ETHIKBERICHT der Pfeifferschen Stiftungen November 2015 INHALT Vorwort 5 1 Warum jetzt ein Ethikbericht? 6 2 Verantwortlichkeit für Ethikarbeit 7 Instrumente der Ethikarbeit Ethikforum Ethische Fallbesprechung Im Bereich Hospizarbeit Im Bereich Gesundheit Im Bereich Altenhilfe In der Behindertenhilfe Wohnen Im Bildungszentrum für Gesundheitsberufe Projekt Ethikvisite Teams Altenhilfe Gesundheit Hospizarbeit Behindertenhilfe Ambulante Hilfe Kinderzentrum 3.3.2 Strukturelle Ergebnisse 3.3.3 Welche ethischen Inhalte sind aufgekommen Gewalt Essen Dazugehören Abgrenzen Sterben 3.3.4 Befragung Ehrenamtlicher im Projekt 9 9 11 11 12 12 12 12 14 14 14 14 14 14 14 14 15 15 15 16 17 18 18 19 4 4.1. 4.2 4.3 4.4 Bewertung, Fragen und Ausblicke Ethikforum und Veranstaltungen Ethische Fallberatungen Aus Ethikvisiten werden Ethikaudits Ethische Berichterstattung 20 20 21 22 23 Impressum 23 3 3.1. 3.2. 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.3. 3.3.1 3 ÜBERSCHRIFT 4 VORWORT Die Grenze als Mitte der Pfeifferschen Stiftungen Patienten, die nach einem Unfall oder wegen einer Krankheit in eines unserer Krankenhäuser eingeliefert werden, erleben, wie ihnen das Leben Grenzen setzt. In unseren Einrichtungen leben Menschen mit Behinderungen, die wissen, dass ihre Möglichkeiten begrenzt sind und die manchmal das Gefühl haben, ausgegrenzt zu sein. Ressourcen wie Finanzen oder Arbeitskraft, die den Stiftungen zur Verfügung stehen, sind ebenfalls nicht unbegrenzt. Zu unserem menschlichen Leben gehört, dass es begrenzt ist. Die Grenzen lassen sich manchmal ein bisschen nach hinten verschieben, aber wir müssen letztendlich Grenzen akzeptieren. Am Schluss ist unser Leben durch den Tod begrenzt. Wenn wir an diese Grenzen stoßen, sind oft Fragen zu beantworten, die sich einfachen Antworten entziehen. Oft auch deswegen, weil unterschiedliche, aber gleichwertige Wertvorstellungen miteinander in Konkurrenz treten und sehr individuelle Antworten gefunden werden müssen. Darum ist es wichtig, dass die Mitarbeitenden der Pfeifferschen Stiftungen ihr Handeln im konkreten Einzelfall und die Stiftungen insgesamt ihre Organisation ethisch reflektieren. Der Vorstand hat den einzelnen Bereichen der Stiftungen aufgegeben, eine regelmäßige und geplante Struktur zu schaffen, in der ethische Fragen reflektiert werden. Dabei können sich die konkreten Fragen und die angemessenen Methoden durchaus in den einzelnen Bereichen unterscheiden. Zur Unterstützung dieser Arbeit hat der Vorstand vor drei Jahren eine Stabsstelle eingerichtet. Die Pfeifferschen Stiftungen verstehen diese strukturierten ethischen Debatten in den einzelnen Bereichen der Stiftungen als ein Teil der diakonischen Unternehmenskultur, die ebenso durch die Thematisierung von biblischen Inhalten innerhalb der fachlichen Fortbildungen, öffentliche gottesdienstliche Angebote, Rituale und Gestaltung der Räume versucht, den besonderen „Geist“ der Pfeifferschen Stiftungen lebendig zu erhalten. Dieser erste Ethikbericht will nun Rechenschaft über die vielfältige Ausgestaltung der ethischen Reflexion in den Pfeifferschen Stiftungen ablegen. Dabei sind wir uns bewusst, dass dies nur erste Schritte auf einem längeren Weg sind. Ein besonderer Dank gilt den vielen Mitarbeitenden, die dazu bereit sind, in diesen Beratungen ihre jeweils persönliche Überzeugung auf den Prüfstand zu stellen, und Pfarrer Hans Bartosch, dem es gelingt, die Mitarbeitenden immer wieder dafür zu gewinnen, sich auf diesen Prozess einzulassen. Vorsteher Christoph Radbruch, Vorstandsvorsitzender der Pfeiffersche Siftungen 5 1 WARUM JETZT EIN ETHIKBERICHT? Dieser Ethikbericht der Pfeifferschen Stiftungen ist der erste seiner Art. Er beschreibt die konkreten Ergebnisse von Ethikarbeit im Berichtszeitraum 1/2014-9/2015. Ethikarbeit fand statt im Rahmen von: Ethikforum Ethische Fallbesprechung Projekt Ethikvisite bruch der Medizin-, Pflege – und Lebensethik eingebracht und ihn mit neuen Fragen, vor allem um Autonomie und Freiheit, sogar schärfer zu akzentuieren vermocht. Für alle diese neuen Entwicklungen von interdisziplinärer Ethikarbeit haben sich die Pfeifferschen Stiftungen in den vergangenen Jahren erneut nachdrücklich geöffnet. Selbstverständlich ist davon auszugehen, dass – weit über diese Instrumente formaler Ethikarbeit hinaus – die tägliche Arbeit in den Pfeifferschen Stiftungen ethisch und moralisch kompetent vollzogen wurde. Zu dieser Öffnung zählt auch ein Ethikberichtswesen, dessen zentrales Dokument ein ab dato jährlich vorliegender Ethikbericht sein soll – zur Rechenschaft vor allem nach innen, aber auch an gezielten Stellen nach außen. Ein solcher Bericht steht vor dem Hintergrund von Mission und Vision der Pfeifferschen Stiftungen. Und selbstverständlich ist davon auszugehen, dass allein schon auf Grund der 125-jährigen Stiftungstradition, aber etwa auch im Rahmen eines von 2000-2007 arbeitenden Ethikkomitees, in vieler Hinsicht nichts gänzlich Neues zu berichten ist. Nüchtern betrachtet dient ein solches Ethikberichtswesen auch als Risikomanagement: Wir wollen und wir dürfen nicht ethische Probleme verschlafen, die für unseren Bestand gefährlich werden könnten. Andererseits: Im gesamten Gesundheits- und Sozialwesen hat in den vergangenen 20 Jahren eine verstärkte Reflektion ethischer Fragen eingesetzt. Ethik oder Religion? Im vorliegenden Ethikbericht werden Sie kaum etwas Religiöses lesen. Das ist Absicht. Die Pfeifferschen Stiftungen leben täglich als Gemeinschaft von religiösen und nicht religiösen, von kirchlichen und nicht kirchlich sich verstehenden Menschen. Moderne Ethikarbeit ist säkular. Das geht gar nicht anders. Für viele, die bei Pfeiffers ethisch arbeiten, ist dies aber nicht vorstellbar, ohne den tragenden Grund ihres christlichen, meist evangelischen, Glaubens. Aber