Abstracts der Tagungsbeiträge zu SONETT

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Abstracts der Tagungsbeiträge zu
SONETT-KÜNSTE: MEDIALE TRANSFORMATIONEN EINES KLASSISCHEN GENRES
5. - 7. NOVEMBER 2009 — UNIVERSITÄT ERLANGEN
(In alphabetischer Reihenfolge)
Prof. Dr. Tatiana Andreyushkina, Togliatti (Russland)
Kunst-Sonette von Genrich Sapgir
Das Thema der Kunst ist für Genrich Sapgir (1928-1999) von Bedeutung, wie es von großem
Belang auch für die meisten russischen Sonettisten war. In seinen Sonetten behandelt er
Mythologie und antike Kunst, Städte als Artefakte, Architektur und Malerei, Literatur und Poesie,
Musik und Ballett. Z.B. seine Sonette Fries 1, der zerbrochene und Fries 2, der wiederhergestellte
bilden ein Diptichon und präsentieren die Verbindung von Architektur und Dichtung. Sapgir
entwickelte unter anderem das Genre des "leeren" Gedichts (vgl. deutsche Konkrete Poesie, aus
der er übersetzte, oder Malewitschs Schwarzes Quadrat, das seine visuellen Gedichte beeinflusste),
wo die Leere kein Nichts sei, sondern "ein weißer Fleck, der lebt und vibriert" (Sapgir). Leere
Sonette von Sapgir sind Beispiele seiner „malerischen“ Gedichte. Sonette von Sapgir eignen sich
Züge von Theater-, Graphik-, Tanzkunst- und Musikdiskursen an. In manchen seiner Gedichte gibt
er Kommentare in Klammern (als Autoranweisung des praktizierenden Dramatikers), andere Texte
bestehen nur aus Interpunktionszeichen oder pseudosprachlichen Zeichen (wie bei Valeri
Scherstjanoi), von W. Melnikow-Storquist "Psychographik" genannt und als "Meditänze" übersetzt.
Großen Wert legte Sapgir auf Zyklen, Serien und Wiederholungen, die er nicht nur graphisch,
sondern auch intonatorisch variierte (wie Ernst Jandl war Sapgir ein vortrefflicher Rezitator seiner
Werke). Sapgirs Sonettistik ist gekennzeichnet durch den Lakonismus des Sonetts und seine
Spielformen, Strenge der Komposition, Originalität des Reims, Lebendigkeit der Sprache. Als
Dichter war Sapgir gegenüber allen -Ismen der modernen Literatur offen (Avantgardismus,
Expressionismus, Sur-realismus und Formalismus) und bediente sich weit der Mittel der
benachbarten Künste.
Dr. Sibylle Baumbach (Stanford, USA)
Bühnensonette im Shakespeare-Theater
Sonett und Drama sind bei Shakespeare eng miteinander verknüpft. Der dramatische Gehalt und
die performative Qualität der Sonette wurden von der Forschung bereits hinreichend thematisiert.
Eine detaillierte Analyse der Sonette im Drama und der über das Sonett ausgelösten Prozesse von
Entkörperung und Verkörperung steht jedoch noch aus. Auf Shakespeares Bühne werden die
Konstruktion, Rezeption und Dekonstruktion des Sonetts als performativer und multimedialer Akt
inszeniert, der in ein komplexes Spiel von graphologischen und physiognomischen ‚Charakteren’
mündet, wobei der er- oder beschriebene Textkörper nicht selten mit dem auf der Bühne
sichtbaren Körpertext in Konkurrenz tritt. Eine Analyse der integrierten, dramatisierten und auch
verhinderten Bühnensonette im Shakespeare-Theater soll Inszenierungsmöglichkeiten und besonderheiten aufzeigen, die Aufschluss darüber geben, ‚how to do things with sonnets.’
