Leseprobe aus Neue Zeitschrift für Musik 1/2008 © Schott Music, Mainz 2008 ■ THEMA bewegung oder stillstand? DAS EXPERIMENTELLE ALS ROUTINE UND ESKAPISMUS VON FRIEDER REININGHAUS us dem Verhältnis von (musikalischem) Klang zu Raum und Bewegung resultieren in hohem Maß die Bemessungsgrundlagen für das, was heute hinsichtlich der neuen Musik und dem Musiktheater als «experimentell» angesehen wird. Freilich umschreibt der changierende Begriff kein fest umrissenes (oder gar wissenschaftlich «gesichertes») Terrain. Die Grenzlinien zwischen dem, was bei seinem Erscheinen auf der Bild- und Musikfläche als Experiment wahrgenommen, gerühmt oder geächtet wurde und wird, und dem, was jeweils als konventionell gilt, sind selten so scharf gezogen, wie auf den ersten Blick hin vermutet werden könnte. Allerdings lässt sich cum grano salis festhalten, dass bislang in kompositionsgeschichtlichen Diskursen und Publikationen der Begriff in der Regel enger, hinsichtlich des Theaters weiter gefasst wurde. A PRÄLUDIUM ÜBER EINEN BEGRIFF, DER WEIT MEHR IST ALS EIN BLOSS TECHNISCHER Als terminus technicus taucht das Stichwort «Experimentelle Musik» in der Mitte des 20. Jahrhunderts auf. Es grenzte verschiedene Arten des Komponierens nach 1950 gegen traditionsgebundene Schreibweisen ab. Gemeint waren mit dem Sammelbegriff die nach dem Zweiten Weltkrieg in verschiedenen Ländern Europas und in Nordamerika sich verbreitenden Tendenzen, mit dem musikschöpferischen Akt zugleich Erkundungen über die Struktur des musikalischen Materials und dessen Erweiterungen sowie dessen Verarbeitung, Wirkungsmechanismen bei den Rezipienten und Kommunikationszusammenhänge bzw. -aufkündigungen zu verbinden. Weithin setzte sich dabei die – im Kern keineswegs neue – Überzeugung durch, dass mit jedem einzelnen Werk eine spezifische musikalische oder musikdramatische Problemlösung anstehe und es «Prüfsteine» für das Gelingen oder Scheitern der Modelle geben müsse. Diese keineswegs homogene Auffassung wirkte in der Sphäre der Musique concrète und der Lautkompositionen wie bei der Entwicklung der Elektronischen Musik, etwas später bei der Computermusik. Gleichfalls bei den keiner der klassischen Kunstsparten allein oder eindeutig zuzuordnenden Multimedia-Kreationen und bei mehr oder minder musikalischer Organisation des Raums. Zugleich in neuen Ansätzen für Musiktheater, bei denen tradierte Erzählhaltungen und -formen aufgegeben, szenische Ereignisse nicht nach Handlungslogik, sondern nach musikalischen oder ZufallsPrinzipien strukturiert erschienen oder bei denen Musik und ihre Hervorbringung theatralisiert wurde bzw. Theatervorgänge durchgängig musikalisiert wurden. Hier aber zeichnete sich definitiv ab, dass experimentelle Verfahren keineswegs nur aus musikalischer Reflexion und Technik resultieren, sondern dass durchaus außermusikalische Antriebsfedern wirksam werden, dann auch mit den genuin musikalischen kollidieren konnten und wollten. Zu der hier gemeinten Zufuhr gehörten z. B. Theaterpraktiken, wie sie in den 1960erJahren aus den USA nach West- und Mitteleuropa vordrangen: von Living Theater, Performance- und Fluxus-Bewegung bis zu Robert Wilsons Einstein on the Beach oder Death, Destruction, Detroit. Dann auch filmische Methoden, insbesondere Montage-Prinzipien (und keineswegs nur die von Dsiga Wertow und Sergej Eisenstein in der Sowjetunion entwickelten); überhaupt so manches von dem, was seit den 1920er-Jahren diesseits und jenseits des Ozeans unterm Signum des Experimentellen