Ethik ist nicht Religion, aus guten evangelischen Gründen nicht. Ethik hat ihr eigenes bestes Recht. Dies liegt vor allem daran, dass manches fragwürdiger geworden ist, etwa im Umfeld von Intensivmedizin und jeglicher Diskussion um aktive Lebensbegrenzung. Zugleich bleibt ein neuer erfrischender Gewinn interdisziplinärer Methoden zu verzeichnen; keine Profession, keine Gesellschaftsgruppe kann mehr und will mehr die ethische Kompetenz für sich allein reklamieren. Daher hat die Bundesärztekammer ausdrücklich 1999 einer Rahmenrichtlinie für (interdisziplinäre !) ethische Fallbesprechungen zugestimmt, die ihre Fachgesellschaft über fast zwei Jahrzehnte mitentwickelt hatte. Konfessionelle Krankenhäuser und ihre Verbände haben in dieser Entwicklung eine unstrittige Vorreiterrolle gespielt, wobei dies nicht zufälligerweise im ausdrücklichen Verzicht eines kirchlichen Besserwissens geschah. Die Pflegeverbände, die Organisationen der Hospiz- und Palliativarbeit und schließlich auch die Verbände und Einrichtungen der Alten- und der Behindertenhilfe haben sich in den vergangenen 15 Jahren intensiv in diesen Auf6 2 VERANTWORTLICHKEIT FÜR ETHIKARBEIT Jede Mitarbeitende und jeder Mitarbeitende der Pfeifferschen Stiftungen handelt ethisch verantwortlich. Jeder handelt vor dem Hintergrund des eigenen Gewissens, den Kunstregeln der eigenen Profession und den ethisch vertretbaren Organisationsabläufen des jeweiligen Arbeitsplatzes. Mit dieser Aussage kommen Grund-Koordinaten evangelischer Ethik zusammen mit der unangefochtenen Garantenpflicht in der ärztlichen Standesethik sowie vergleichbaren Grundaussagen über den Kern pflegerischer und pädagogischer (als auch administrativ-ökonomischer!) Arbeit. Unbeschadet dieser Grundmaxime der ethischen Verantwortung aller Mitarbeitenden verantwortet der Vorstand die Ethikarbeit der Stiftungen im Rahmen der allgemeinen Zielentwicklung vor dem Hintergrund von Vision und Mission der Pfeifferschen Stiftungen. Gemeinsam mit den Bereichsleitungen steuert er die Frage, welche Instrumente von Ethikarbeit in den Stiftungen eingesetzt werden sollen. In den vergangenen beiden Jahren wurde bereits regelmäßig und teils ausführlich in der Stiftungs- und in der Unternehmenskonferenz über diese Fragen beraten. Zur Koordination der Ethikarbeit ist die Stabsstelle Diakonie und Seelsorge verantwortlich. 7 ÜBERSCHRIFT 8 3 INSTRUMENTE DER ETHIKARBEIT 3.1. ETHIKFORUM Im Ethikforum geht es um brisante, dilemmatische ethische Themen, die sowohl die Stiftungen als auch die Öffentlichkeit, zumal die Fachöffentlichkeit, aktuell bewegen. Der Vorstand lädt daher zweimal jährlich Fachpublikum (einweisende Ärzte, Kooperationspartner im SAPV, etc.) zu einer 2- bis 3-stündigen (Beginn 16 Uhr) Veranstaltung mit Vorträgen und ausgiebiger Diskussion ein. Die Veranstaltung wird gemeinsam verantwortet mit der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt in Wittenberg, deren stellvertretende Direktorin, Dr. phil Susanne Faby, über bundesweite einschlägige Erfahrungen in Ethikberatung verfügt. Die Themen der vier vorhergehenden Ethikforen: Sterben demenzerkrankte Menschen anders? (Dr. Gernot Heusinger von Waldegg, Chefarzt der Geriatrie der Pfeifferschen Stiftungen/Pfr. Hans Bartosch, Krankenhausseelsorge) „Austherpapiert – Wir können nichts mehr für Sie tun…“ (Vorsteher Christoph Radbruch, Dr. Jochen Molling, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin, 4. November 2015) Das nächste geplante Ethikforum: „Teilhabe beginnt mit Wertschätzung – zur gerechten medizinischen Versorgung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen“ (Prof. Dr. Michael Seidel, Bethel, 9. März 2016) Die bisherigen Ethikforen haben stattgefunden im Handwerkersaal und der Samariterkirche der Pfeifferschen Stiftungen sowie im Forum Gestaltung/Brandenburger Straße/Hauptbahnhofsnähe. Auch die nächsten Ethikforen werden im Forum Gestaltung stattfinden. Zu den bisherigen Ethikforen kamen zwischen 30 und 60 Teilnehmende, etwa ein Drittel von außerhalb der Stiftungen. Geben Patienten ihre Rechte an der Pforte ab? (Diese mit Prof. Hans Lilie, Ordinarius für Strafrecht in Halle, geplante Veranstaltung musste wegen plötzlicher Erkrankung des Referenten abgesagt werden. Anstelle dessen – und dies ist im Grunde auch ein Ethikforum – unterschrieben der Vorsteher Christoph Radbruch sowie der Ärztliche Direktor, Dr. Frank Heres, öffentlich die Internationale Palliativ-Charta als Selbstverpflichtung für die Stiftungen.) Wenn die Luft wegbleibt – das Spektrum ethischer Probleme in der Lungenheilkunde (Dr. Jost Achenbach, Chefarzt der Lungenklinik Lostau, gemeinsam mit Pflegenden der Lungenklinik) 9 ÜBERSCHRIFT 10 3.2. ETHISCHE FALLBESPRECHUNG Stellen die Ethikforen einen wesentlichen Teil der internen wie externen Öffentlichkeitsarbeit der Stiftungen dar, wird die Ethische Fallbesprechung wegen ihrer erstaunlich passgenauen Potentiale aktueller Dilemmatabearbeitung unter Fachleuten als „Königsdisziplin“ bezeichnet und in 25-30 % der deutschen Krankenhäuser und 30-40 % der deutschen Hospize praktiziert. 