Prof. Dr. Andreas Böhn (Karlsruhe)
Das Sonett im World Wide Web: Sonett-Foren im Internet
Sonette finden sich im Internet in unterschiedlichen Formen der medialen Aufbereitung sowie mit
oder ohne Kombination mit interaktiven Zusatzangeboten. Es lassen sich folgende Möglichkeiten
unterscheiden: 1. Seiten, auf denen nur Sonette eingestellt sind, ohne spezifische mediale
Aufbereitung und ohne besondere Diskussions- und Kommunikationsmöglichkeiten; 2. Seiten mit
Zusatzangeboten wie Diskussionsforen, Texten über das Sonett etc.; 3. Seiten mit spezifischer
medialer Aufbereitung von Sonetten, die so nur computerbasiert und/oder im Internet möglich
sind. Im Allgemeinen ist festzustellen, dass Sonette namhafter Autoren, die auch vom Literaturbetrieb beachtet werden, fast nur in Kategorie 1 auftauchen. Kategorie 2 ist die Spielwiese für
Sonett-Amateure, mit teilweise sehr intensiven Diskussionen und Formen der Gemeinschaftsbildung, die ohne das Internet nicht denkbar wären. Hier kommt das Sonett gewissermaßen zu
seinen Anfängen als geselliges literarisches Spiel zurück. Funde in Kategorie 3 sind selten und
bleiben zumeist hinter den im Druck bereits entwickelten spielerischen Möglichkeiten zurück.
PD Dr. Thomas Borgstedt (München)
Dass Sonette visuell und somit auch unabhängig von einer sprachlichen Realisierung medienübergreifend darstellbar und identifizierbar sind, hebt sie von anderen literarischen Formen grundsätzlich ab. Dieses Merkmal ist das Ergebnis ihrer spezifischen mathematischen bzw. numerischen Verfasstheit, die erstmals von August Wilhelm Schlegel systematisch herausgestellt und spekulativ
begründet wurde. Sein numerologisches Erklärungsmodell für die Sonettform erschien zum Teil
sehr überzeugend und wurde ausgesprochen wirkungsvoll für die moderne Sonettentwicklung. Zugleich blieb es aber stets auch problematisch und wirkte unhistorisch und formalistisch. Der Vortrag
zeigt, wie die numerologische Verfasstheit der Form im historischen Kontext der Entstehungssituation des Sonetts am sizilianischen Kaiserhof im 13. Jahrhundert als Ausdruck einer „imperialen
Ästhetik“ begründbar ist, was dies für seine experimentellen Möglichkeiten zur Medienüberschreitung bedeutet, in welcher Hinsicht Schlegel bei seiner Analyse auf dem richtigen Weg war, wo er
sich grundsätzlich täuschte, und was daraus für die moderne Sonettentwicklung folgt.
Prof. Dr. Jörg-Ulrich Fechner (Bochum)
August Wilhelm Schlegels Gemäldesonette
Der Beitrag versucht, die Rolle und Bedeutung August Wilhelm Schlegels für die Entwicklung der
Gemäldesonettistik in der deutschsprachigen Lyrik zu erörtern und an einigen ausgewählten
Beispielen aufzuzeigen und dabei diese Gedichte kulturhistorisch zu interpretieren.
PD Dr. Christine Fischer (Jena)
Sonett und Skulptur im Russischen Silbernen Zeitalter
Im Silbernen Zeitalter (um 1900) ist in Russland eine besondere Affinität zum Sonett zu beobachten. Hiervon legen vor allem die Zyklen Konstantin Bal'monts und Vjačeslav Ivanovs Zeugnis
ab. Dieses ausgeprägte Interesse gründet zum einen in der aus der Romantik übernommenen
Hinwendung zu Italien und zum anderen im symbolistischen Postulat des Gesamtkunstwerks. Das
strenge Kompositionsschema des Sonetts, dem der Dichter im Schaffensprozess unterworfen ist,
wird von Ivan Bunin in V Al'pach (In den Alpen) explizit thematisiert und unmittelbar mit der Arbeit
eines Bildhauers assoziiert. Häufig tritt im Silbernen Zeitalter das Kunsterlebnis als Inspirationsquelle an die Stelle des Naturerlebnisses, so dass manche Sonette geradezu als 'intersemiotische Übersetzungen' betrachtet werden können. Große Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang Vjačeslav Ivanovs Zyklus Rimskie sonety (Römische Sonette) zu, in dem unter
Bezugnahme auf Bernini vor allem Brunnen gestaltet werden. Im Sinne synästhetischer Wahrnehmung werden Statik und Formstrenge des Bildwerks einerseits sowie Dynamik und Klang des
Wassers andererseits zur Synthese geführt. Das Verfahren der 'intersemiotischen Übersetzung'
wird indessen bereits im frühen Symbolismus angewandt. Hier ist beispielsweise Innokentij
Annenskijs Sonett Bronzovyj po÷t (Der Dichter aus Bronze) zu erwähnen, in dem die Puškin-Statue
von Carskoe Selo in das Sprachkunstwerk 'übersetzt' wird. Als entscheidendes Vorbild für dieses
Verfahren nennt Konstantin Bal'mont in seinen Sonetten wiederholt Michelangelo, der in seinem
eigenen Werk Skulptur, Malerei und Dichtung vereint.
