Wie ist Erziehung möglich (Luhmann)

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Wie ist Erziehung möglich –
und was sagt der verhaltensgestörte und unbeschulbare Schüler dazu?
Wenn wir uns mit Erziehung und Sozialisation auseinandersetzen, dann ist
damit die Prämisse verbunden, dass Erziehung grundsätzlich auch möglich ist.
(Kade, 2004, S. 201) Eine Prämisse, die im Lichte der Systemtheorie Luhmanns
zunächst als Unterstellung zu bezeichnen ist. Angesichts einer steigenden Flut an
Klagen von Lehrern über zunehmende Verhaltensstörungen von Kindern und
Jugendlichen und damit verbundener zunehmender Unbeschulbarkeit, gewinnt diese
Frage eine immer größere Aktualität und Brisanz.
Wir wollen uns dieser Frage von der Seite des „Menschenbildes“ nähern und
zunächst überlegen, wie denn dieser Mensch, der da erzogen werden soll, überhaupt
beschaffen ist. Dabei trifft man zunächst auf eine „prinzipielle Unvorhersehbarkeit“
(Luhmann, 2004, S. 22), die darin besteht, dass der Mensch keine triviale Maschine
ist, wie dies von Heinz v. Foerster so bezeichnet wird, aber, so die Unterstellung, in
der Schule, als Institution des Erziehungssystems, so behandelt wird. Eine erste
Annahme könnte dann lauten, dass Verhaltensstörungen lediglich Ausdruck dieser
Unvorhersehbarkeiten sind.
Triviale Maschinen sind wie Schreibmaschinen. Der Schreiber drückt auf ein X
und über die Mechanik wird ein X auf das Blatt Papier gesetzt. Geschieht dies nicht,
dann liegt irgendwo ein Gebrechen vor, das behoben werden muss. Der Mensch ist
keine Schreibmaschine. Wird beim Menschen auf ein X gedrückt, dann kann ein X
geschrieben werden. Oder aber auch ein A oder ein Text von Luhmann zitiert werden
oder gar nichts. Das Problem liegt darin, dass dann aber am Schüler nach der
Störung gesucht wird, die in Wirklichkeit nicht vorhanden ist. Das liegt auch am
System der Wissensvermittlung. Es werden Informationen an die Schüler
weitergegeben, die diesen nicht interessieren und nach denen er auch nicht gefragt
hat. Zu bestimmten Zeitpunkten erfolgt eine Überprüfung, ob auch eine
entsprechende Aneignung des Wissens stattgefunden hat, womit letztlich der Erfolg
von Erziehung festzustellen ist. Anlässlich dieser Überprüfungen hat der Schüler
dann Fragen des Lehrers zu beantworten, von denen er weiß, dass der Lehrer die
Antworten ohnehin kennt und dass es nicht darum geht, ehrlich gemeintes Suchen
des Lehrers zu begleiten. Was erfolgt ist dann ein taktisches Manöver der
Reproduktion von vorgegebenen Antworten, aber keine Aneignung von Kenntnissen.
Erfolgt keine oder eine andere als die erwünschte Antwort, dann liegt eine Störung
vor, die zu beheben ist. Gleiches gilt für den Bereich des Verhaltens.
Bei der Frage, was denn der Mensch sei, spricht Kade (2004, S. 201) von
einer „Gemengelage von operativ geschlossenen, selbstreferentiellen Systemen und
Luhmann beschreibt den Menschen als hochkomplexes System, wobei er dieses aus
dem körperlichen System und dem psychischen System zusammengesetzt sieht.
