Ethik und Ontologie. Denkwege zu einer Ethik der Existenz

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Ethik und Ontologie. Denkwege zu einer
Ethik der Existenz
Helma Riefenthaler
Universidad de Viena, Austria
Das Nachdenken über das Ich, über das denkende Ich
durchzieht die Philosophiegeschichte als tema con variazoni, ebenso wie die Frage nach dem Sein und dem
Sollen im Sein.
Eine neue Nachdenklichkeit fragt nach einer möglichen
Ethik in einer globalen Welt, nach der Verantwortung
des Menschen in unterschiedlichen Bereichen, die den
Menschen selbst betreffen (Bioethik, Medizinethik), aber
auch seine Umwelt (Ökologische Ethik), sein politisches
Handeln (Politische Ethik), die Verantwortung der
Wissenschaft (Wissenschaftsethik), andere Lebewesen
(Tierethik), die Wirtschafts- und Arbeitswelt (Wirtschaftsethik, Unternehmensethik), dies in immer spezifischeren
Ausdifferenzierungen. Wenn wir uns die Frage stellen,
wenn wir uns der Frage stellen welches Ethikmodell
und welches Humanismusverständnis wir Forschung,
Innovation und Verantwortung heute zugrunde legen,
ist damit zugleich eine hohe Erwartung an die Ethik als
wissenschaftliche Disziplin verbunden. Eine Frage, die
hier nicht gestellt ist, die ich aber trotzdem in den Raum
stelle: Erwarten wir uns auch einen Nutzen davon, dieses
Thema voranzutreiben?
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Auf allfällige Skepsis bei NaturwissenschafterInnen,
die überrascht sein mögen, wenn ich im Zusammenhang
mit Ethik von Nutzen spreche, und ebenso gegebenenfalls Irritation bei GeisteswissenschafterInnen möchte
ich drei Gegenfragen anbieten, die die Reziprozität von
theoretischen Modellen und praktischen Handeln in
den Blick nehmen und die Forschungsfragen begleiten:
Begreifen wir Universitäten als den Ort der Forschung
und Lehre, von dem Ethikmodelle und Humanismusverständnis durch die Dissemination über Absolventen,
Publikationen und deren Impetus auf das Handeln
wiederum Eingang in die Lebenswelt finden (sollen)?
Wirken Ethik und Humanismusverständnis ausgehend
von Universitäten, die selbst Teil der Gesellschaft sind
und zugleich eine gesellschaftliche Verantwortung
wahrnehmen – in der Wahrnehmung der Bildungsfunktion der Gesellschaft, als Arbeitgeber von Universitätsangestellten, als Auftragnehmer von Drittmittelprojekten
– auf die Lebenswelt?
Was soll, was kann Ethik als wissenschaftliche Disziplin
leisten?
Die Universitäten waren Ausgangspunkt von Entwicklungen, die uns vor allem in den letzten beiden Jahrhunderten von der industriellen Revolution bis hin zu
einer hoch technisierten globalen Marktwirtschaft und
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Wissensgesellschaft geführt haben. Ich möchte aus
Perspektive einer existenzphilosophischen Ethik Stellung
beziehen, einen innovativen Weg skizzieren, der innerwie interdisziplinäre Fragen der Ethik betrifft.
Unter der Grundannahme, dass Wirtschaft und
Wirtschaftlichkeit alle Menschen in allen Lebenswelten
– ob Wirtschaft, Politik oder Wissenschaft – betreffen, wird
im Folgenden Wirtschaftsethik als allgemeine Ethik auf
dem Fundament und in Rückbezug zur Ontologie gedacht.
Ein Subjektbegriff, sich selbst als verantwortlichen und
verantwortlich handelnden Menschen zu denken, steht im
Zentrum eines Entwurfs zu einer Ethik, die eine
Innovation des Denkens zugleich verlangt wie generiert.
Diesem Zugang, der die Entwicklungen der Wissenschaften und die Lebenswelt des 21. Jahrhunderts mit
einbezieht, der Ethik und Seinsverständnis verbindet, das
heißt, Ethik und Ontologie als theoretische Grundlagen
heranzieht, und in einer allgemeinen Wirtschaftsethik1
mündet, ist voranzustellen, dass es sich hier um einen
bestimmten theoretischen Zugang handelt, der wohl auf
Der Begriff der Allgemeinen Ethik in Unterscheidung zu Angewandter
Ethik: Während Angewandte Wirtschaftsethik explizit oder implizit auf
Grundlage einer bestimmten (normativen) allgemeinen ethischen Theorie
(deontologisch, teleologisch, konsequentialistisch, utilitaristisch usf.)
argumentiert, und sich in der Kategorisierung der ethischen Theorien als
Subkategorie verortet, versteht sich allgemeine Wirtschaftsethik als
eigenständige ethische Theorie, die aber aus sich selbst heraus wiederum
zur Anwendung kommen kann. Ausführlicher s. dazu Kommunizierte
Wirtschaftsethik, Riefenthaler 2008, übers. und hg. von Manuel Velazquez: H.
Riefenthaler, Ethica economica comunicada, UAEM, 2010.