Dr. Annette Gilbert (Berlin/Erlangen)
Geliehene Sonette. Appropriationen des Sonetts im Conceptual Writing (Dmitrij Prigov,
Ulises Carrión, Michalis Pichler)
"BORROWED SONNET" heißt das erste Sonett im Zyklus "SONNET(S)" des Buchkünstlers Ulises
Carrión von 1972 – und das ist auch das Stichwort, mit dem sich alle drei Künstler berühmten
Sonetten anderer annähern. Nimmt sich Carrión eines Sonetts des englischen Dichters und Malers
Dante Gabriel Rossetti von 1881 an, so 'leiht' sich der Berliner Künstler Michalis Pichler 2009 in
"SOME MORE SONNET(S)" wiederum diesen Sonettzyklus von Carrión, und der Moskauer
Konzeptkünstler Dmitrij Prigov 'borgt' sich 1992 für seinen Zyklus "Evgenij Onegin Prigova"
("Prigovs Eugen Onegin") Sonette aus Puškins berühmtem Versroman von 1825-1833.
Ausgangspunkt der kreativen Handlung ist in allen drei Fällen das Plagiat, die Kopie, das Zitat, die
Reproduktion, die Paraphrase. Eben diese dezidierte Art der Aneignung ganzer Werke wird häufig
als provokant empfunden, eben durch sie unterscheiden sich diese Strategien künstlerischer
Appropriation von traditionellen 'Praktiken des Sekundären'. Wurden die dabei entstehenden
Irritationen über Begrifflichkeiten wie Original, Kopie, Autorschaft, Intertextualität etc. bisher vor
allem im Kontext der Concept Art und der Appropriation Art der 1970er und 1980er Jahre
diskutiert, gibt das sich in den letzten Jahren als eigenständige Bewegung formierende 'Conceptual
Writing' Anlass, diese Fragen nun auch an die Literatur zu stellen. Zu den "'greatest hits'" (Pichler)
des Conceptual Writing gehören insbesondere kanonisierte literarische Texte wie Shakespeare,
Milton, Mallarmé und Joyce, aber eben auch strenge und alte literarische Formen wie das Sonett.
Prof. Dr. Erika Greber (Erlangen)
Zur Typologie des visuellen Sonetts
Die in der gegenwärtigen Medienära beobachtbare stetige Zunahme visueller Sonette und der dabei
zutagetretende Formen- und Einfallsreichtum fordert dazu heraus, dieses Phänomen genauer zu
bestimmen. Eine konsistente allumfassende Typologie ist allerdings illusorisch, wie bereits die
Typologisierungsansätze zur Konkreten/Visuellen Poesie lehren. Zumal das visuelle Sonett jederzeit
(seit seinen Anfängen vor knapp 700 Jahren) in einem doppelten systematischen und historischen
Gattungs-/Medienkontext steht: dem der Figurendichtung und dem des Sonetts. Zur Frage, wie
diese Parameter interagieren und was das für das Spezialgenre des visuellen Sonetts heißt, kann
eine klassifikatorische Annäherung auf breiter Materialbasis erste Ideen zeitigen.