3.2.1 IM BEREICH HOSPIZARBEIT Für die Pfeifferschen Stiftungen ist zu berichten: Nur innerhalb des Bereichs Hospizarbeit gibt es, und dies seit Januar 2014, ein regelgerechtes und mittlerweile auch bewährtes Verfahren für ethische Fallbesprechungen. Nach einer den Richtlinien der Akademie für Ethik in der Medizin entsprechenden Schulung durch den erfahrenen und bundesweit renommierten Medizinethiker Dr. phil. Arnd May/Halle, welche sowohl für interne als auch für externe Hospizfachleute offen war, erhielten 10 Teilnehmende das fachgesellschaftliche Zertifikat. Aus den Pfeifferschen Stiftungen sind dies: Katrin Deicke (Ambulanter Hospizdienst, i.e. Koordination der 80 Hospiz-Ehrenamtlichen), Kirsti Gräf (Sozialarbeiterin des stationären Hospizes/Trauerinstitut), Franziska Höppner (Leiterin des Kinderhospizes), Annegret Szimmat (Koordinatorin der Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung Magdeburg und Region) sowie Tabea Friedersdorf (Leitung Hospizbereich). Im stationären Hospiz fanden 4 ethische Fallbesprechungen statt. Die Koordination erfolgte über Kirsti Gräf. Es nahmen jeweils teil: Hausärzte, Pflegende des Hospizes, Seelsorge sowie ausdrücklich auch einer oder mehrere Angehörige, die teilweise die gesetzliche Betreuung hatten. Die Themen der ethischen Fallbesprechungen lagen alle im Umfeld der palliativen Sedierung und der Therapiezielveränderung. Hier gibt es klare ärztlich standesrechtliche Rahmenbedingungen als auch eine konzise Haltung und Selbstverpflichtung des Hospizes, keinerlei aktive Sterbehilfe zu leisten. Bundesweit diskutiert die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin Fragen rund um die diffizilen Details palliativer Sedierung und befürwortet sie in der Regel, allerdings nur im Rahmen strenger ethischer Dilemmaabwägung, Dokumentation und Evaluation. In der hospizlichen Arbeit geht es, im Blick auf palliative Sedierung, und dies nicht nur in Magdeburg, vor allem um die Erhebung des möglichst genauen Willens der Gäste - als auch um die Klärung der exakten Garantenlage (auch im Blick auf Bedarfsmedikationsgaben), damit Mediziner und Pflegende und langfristig vor allem auch Angehörige sich besser schützen, um nicht in prekären akuten dilemmatischen Handlungsspiralen die Orientierung zu verlieren. Im ambulanten Palliativ- und Hospizbereich fanden 5 ethische Fallbesprechungen statt. Die Koordination erfolgte über Tabea Friedersdorf, Bereichsleiterin Hospizarbeit. Es wurde in 3 Altenhilfeeinrichtungen und in 2 häuslichen Situationen (alle deutlich über die Einrichtungen und Einsatzorte der Stiftungen hinaus!) eine Fallbesprechung beantragt, wobei – wie auch in den Anträgen im stationären Hospiz – es immer der Koordination obliegt, zunächst zu prüfen, ob wirklich eine ethische Frage im Vordergrund steht oder eher Teamkonflikte, psychologisch-psychiatrische Grenzsituationen etc. Teilnehmende der Beratung waren: Angehörige, HausärztInnen, Pflegende, Sozialarbeit. Die Themen der ethischen Fallbesprechungen waren dieselben wie im stationären Bereich Die Ethikberatung und ethische Fallbesprechung des Bereiches Hospizarbeit firmiert explizit als Teil des „Ambulanten Ethikberatungsnetz Sachsen-Anhalt“ (also inklusive externer Moderatoren), welches von der Bereichsleitung für Hospizarbeit der Pfeifferschen Stiftungen koordiniert wird. Diese Vernetzung als auch Differenzierung geschieht vor dem Hintergrund der besonderen Chance und der durch viele Jahre von der SAPV aufgebauten Kompetenz, elementar und regional zwischen Einrichtungen, Professionen, Handlungslogiken und Interdependenzen aktiv und zielgerichtet palliativ handlungsfähig zu bleiben und zu werden. 11 3.2.2 IM BEREICH GESUNDHEIT 3.2.3 IM BEREICH ALTENHILFE Im Bereich Gesundheit gibt es zwar noch kein regelgerechtes Verfahren, also keinen ausdrücklichen Leitungsbeschluss über ethische Fallbesprechung, deren Koordination, Dokumentation, Evaluation, etc. Uta Bauer hat vor vielen Jahren eine Ausbildung zur Ethikberaterin gemacht und praktiziert als solche seitdem sehr aktiv in den Pfeifferschen Stiftungen. Allerdings konnten die Rahmenrichtlinien Ethikberatung der Bundesärztekammer in deren ausdrücklicher Gültigkeit für die beiden Krankenhäuser in Cracau und Lostau in Betriebsversammlungen ausführlich bekannt gemacht werden. Und: Dr. Susanne Faby hat im August 2014 innerhalb der Krankenhauskonferenz ein ausführliches impulsierendes Referat gehalten über „Ethikberatung“. Es wurden im Berichtszeitraum 5 ethische Fallbesprechungen beantragt und durchgeführt. Dreimal in der Klinik für Innere Medizin, zweimal in der Klinik für Palliativmedizin und einmal in der Lungenklinik Lostau wurde eine Beratung beantragt. Die Koordination erfolgte über die Stabsstelle Diakonie und Seelsorge. Im Verlaufe des Jahres 2015 konnte Anne Müller, Pflegedienstleiterin Hedwig-Pfeiffer-Haus, ihre Moderatorenausbildung an der Hospizakademie Juliusspital Würzburg abschließen und steht nun ebenfalls als Moderatorin zur Verfügung. 3.2.4 IN DER BEHINDERTENHILFE WOHNEN Wohnen: In diesem Bereich hat an mehreren Stellen eine Auseinandersetzung mit ethischer Fallbesprechung intensiv stattgefunden, ohne sie letztlich schon konkret einzuberufen. Hier als auch im Bereich Altenhilfe ist es offensichtlich nur eine Frage der Zeit und einiger organisatorischer Klärungen (s.u.4), mit konkreter ethischer Fallbesprechung zu beginnen. Auch die Moderation erfolgte durch den Leiter der Stabsstelle, welche eine entsprechende Ausbildung (iff/Wien/Andreas Heller) und langjährige Moderationspraxis aufweist. Teilnehmende waren jeweils zwischen 5 und 12 Mitarbeitende, die die Professionen Medizin und Pflege deutlich abbildeten. Auch Mitarbeitende aus Sozialarbeit und Logopädie haben punktuell teilgenommen. Die Themen der Fallbesprechung waren durchgängig end-of-life-Fragen. Es ging um Aspekte der Nichteskalation von Intensivmedizin, um Triage Intensiv/Palliativmedizin in der Notaufnahme, um Fortsetzung von Defibrilatorbehandlung, um die Ersetzung operativer durch palliative Interventionen – und immer auch um den Umgang mit mutmaßlichen, diffusen oder ggf. als different zu wertenden Willensäußerungen. 