1
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klassischen normativen Theorien aufbaut, nicht aber
direkt aus diesen ableitbar ist, und dass dies ein Zugang
unter vielen möglichen Zugängen ist, der nicht den
Anspruch erhebt – nicht erheben kann – der einzig richtige
zu sein. Ich möchte jedoch den Blick im Zusammenhang
mit der Frage, was Ethik als wissenschaftliche Disziplin
leisten soll, auch darauf lenken, dass ich es nicht als
Aufgabe der wissenschaftlichen Disziplin Ethik sehe,
eine einzelne Theorie zu postulieren, sondern über Lehre
und Vermittlung der vorliegenden klassischen normativen Theorien und über die pluralen neuen Ansätze
aus inner- und interdisziplinärer Forschung Weiterentwicklungen und eine Vertiefung der Reflexion im allgemeinen moralisch-ethischem Bewusstsein anzustreben.
Die Implementierung der Ethik als Unterrichtsfach
in Schulen anzustreben – und nicht erst an Universitäten
als einer Bildungselite vorbehaltene theoretische Disziplin
anzubieten – ist hierbei ein in der Bildungsdiskussion
von vielen Ethikern vertretener Ansatz, der in Österreich
insbesondere von Peter Kampits initiiert wurde; Teil der
Konzeption ist hierbei eine Ausbildung von EthiklehrerInnen für das Unterrichtsfach Ethik an den Universitäten.2
Die Freiheit und Verantwortung des Menschen, der
Wissensgesellschaft, in der Lebenswelt einer globali2003 wurde an der Universität Wien ein Universitätslehrgang Ethik
implementiert (Leitung: Univ.-Prof. Dr. Peter Kampits).
2
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sierenden Marktwirtschaft, werden im Folgenden aus
drei Perspektiven mit Blick auf Sein und Sollen
untersucht. Ausgehend von der Begründungsfrage von
Sein und Sollen, die sich in der Ethik wie in der Ökonomik in gleicher Weise stellt, wird in einem zweiten
Schritt die Wahl als gemeinsamer systematischer Ort von
Ethik und Ontologie postuliert, und in einer Skizze zum
Seinsverständnis der unauflösbare ethisch-ontologische
Zusammenhang am Beispiel von Humanismus-verständnis und Rationalitätsbegriff aufgezeigt.
1.
Warum Wirtschaftsethik – ein Blick auf sein und
sollen
Aus der angewandten Ethik haben sich im letzten
Jahrhundert eine Vielzahl an Teilbereichsethiken entwickelt
– Medizinethik, Wissenschaftsethik, Wirtschaftsethik,
Unternehmensethik, Politische Ethik, Umweltethik,
Bioethik, Ökologische Ethik, Tierethik, bis hin zu Pflanzenethik oder Sportethik. Diese Aufzählung ist nicht
vollständig, die kategorialen Ebenen sind vielschichtig
und beinhalten Überschneidungen. Als Aufgabe aller
Wissenschaften ist zu sehen: Wenn wir ethische Reflexion
als Teil der conditio humana begreifen, kann diese nicht
länger von anderen Wissenschaften abgekoppelt als
Einzeldisziplin gelehrt werden, die Inhärenz der ethischen
Fragestellungen in den jeweiligen Disziplinen verlangte
nach deren Thematisierung und Problematisierung in
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der Lehre – in den Studienplänen aller Disziplinen –
und in interdisziplinärer Forschung. Der Weg in die
Interdisziplinarität wird aus vielen Disziplinen sehr
bewusst beschritten.
In allen Teilbereichsethiken stoßen wir an ökonomische Fragen. Moralisch-ökonomische Dilemmata prägen
Entscheidungsfindungen im Handeln des Einzelnen wie
auch in betriebswirtschaftlichen und volkswirt-schaftlichen Prozessen. Jeder ist homo oeconomicus, eingebunden
in einen wirtschaftlichen Gesamtzusammenhang, dem
sich niemand entziehen kann. Die Praxis unserer
Lebenswelten, in Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und
Zivilgesellschaft, ist heute dominiert von einem Primat
der Ökonomik.
Wirtschaftsethik auf dem ontologischen Fundament
der Existenzphilosophie fokussiert auf die ethischen
und ökonomischen Zusammenhänge der menschlichen
Existenz, stellt die Frage von Sein und Sollen, IST und
SOLL und rationaler Entscheidung neu zur Diskussion.
Blicken wir dazu auf ein kreisförmiges ökonomisches
Handlungsmodell, und besetzen dieses mit philosophischen Begriffen von Faktizität, Transzendenz und
Wahl:
 Faktizität: Wir befinden uns in einer bestimmten
absoluten und historischen Situation, die eine
bestimmte ökonomische und eine moralische
Dimension aufweist
38


Transzendenz: Verschiedene Entwürfe eines
Sein-Sollenden werden in vorausschauenden
Denken (gegeneinander) abgewogen
Wahl (choice): Über die Entscheidung wird eine
neue Faktizität (Situation) geschaffen
Eine Gewissheit, dass wir die richtigen Entscheidungen treffen, kann es ex ante nicht geben. Sowohl
der naturalistische Fehlschluss – aus einem Sein kann kein
Sollen abgeleitet werden – als auch der normativistische
Fehlschluss – aus einem Sollen kann kein Sein abgeleitet
werden– treffen nicht nur auf die Philosophie, die
Ethik, sondern auch auf die Ökonomik zu. Weder
ethische noch ökonomische Sein-Sollens-Schlüsse sind
universell letztbegründbar. Weder das Primat der
Ethik (welcher ethischen Theorie) über der Ökonomik
noch das Primat der Ökonomik über der Ethik kann in
logischem Schluss erwiesen werden: Es gibt nicht die
eine richtige Entscheidung, sondern eine Vielzahl von
Möglichkeiten, aus der eine Wahl zu treffen ist.
