SERIE Pädagogische Architektur Schulbau und Pädagogik – Bildungs­ landschaften neu reflektieren Frauke Burgdorff, Vorstand der Montag Stiftung Urbane Räume In welcher Beziehung stehen zukunftsfähiges, gemeinschaftli­ ches Lernen und architektonische Gestaltung? Was für Räume erfordert selbstständiges Lernen? Wie werden Bildungseinrich­ tungen in Stadtteile und ihre Einrichtungen funktional einge­ bunden? Diesen und anderen Fragen stellen sich die Montag Stiftung „Urbane Räume“ und die Montag Stiftung „Jugend und Ge­ sellschaft“. Gemeinsam entwickeln und realisieren sie die auf mehrere Jahre angelegte Projektschiene „Lebens- und Lern­ raum Schule: Pädagogische Architektur“. Die Montag Stiftungen mit Sitz in Bonn beraten kommunale Schulträger und Schulen bei besonderen Schulbauprojekten, moderieren und entwickeln innovative Ansätze für eine päd­ agogische Architektur vom Konzept bis zur Einbindung in den Stadtteil. Darüber hinaus veranstalten und entwickeln sie Dialogreihen, Ausstellungen, Workshops und weitere Arbeits­ hilfen zum Thema (www.montag-stiftungen.com). Pädagogische Architektur als Ziel Ziel der Stiftungen ist es, beispielhafte Verbesserungen der Lernbedingungen an Schulen zu ermöglichen und einen Dis­ Dr. Karl-Heinz Imhäuser, Vor­ stand der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft kurs über die vielfältigen Wechselbeziehungen von Architektur und Pädagogik anzuregen. Dieser soll über die Grenzen der an Schule Beteiligten (Päda­ gogen, Lernende, Eltern, Schul- und Jugendhilfeverwaltungen, Schulaufsicht) hinaus auch Architekten, Gebäudemanager und weitere Interessierte einbeziehen und zu gemeinsamen Initiativen inspirieren. Mindestanforderungen an den Schulbau Moderner Schulbau stellt notwendige Mindestanforderungen, die bei der Planung bereits mit bedacht werden müssen: Schulen sollen für einen Lebenszyklus von etwa 80 Jahren robuste Häuser des Lernens sein. Erforderlich ist ein Mindestmaß an gut ausgestatteter und gestalteter Fläche; diese muss vielfältig und von möglichst vielen – auch körperlich beeinträchtigten Lernern – für in­ klusive Lernarrangements nutzbar sein. Eine optimale Akustik ist entscheidend, denn Lernen findet zu großen Teilen über Diskussion und Dialog, durch Sprechen und Zuhören statt. Eine aktive Belüftung und Tageslicht im ganzen Bau ge­ hören unabdingbar zum Schulbau der Zukunft. Schulbau muss ökologisch vorbildlich gegenüber den Nutzern und der Stadt­ gemeinschaft sein. Denn: Die bestehen­ den Schulgebäude werden in den kom­ menden Jahren Schritt für Schritt weiter energetisch und stofflich saniert und haben eine Vorbildfunktion für die kom­ munale Infrastruktur. Aktuelle Herausforderun­ gen im Schulbau Auf Schulen kommen an der Schnittstelle von Pädagogik, Hochbau und Stadtent­ Lernlandschaften; Foto: Josef Watschinger Schule NRW 09/10 439 SERIE Die Beteiligten müssen gleichzeitig auf die Abnahme der Schülerzahlen, die Zunahme der Flächen für den Ganztag und den Sanierungsstau in den Schulen reagieren. Nur wenige Kommunen bemühen sich zurzeit, sozialräumliche, immobi­ lienwirtschaftliche, gesundheitspolitische und pädagogische Fragestellungen in eine integrierte Gesamtplanung von Schulstandorten zusam­ menzuführen. Hier besteht immenser Entwick­ lungsbedarf, damit Schulerweiterungen und Standortschließungen für die Stadtgesellschaft und für die Schule selber transparent und produk­ tiv gemacht werden. „Phase 0“ als Basis für die weitere Entwicklung Entspannungsraum für Lehrkräfte; © Montag Stiftung Urbane Räume wicklung in den nächsten Jahren große Herausforderungen zu. In einer Welt, in der Wissen nicht mehr im Gleichschritt vermit­ telt wird, sind die Lern- und Lehrformen anders zu orga­ Gebäude des Lernens nisieren. Das Schulgebäude durch vielfältige Lernge­ muss Lernumgebungen für legenheiten verändern alle denkbaren Lernformen ermöglichen: von Selbstlernen bis Lernen in variierenden Grup­ pengrößen; jahrgangsbasiert als auch jahrgangsübergreifend. Das strenge Prinzip Flur-Klasse hat ausgedient. Schulen brau­ chen vielfältigere Lerngelegenheiten. Angesichts knapper Kassen, rückläufiger Schüler­ zahlen und neuer Lehr- und Lernkonzepte darf Schulbau nicht abstrakt, sondern muss konkret – an jedem Ort anders – gestaltet werden. Verlässliche, transpa­ rente sowie klar nachvollziehbare Entscheidungswege bei der Realisierung sind wichtig. Am Beginn einer umfassenden Baumaßnahme – in der „Phase 0“ – muss die Ermittlung des Bedarfs durch die Schu­ le erfolgen; auch die Gegebenheiten der Architektur und die Möglichkeiten der Kommune müssen hinterfragt werden. Die Schule sollte bei der Erarbeitung eines pädagogischen Konzeptes in Bezug auf die Baumaßnahme begleitet werden. Lernende