12 3.2.5 IM BILDUNGSZENTRUM FÜR GESUNDHEITSBERUFE Im Bildungszentrum, welches die Stiftungen in Kooperation mit dem Städtischen Klinikum Magdeburg betreiben, spielen in den Curricula aller Kurse ethische Fragen eine Schlüsselrolle in der Pflege-Ausbildung. Sehr konkret wird Ethische Fallbesprechung unterwiesen und eingeübt, wobei eine bemerkenswerte initiale Kompetenz der Schüler für die zukünftige Entwicklung im Gesundheitswesen viel verspricht. Dies konnte insofern verprobt werden, weil der Verfasser die selbe exemplarische Fallarbeit mit fünf Kursen von SchülerInnen des Bildungszentrums, mit angehenden MedizinerInnen innerhalb des Moduls „Palliativmedizin“ an der Otto von Guericke-Universität (in 8 Lerngruppen) als auch in drei Durchgängen des palliativmedizinischen Weiterbildungsmoduls der Landesärztekammer Sachsen-Anhalt durchgeführt hat – mit erstaunlich kongruenten Ergebnissen. Im Blick auf die Medizinstudierenden (etwa 9. Semester) war zu beobachten, dass sie mit hoher Konzentration, Beteiligung und selbstkritischer Reflektionsgabe sowohl den Gehalt spiritueller als auch ausdrücklich ethischer Themen beschreiben konnten. Bemerkenswert bei den Studierenden erscheint eine häufige Wertschätzung für die als ethisch besonders patientennah erlebte und gedeutete Kompetenz der Pflege. Genau diese elementare Kompetenz ist bei angehenden Fachpflegenden des Bildungszentrums in nuce zu erleben, sowohl in der Frische des Engagements als auch in einer erstaunlich schnellen Erfassung komplexer ethischer Dilemmata. 13 3.3. PROJEKT ETHIKVISITE 3.3.1 TEAMS Stellt die Ethische Fallbesprechung die „Königsdisziplin“ in der akuten Dilemmabearbeitung dar, kann die Ethikvisite als Einübung eines regelhaften, etwa einmal wöchentlich praktizierten ethischen Blickes und Diskurses im Stationsalltag gelten. Als Teams sind zu nennen: Allerdings wird sie als ausdrückliche Form bislang nur in sehr wenigen deutschen Intensiv-, Palliativ- und Perinatal-Einheiten sowie teilweise auch in der stationären Altenhilfe regelgerecht durchgeführt. Es handelt sich wirklich um eine (interdisziplinäre) Visite von Zimmer zu Zimmer, incl. dokumentierter (und evaluierter) Erfassung von ethisch begründeten Therapiezieländerungen. Es lohnte die projektleitende Frage, ob die Pfeifferschen Stiftungen sich, zumindest an einigen exemplarischen Stationen oder Arbeitsfeldern, für die Etablierung von Ethikvisite öffnen kann und soll. Diese Öffnung hat grundsätzlich nur dann Chancen auf Erfolg, wenn sehr zielstrebig die Mitarbeitenden in deren klinisch-konkreten Ethikerfahrungen vor Ort „abgeholt“ werden und gemeinsam mit ihnen geprüft wird, ob eben Ethikvisite ein probates Mittel der Wahl darstellt oder welche alternativen regelmäßigen ethischen Besprechungsformen den Mitarbeitenden sinnvoll erscheinen. Der Vorstand hat daher mit Beginn des Jahres 2014 und zweijähriger Projektdauer die Stabsstelle Seelsorge und Diakonie beauftragt, in einigen exemplarischen Behandlungs- und Betreuungsteams aller Bereiche der Stiftungen Besprechungen durchzuführen unter der Überschrift „Ethikvisite“. Im Berichtszeitraum haben mit 18 Teams insgesamt 51 Ethikvisiten stattgefunden, wobei die Besprechungen selber als „Ethikvisite“ firmierten, ohne dass man – vom Projektkonzept her – gemeinsam „auf Visite gegangen ist“. Altenhilfe Hedwig-Pfeiffer-Haus/Altenhilfe Gesamtteam Bethanien/Altenhilfe Gesamtteam Martin Ulbrich Haus Station 0/Wachkoma Gesundheit Lungenklinik Lostau Intensivstation Lungenklinik Lostau Station 6/7 Palliativstation Lungenklinik Lostau Station 8 Thoraxchirurgie Klinikum in den Pfeiffersche Stiftungen Station 2B/Or- thopädie Klinikum in den Pfeiffersche Stiftungen Station1B/Innere Medizin Klinikum in den Pfeiffersche Stiftungen Station 1C/Palliativstation Klinikum in den Pfeiffersche Stiftungen Station 3B/Chi rurgie Hospizarbeit Kinderhospiz Ambulanter Hospizdienst (Ehrenamtliche) Behindertenhilfe Förderbereich Werkstatt für behinderte Menschen Edelgard Horn Haus Gruppe 2 (Wohnen für WfBM-Beschäftigte) PRW-Werkstattbereich für psychisch behinderte Menschen Kinder- und Jugendheim Arche Noah, Haus 3 (Wohnen für schwerstbehinderte Kinder) Johannesstift 2 (Wohnen von schwerbehinderten Erwachsenen) Begleitete Elternschaft (Projekt für behinderte Mütter und deren Kinder) Ambulante Hilfe Kinderzentrum Gemeinsam mit dem katholischen Diakon Matthias Marcinkowksi, fanden, der Ethikvisite vergleichbar, drei Besprechungen im Kinderzentrum/Sozialpädiatrie statt, welches die Pfeifferschen Stiftungen gemeinsam mit dem Caritasverband der Diözese Magdeburg betreiben. 14 3.3.2 STRUKTURELLE ERGEBNISSE 3.3.3 WELCHE ETHISCHEN INHALTE SIND AUFGEKOMMEN? Was kann als Ergebnis des Projektes Ethikvisite festgehalten werden? Die ethischen Themen, welche die Ethikvisite gesammelt hat, lassen sich, wie folgt sortieren, wobei bewusst vertraulich gehaltene Mitteilungen aus den „Ethikvisiten“ außen vor bleiben: In keinem Arbeitsfeld der Stiftungen konnte die regelgerechte Etablierung von Ethikvisite bislang angeregt werden. Immerhin ausdrücklich (und m.E. überwiegend plausibel) begründet wurde die Ablehnung einer Etablierung von regelhafter Ethikvisite in der Intensivstation der Lungenklinik Lostau als auch auf der Palliativstation Cracau mit dem dort üblichen weitgehend interdisziplinären Visitenwesen, welches deutlich durchlässig sich für ethische Reflektionen erweise. Auch die onkologisch-palliativmedizinische Station 6/7 in Lostau profitiert seit Jahren von einer bewährten Praxis interprofessioneller und intraprofessioneller kurzer Wege. Diesem auf dem ersten Blick enttäuschenden Projekt-Ergebnis steht entgegen, dass durchgängig in allen Projektgesprächen namens „Ethikvisite“ in beeindruckender Tiefe und Weite ethische Themen durch die Mitarbeitenden selbst identifiziert, benannt und couragiert und kompetent vertreten werden konnten. In vielen Teams wurde nachdrücklich von Formen regelmäßiger ethischer Reflektion innerhalb des Teams, unabhängig von einer regelhaften Ethikvisite, berichtet als auch in dessen Weiterentwicklung und Profilierung eingefordert. Der ärztliche Bereich hält sich im Ganzen des Projektes noch teilweise zurück, war