Ist-Soll-Konzeptionen sind immer zugleich moralischökonomische Entwürfe, und bewirken im konkreten
Handeln eine neue Faktizität in der Lebenswelt. Es gilt
ein Bewusstsein dafür zu generieren, dass Menschen
über ihre ökonomischen IST-SOLL Entscheidungen
und ihre Handlungen zugleich Werte setzen. Und auch
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eine Entscheidung für ein gewolltes –gesolltes– ethisches
Gutes kann einen Preis haben.
Eine der von der Financial Times im Bereich Economics
und Business Economics sehr hoch gerankten Universitäten Europas definiert Ökonomik als Wissenschaft
von der Wahl: „Economics is the science of choice.“3
Die ökonomische Wahl ist nicht zuletzt die Wahl der
Welt, die wir wollen, die sein soll. Die Überlegungen
zum Handlungskreislauf münden im Anspruch,
ethische Reflexion in ökonomischen Entscheidungsprozessen als rational mitzudenken.
2. Ethik und Ontologie. Die systematische Bestimmung
von Denkwegen. The science of choice
Ich habe vom gemeinsamen ontologischen Fundament
der Ethik und der Ökonomik gesprochen, das sich als
Fundament dieses Handlungskreislaufs entbirgt, eines
Handlungskreislaufs, der freie Entscheidungen voraussetzt.
Frei in dem Sinn, dass es die Möglichkeiten gibt, aus
zwei oder mehr Entwürfen eine Wahl zu treffen.
Ethik und Ontologie sind dem innerwissenschaftlichem Verständnis der Fachdisziplin Philosophie
zwei getrennte Themenfelder, die sich systematisch mit
dem Sein (Ontologie) bzw. mit dem Sollen (Ethik)
befassen. Ethik wird in der klassischen Kategorisierung
3http://www.maastrichtuniversity.nl/web/Faculties/SBE/TargetGroup
/ProspectiveStudents/Bachelor/Programmes/EconomicsAndBusinessEc
onomics/ProgrammeInformation.htm.
40
in der Praktischen Philosophie, Ontologie in der
Theoretischen Philosophie verortet. Wiewohl also
innerdisziplinär logisch und systematisch klar getrennte
Bereiche, ist die Verschränkung der Themenfelder über
die Grundannahmen luzide: Jede allgemeine ethische
Theorie steht in einem bestimmten metaphysischen
oder ontologischen Reflexionshorizont.
Existenzphilosophie als eine bestimmte Weise des
Philosophierens ist so alt wie (westl.) Philosophie als
Wissenschaft selbst (vgl. z.B. Thurnherr 2007, Flynn 2008),
mit Sören Kierkegaard, Friedrich Nietzsche, Martin
Heidegger, Karl Jaspers wird Existenzialismus als
geisteswissenschaftliche Strömung des 20. Jahrhunderts
im deutschen, und mit Albert Camus und Gabriel
Marcel im französischem Sprachraum begründet. Existenzphilosophie und linguistic turn veränderten im 20.
Jahrhundert das Gefüge der Ethik, die zuvor als
normative Ethik nur gedacht wurde.
Jean-Paul Sartre eröffnet mit der phänomenologischen Ontologie einen Denkweg Ethik, verband seine
Entwürfe für eine Moralphilosophie (Sartre 2005) mit dem
ontologischen Axiom: Im Zentrum seiner Fragestellungen
stehen das Sein und der Mensch. Die Wahrheit des
Seins. Die Freiheit des Menschen. Die Verantwortung
des Einzelnen. Kein Schicksal. Keine Entschuldigung. Die
Wahl.
41
Die Legende der Wahrheit (Sartre 1997), eine kleine,
wohl nur wenig bekannte Schrift Sartres, steht am
Beginn seines Nachdenkens über den Menschen, über
den Sinnzusammenhang von Dasein, Wahrheit, Markt
und verantwortlichem Handeln und problematisiert
auf metaphorischer Ebene die Vernetzung von Krieg,
Religion, Macht, Gewalt und Ökonomie. Die Frage nach
der Wahrheit – der Wahrheit der intersubjektiven Beziehung
der Menschen – ist die existentielle Grundfrage, die der
Frage der Handlungsmoral vorangestellt ist.
„Wer kann sagen, was an einer Schlacht wahr ist?“
(Sartre 1997, LW 9) Der Existentialist Sartre stellte eine
Problematik in den Raum, die zeitlos ist, von theoretischen
Überlegungen zum Begriff der Wahrheit zur moralischen
Dimension des Handelns führt. Aus einem Nachdenken
über die Wahrheit, dessen, was ist, ein neues, das heißt
anderes, Lebensprinzip zu erarbeiten, bedarf eines
Denkweges, der sich darauf einlässt, die ökonomischen
Fragestellungen neu zu denken, die sowohl in der
Geschichte wie in den Gesellschafts- und Marktordnungen
von Marxismus bis Kapitalismus dieselben bleiben –
die Entfremdung des Menschen durch über wirtschaftliche
Produktivitätskategorien erfolgende Aneignung von
Menschen als Humanressource und die Entfremdung des
Menschen vom humanen Sein über Zerstörung und Gewalt.