Dr. Kirsten Kramer (Erlangen)
Ästhetik des Kalküls. Schrift, Geometrie und Architektur im spanischen Barocksonett
Dem Sonett eignet seit seiner Entstehung ein medialer Doppelcharakter, der es im kulturhistorischen Kontext mündlicher, lautsprachlicher und musikalischer Realisierungen einerseits und schriftgebundener graphisch-visueller Konkretisationen andererseits verortet. Gerade die graphische
Gestaltung des Sonetts, die sich aus den spezifischen formalen Gliederungsprinzipien ergibt, ist in
der älteren und neueren Forschung als Ausdruck einer Homogenisierung, Geometrisierung und
Mathematisierung der lyrischen Form gedeutet worden, die diese in einen strukturellen Zusammenhang mit Bauformen und numerischen Konstruktionsgesetzen der Architektur rückt. In der Frühen
Neuzeit gewinnt die Geometrie zugleich den Status eines umfassenden Wissensdispositivs, das die
Matrix für unterschiedliche Künste, Wissenschaften und Techniken bildet und zur Herausbildung
einer die einzelnen Disziplinen übergreifenden ‚Logik’ und ‚Ästhetik des Kalküls’ führt, die maßgebliche Auswirkungen auf die zeitgenössischen literarischen Schriftpraktiken hat. Der Beitrag
möchte im Rahmen der exemplarischen Lektüre ausgewählter Architektursonette des spanischen
Barockdichters Luis de Góngora den medienhistorischen Zusammenhang beleuchten, der in den
Texten zwischen den lyrischen Darstellungstechniken, den formalen Gestaltungsprinzipien des
Sonetts und der frühneuzeitlichen ‚Ästhetik des Kalküls’ hergestellt wird.
Prof. Dr. Reinhard Krüger (Stuttgart)
Das Sonett in der französischen Moderne als skriptographisches Konstrukt
Neben den ungezählten Sonetten, die in regulärer Weise typographisch angeordnet sind, und
jenen, die den visuell graphischen Aspekt der Textsorte ausgiebig herausarbeiten und den Text so
vorführen, daß erkennbar wird, daß ein jedes Sonett sowohl eine Realisierungsform im Medium der
Rede als auch eine Realisierungsform im Medium der Schrift hat, gibt es eine dritte Sorte von
Sonetten, die bisher kaum Gegenstand von Untersuchungen geworden sind: Es handelt sich dabei
um jene Sonette, die ohne das der Textsorte eigene typographische Arrangement, aber auch ohne
jede Unterstreichung des visuellen Aspekts dieser Gattung auskommen. Texte dieser Art findet
man als Binnensonette bei Shakespeare versteckt, wir finden Sie als implizite Sonette, von denen
nur erzählt wird, bei Pietro Aretino. Besonders interessante Varianten davon finden wir jedoch,
wenn ein Autor wie Stendhal von der Verfertigung eines Sonetts berichtet und dann noch zusätzlich
gleich seinen Inhalt referiert. Sonette dieser Art existieren dann nur noch als schriftlich referierte
Textkonstruktionen, die ggf. noch die Spuren der Gattung aufweisen und nur durch intensive
Analysearbeit des Rezipienten als solches zu erkennen sind. Bei all diesen Texten ist der Leser dazu
aufgerufen, sein Wissen auch über die visuelle Gliederung eines Sonetts zum Einsatz zu bringen, da
es ihm andernfalls nicht möglich wäre, die verborgenen Strukturen des Sonetts in solchen Schriftund Textansammlungen zu erkennen. Interpretation heißt hier also auch, den Text einem visuellen
Rearrangement zu unterziehen. Abschließend wird in dem Vortrag das Sonett II von Rimbaud
analysiert, ein Text, der mit den herkömmlichen Verfahren bestenfalls als ein Prosagedicht interpretiert werden könnte. Bei genauerer Untersuchung stellen wir jedoch fest, daß es sich auch dabei
um ein in seinen formalen Qualitäten unendlich transformiertes und zu einem magmatischen
Schriftkonstrukt verwandeltes Sonett handelt.
Prof. Dr. Andreas Mahler (Graz, Österreich)
Atypische Sonette, unsonetthafte Vierzehnzeiler. Beobachtungen zur Gattungsgrenze
Die Definition des Sonetts gilt als gesichert. Gleichwohl gibt es Texte, die, obwohl als Sonett
bezeichnet, sich der Definition entziehen, und solche, die, obwohl sie die Definition einlösen, sich
der Klassifikation widersetzen. Der Beitrag versucht, anhand atypischer Sonetttexte und nicht
sonetthafter Vierzehnzeiler die Grenzen der Gattung – wie möglicherweise des Generischen – zu
erkunden.