aber in allen Beteiligungssituationen ausdrücklich kompetent, couragiert und positiv beteiligt. Bemerkenswert und typisch waren im gesamten Projektverlauf Terminabsagen, -verschiebungen, -versäumnisse. Dies ist nicht wirklich verwunderlich, zeigt es doch, dass Ethik letztlich immer auch sehr „heiß“ ist. War die Hürde der Terminfindung der jeweiligen Ethikvisite genommen, ging es allerdings erstaunlich und erfreulich schnell und klar ans „Eingemachte“. GEWALT Erschreckend (allerdings im Grunde: logisch) häufig wird berichtet von ethischen Dilemmata zwischen aggressiv-übergriffigem Verhalten von Bewohnern und Patienten einerseits und entsprechenden gewalt-einhegenden Reaktionen andererseits. Solche einhegenden Reaktionen wirken von der Natur der Sache her - oft freiheitseingrenzend. Das begegnet im Hedwig-Pfeiffer-Haus immer wieder als demenzbegründete, auch sexualisierte Übergriffigkeit männlicher Bewohner, die offensichtlich alteingestammte Muster, ggf. auch aus Krieg und Nachkrieg replizieren. Als Ausweis hoher täglich eingeübter ethischer Kompetenz innerhalb des Hedwig-Pfeiffer-Hauses darf zugleich gelten, dass vor jeglicher Reaktion auf Aggression der innere Satz von Mitarbeitenden fällt: „Dies ist eine Reaktion, die ich als Aggression deute.“ Gerade im Kontext der Begleitung demenzerkrankter Menschen erscheint dies hilfreich. Ebenfalls aus dem Hedwig-Pfeiffer-Haus kommt der Hinweis auf zunehmende Gewalt der Bewohner untereinander, wobei der steigende Männeranteil hier das Seine beiträgt. Die durchweg dementiell bestimmten Gewaltentladungen lassen sich bislang relativ schnell durch die Mitarbeitenden entschärfen, verlangen aber zunehmende Aufmerksamkeiten. Mehrere Krankenhausteams berichten immer wieder von verbaler sexualisierter Gewalt von Patienten, von realen Prügeldrohungen durch Angehörige sowie z.B. vom sprachlos machenden extremen Zynismus eines hochgradig traumatisierten Kriegsteilnehmers. Sehr scharf stellen sich folgende Fragen: Was heißt hier – real, aber auch pervertiert - : „Kundenorientierung“? Muss ich mir alles gefallen lassen? Darf ich „empfindlich“ sein? 15 Der Verfasser des Berichts hat kein Problem, in solchen Ethikvisiten sehr ausdrücklich auf das Hausrecht und in gleicher Weise auf die Unversehrtheit sowohl der Patienten als auch der Mitarbeitenden hinzuweisen. In mehreren Bereichen der Behindertenhilfe, etwa hin und wieder im Förderbereich, taucht die Herausforderung auf, mit provozierenden sexualisierten Handlungen (teils gegenüber wehrlosen Dritten) Aufmerksamkeit zu erhalten. Im Bereich der Arche muss sich immer wieder mit in der Regel verbalen Drohungen von Eltern auseinandergesetzt werden. Es stand vor geraumer Zeit auch schon ein Vater mit Messer in der Tür. Als weitaus gravierender erlebt wird allerdings die Abwertung der eigenen engagierten pädagogischen Handlungen und Haltungen durch Eltern, was immer wieder auch zur Quelle von Frustration und Gewalt der Kinder wird, die es dann ethisch und pädagogisch differenziert zu bewerten gelte. Neben diesen handfesten Aspekten von Gewalt muss – wohl oder übel –, so die Diskussion vieler Ethikvisiten im Bereich Gesundheit (sehr konzentriert auch auf der Station 1 B in Cracau), jegliches invasive pflegerische oder gar medizinische Handeln regelmäßig unter dem Aspekt der „Gewalt“ beleuchtet werden (wie es sogar das Team der Ambulanten Pflege in den dort selten auftretenden Fragen aggressiver Therapieablehnung strukturiert reflektiert.). Die Nicht-Beachtung von Willen und schon die nicht ausreichende Erhebung des mutmaßlichen Willens oder die erhebliche Diffusion der erhobenen Willensäußerungen im Umfeld der Therapievereinbarungen (hier berichtet die thoraxchirurgische Station 8 in Lostau ausführlich) als auch in akuten durch Panik bestimmten Notlagen (so berichtet die Intensivstation Lostau) kommen – der Natur der Sache nach - immer in die Nähe der Körperverletzung. Der Verfasser hat einen nüchternen Blick auf das ethische Phänomen „Gewalt“ und ist solange beruhigt, solange reflektiert und im Rahmen der Gesetze und mit einer gewissen Bescheidenheit das Problem klar benannt wird und zugleich der 16 Mut zur Handlungsfähigkeit erhalten bleibt. Ethikvisiten bieten hier ein möglicherweise sehr klares als auch diskretes Medium. ESSEN Das Spektrum der ethischen Fragen rund ums Essen ist immens: Im demenzkompetenten Hedwig-Pfeiffer-Haus wird regelmäßig abgewogen, zwischen Sonde einerseits und kauendem Essen andererseits; und bis auf eine einzige, hausarztindizierte Ausnahme, wird sich für die für alle mühsame Arbeit des täglich kauenden und schluckenden Essens entschieden. Auch die onkologisch-palliativmedizinische Station in der Lungenklinik Lostau hat langjährige differenzierte und tendenziell hochdefensive Erfahrungen im Umfeld der Sondenernährung, und dies oft unter der dilemmaverstärkenden Drucksituation von Angehörigen, die sich unverständig mit dem vermeintlichen Hungernlassen zeigen. Im Johannesstift 2 wird berichtet von täglichen Dilemmata zwischen diätetischen Erfordernissen einerseits, den Freiheitsrechten von Menschen mit Behinderungen andererseits, und dies potenziert durch die tägliche Obliegenheit von Tischgemeinschaft einerseits und auch hier Individualrechten in puncto Tischkultur andererseits. Organisationsethisch gibt es hier immer wieder und zunehmend Klärungsbedarfe mit der Küche und deren Lieferung(fristen), die zugleich aber auch gelobt wird für offensichtliche Verständnisbemühungen. Auch das Team vom Haus Bethanien in der Altenhilfe berichtet von täglich sensiblen Dilemmatarierungen bei allen Mahlzeiten, wobei hier oft genug hochdisparate Bedarfe und Bedürfnisse von den einzelnen Bewohnern als Mitgliedern einer Tischgemeinschaft in den Blick geraten. Manchmal muss auch ein wohlmeinender Ehemann