Die Umkehrung der Theodizee – die Frage nach
der Verantwortung für das Leid in der faktischen Welt
42
und das Verlangen nach einer Gerechtigkeit ist nicht
an einen barmherzigen oder unbarmherzigen Gott
(oder an die metaphysische Gottheit „Markt“), sondern
an den Menschen zu richten – mündet gerade nicht in
einer Beliebigkeit. Die Welt, wie sie ist, ist in der
Verantwortung der handelnden Menschen, und die
Wahl, die eine subjektive moralische Entscheidung ist
und als solche als sehr einsame Entscheidung erlebt
werden kann, für die es keine Regelvorgabe in der
individuellen absoluten und historischen Situation
gibt, ist aufgrund der existentialistischen ontologischanthropologischen Definition der Transzendenz weitab
vom behaviouristischen Modell eines willkürlichen
Dezisionismus zu verorten.
Dieses Be-denken in der Transzendenz erfordert neue
Denkwege. Wird Wahrheit in klassischer Herangehensweise
als objektive Wahrheit (logische Untersuchung von
Aussagen nach wahr-falsch-Kategorien) gesucht, was
bedeutet, es wird das Sein einer objektiven Wahrheit
präjudiziert, so ist Wahrheit in der Existenzphilosophie
seit der fundamental-ontologischen Grundlegung Martin
Heideggers als die Erschlossenheit des Seins zu
denken. Wird Freiheit gemeinhin als Möglichkeit oder
Beliebigkeit gedacht, alles zu tun, so ist die existenzielle
Freiheit gemäß einem humanistischen Existentialismus
nach Sartre immer auf dem Boden einer Faktizität zu
denken, die es zu überschreiten gilt. Eine Freiheit, die
43
der Mensch hat, weil er Mensch – weil er Freiheit ist.
Eine Freiheit, die ihn zugleich zu einer Wahl verurteilt:
wer er ist, wer er sein möchte, wer er sein wird. Eine
Freiheit, die eine Verantwortung enthält: für seine Wahl.
Ist der Mensch freies Vernunftwesen, liegt die
Bedeutung einer innerweltlichen Moralphilosophie des
Menschen in seiner freien Entscheidung zum moralischen Handeln in Bezug auf sich selbst und andere in
dieser Welt. Zu sagen, der Mensch ist für sich selbst
und die Welt verantwortlich, bedeutet zugleich, dass
nur er selbst derjenige ist, der ändernd – „rettend“ –
eingreifen kann, in dem er handelt.
Diese Sichtweise bedingt zugleich mit ihrer Ontologie
eine andere Definition der Moralphilosophie selbst.
Ziel ist nicht, universale Prinzipien zu finden, normativ
zu setzen, sondern die Verantwortung des Menschen
in seinem Handeln zu begreifen.
Die Universalisierbarkeit, die Zustimmung der
Anderen in mein Handeln mit einbeziehen, dies in der
Situation des Tuns, nicht bloß in der Intention, ist die
existentielle Herausforderung, die heute im Erbe Kants
zu untersuchen ist. Die Folgen der gesetzten Handlung zu
reflektieren, in erinnernden Be-Denken Ziele reformulieren.
Während Kant als Grundprinzip die Maxime des
Wollens –den kategorischen Imperativ– im Intelligiblen,
außerhalb von Zeit und Raum verortet, holen wir
damit die Freiheit und die Verantwortung aus Freiheit
44
in die wirkliche Welt, in das Dasein – innerhalb von
Zeit und Raum. Nicht Intention ist höchste, alleinige
Maxime, insofern sich der Mensch selbst durch sein
Handeln definiert „haben wir es auf dieser Ebene mit
einer Moral des Handelns und des Engagements zu tun.“
(Sartre 2002, EH 164) Der Mensch in seiner Seinsweise
überschreitet sein Sein, um dieses zu setzen, die Sollensanforderung ist nicht in einer normativen Setzung begründet,
sondern überantwortet den Menschen die Wahl der
Welt, in der sie leben wollen.
Wir hinterfragen solcherart Sein und die Zusammenhänge
von Sein, Bewusstsein und Handlungsgründen aus der
Perspektive des Subjekts, das nicht allein in einer Welt
existiert, sondern immer in einem Mitsein oder in
einem Konflikt mit einem Anderen zu sehen ist, aus der
Perspektive des Menschen, der sich in einer Lebenswelt
mit Fragen von Freiheit und Verantwortung auseinandersetzt
und sich in der Beantwortung ein Dasein gibt, sich zu
dem macht, der er ist. Die Eigentlichkeit der Fragestellung,
die das Leben selbst ist, einerseits zu suchen und
andererseits in diesem Leben selbst zu handeln, ist
Verantwortung des Menschen.
Es gilt eine Wende zu befördern, die an der Wende der
Konsumgesellschaft zur Wissensgesellschaft als Möglichkeit
sichtbar wird, vom Glauben an einen Determinismus
des Marktes hin zum Denken einer individuellen wie
gesamtgesellschaftlichen Reflexion von Menschen, die
sich als frei und selbstbestimmt denken, und danach handeln.
45
Die Befriedigung der körperlichen und geistigen
Bedürfnisse des Menschen mit bestimmten, in dieser
Welt vorhandenen oder herstellbaren Gütern, deren
Entwurf, Produktion und Verbrauch für sich selbst und
für oder durch andere, ist zugleich menschliches Handeln
in einer bestimmten moralischen Seinsweise, die Wahl
des Einzelnen als Wahl des Selbst und Wahl der Welt.
