriff
auf die Analogie von Musik und Sprache, ließe sich nun behaupten,
Ebd., 222 f.
Vgl. ebd., Kritik der Urteilskraft, § 49, 202.
13 Die musikalische Genealogie der Sprache ist ein allgemeiner Topos der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.
14 Ebd., 223.
11
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Kant und die Rtselhaftigkeit der Affekte
dass die Musik die Idee einer ganzen Sprache hervorbringe, denn wie
sonst wäre ein zusammenhängendes Ganzes einer unnennbaren Gedankenfülle zu interpretieren? Außerdem darf man nicht vergessen,
dass ›ästhetisch‹ sich nicht primär auf das Urteil des Schönen bezieht,
sondern ›aus den Sinnen kommend‹ heißt und demnach der Terminus
›ästhetische Idee‹ nichts anderes bedeutet, als dass die Sinne Ideenträger sind. Da die Musik in die innere Welt eindringt, vermag sie die
Sinnlichkeit des Menschen auf eine besonders intensive Weise zu mobilisieren, so dass sie eine Vielfalt von Ideen hervorbringt. Dies ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass das Hervorbringen einer
Vielfalt von Ideen individuell ist, denn die Sinne werden in jedem Individuum auf eine unterschiedliche Weise mobilisiert.
Erstaunlich ist allerdings bei Kant die Tatsache, dass er die Musik
nicht mit dem Phänomen des Erhabenen in Zusammenhang bringt.
Durch das Moment der ›negativen Lust‹, das er dem Erhabenen zuschreibt, hätte er die abstrakte Bewegung der Musik im Gemüt beschreiben können, denn die negative Lust ist genau deshalb negativ,
weil es keinen das Gefühl der Größe vermittelnden Begriff gibt. 15 Betrachtet man allein die Tatsache, dass diese Gedankenfülle das negative
Attribut »unnennbar« trägt und diese unnennbare Gedankenfülle in
einem zusammenhängenden Ganzen sofort auf das Mathematisch-Erhabene verweist, wäre zu fragen, ob »die ästhetische Idee eines zusammenhängenden Ganzen einer unnennbaren Gedankenfülle« nicht
durchaus erhaben ist. Betrachtet man nun den ganzen Satz, dass »die
ästhetische Idee eines zusammenhängenden Ganzen einer unnennbaren Gedankenfülle« ein – wie Kant das Erhabene charakterisiert –
»übersinnliches Substrat« ist, 16 wäre zu fragen, ob die klingenden
Empfindungen in der Sprache nicht das affektive Substrat der Sprache
sind.
Ein Zusammenhang zwischen Musik und dem Phänomen des Erhabenen verliehe der Musik eine metaphysische Würde, die allerdings
begrifflich nicht begründbar wäre, denn Kant sieht die Kunst als Objekt, um sie mit der transzendentalen Erfahrung zu verbinden. Der
eigentliche Grund aber ist systematischer Natur, denn bei Kant ist der
Bereich der Kunst das Schöne und nicht das Erhabene. Das Phänomen
15
16
Vgl. ebd. § 27, 127 f.
Ebd. § 26, 120.
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Philosophie der Musik
des Erhabenen hingegen wird nicht mit der Kunst, sondern allein mit
der Natur in Zusammenhang gebracht.
2.3. »Abstrakte Subjektivitt«. Die Stellung der Musik bei Hegel
Für Hegel ist die Musik die romantische Kunst schlechthin, da sie »sich
das Subjektive als solches sowohl zum Inhalte als auch zur Form
nimmt«. 17 Zentral für Hegels Musikphilosophie ist die Rolle der Subjektivität, denn die Form der Musik ist auf eine ›negative‹ Weise subjektiv; sie verfügt nicht über Objektivität, da sie keine Existenz im
Raum hat, wie z. B. eine Skulptur oder ein Gemälde. Ihr Dasein hängt
ausschließlich von der akustischen Rezeption durch ein Subjekt ab. Die
Musik bleibt »in ihrer Objektivität selber subjektiv«. 18 Dieser Satz ist
eine implizite Anerkennung der These, nach der der Gegenstand der
Musik die Affekte sind, denn nur sie können aufgrund ihrer zeitlichen
Beschaffenheit in ihrer Objektivität selber subjektiv sein.
Tatsächlich hängt die Subjektivität in der Musik damit zusammen,
dass die Musik die Kunst der inneren Empfindung der Zeit ist. Die
Musik ist auf unsichtbare Weise im Raum ausgedehnt, und aus diesem
Grund ist bei ihr keine Anschauung möglich. Allein mittels seiner eigenen Subjektivität vermag der Mensch der Musik einen Sinn zukommen zu lassen. Denn die Aufgabe der Musik besteht darin, »die Art
und Weise widerklingen zu lassen, in welcher das innerste Selbst seiner
Subjektivität und ideellen Seele nach in sich bewegt ist«. 19
Für Hegel ist das formelle Element der Musik die gegenstandslose
Innerlichkeit und ihr Inhalt das innerste subjektive freie Leben. Gegenstandslosigkeit darf allerdings keineswegs mit Gehaltsleere identifiziert werden. Musik vermag die substantielle innere Tiefe eines Inhalts
als solchen in die »Tiefen des Gemüts« eindringen lassen. 20
Bedenkt man nun die These Kants, dass die Musik die ästhetische
Idee einer unnennbaren Gedankenfülle in sich schließt, kann diese ästhetische Idee keine andere als die von Hegel angesprochene »abstrakte
17
18
19
20
G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III, Franfurt a. M. 1986, 133.
Ebd.
Ebd., 135.
Ebd. 136.
30
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