Dr. Christine Martin (Tübingen)
Sonett-Vertonungen von Schubert bis in die Moderne
Während das Sonett in der Lyrik des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts eine neue Blüte
erlebte, kann man Gleiches nicht von seiner Präsenz in der Musik dieser Zeit sagen. »Musikalische
Lyrik« – ein von Hermann Danuser geprägter Begriff für die Vertonung von Gedichten – realisierte
sich im 19. Jahrhundert nahezu ausschließlich im Lied, sei es solistisch, sei es mehrstimmig
besetzt. Das ‘Lied‘ als musikalische Gattung implizierte jedoch bestimmte ästhetische Prämissen
bezüglich Form und Charakter, welche mit der formalen und inhaltlichen Struktur eines Sonetts
notwendig kollidieren mussten. Vor allem dem Korsett einer strophischen Anlage, die auch das
‘durchkomponierte‘ Lied in verschleierter oder reduzierter Form häufig beibehielt, widersetzte sich
das Sonett mit seiner Aufteilung in Quartette und Terzette sowie mit den vielfältigen Möglichkeiten
seiner Reimbindungen. Damit widersprach es der beabsichtigt simplen und per definitionem immer
gleichbleibenden
Liedform. Genuine Merkmale der Sonettdichtung wie Volten, Pointen und
Paradoxa vermochten gerade die in der Vertonung von Lyrik sensibilisierten Komponisten des 19.
Jahrhunderts nicht mehr über den Kamm ein- und derselben Melodie zu scheren, wie es in
Gelegenheitskompositionen des 17. und 18. Jahrhunderts noch begegnet. Die Sonett-Vertonungen
Schuberts, Webers und des Dichterkomponisten Peter Cornelius suchen daher nach neuen Wegen,
die formale Struktur des Sonetts durch eine bestimmte Anordnung und Variation des thematischen
Materials und des harmonischen Verlaufs ihrer Kompositionen musikalisch zu vergegenwärtigen.
Diesem Ansatz folgten auch die Komponisten der Spätromantik und der frühen Moderne, während
in der Musik des 20. Jahrhunderts eher eine Renaissance madrigalistischer Sonett-Vertonung zu
beobachten ist.
Dr. Beatrice Nickel (Stuttgart)
Visuelle Sonette im Umkreis der Konkreten Poesie
Das Sonett besitzt neben seinen klanglichen Qualitäten von Anfang der Gattungsgeschichte an
immer auch visuelle Qualitäten, und zwar deshalb, weil es sich bei dieser lyrischen Gattung um
eine horizontal-vertikale (Syntax-Reimschema) Textarchitektur handelt. Darüber herrscht bei den
Dichtern und Theoretikern des Sonetts schon seit der Frühen Neuzeit Konsens. Eindeutiges Zeugnis
hiervon legen Poetiken aus dieser Zeit ab. Wenn in der Konkreten Poesie und ihrem Umfeld
zahlreiche visuelle Sonette entstehen, stellt dies also keineswegs einen Bruch mit der Tradition der
Gattung dar, sondern es handelt sich um eine Radikalisierung der im Sonett angelegten
Möglichkeiten. Zumal die Dichtung in der Zeit nach 1945 vor allem visuell geprägt ist, ist es kaum
verwunderlich, dass auch das Sonett im Bereich der visuellen Dichtung zu neuer Blüte geführt wird.
In diesem Vortrag geht es um eine ganz bestimmte Art von Sonetten nach 1945, nämlich um
solche, die neben der einem jeden Sonett zukommenden primären Visualität eine sekundäre
aufweisen und zugleich um solche, bei denen kein Schreibgestus mehr erkennbar ist. Die
Darstellung wird sich nicht nur, aber vor allem auf die Sonettproduktion aus der Romania
konzentrieren, wobei die entsprechenden Sonette aus dem Zeitraum der Nachkriegszeit bis zum
Ende des 20. Jahrhunderts gewählt wurden, um einen repräsentativen Einblick in die Geschichte
des visuellen Sonetts aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geben zu können.