Der Handlungskreislauf von Faktizität, Transzendenz
und Wahl ist geprägt von Entscheidungen auf die Frage
„Was soll ich tun?“
Die Verbindung von menschlicher Freiheit und
Verantwortung für menschliches Handeln überantwortet
in Form einer offenen philosophischen Matrix die Lebenswelt
und die Wahl für das Dasein in dieser Lebenswelt an
die Menschen. Es gibt keine Moral a priori, sondern
mehrere Möglichkeiten, die unterschiedliche Qualität
aufweisen, die sich uns in der Transzendenz in einer
bestimmten Weise darstellen; die moralische Verantwortung
umfasst Intention, Handeln und Konsequenz in stetigem
Prozess von Vergeschichtlichung und des Neuentwurf.
Der Schritt von einer metaphysischen ethischen
Theorie zu einer Moralphilosophie im Hier und Jetzt ist
aus der Geschichte der wissenschaftlichen Entwicklung des
Begriffs der Verantwortung im 20. Jahrhundert in seiner
Bedeutung zu erhellen: Der Begriff der Verantwortung aus
Freiheit war so unerhört, dass es Jahrzehnte einer
Neudefinition des Begriffs der Verantwortung überhaupt
46
bedurfte, um zu verstehen, was eine Verantwortung aus
Freiheit bedeuten kann, bedeutet. Der Begriff der Corporate
Social Responsibility musste in einer säkularen und
globalisierenden Welt erst erarbeitet werden, und ist als
Prozess zu verstehen, an dem ständig weiterzuarbeiten ist.
Auch die Eingebundenheit in ein System, in eine
Institution, –eine Korporation– entlässt den einzelnen nicht
aus seiner persönlichen Verantwortung, der Verantwortung,
die aus der Freiheit des Subjekts sich ableitet (gesetzt
der Mensch sei frei): Ist der Mensch frei, ist er in seiner
Selbstbestimmung für sein Handeln verantwortlich.
Immanuel Kant hatte den guten Willen an den
Beginn einer Pflichtenethik, einer Ethik des Sollens gestellt,
und aus der Reinheit eines intelligiblen Willens den
kategorischen Imperativ als Maxime einer moralischen
Selbstgesetzgebung deduziert. Der kategorische Imperativ
als Antwort auf die Frage was soll ich tun – „ich soll
niemals anders verfahren als so, daß ich auch wollen
könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden“
(GMdS 402) – verhallt jedoch in einer ökonomisierten
Lebenswelt als Appell, wird von jenen nicht gehört, die
ihn nicht hören wollen, die sich auf Determiniertheiten,
Gesetze des Marktes, Sachzwan-glogiken des Marktes
und damit verbundener Rationalität berufen.
Ethische Reflexion über die Moral der Wirtschaft, der Ruf
nach ethischem Handeln in der Wirtschaftspraxis wurde zum
kollektiven Appell der Anderen an diejenigen die handeln,
die die Rahmenbedingungen der Lebenswelt gestalten.
47
3. Seinsverständnis. – Humanismus und Rationalität.
Die wissenschaftlichen Entwicklungen für eine Ethik und
einen neuen Humanismus mit einzubeziehen bedeutete
auch, die Transformation des Seinsverständnisses
mitzudenken, die in der Wende von der Mythologie
zur Metaphysik, in der Wende von der Metaphysik zur
Ontologie zur Überschreitung eines Denkens geführt
hat, in dem sich Menschen ursprünglich von vielen
Gottheiten und Wesenheiten (Mythologie) determiniert
und gelenkt definierten bzw. erlebten, in der Metaphysik
einen transzendenten Bezugspunkt eines Sein-Sollenden
gaben. In der Ontologie des 20. Jahrhunderts wird die
Realität des Daseins und die Existenz des Menschen mit
neuen Fragestellungen konfrontiert, das Selbstverständnis
des Menschen wird in der phänomenologischen Ontologie
in lebensweltlichen Bezügen und nicht in Abhängigkeit von
außerirdischen Kräften und Mächten, verortet, sondern
der Mensch unterliegt in seinem Person-Sein im Hier
und Jetzt eigenbestimmter Verantwortung. Die Grenzen
und Rahmenbedingungen der eigenen Möglichkeiten
werden von anderen Menschen gezogen, mitbestimmt,
gestaltet, ebenso wie jeder einzelne durch sein Handeln
die Rahmenbedingungen für andere verändert.
Peter Ulrich verweist in der Integrativen Wirtschaftsethik
(Ulrich 1997), die zuallererst eine Kritik der reinen
ökonomischen Vernunft und ihrer normativen Überhöhung zum Ökonomismus vornimmt, auf die Metaphysik
48
des Marktes. Der Glaube an den Markt, die mächtige
Gottheit des 21. Jahrhunderts, erinnere fatal an eine
Rückkehr zu einem Schicksalsdenken, das den Menschen
als nicht frei in seinen Entscheidungen definiert, im
bedingungs-losen und bedenkenlosen Glauben an den
Markt werden unbarmherzige mythologische Gottheiten
gegen eine materiell-virtuelle Macht eingetauscht, die
sich der Menschen bemächtigt.