und Pädagogen verbringen künftig mehr Zeit in Bildungseinrichtungen. Ein Kind, das im Ganztag seine Hochschulreife erwirbt, verbringt bis zu 20.000 Stunden seines Lebens in Schulgebäuden. Das sind zirka 60 Prozent mehr als im herkömmlichen Halbtagsbetrieb. Dort fehlen oft nicht nur Gelegenheiten für eine gesunde Ernährung, sondern auch Räume, die über den Tag multifunktional und individuell zum Entspannen oder Lernen genutzt werden können. Gleiches gilt natürlich für die Pädagoginnen und Pädagogen. Auch sie benötigen hochwertige Arbeitsplätze und Entspan­ nungsmöglichIm Ganztag bis zum Abitur heißt: keiten, um sich optimal auf ihr 20.000 Stunden im Schulgebäude Kerngeschäft – die Initiierung erkenntnis- und erlebnisreicher Lernprozesse – vorbereiten zu können. Dazu gehören Gelegen­ heiten für Beratungen mit allen am Bildungs- und Erziehungs­ prozess Beteiligten. 440 Marktplatz – Gestaltung einer Schule als Dorf; © Montag Stiftung Urbane Räume Schule NRW 09/10 SERIE Zu beantworten sind die wichtigsten strukturellen und räumlichen Fragen: Welche Lernkultur sollen der schulischen Ar­ beit in Zukunft zugrunde liegen? In welchem Verhältnis sollen Selbstlernen, Gruppenlernen und gemeinsame Instruktion zueinander stehen? Sollen Klassen in Clustern organisiert werden, damit teamorientiertes und/oder altersüber­ greifendes Lernen ermöglicht wird? Wie verhält sich die Schule zur Stadtgesell­ schaft und -gemeinschaft, welche Öffnungen und Abgrenzungen sind sinnvoll? Sind etwa weitere Institutionen formellen/informellen Lernens mit dem Gebäude vernetzt oder Mehr­ fachnutzungen für außerschulische Bedarfe zu berücksichtigen? Und nicht zuletzt: Welche Rollen übernehmen die Lehrkräfte im Tagesverlauf, wo arbeiten, planen, beraten und konferieren sie? Flurgestaltung; © Montag Stiftung Urbane Raume Gleichzeitig ist die Schule aber auch aufgefordert, die Hand­ lungsgrenzen, die sich aus dem Gebäude selber und – falls dies bekannt ist – aus den finanziellen Möglichkeiten der Kommune ergeben, mit in die eigenen Überlegungen einzubeziehen. Die Ergebnisse des pädagogischen Konzeptes liegen nur in den seltensten Fällen bereits am Anfang eines Bauvorhabens vor. Schulen und Bauverwaltun­ Pädagogische Konzepte gen sind darauf angewiesen, an den Anfang stellen sie in den laufenden Prozess einzuspeisen und dauernd mit den Möglichkeiten des Ge­ bäudes und des Standortes abzugleichen. Dieses Hin und Her von Absichten, Erwartungen, Grenzen und Möglichkeiten darf sich nicht unmittelbar an Quadratmetern festmachen, weil darin territoriale Konflikte angelegt sind. Besser ist es, über Aktivitäten und Funktionalitäten die künftigen räumlichen Bedarfe zu beschreiben. Moderation und Partizipation Umfassende Baumaßnahmen in einer Schule lösen zunächst Irritationen und Ängste aus. Pädagogen sind keine Baufach­ leute und Architekten keine Pädagogen. Wer weiß schon, was ein „vorzeitiger Maßnahmenbeginn“, ein „Blendbogen“ oder „offener Unterricht“, ein „jahrgangsgemischtes Cluster“ ist? In dialogischen Prozessen ist es notwendig, dass alle Beteiligten in Schrift, Wort und Bild so weit wie möglich auf Verständlich­ keit achten, ihre Absichten offen legen und sich bemühen, den anderen zu verstehen. Viele Um- und Bauprozesse beginnen in einer Stimmung, in der die Sorge vor Übervorteilung deutlich spürbar ist. Wenn diese Stimmung auch noch durch die Abgrenzung über Fachspra­ chen, durch vorgeschützte Unausweichlichkeiten (etwa den Brandschutz) und durch verdeckte Interessen genährt wird, ist es schon beinah zu spät für eine vernünftige Partizipation. Echte Teilhabe braucht Dialog und Begegnung auf Augenhöhe, in der die Position des Anderen Wertschätzung und ernstge­ meinte Auseinandersetzung erfährt. Dies kann etwa durch eine neutrale Moderation hergestellt werden und durch klare Verantwortlichkeiten, die zum Beispiel über quer zu den Fächern besetzte Steuerungsgruppen in der Schule und über einen zentralen Ansprechpartner in der Verwaltung geregelt werden. Von der Praxis inspirieren lassen In vielen Schulen Deutschlands und Europas lassen sich Inspirationen für gute Praxis finden. Das Gebaute ist am Ende nicht unbedingt spektakulär, aber gut durchdacht und – vor allem auch – gut gestaltet (www.lernraeume-aktuell.de). Zahlreiche Partner auf Landes- und Bundesebene entwickeln inzwischen zusammen „Inspirationen für Bildungsbauten“: das Ministerium für Schule und Weiterbildung, die Architektenkammer NW, der Bund Deutscher Architekten, Blick über den Zaun e.V. und die Deutsche Kinder und Ju­ gendstiftung. Sie alle sind dem Ziel verpflichtet, zeitgemäßes Lernen und Unterrichten bestmöglich durch innovative Raum- und Bau­ gestaltung zu unterstützen. Schule NRW 09/10 441