kunstvoll aufgehalten werden, seine geliebte Ehefrau „totzufüttern“. Im Edelgard-Horn-Haus wird das ethische Dilemma thematisiert zwischen Eltern, die ihren erwachsenen behinderten Kindern diätetisch kontraindizierte Nahrung auf den Wochenendbesuchen mitgeben - zur anschließenden massiven gastro-entereologischen als auch psychodynamischen Irritation des Bewohner- als auch des Gruppenlebens. Zukünftig können just hier, im Edelgard-Horn-Haus, Dilemmata um Sondenernährung akut werden, da sich einzelne dementiell erkrankte langjährige Bewohner zu einer Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme kaum mehr in der Lage zeigen. Über Essen markieren sich durchgängig solch grundlegende ethische Konflikte, dass es lohnt, dieses in Zukunft erheblich systematischer und schärfer in den Blick zu nehmen. DAZUGEHÖREN Inklusionsethisch gehört das Thema „Dazugehören“ zu den Hauptthemen. Wo wird Dazugehören kategorisch infrage gestellt? Mitarbeitende des Förderbereichs berichten von aggres- siven „Gaskammer“-Äußerungen von Passanten, vor allem der älteren Generation. Akut hatten, wie sie berichteten, Mitarbeitende sich primär um die Beschäftigten des Förderbereiches gekümmert und nicht sofort die Polizei gerufen, was pädagogisch klug war. Aber – u. a. auch qua diesem Bericht – ist den Stiftungen mit auf den Weg gegeben, sehr deutlich die Option der Strafanzeige präsent zu haben. Ebenso: Wenn demenzerkrankte Menschen nicht weggesperrt gehören (weil sie dazugehören, zu unserer Stadt !) und in den jeweiligen Einzelfällen kein Gericht eine Fremd- und durchgängige Eigengefährdung unterstellt hat, dann laufen Altenheimbewohner „schon mal weg“ – und dann gilt es, dies – trotz bester Prophylaxe und Aufsicht – auszuhalten und proaktiv in der familiären und sozialen Umgebung zu vertreten. Das Team vom Haus Bethanien hat diese massiv dilemmatische Situation mehrmals zu gestalten gehabt – das Edelgard-Horn-Haus unter inklusionsethischen Gesichtspunkten übrigens ganz genauso. 17 Das Pfeifferprojekt „Begleitete Elternschaft“ darf fraglos als „Freilandversuch“ gelten, ob Menschen mit Behinderung nicht nur mit ihrer aktiv gelebten Sexualität, sondern auch mit ihrer Reproduktivität, also ihrem Recht auf eigene Kinder dazugehören oder nicht, zumal jene Kinder – Genetik ist schon toll! – in der Regel ausdrücklich nicht behindert sind. Die vielfältigen inklusionsethischen, jugendhilfeethischen und familienethischen Dilemmata werden vom Team „Begleitete Elternschaft“ hervorragend - auch unter Supervision - gemeistert, was nicht heißt und heißen kann, dass hier immer wieder vor Grenzen gestanden wird. Das ethische Thema „Dazugehören“ markiert, über die reine Inklusionsethik hinaus, die Grenzmarke zu jeglicher interkultureller Ethik: In der Intensivstation der Lungenklinik Lostau etwa wurde ein eigentlich klassisches Dilemma des Therapiewechsels von kurativ zu palliativ dadurch besonders verschärft, dass die interkulturell völlig anders geprägten Heilungserwartungen von Angehörigen fast ans Absurde grenzten. Im Förderbereich fiel ein schwerbehinderter Jugendlicher auf, dessen sexualisiertes Machoverhalten aus migrationsbedingten familiären Irritationen stammte. Letztere beide Aussagen stellen vor eigentlich viel größere Dilemmata, die vor Ort in den Ethikvisiten sehr kompetent angesprochen wurden: Wie entwickeln wir in den Stiftungen eine interkulturell valide Ethik, die das Dilemma zwischen „ihren“ und „unseren“ Prägungen weise (und tendenziell liebevoll) zu tarieren weiß. ABGRENZEN Die Fixierung zählt, nicht nur in den Pfeifferschen Stiftungen, zu den ethischen (und juristischen) Zentralthemen. Neben dem eindeutigen Gewaltaspekt hat sie einen Abgrenzungsaspekt. Ein Pflegeteam der Orthopädie kann den ärztlichen Anordnungen ausdrücklich temporärer Bettgitter fast durchweg problemlos folgen – eine wichtige Aussage. Die sich „beißt“ mit langjährigen nachhaltig positiven Erfahrungen der durchgängigen Ersetzung von Bettgittern durch Niederflurbetten samt Bodenmatten (und anderer nichtabgrenzender Interventionen) im Bereich der Geriatrischen Abteilung. Drittes Moment: In der integrierten onkologisch-palliativmedizinischen Station der Lungenklinik Lostau wird 18 im Falle von massiver kontinuierlicher Eigengefährdung während der letzten Lebenstage wahlweise sowohl zu Handgelenkfixierung als auch zu medikamentöser Sedierung gegriffen, häufig in ausdrücklichem Einvernehmen mit den Angehörigen – und dies vor der ausdrücklichen Dilemmaabwägung eines präfinalen Sturzes samt all dessen psychischen, wie rechtsmedizinischen Folgen. Auch außerhalb der Klinik: Im Förderbereich setzt man sich immer wieder kritisch mit Bettgittern für den Mittagschlaf der schwerst behinderten jungen Beschäftigten auseinander, gerade weil deren Anbringung und Nutzung nur den Betreuern (hier meist den Eltern der Menschen mit Behinderung) obliegt. Im Bereich der Werkstatt für Menschen mit psychischen Behinderungen stellt sich immer wieder die pädagogische, aber auch ethische Frage multipler Grenzziehung: Darf ich politisch extremistische Äußerungen dulden oder gibt es Grenzen? Darf ich Menschen unbegrenzt mittragen, die – krankheitsbedingt – keine Grenzen der Provokationen kennen, um sich – tragischerweise – täglich autoaggressiv verprügeln zu lassen? Darf ich massiv inkontinente Menschen ohne Krankheitseinsicht unbegrenzt mittragen – oder gibt es hygienische und ethische Grenzen? Nicht zufällig macht gerade die Pfeiffersche Reha-Werkstatt (PRW) eine typische Schwierigkeit konfessioneller Einrichtungen deutlich: schweren aber klaren Herzens, „Nein“ sagen zu dürfen. STERBEN Die Ethikvisiten in der Wachkomastation des Martin-Ulbrich-Hauses (Bereich Altenhilfe) haben große Nähen zu ethischen Fallbesprechungen gehabt, da in jenem Team – an dieser Stelle vielleicht