Bevor wir in einer säkularen Welt, die von dieser neuen
zwar materialen aber in ihrer virtuellen finanztechnischen
Dimension ebenfalls nicht mehr fasslichen Macht beherrscht
ist, von einem ethischen Sollen, das ein ökonomisches
„Müssen“ konterkariert, sprechen, möchte ich die Frage
nach dem Wollen in den wirtschaftsethischen Denkraum
stellen und hierbei das Seinsverständnis heranziehen.
Das Seinsverständnis ist –zumindest aus der Perspektive
der Phänomenologie – wesentlich konstitutiv – oder
existenziale Grundbedingung – für menschliches Denken
und daraus resultierendes Handeln. Martin Heidegger
stellt in der fundamental-ontologischen Reformulierung
der Frage nach dem Sein im Zusammenhang mit der
Frage nach dem Sinn von Sein das Seinsverständnis als
existenziale Grundverfassung des Menschen vor: „Die
Frage nach dem Sinn von Sein wird überhaupt nur
möglich, wenn so etwas wie Seinsverständnis ist“
(Heidegger 2001, SZ 200).
49
In der Alltagssprache mag die Feststellung, dass wir
als Menschen über ein Seinsverständnis verfügen, als
eine sehr banale Einsicht erscheinen. Ja, selbstverständlich
verfügen wir über ein Seinsverständnis, und wir wissen,
dass wir in dieser Welt leben, hineingeboren in einen
bestimmten ökonomischen und sozialen Kontext, wissen,
was wir wollen und welche Möglichkeit(en) wir haben.
In der Sprache Heideggers ausgedrückt ist dasjenige, was
wir wollen, rückgebunden an die bewussten Antworten
auf die Sinnfrage, das Gegebene und das Mögliche, die
Antworten konstitutiv für das Wollen: Die Erschlossenheit
des Worum-Willens, die Erschlossenheit des Gegebenen
und des Möglichen bilden ein Seinsverständnis, das
das Wollen bzw. ein bestimmtes Wollen konstituiert.
Die Theorie Heideggers als Bezugspunkt ethischer
Überlegungen in den Blick zu nehmen, mag Philosophen
–sowohl der theoretischen als auch der praktischen
Philosophie– befremden, die grundlegende Distanzierung Heideggers von der klassischen normativen
Ethik ist bekannt, und verweist auf die tiefe Bruchlinie
zwischen Ethik und Ontologie. Gerade die Brüche aber
sind es, die uns neue Zugänge aufzeigen: Was bedeutet
Erschlossenheit des Sinns, des Gegebenen und des
Möglichen?
Sartre vertiefte die allgemeine fundamentalontologische Frage Heideggers nach dem Sein in spezifisch
phänomenologisch-ontologischer Fragestellung: Wer ist
50
es, der hier nach dem Sein fragt? Auf welcher Ebene
des Bewusstseins agiert der (gute) Wille? In dieser
Zuspitzung der Frage auf den Menschen wird in völlig
neuer Weise die Konfliktsituation des Menschen, der in
einem Verhältnis zur Welt stehend zugleich dieses
Verhältnis zur Welt ist, die Last der Verantwortung für
sich und für andere trägt, ontologisch begründet. Die These
der phänomenologischen Ontologie, von der Verortung
der Willensentscheidung im praereflexiven Bewusstsein
bis hin zu komplizenhafter versus authentischer Reflexion
(vgl. Sartre 1997, SS 267-326; Sartre 2005, EM) ist kohärent
mit und anschlussfähig an die Erkenntnisse der Neuround Kognitionswissenschaften, die die Frage der
Willensfreiheit in ihrer biologischen Dimension beforschten.
Insgesamt führt uns die Umkehrung von ontologischen
Fragestellungen in den philosophischen Strömungen des
20. Jahrhunderts, die in der Metaethik, Existenzphilosophie
und Sprachphilosophie vorgenommen wurden, zu einer
Neuorientierung, die Ethik nicht in metaphysischtranszendenter Sphäre ansiedelt, sondern im Hier und
Jetzt einer konkreten Lebenswelt, in der Entscheidungen zu
treffen sind, in der sich keiner seiner Versantwortung
entziehen kann, einer Verantwortung, die je nach
Kontext und Vermögen eine andere ist. Die Lebenswelt
und der Humanismusbegriff einer Wissensgesellschaft
als Ausgangspunkt der Überlegungen auf die Frage
was soll ich tun (vgl. dazu Sen: what we should do) stellt
51
sich in einem nächsten Schritt als eine konkrete Frage
an den Rationalitätsbegriff dar.
Amartya Sen – und wir erkennen hierin das ontologische
Fundament der phänomenologischen Ontologie – hält
in der 2009 vorgelegten Schrift The Idea of Justice fest:
“Freedom to choose gives us the opportunity to decide
what we should do, but with that opportunity comes
the responsibility for what we do – to the extent that
they are chosen actions.“ (Sen 2009, 19) Mit diesem
Zugang sind wir in der konkreten Welt angekommen,
die wirtschaftliche Realität, die jeden einzelnen betrifft,
betroffen macht, auf ihre Bedeutung zu hinterfragen.
Ein Bewusstsein dafür zu ent-decken, dass es unsere
Entwürfe – die Entwürfe von Menschen – sind, die die
Welt je historisch verändern. Und dies betrifft alle Bereiche,
alle Wissenschaften und entbirgt ein neues Humanismusverständnis.