Prof. Dr. Manfred Pfister (Berlin) und Jürgen Gutsch (München)
Präsentation von Buch und DVD
William Shakespeare's Sonnets for the first time globally reprinted. A quatercentenary
anthology 1609-2009 (Details im Verlagsprospekt)
This year, SHAKE-SPEARES SONNETS Neuer before Imprinted (1609), the most successful volume
of poetry next to King David’s Psalms, have been with us four centuries. The initial impact of this
modest and enigmatic quarto and its 154 sonnets was not overwhelming and also for the following
almost two centuries Shakespeare’s sonnets slept in the limbo of cultural forgetfulness. But then,
towards the end of the eighteenth century, they began to explode on the world with an extraordinary sleeper effect, the shockwaves reaching out from England to the Continent and from
Europe on to the rest of the world. Now, after another two centuries, it is time to celebrate this
extraordinary canonical career. It is time to build a global monument to remind the world of this
quatercentenary and to celebrate the power of these sonnets to move their readers across the
centuries and continents, in states unborn and accents yet unknown. Following Shakespeare’s own
instructions, a book shall be this monument – a mighty tome, an anthology of translations of his
sonnets quite literally “from China to Peru”. For this, Jürgen Gutsch and Manfred Pfister, the only
begetters of this project, have assembled a team of more than seventy contributors from all over
the world to report on the fortunes of Shakespeare’s sonnets and their cultural presence in all the
major and many of the minor languages of the world. There are expert introductions in English to
all the languages and cultures in their dialogues with the sonnets, but at the core are the
translations themselves, each in its original script, be that Amharic or Cyrillic. The book aims at
shedding some light on the role of translation as “medial transposition” rather than close literal
rendering of a source text in a target language as was the ideal of the 19th century. Translation is
now mostly considered an art in its own right, creating texts that are more than a surrogate for the
original in the source language. The poetical means and the specific discourses of the original
trigger, but do not dominate, the poem in translation, and undergo a metamorphosis, at its best, a
sea-change into something rich and strange. The anthology casts a wide net not only in the global
range of languages but also in its broad notion of translation, which goes beyond verbal translation
from one language into the other and comprises settings to music as well as performances or visual
art work stimulated by the sonnets. Therefore, it includes a multimedial archive on DVD offering
readings by native speakers of all the translations and a choice of musical settings and illustrations
and other images. In all this, it demonstrates a particular interest in what is marginal and noncanonical; it does not disregard what is beyond or beneath the official languages – dialect, for
instance, or other vernacular varieties, artificial or sign language – nor shy back from the wilder
shores of palinode, parody, deconstruction, meaning-bending appropriation and other forms of
‘radical translation’ beyond the fringe of philological faithfulness to, and respect for, the great
classic of world literature Shakespeare’s Sonnets have become.
Prof. Dr. Susana Romano Sued, Córdoba (Argentinien)
Intermedialität und Übersetzung am Beispiel von Pellicers Sonett an den Maler Best
Maugard
Das Sonett des Mexikaners Carlos Pellicer (1899-1977) zeigt die intermedialen Beziehungen
zwischen Poesie und Malerei, wobei der Bereich des Sehens anaphorisch und konstant behandelt
wird. Gleichzeitig malt der Dichter durch Syntax und Form und schafft eine besondere Sprache, die
in sich beide Künste verbindet. Für die Sonett-Übersetzung sind sowohl die contrainte als auch die
Intermedialität wichtige Dimensionen, die unbedingt wiedergegeben sollten.