am präzisesten innerhalb der Stiftungen – das methodische Moment der „Ethikvisite“ seit vielen Jahren verankert ist. Hier geht es etwa um diffizile ethische Dilemmata rund um die Umstellung von Nahrungszufuhr auf reduzierte Flüssigkeitszufuhr, den Umgang mit multipel deutbarer „Wehrigkeit“ bei einer Trachealkanüle etc. Betont wird die durchweg hervorragende Zusammenarbeit mit der Hausärztin, mit der fast durchweg große Einlinigkeit in der Versorgungsführung besteht. Auf der Intensivstation der Lungenklinik Lostau wird von der Schwierigkeit berichtet, in extremen Beatmungssituationen eine vertretbare Verlegung in die Palliativstation des Hauses vorzunehmen. Offensichtlich wird aber, dass auch auf Intensivstationen würdig, friedlich – und ohnehin ethisch konzise – gestorben werden darf und auch kann. Die Ethikvisiten auf der Palliativstation in Cracau wiesen punktuell immer wieder auf Fälle hin, die, so das interdisziplinäre Team, ebenso im Rahmen von ethischen Fallbesprechungen hätten traktiert werden können, wobei intrafamiliäre Konflikte rund um reale oder mutmaßliche Willensentscheidungen als häufigste ethische Dilemmalage identifiziert werden. Dies verschränkt sich, so wird berichtet, mit der natürlichen Scheu und Vermeidung, sowohl innerhalb des Krankenhauses als auch unter Einweisern, das Wort „palliativ“ zu nutzen, so dass nicht selten viel Nachkommunikation auf die Palliativstation zukomme. Im Pflegeteam der chirurgischen Station wird berichtet von ethischen Dilemmata durch den massiven Druck von Angehörigen, für höchstaltrige Patienten keinesfalls die Eventualität des Todes nur schon in Erwähnung zu ziehen. den darf, kann oder muss, was in der Regel von Eltern – abweichend von der Teammeinung - erbeten oder auch umgesetzt wurde. Der ethische Konflikt zwischen Team und Eltern ist ein systemimmanenter, wobei die Umsetzung des Elternrechts genauso fraglos geschieht wie das Ringen um ein von Mitarbeitenden hin und wieder als deutlich palliativ eingeschätztes Kindeswohl, was übrigens nicht erst am Lebensende, sondern schon bei der Diskussion um den Einsatz einer Ernährungspumpe erheblich virulent werden kann. Als hilfreich erweist sich hier zunehmend die strikte Durchsetzung der Leitlinie „Notfallvorgehen“ mit elterlicher Unterschrift. Da diese Leitlinie auch an die jeweils behandelnden KinderärztInnen (des elterlichen Vertrauens) geht und es gerade im Arztgespräch um die Aufklärung, als auch das Ausfüllen der „Notfallvorgehen“ geht, wird hier trialogisch sorgfältig ein hilfreicher ethischer „Zaun“ gezogen, der etwa überstürzte Intensivstationüberweisungen ausschließen kann. Im Kinderhospiz tauchen immer wieder ethische Dilemmata auf in der Frage, ob ein Notarzt eingeschaltet wer- 3.3.4 BEFRAGUNG EHRENAMTLICHER IM PROJEKT Bewusst wurden auch die ehrenamtlichen Mitarbeitenden des Hospizdienstes im Rahmen des Projektes Ethikvisite befragt. Bemerkenswert konzentriert können sie ihre auch ethisch tingierten Rollendilemmata darlegen, die sie meist zwischen Sterbenden und deren Angehörigen auszuhandeln haben. Sie stoßen übrigens in ihren privaten Umfeldern immer wieder auf Zuschreibungen: „Ach, du machst Sterbehilfe“. Dem können sie erstaunlich gut und gekonnt begegnen. Deutlich macht diese Zuschreibung von außen aber, wie diffus der Begriff „Sterbebegleitung“ in den aktuellen Debatten in der Öffentlichkeit geworden ist und wie hoch die allseitige Sprachfähigkeit aller haupt- wie ehrenamtlich Engagierten hier einer steten Überprüfung bedarf. 19 4 BEWERTUNG, FRAGEN UND AUSBLICKE Zunächst: Es konnten in den vergangenen Jahren mit Ethikforum, Ethischer Fallbesprechung und Projekt Ethikvisite drei sehr unterschiedliche Formen von Ethikarbeit in den Pfeifferschen Stiftungen entwickelt werden. Es konnten im Ganzen sehr viele Mitarbeitende der Stiftungen erreicht werden. Das Thema ist also „im Haus“ – nicht gänzlich neu (s.u.1), aber doch mit neuen Aspekten und Dringlichkeiten. Offene Fragen gibt es zuhauf. 4.1. ETHIKFORUM UND VERANSTALTUNGEN Das Ethikforum braucht vermutlich noch ein oder zwei Jahre weitere positive Erfahrungen, um sowohl intern als auch in der regionalen Fachöffentlichkeit in seiner Kontur und Kompetenz klar wahrgenommen zu werden. Auch andere in und um Magdeburg „können Ethik“ und können dies auch darstellen und zur Diskussion bringen. Wo stehen wir da als Stiftungen? Pfeiffer-intern braucht es vermutlich noch klarere Absprachen zwischen langjährig bewährten, ebenfalls erfolgreich regelmäßig ethische Fragen thematisierenden und regional gut (!) eingeführten „Formaten“ wie: Hospizfachtag, Fachvortrag Hospizdienst, Kompetenztag Pflege, Vortrag am Weltalzheimertag - und eben dem Ethikforum, welches seine besondere gesamtintegrative Aufgabe ausbauen sollte für die Stiftungen. 20 Dabei bleibt klar zu würdigen: Der Hospizfachtag hat sich 2014, gemeinsam mit Andreas Heller/Wien, intensiv mit 90 Teilnehmern zu Ethik auseinandergesetzt. Im Rahmen der öffentlichen Fachvorträge des Hospizdienstes referierte 2013 vor 80 Personen Arnd May couragiert über Sterbehilfedebatte. Zum Weltalzheimertag 2013 konnte die Bereichsleitung Altenhilfe, Tilman Jens als Referenten für das ethisch brisante Thema „Patientenwille“ gewinnen. Und während der drei Kompetenztage Pflege gab es, für durchschnittlich jeweils 120-140 Teilnehmende immer einen ausgewiesenen Ethikimpuls. 