Unser Sein in der Zeit, das Dasein des Einzelnen in
der Lebenswelt ist ein subjektiv Wahrgenommenes wie
zugleich unauflösbar gebunden an das (Da)Sein der
Anderen – das Dasein in der Gesellschaft. – Dass wir
uns heute wirtschaftsethische Fragen stellen, wie die
Frage nach Verteilungsgerechtigkeit, Legitimationsfragen zu
Reichtum und Armut auf volkswirtschaftlicher Ebene
wie auf der Handlungsebene des Einzelnen, dass Grenzen
sichtbar werden zwischen Geschäft und Korruption,
zwischen reinem ökonomischen Geschäft und die
52
gemeinsame Lebenswelt gefährdender Spekulation, die
wir als moralische Grenzüberschreitungen wahrnehmen,
beruht auf einem Denken, einem Seinsverständnis, das
ethische Gesichtspunkte enthält und einnehmen kann,
Bedeutungen hinterfragt, und zwar Bedeutungen
unseres Handelns, mitten in der Welt.
Die Kernfrage moralisch-ökonomischer Dilemmata,
reduziert auf die übergeordnete Frage „Warum moralisch
sein“ stellt in dieser allgemeinen Formulierung die Frage
nach dem Sinn der Aufnahme ethischer Argumente in
Entscheidungsfindungen, die ökonomische Prozesse
befördern, gestalten oder verhindern, dh in einer
bestimmten Weise Einfluss nehmen auf die ökonomischen
Rahmenbedingungen der Lebenswelt – und ob diese
einen Sinn haben, bzw. welchen. Unsere Lebenswelt,
die wir in einer ganz bestimmten Weise als existenziellen
Rahmen wahrnehmen, in die jeder Einzelne zu einer
bestimmten Zeit, historisch, kulturell, ökonomisch und
moralisch eingebunden ist, wirft für jeden einzelnen
wie für alle gemeinsam immer wieder die Sinnfrage im
Zusammenhang mit moralisch-ökonomischen -nomische
Entscheidung ist zugleich die Wahl eines zukünftigen
Sein-Sollenden und setzt im Handeln Werte. Das Wissen
um dieses Setzen der Werte im Handeln bedingt zugleich
die Verantwortung für die gesetzten und zu setzenden
Werte. Dieses Postulat wendet die Frage nach dem Sollen
an den Menschen zurück. Was sind unsere Werte? Was
53
ist für uns wertvoll? Welche Wertsetzungen nehmen wir in
Form von Entscheidungen für oder gegen etwas vor? Was
wollen wir – welche Welt wollen wir? Welche Welt soll sein?
Werte nicht als metaphysisch-transzendente Ideale
zu denken, die gleich Fixsternen in unerreichbarer Ferne
leuchten, die wir gerne hätten, uns aber nicht leisten wollen,
sondern die Dimension des Handelns als konkreten
Akt zu begreifen, dass jedes Handeln in der Umsetzung
zugleich ein moralischer Akt ist und Antwort gibt auf
moralische Fragen, ist der Sukkus einer Moralphilosophie,
in deren Zentrum der Mensch steht. Der Mensch ist
endlich, kontingent, frei und verantwortlich zugleich.
Dieser Idee eines Menschen –eine Idee, die ein
bestimmtes Seinsverständnis enthält und entwirft– steht
ein Menschenbild gegenüber, das durch die Rational
Choice Theory (RCT) beforscht und gelehrt wurde: Das
Menschenbild der principle agent theory, das den Menschen
als egomorphen homo oeconomicus kategorisiert, der in
der Wahl dem Eigeninteresse folgt, um den Selbstnutzen
zu maximieren; oberstes Ziel des Menschen sei selfinterest-welfare, self-welfare-choice, self-welfare-goal. Die
RCT postuliert, dass die Entscheidung eines Menschen
dann rational ist, wenn diese in der Nutzenmaximierung
des Selbstinteresses erfolgt. Die Kommunikation dieser
Theorie in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften,
insbesondere in der betriebswirtschaftlichen Lehre zeigt
reziproke Realität: In den wirtschaftlichen Prognosen
54
werden die Aktionen von Menschen nach dieser
Theorie berechnet, das Handeln der Akteure in der
Wirtschaft rechtfertigt sich durch diese Theorie.
Die Strahlkraft von Theorien bildet sich ab in unserer
Lebenswelt, deren Wirkung auf Gesellschaft ist
meinungsbildend und bildet in doppeltem Sinne Gesellschaft,
Verantwortungsträger gestalten Wirklichkeiten. Der
deutsche Wirtschaftsethiker Karl Homann hält zur
Weltwirtschaftskrise fest: „Die Krise ist das Ergebnis
des rationalen [!] Handelns unzähliger Einzelner unter
den gegebenen Bedingungen. Das Ergebnis wollten
auch die Handelnden nicht.“ (Homann 2010, 262) Das
Ergebnis, die Weltwirtschaftskrise, wirft viele moralische
Fragen auf – Fragen nach Verantwortung, nach Verteilungsgerechtigkeit, die in Fragen nach den Werten
unserer Gesellschaft in einer globalen Marktwirtschaft
münden – und ist evidenter Aufweis für die Grenzen
der ökonomischen Rationalität. Ethische Reflexion wurde
in ökonomischen wie philosophischen Modellen bislang
dem Bereich des Irrationalen zugeschrieben, während in
der Ökonomik Sollensanforderungen als rationale wirtschaftliche Überlegungen klassifiziert wurden und werden.