(Luhmann, 2002, S. 28) Diese Systeme sind, wie alle Systeme, „füreinander nur über
Ausschnitte zugänglich“ (S. 27)
Luhmann
löst das Problem
der Teilhabe
des Individuums
an der
Kommunikation durch die Einführung des Begriffes der „Person“. Der Mensch als
Individuum ist eine empirische Realität. Die Person stellt die Form des Umgangs der
Gesellschaft mit dem Menschen dar und ist als solche Adressat und Bedingung der
Fortsetzung von Kommunikation.
empirische Realität
Mensch:
biologisches
und
psychisches System
in
der
Form der
Person
Gesellschaft
Kommunikation
Die Person steht als Symbol für die Teilnahme an der sozialen Kommunikation
und ist als solches selbst Produkt der Kommunikation mit dem Sinn und Zweck der
Fortsetzung
von
Kommunikation.
Die
Person
sichert
damit
auch
die
Anschlussfähigkeit für die Kommunikation.
Die Teilhabe an der Kommunikation im Erziehungssystem wird von drei
grundlegenden Prinzipien begleitet. Die „doppelte Kontingenz“, die Notwendigkeit,
den Personen ein „Gedächtnis“ zu unterstellen und schließlich die „Motivation“ als
Schema, um Verhalten entsprechend begründen zu können, wobei es nicht um
psychologische Erklärungen geht, sondern um deren Funktion bei der Teilhabe an
Kommunikation.
a) doppelte Kontingenz
Dieser von T. Parsons eingeführte Begriff meint, dass jeder Teilnehmer an
einer Kommunikation immer auch anders handeln kann und dass dies für den
Anderen ebenso gilt. (Luhmann, 2002, S. 32) Das bedeutet, dass jeder sein
Verhalten erst dann festlegen kann, wenn er weiß, wie der Andere sich verhalten
wird. Während Parsons dieses Problem mit der Einführung eines Wertekonsenses
löst, sieht Luhmann die Möglichkeit zur Unterbrechung dieser zirkulären Abhängigkeit
in der Differenz von Vergangenheit und Zukunft, also in der zeitlichen Abfolge von
Kommunikation. Damit bleibt die Kommunikation immer noch offen, das System
richtet sich aber darauf ein (Luhmann, 2002, S. 33) und bildet auf Grundlage von
Vorerfahrungen nach und nach einen Rahmen, auf den sich die weitere
Kommunikation voraussichtlich beziehen wird.
Damit
wird
auch
das
oben
angesprochene
Problem
der
Verhaltensabweichungen in der Schule eingerahmt, sodass Schüler, die sich nicht
innerhalb dieses antizipierten Rahmens bewegen und ihre Kontingenzen ausleben
eben als „abweichend“ etikettiert werden.
b) Gedächtnis
„Alle Kommunikation muß voraussetzen, daß die teilnehmenden Personen
über ein Gedächtnis verfügen.“ (Luhmann, 2002, S. 34) Ein derartiges Gedächtnis
manifestiert sich etwa an der Ausbildung von Sprache und darin, dass die Worte, die
gesprochen werden auch verstanden werden. Dann ist auch davon auszugehen,
dass die Wahrnehmungskontexte einigermaßen stabil sind und sich die Welt nicht
von Moment zu Moment verändert, zerfällt und plötzlich eine völlig andere ist. Durch
das Gedächtnis wird eine Art von Kontinuität aufgebaut, die dazu fungiert, die
Komplexität, die hinter Handlungsentscheidungen steht, zu reduzieren und in die
damit verbundenen Unsicherheiten zu vergessen. Zeugnisnoten etwa stellen
Festlegungen im Erziehungssystem dar, die als Gedächtnis fungieren und die
Unsicherheiten, die bei ihrem Zustandekommen bestanden haben, vergessen
lassen.