4.2 ETHISCHE FALLBERATUNGEN Für die ethischen Fallberatungen spielt es eine große erfreulich Rolle, dass der Bereich Hospiz in den vergangenen 1,5 Jahren profiliert vorangegangen ist, erfolgreich eine signifikante Zahl von Fallbesprechungen im eigenen Bereich hat durchführen können – und bei drei Fallbesprechungen im Bereich Gesundheit bereits mit Moderationskompetenz positiv Transfer leisten konnte. Die noch kleine, aber doch signifikante Zahl von ethischen Fallbesprechungen im Bereich Gesundheit, weist positiv auf eine Offenheit des ethisch besonders komplexen Klinikbereichs hin. Positive Rückmeldungen von Mitarbeitenden zu den konkreten Fallbesprechungen im Hospiz, wie in den Krankenhäusern, können diese Aussage profiliert unterstreichen. Es fehlt bislang eine klare stiftungsübergreifende Beauftragung der Koordination von Fallbesprechungen. Mindestens drei Personen aus drei verschiedenen Stiftungs-Bereichen sollten durch den Vorstand beauftragt werden, eng und vertrauensvoll miteinander zu kooperieren und in allen internen Medien mit ihren Kontaktdaten bekannt gemacht werden. (Für die außerhalb der Stiftungen durchgeführten ethischen Fallbesprechungen des ambulanten Beratungsnetzes Sachsen-Anhalt empfiehlt es sich, weiterhin durch Frau Friedersdorf die Koordination vorzunehmen.) Es fehlt noch vielerorts das Wissen, dass alle Mitarbeitenden eine, wie dankenswerter Weise schon jetzt, ethische Besprechung initiieren können. Hier ist die Zusammenarbeit mit der Unternehmenskommunikation gefragt, sowohl die ethischen Themen regelmäßig aktuell darzustellen, als auch über Moderation und Koordination von ethischer Fallbesprechung (samt klaren Erreichbarkeitszeiten und „Spielregeln“) zielgerichtet zu informieren. Es fehlen außerhalb des Bereichs Hospiz (und des Bereichs Altenhilfe) ModeratorInnen. 21 Vor allem: Eine Organisation wie die Stiftungen braucht etwa 12 ausgebildete Moderatorinnen und Moderatoren; real sind es zur Zeit nur 7. M.E. sollten – mindestens eine Ärztin oder ein Arzt aus dem Krankenhaus, eine Pflegende des Bereichs Gesundheit und eine Mitarbeitende des Bereichs Behindertenhilfe in Jahresfrist eine Moderatorenausbildung beginnen. Auch sollte, inklusive Supervision und Fortbildung, in die Bildung des bestehenden und zu erweiternden Moderationsteams investiert werden. Im Bereich Hospiz gibt es bereits eine befriedigende Dokumentationsregelung. Alle Beratungsprotokolle gehen sowohl in die Patientenakte als auch – teils mit ausführlichen Unterlagen – in einen Ordner der Bereichsleitung. Sinnvollerweise wäre hierzu für den Bereich Gesundheit ein vom Vorstand beauftragtes Ethikkomitee zu berufen, um die klassischen Aufgaben ethische Bildung, ethische Fallbesprechung, ethische Leitlinienarbeit zu koordinieren. Entscheidende Aufgabe dieser Funktion Ethikkomitee jedenfalls ist die Entlastung als auch Kontrolle des Moderationsteams. Diese wollen und diese dürfen nicht auf Dauer ungesteuert arbeiten. Es bedarf einer engen geregelten Verbindung zwischen der vom Vorstand verantworteten Organisationsethik einerseits, und der vom Moderationsteam verantworteten ethischen Fallarbeit, andererseits. Für alle anderen Bereiche ist umgehend ein, an den Bereich Hospiz angelehnter, Protokollbogen zu erstellen und der Dokumentenverbleib („Dokumentenlenkung“ im Rahmen des QM!) zu entscheiden. Eine wesentliche offene Frage ist die Evaluation der ethischen Fallbesprechungen. 4.3 AUS ETHIKVISITEN WERDEN ETHIK AUDITS Es wird empfohlen, das Projekt Ethikvisite umzubenennen in ein Instrumentarium Ethikvisite. Ethikvisite sollte nur heißen, wo sehr konkret Ethikvisite drin ist. Sollte es zur Zeit keine formale Ethikvisite in den Stiftungen geben, wäre dies, m.E., kein allzu großes Manko. Am ehesten sinnvoll, auch am anspruchvollsten wäre sie in der komplexesten Organisationseinheit der Pfeifferschen Stiftungen, in der Intensivstation der Lungenklinik Lostau. Wesentlicher erscheint mir, die Scharnierarbeit zwischen den diversen Teams und der Ebene von Vorstand und Stiftungskonferenz, so wie sie bislang im Projekt Ethikvisite praktiziert wurde, aktiv und mit voller weiterer Energie fortzusetzen. 22 Auch kann aus den bislang identifizierten Themen des Projekts Ethikvisite (s.u.3) klassische stiftungsübergreifende Projektarbeit initiiert werden, die wiederum für zukünftige Ethikberichte (s.u.4.4.) exzellente Vorarbeit erstellen könnte. Mit den Bereichsleitungen wird die Stabsstelle, wie bisher jährlich vereinbaren, welche Teams für Ethikaudits in den Blick genommen werden sollen. 4.4. ETHISCHE BERICHTERSTATTUNG Wenn der zweite Ethikbericht zum Jahresende 2016 vorliegen wird, kann - über die drei oben genannten drei Instrumente hinaus - von einem eigenständigen Instrumentarium der Ethikarbeit gesprochen werden. Dies ist, m.E., aktiv anzustreben. Ein solcher Bericht kann in Zukunft - neben seinen komplexen Rechenschaftsaufgaben – während seiner Erstellungsphase verstärkt als Werkstattbericht der diversen Teams und Arbeitsbereiche der Stiftungen verstanden werden. Die Ergebnisse der Ethikberichte haben unmittelbar einzufließen in die Arbeit der Bildungskonferenz, der Personalentwicklung und der Einführungsveranstaltungen. Der Ethikbericht sollte als Teil des Risikomanagements aktiv genutzt werden und in aktiven Zusammenhang gestellt werden mit den anderen Bestandteilen des Risikoberichtswesens. Auch eine enge Kooperation von Ethikberichterstattung mit dem Bereich Controlling ist ausdrücklich anzustreben. Zugleich muss er verbindlich in allen Leitungsgremien behandelt werden und in Zielvereinbarungsgesprächen aufgegriffen werden können. IMPRESSUM November 2015 Herausgeber und v.i.S.d.P.: Vorsteher Christoph Radbruch, Vorstandsvorsitzender Redaktion: Ulrike Petermann, Leiterin Unternehmenskommunikation Texte: Vorsteher Christoph Radbruch, Vorstandsvorsitzender der Pfeifferschen Stiftungen Pfarrer Hans Bartosch, Stabsstelle Diakonie und Seelsorge Kontakt: Pfeiffersche Stiftungen Pfeifferstr. 10 39114 Magdeburg Tel.: 0391 85050 [email protected] www.pfeiffersche-stiftungen.de Bilder: Archiv Pfeiffersche Stiftungen: S. 11/12; S. 16/17; S. 19 Michael Uhlmann: U1; S. 8/9; S. 10 fotolia: S. 4/5; S. 20/21 Layout/Gestaltung/Druck: Druckerei Mahnert GmbH 23