Der Begriff der Rationalität –der rationalen Entscheidung– ist wesentlicher Begriff für unser Handeln. Was
verstehen wir unter Rationalität, was unter Zielvorgaben,
die ein IST-SOLL –ein Sein-Sollendes– beinhalten? Gehen
wir weiter diesen Fragen in interdisziplinärer Forschung
55
nach. Sehen wir uns die RCT im Lichte des Seinsverständnisses an: „Die Erschlossenheit des Worum-Willens,
die Erschlossenheit des Gegebenen und des Möglichen
bilden ein Seinsverständnis, das das Wollen konstituiert“
– Ist die Maximierung des Selbstinteresses ein WorumWillen, das uns in eindeutiger Weise als rational erschlossen
ist? In der Stakeholder-Theorie haben wir uns begründete
Argumente erarbeitet, warum Ansprüche von Anderen,
von der Umwelt ebenfalls rationale Ansprüche sind.
Gegeben ist uns eine Welt, in der Reiche immer reicher
und Arme immer ärmer werden, die Maximierung des
Wohles aller in Form einer volkswirtschaftlichen
Summierung zwar mathematisch ein steigendes BNP
ergibt, das Wohl der Einzelnen jedoch hinter der
utilitaristischen These, das Wohl aller in der Nutzenmaximierung befördern zu wollen, in ihrem Vollzug von
Maximierung des Gewinns für einige wenige hinter
dem Grundanliegen zurückbleibt. Andere Theorien legen
uns andere Möglichkeiten nahe. Amartya Sen verweist
in seiner Kritik an der RCT-Theorie darauf: Es ist eine Theorie,
und es ist eine enge Theorie, in der Antinomien
sichtbar werden können, zB wenn ein Selbstinteresse
darin besteht, dass Wohl anderer zu befördern, dies aber
mit dem Selbstnutzen konfligiert. (Sen 1977, Sen 2007)
Die Frage der rationalen Entscheidung darf noch immer
als ungelöst und in Diskurs befindlich gesehen werden und
ich sehe die Antwort auf diese Frage –die sich Menschen
56
selbst geben– in fundamentalem Zusammenhang mit
jeweils zu Grunde liegendem und gelebtem Humanismusverständnis.
Der Gesamtzusammenhang einer Wirtschaftsethik, die
die Inhärenz der außerökonomischen Aspekte in ökonomischen Entscheidungen aufzeigt, ist nicht zuletzt
Arbeit am Begriff der Rationalität von ökono-mischen,
ökologischen und sozialen Entscheidungen. Gehen wir
von einer Verant-wortung des Menschen für den Markt,
für die Gestaltung der Lebenswelt, von der gesellschaftlichen
Verantwortung von Unternehmen und Organisationen aus,
kann die ethische Dimension nicht länger als irrationales
Gefühl einer reinen ökonomischen Rationalität untergeordnet
werden. –Diese Position steht als These diametral zu Theoremen
wie zu einer Handlungs-praxis, die von einem sich selbst
regulierenden Markt und einem egomorphen homo oeconomicus,
dem principle agent der rational choice theories ausgehen.–
Ethik als Reflexionstheorie unseres praktischen Handelns,
als Reflexion der gelebten Moral, als conditio humana,
entbirgt uns einen Blick auf unser Dasein, stellt zuallererst
Fragen, ohne Antworten zu geben. Diskutieren wir –in allen
Wissenschaften– die Freiheit und die Verant-wortung
auf dem Hintergrund der Wahrheit einer Lebenswelt,
und ob wir diese Wahrheit wollen.
Es waren die Fragen, die WissenschafterInnen, die
Menschen sich selbst gestellt haben, die Fortschritt und
Innovationen generierten, mit den Antworten, die wir heute
geben, schreiben wir unsere Geschichte, geben die Rahmenor57
dnung für die nächsten Generationen vor. Wir selbst, WissenschafterInnen, – Menschen, sind es, die ein bestimmtes
Humanismusverständnis entwerfen, vermitteln und leben.
Es liegt an uns allen, ob wir uns selbst Würde zusprechen
und diese für andere gestalten, oder ob wir uns im Sinne
des egomorphen homo oeconomicus definieren (wollen).
Der Bildungsauftrag, Menschen für Führung und Verantwortung auszubilden, ist ein hoher. Die Verantwortung
von Institutionen und Korporationen ist in einer
marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaft eine
entsprechend große. Von Institutionen und Korporationen
geht Vorbildwirkung aus, in Unternehmen wird Moral
gelebt und vermittelt. Ethische Reflexion ist weiters
nicht auf einzelne akademische Berufe oder Berufe mit
akademischer Ausbildung, moralisches Handeln nicht
auf einzelne Bereiche der Gesellschaft begrenzbar.
Ethik nicht nur als wissenschaftliche Disziplin an
Universitäten, sondern auf verschiedenen Ebenen des
Bildungs-systems zu implementieren, wird aus dieser
Position als wesentlicher Bestandteil einer Ethik der
Existenz verstanden, die darauf ausgerichtet ist, ethische
Reflexion des Einzelnen und der Gesellschaft über Bildung,
Ausbildung und Weiterbildung zu befördern und zu
vertiefen.
58
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