• NEUERSCHEINUNGEN • Teich Geertinger: Die italienische Opernsinfonia 16801710 Komposition zwischen Funktion und Selbständigkeit, Marburg (Tectum) 2009 D ass die italienische Opernsinfonie gewissermaßen den Urgrund dessen bildet, was sich in den 1730er Jahren erstmals als vom Opernkontext losgelöste »Konzertsinfonie« zeigte, gehört zum musikhistorischen Standardwissen. Welche Vorgänge aber die Opernsinfonie in der zeitlich unmittelbar vorangehenden Phase bis etwa 1710 prägten, und was genau dazu führte, dass derartige Kompositionen zu selbständigen Satzzyklen mit einem festen Platz im Konzertbetrieb werden konnten, lässt sich nur als komplizierter und vielschichtiger Vorgang beschreiben, der kaum geeignet ist, auch nur in die Nähe von Standardwissen zu gelangen: Hier öffnet sich das klassische Feld musikwissenschaftlicher Repertoireforschung. Vielleicht kann eine solche Studie wie die vorliegende Arbeit von der nicht zu leugnenden Nähe zu einer der prominentesten und gewichtigsten Gattungen der Kunstmusik, nämlich der »großen« Sinfonie in der Nachfolge der Wiener Klassik, profitieren. Ein solcher Effekt wäre jedenfalls nur zu wünschen, wo Repertoireforschung wie im vorliegenden Fall gleichbedeutend mit langwieriger Quellenarbeit ist. Axel Teich Geertinger hat sich dieser Aufgabe gestellt, und seine Studie kann nur als außerordentlich gelungen bezeichnet werden. Dies liegt auch am unübersehbaren Doppelcharakter des Unternehmens: Hier wird neben einer fundierten Darstellung des Gegenstands ein erheblicher Bestand an Kompositionen in Neuausgabe vorgelegt, der alles Vergleichbare aus der Vergangenheit weit hinter sich lässt und Interessierten (darunter auch den Musikern) erschöpfend Gelegenheit zum Nachvollzug gibt. Wer die einhundert Kompositionen des Notenteils studiert, dürfte ein angemessenes Bild vom Gegenstand gewinnen. Zweifellos sind derartige Stücke an den einschlägigen Orten (hier ist auch noch an den bislang kaum dokumentierten Bereich der Oratorien- und Messensinfonie zu denken) in großer Zahl vorhanden, sie »ruhen in den Archiven«, um ein gängiges Bild zu bemühen. Ob dieser Zustand des »Schlummerns« unbedingt verändert gehört, muss natürlich immer am Einzelfall entschieden werden. Teich Geertinger geht es aber gar nicht um die Ehrenrettung eines Repertoires, sondern vorrangig um größere Klarheit über die Ausdifferenzierungsvorgänge im Bereich instrumentaler Einleitungsmusiken für das Musiktheater. Die von ihm getroffene Auswahl der in den Notenteil aufgenommenen Kompositionen schließt als größte Gruppe allein 25 Sinfonien zu Opern Alessandro Scarlattis ein, die praktisch den gesamten im Titel genannten Zeitraum abdecken. Teich Geertinger zufolge waren bislang ganze neun ScarlattiSätze dieses Genres in Neuausgabe verfügbar. Dadurch wird diese Sammlung schon mit ihrem Scarlatti-Teilrepertoire zu einem gewichtigen Kompendium, dass sowohl die Zugänglichkeit, als auch die Kommentarlage bei gerade diesen Opernsinfonien entscheidend verbessert. Die übrigen Sätze des Notenteils stammen von Albinoni, Aldrovandini, Giovanni Bononcini, Gabrielli, Gasparini, Mancini, Pallavicino, Pasquini, Perti, Pollarolo, Torelli und Marc’Antonio Ziani. Es sind diese Kompositionen, die Scarlattis Leistungen für die Opernsinfonie in der Darstellung Teich Geertingers nun stärker kontextualisieren, ohne sie zu schmälern. Ihr Studium erscheint für eine umfassende Geschichte der Gattung unerlässlich. Der durchweg saubere Notensatz lässt, zusammen mit einem übersichtlichen Revisionsbericht, keine Wünsche offen, und auch an die Verknüpfung von Noten- und Textteil wurde gedacht: Hinweise auf die Einzelsätze im Namensregister des Textteils erleichtern die Auffindbarkeit der zugehörigen Textstellen. Hier wird der ausgesprochen praktische Wert der Arbeit greifbar: Einer »klingenden Anthologie« zu dieser wichtigen © DIE TONKUNST, Oktober 2011, Nr. 4, Jg. 5 (2011), ISSN: 1863-3536 563 • NEUERSCHEINUNGEN • Phase in der Geschichte