Prof. Dr. Ina Schabert (München)
Dreidimensionale Texte: Kreuzungen von Erzählprosa und Sonett
Wenn ein Sonett innerhalb eines Romans erscheint, so bringt es eine kontrastive Sehweise in
diesen hinein, eröffnet eine alternative Sinnwelt in der erzählten Welt. Deshalb bezeichne ich
Texte, in denen das geschieht, als dreidimensionale Texte. Der Roman simuliert die Kontingenz der
Lebenswelt, vollzieht sich in der Dimension der Zeit, repräsentiert die Vielfalt, Verwirrung,
Offenheit der Lebenswelt. Das Sonett hingegen vermag mit seinen klanglichen Gesten der Abrundung und seinen Redefiguren der Überhöhung, der Idealisierung, der Versöhnung von Gegensätzlichem den Eindruck von Vollkommenheit jenseits der Unzulänglichkeiten, von Einheit jenseits
der Vielfalt zu vermitteln. Es gestaltet den Zustand, den der Roman erstrebt, aber nicht erreichen
darf, solange er erzählen möchte. In den von mir untersuchten Erzähltexten lassen sich drei
Varianten der Kombination von Sonett und Erzählung beobachten. In stilisierten und
idealisierenden Romanen verstärkt das Sonett eine dort bereits vorhandenen Grundtendenz und
markiert, vorzugsweise in einer Schlußposition, die erzählend vorbereitete Vollkommenheitsstufe
des erzählten Lebens (Beispiele: Stendhal, La Chartreuse de Parme, Woolf, To the Lighthouse,
Flush). Andererseits läßt sich die Skepsis, mit der realistisches Erzählen der Sonettkunst
gegenübersteht, zu einer expliziten Gegenläufigkeit ausgestalten, zum Gegeneinander von
quichoteskem, ordnendem Gestaltungswillen, der im Sonett verkörpert ist, und einer nicht oder
nicht endgültig zu ordnenden Lebenswelt, die das Erzählmedium repräsentiert (Beispiel: Burgess,
Nothing Like the Sun). Und schließlich kann der sonett-typischen Volta schlüsselhafte Bedeutung
zuerkannt werden. Sodann verkündet das Sonett mit seiner Botschaft der coincidentia oppositorum
eine unerwartete Lösungsmöglichkeit für einen rational unlösbaren Konflikt innerhalb der
Romanwelt (Beispiele: Feuchtwanger, Exil, Dorothy Sayers, Gaudy Night und Nabokov, The Gift).
Aleš Vaupotič, Ljubljana (Slovenien)
The Sonnet in the New Media (General Issues and Slovene Examples)
The sonnet phenomenon in the new media domain raises questions of intermedial transitions.
However the hypothesized universality (e.g. by Lev Manovich) of the new media, the status of
being able to integrate different modes of expression from literature to video and music in a homogeneous medium or "post-medium" (derived from Peter Weibel's concept ‘postmedia condition’),
necessitates a particular approach. The paper will consider Slovene new media sonnets – Vuk
Ćosić's Nation-Culture (2000), Teo Spiller's Spam Sonnet (2004) and Jaka Železnikar's A tag cloud
sonnet of my day (21 Jan 09) (2009) – from two points of view: the literary nature of the original
sonnet genre, how it integrates into the new media communication, and by considering the
particular cultural status of the sonnet in Slovene (literary) history – e.g. in respect to the sonnets
of romantic poet France Prešeren –, which is indispensable to understand the context of use of the
sonnet by Slovene artists.
Dr. Evi Zemanek (Erlangen)
Körper-Text und Text-Körper: Das Porträtsonett
Das Sonett ist eng mit bestimmten historischen Diskursen verbunden. Bereits in den frühesten
Exemplaren der sizilianischen Liebesdichtung des 13. Jahrhunderts manifestiert sich ein BildDiskurs, der einen für die Entstehung des Porträtsonetts bedeutsamen Topos ausbildet: die Selbstimagination des Dichters als Maler, der ein Bildnis der Geliebten im Herzen trägt. Mit der massenhaften Sonettproduktion im Petrarkismus fällt zeitlich die Etablierung des Porträtgemäldes als
Kunstform zusammen. Beide Phänomene konzentrieren sich anfangs auf den italienischen Kulturraum. Zahlreiche Sonette reflektieren das pikturale Porträt und konkurrieren damit in ihren Beschreibungen idealschöner Frauen, die variierend in den formalen Rahmen eingepasst werden. In
der Spätrenaissance entsteht ein weiterer Typus des Porträtgedichts: die Selbstdarstellung des
Dichters als Frontispiz-Sonett. Die Betrachtung repräsentativer Beispiele entdeckt eine besondere
Kompatibilität von Verbalporträt und Sonett, die nicht allein in der graphischen Gestalt, sondern
auch in semantisch-strukturellen Gemeinsamkeiten gründet: vor allem in der Zweigliedrigkeit, die
man gemäß dem Leib-Seele-Dualismus als eine Opposition von Äußerem und Inneren auffassen
kann. Das Sonett steht vor der Herausforderung, beide Aspekte zu synthetisieren.
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