Films sich aufgetan hatte (Abel Gance, Germaine Dulac, Ferdinand Léger, René Clair, Luis Buñuel etc.). Insbesondere auch Stichworte und Verfahrensweisen der sich seit den heroischen Tagen des Surrealismus herausbildenden experimentellen Dichtung (also: Hugo Ball, Gertrude Stein, James Joyce, später Michel Butor, Ernst Jandl, Helmut Heißenbüttel etc.) – solche literarischen Vektoren wirkten erheblich im großen Auflösungs- und Verfransungsprozess der traditionellen Kunst-Genres seit den 1960er-Jahren. Schließlich, nicht zu vergessen, so manches, was Pioniere der Bildenden Kunst vom Surrealismus an, dann auch unterm Signum eines abstrakten Expressionismus anregten (angefangen von Wassily Kandinsky, Willem de Kooning, Robert Motherwell, Franz Kline) oder Action Painting (Jackson Pollock): All dies sorgte für ein Aufbruchs- und Reizklima, für Ausscheren aus den hergebrachten Handwerksbahnen und für «Provokationsmodelle», die gerade auch Komponisten wie Tänzer oder Regisseure immer wieder in den Opernund Tanzbetrieb geschmuggelt, geladen oder gebombt haben. Allein aus Entwicklungstendenzen von erweitertem Material und Technik ließ und lässt sich nicht erklären, was sich gerade in den 1960er-Jahren bewegte. 25 Das Bewusstsein vieler Künstler «politisierte» sich, künstlerische Produktion wurde gesellschaftlich reflektiert, nicht zuletzt als Ferment und Agens einer großen «linken» sozialen Bewegung begriffen. Freilich hat alle künstlerische Produktion nicht nur ein Selbstverständnis und gegebenenfalls ästhetischen Pioniergeist, sondern auch eine materielle Basis. So ist nicht zu verkennen, dass so gut wie alles, was sich seit den ersten Radio-Opern mit dem Etikett des Experimentellen schmückt, eingebunden war und ist in den revolutionären Prozess technischer Errungenschaften im 20. Jahrhundert, in den Kontext der in dieser Ära ausgeprägten Kulturindustrie sowie deren Ergänzungen bzw. Korrektive durch finanzielle und administrative Eingriffe der öffentlichen Hände. Anders als unter Einbeziehung soziologischer Deutungsmuster scheint der Entwurf einer Topografie der komplexen Felder des experimentell Neuen in den 1960er- und 70er-Jahren wenig sinnvoll. Vieles von dem, was sich da im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ereignete, vollzog sich – in ersichtlicher Weise – nicht voraussetzungslos. Mithin standen die AvantgardeKonzepte wenigstens seit den kunstrevolutionären Umbrüchen um das Jahr 1910 und nach 1918 zur Diskussion, da sie in aller Regel einzelne oder mehrere Faktoren dessen, was sich dann in der zweiten Jahrhunderthälfte selbst als «experimentell» definierte, einschlossen (oder überhaupt hervorgebracht hatten). KLEINE ARIE ÜBER DIE NÖTIGUNG ZUM EXPERIMENT 26 In einer Grundsatzdebatte über Zustand und Perspektiven der experimentellen Dichtung setzte sich Hans Magnus Enzensberger 1962 in seinem Essay «Die Aporien der Avantgarde» scharfzüngig mit Helmut Heißenbüttel auseinander, der seine Position 1963 zusammenfasste unter der Überschrift «Was bedeutet eigentlich das Wort Experiment?» Enzensberger kritisierte die Unverbindlichkeit der künstlerischen Hervorbringungen, die den Anspruch des Experimentellen mit einem Rückzug auf die Ebene des «reinen» (Sprach-)Materials zu verbinden suchten. Dabei tragen die Vorstellungen von «reinem Material» oder «Musik an sich» etc. zumindest leicht skurrile Züge, die wenig mit den realen Verhältnissen in Literatur und Musik oder gar Literatur- und Musikbetrieb zu schaffen haben (wollen). Über «die Musik als Wert an sich» machte sich bereits Thomas Mann in den Buddenbrooks diskret lustig – und der Philosoph Ernst Bloch diagnostizierte: «Keine Kunst ist so sehr sozial bedingt wie die angeblich selbsttätige, gar mechanisch selbstgerechte Musik; es wimmelt in ihr von historischem Materialismus» und eben von historischem. Auf Enzensbergers Intervention reagierte Theodor W. Adorno mit einem Passus seiner Ästhetischen Theorie, die posthum 1970 publiziert wurde: «Das Gewalttätige am Neuen, für welches der Name des Experimentellen sich eingebürgert hat, ist nicht der subjekti- ven Gesinnung oder psychologischen Beschaffenheit der Künstler zuzuschreiben. Wo dem Drang kein an Formen und Gehalt Sicheres vorgegeben ist, werden die produktiven Künstler objektiv zum Experiment gedrängt. Der experimentelle Gestus, Name für künstlerische Verhaltensweisen, denen das Neue das Verbindliche ist, hat sich erhalten, bezeichnet aber jetzt, vielfach mit dem Übergang des ästhetischen Interesses, von der sich mitteilenden Subjektivität an die Stimmigkeit des Objekts, ein qualitativ Anderes: dass das künstlerische Subjekt Methoden praktiziert, deren sachliches Ergebnis es nicht absehen kann.»1 Tatsächlich nähert sich dergestalt das musik(theatra)alische «Experiment» dem naturwissenschaftlichen: Der Vorgang ist, bei aller betriebsbedingten Determination, ergebnisoffen. So wie die experimentelle Musik nach einer von Jürgen Maehder geprägten sehr allgemeinen Formel «schöpferischer Reflex der gewandelten technischen Bedingungen, unter denen Musik produziert und konsumiert wird»2 ist, so erscheint doch evident, dass die Arbeiten des experimentellen Musiktheaters – von theatralisierter Musik bis zum Klang-Environment und verschiedenen Spielarten multimedialen Komponierens – die traditionellen Organisationsformen musikalischer Vermittlung (wie Oper und Konzert) längst nicht mehr «sprengen» und, wie Maehder meinte, «kraft ihrer Individualität neue Organisationsformen musikalischer und nichtmusikalischer Kommunikation» verwirklichen, sondern längst vom innovationshungrigen Betrieb eingemeindet und dadurch immer wieder auch domestiziert wurden. Mit der «Individualität neuer Organisationsformen musikalischer und nichtmusikalischer Kommunikation» ist es, im Lichte der auch unter Komponisten und Regisseuren grassierenden Modewellen, nicht so weit her, dass wir «Individualität» wie Hostien vor uns hertragen sollten. Dass aber «das künstlerische Subjekt Methoden praktiziert, deren sachliches Ergebnis es nicht absehen kann,» wie Adorno schrieb, hat gesellschaftliche Voraussetzungen – zuvorderst ökonomische. Wenn am Produktionsprozess mehr Menschen beteiligt sind als ein einzelner, auf künstlerische Erwerbstätigkeit nicht angewiesener Akteur – also z. B. einige «Lohnabhängige» – bedarf dies in der Regel finanzieller Mittel, die nicht vom Projekt selbst «erwirtschaftet» werden und «analog zu naturwissenschaftlichen Versuchen» einer «geschützten» Sphäre. So fanden und finden experimentelle Entwicklungen statt unter Bedingungen und in einer Form, unter denen sie in einem «freien Markt» nicht vonstatten gingen – zumindest eben nicht in der Art und den Formen, zu denen sie subventionierte oder teilsubventionierte Produktionsverhältnisse befähigen. Aber gerade diese sind nun auch nicht gerade das «Reich der Freiheit» schlechthin, sondern bekanntermaßen von tausend Auflagen und Einreden, Einschränkungen und Rücksichtnahmen gegängelt … … mehr erfahren Sie in Heft 2008/01