der Opernsinfonie, etwa in Form einer die Schlüsselsätze umfassenden Einspielung, steht nichts mehr im Wege. Teich Geertingers Angaben zur eher dünnen Lage bei den derzeit nachweisbaren Referenzaufnahmen (Anhang D: Diskographie) fordert entsprechende Unternehmungen jedenfalls heraus. Aber auch der Textteil kann mit Neuheiten aufwarten: Ein Merkmal, das die Arbeit vor anderen vergleichbaren Repertoirestudien auszeichnet, ist ihre kulturtheoretische Profilierung. Hier gelingt es dem Autor, letztlich systemtheoretisches Gedankengut, ein im Fach noch nicht sehr häufig anzutreffender »Theorieimport«, für sein Vorhaben fruchtbar zu machen (Kap. 3). Was Teich Geertinger bescheiden als ein »Nebenthema« seiner Arbeit bezeichnet, erweist sich als eine kurzgefasste Auseinandersetzung mit der Frage nach der sinfonischen Gattungsgenese aus systemtheoretischer Sicht. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist dabei die Tatsache, dass der für die Sinfonie so wichtige Bereich des nicht-notationsgebundenen Musizierens im Trompeterkorps für die Kunstmusik des mittleren 17. Jahrhunderts prinzipiell noch »Außenwelt« darstellt, also nicht zum eigentlichen Kunstsystem gehört. Eine Verquickung aber von kunstvoll-mehrstimmigem Sinfoniesatz und einer letztlich dem Bereich handwerklicher Improvisation von Signal- und Spielfiguren entstammenden Klanglichkeit wird nach dieser Sichtweise zum wesentlichen Dreh- und Angelpunkt der Gattungsgeschichte. Fundamental erscheint in dieser Sichtweise denn auch die mit der Gattung untrennbar verbundene kompositionstechnische Umwälzung: »Sinfonia« bedeutet in der Folge- zeit ein Anpassen des musikalischen Satzes an die Dominanz einfacher Klangverbindungen und den damit verbunden Wandel von Kompositionsprinzipien schlechthin, also nichts weniger als das Ende kontrapunktischer Kontinuität zugunsten einer Diskontinuität des Zusammenfügens von z. T. austauschbaren Einheiten. Der takt- und kadenzmetrische Satz, die Gliederbauweise des sinfonischen Satzes, wie sie (ebenfalls im Rahmen einer Repertoirestudie) schon vor über 40 Jahren von Helmut Hell beschrieben wurde, erscheint hier als unmittelbare Folge eines Vorgangs, der systemtheoretisch geradezu beispielhaft fassbar ist und der gerade nicht gattungsimmanent erklärt werden kann, sondern vielmehr eine klare Verbindung zur Funktionalität von Musik aufweist. In letzter Konsequenz lautet die Sicht Teich Geertingers: Ohne das Zusammentreten von Kunst- und Trompetermusik keine Sinfonie. So liegt mit dieser Studie ein Forschungsbeitrag vor, der die nicht sehr umfangreiche Literatur dieses Bereichs in deutscher Sprache wohltuend vermehrt und dabei einen echten Gewinn darstellt. Unser Bild von instrumentaler Ensemblemusik im schwierigen Grenzbereich zu einer gewichtigen vokalmusikalischen Großgattung lässt sich nun klarer zeichnen. Neben dem beschriebenen editorischen und damit praktischen Zugewinn vermag die Arbeit Teich Geertingers in gewissen Grenzen sogar über sich hinauszuweisen, denn die hier dargelegten Erkenntnisse über allgemeine musikalische Ausdifferenzierungsvorgänge können strukturell auch für Untersuchungen in anderen Bereichen als Anregung verstanden werden. [Matthias Kirsch] Schmidt (Hg.): Felix Mendelssohn Bartholdy: Lieder für Singstimme und Klavier, Wiesbaden (Breitkopf & Härtel), 2008/09 D ie Lieder Felix Mendelssohn Bartholdys wurden im Laufe ihrer Rezeptionsgeschichte in viele Schubladen gesteckt: Sie galten als Verlierer im direkten Vergleich mit den Liedern Schuberts und Schumanns, als bloße Gesellschaftskunst, die bestenfalls als »reizvoll« oder »elegant« gelobt 564 werden konnte, als Zeugnis einer sentimentalen Rückwärtsgewandtheit. Schließlich schloss sich die Schublade und nur wenige Wissenschaftler blickten hin und wieder hinein. Im MendelssohnJahr 2009 sind bei Breitkopf & Härtel nun erstmals Mendelssohns gesammelte Lieder in drei Bänden © DIE TONKUNST, Oktober 2011, Nr. 4, Jg. 5 (2011), ISSN: 1863-3536