Personen sind als soziale Konstrukte zu verstehen, denen Gedächtnis
zugeschrieben wird, wodurch auch der Fortgang von Kommunikation in Aussicht
gestellt wird. Gedächtnis spielt dann auch im Rahmen der strukturellen Koppelung
zwischen Systemen eine wesentliche Rolle.
c) Motiv
In der psychologischen Literatur erscheint der Begriff des Motivs als eine der
Wirkursachen für ein bestimmtes Verhalten, wobei ein Kausalität von Motiv und
Wirkung kaum nachweisbar ist. Stattdessen werden Zusammenhänge zwischen
verschiedenen Variablen hergestellt. Dabei ist ein solcher Zusammenhang nicht
unproblematisch, stellt die Angabe von Motiven doch nur eine Form der
Selbstbeschreibung dar, die immer nur retrospektiv einsetzt. „Erst wenn man
gehandelt hat, kann man sagen warum.“ (Luhmann, 2002, S. 37)
Luhmann sieht Motive nicht so sehr als Ursache, sondern als Grund für
Handeln. Er fragt also nicht mehr nach dem Warum, sondern nach dem Wozu.
Motive sind extra für die Zwecke der Kommunikation selbstreferentiell durch
Kommunikation angefertigte Handlungsbeschreibungen und lassen Handlungen
nicht mehr willkürlich erscheinen.
Die Funktion von Erziehung ist nun darauf gerichtet, auf den Menschen derart
einzuwirken, dass dieser eine Veränderung zeigt. Wird eine solche Veränderung
nicht erreicht, ist Erziehung gescheitert. Das Mittel zur Erziehung ist die
Kommunikation. Die erzieherische Tätigkeit besteht nun darin, dem Zögling Wissen
und Können zu vermitteln. Dabei ist inbegriffen, dass diese Vermittlung auch
scheitern kann.
Erziehung in der Schule erfolgt in der Situation des Unterrichts, in der der
Lehrer nicht nur mit einem, sondern gar mit einer Vielzahl an unberechenbaren
Systemen konfrontiert ist und daher auch die Frage zu stellen ist, wie denn unter
einer solchen Situation Unterricht überhaupt noch möglich ist. Die Antwort Luhmanns
lautet: Der Lehrer muss aus der Situation lernen. Dies geschieht, indem der Lehrer
sich selbst Kategorien schafft, um Erfolge sowie Belohnungen seiner Tätigkeit selbst
zu bestimmen. Dazu muss einerseits dem Lehrer die Beurteilung von Verhalten
selbst überlassen werden und andererseits die Zulassung von außenstehenden
Beobachtern, die eventuell zu anderen Schlüssen kommen könnten ausgeschlossen
werden. Lehrer machen sich so ihr eigenes Gedächtnis, das es ihnen wiederum
erleichtert, in problematischen Situationen Lösungen zu finden. Und solche
Situationen ergeben sich insbesondere dann, wenn Schüler anders als erwartet und
durchaus im Sinne ihres Eigensinns von der ihnen eigenen Kontingenz Gebrauch
machen. Dann wird Unterricht wieder unwahrscheinlicher und bringt für den Lehrer
eine Menge an enttäuschten Erwartungen mit sich. Erziehung im Sinne von
Vermittlung von Können und Wissen in der Schule stößt auf Schwierigkeiten, die von
Lehrerseite oft nicht eingeplant werden (können) und schließlich in Enttäuschung und
Exklusion münden. Abhilfe kann hier nur geschaffen werden, in dem auch der Lehrer
lernt, mit Kontingenzen umzugehen.
Abbildung: schematische Darstellung des schulischen Erziehungsgeschehens
Gedächtnis
Gedächtnis
Lehrer =
Person 1
Schüler
Vermittlung
=
Person 2
durch Kommunikation
Motiv
Kontingenz
Motiv
Kontingenz
Selbsthilfe
Festlegen von Erfolgskategorien als Maßstab für Gelingen oder Misslingen
Lehrer lernt dazu
Literatur
Kade, Jochen. 2004. Erziehung als pädagogische Kommunikation. In: Lenzen, Dieter
(Hrsg.). Irritationen des Erziehungssystems. Pädagogische Resonanzen auf
Niklas Luhmann. Frankfurt: Suhrkamp
Luhmann, Niklas. 2002. Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Frankfurt:
Suhrkamp
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