Immer mehr Menschen tragen „ihre“ Musik auf MP3

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Immer mehr Menschen tragen „ihre“ Musik auf MP3-Playern
Radiosender hat? Nein, sagen die meisten Radiomanager, denn
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Bestseller 1|2 2010
Alles nur Berieselung?
Bojan Pavlukovic/Fotolia
mit sich herum. Ob das Auswirkungen auf das Musikprogramm der
echte Musikliebhaber sind im Radio eine Minderheit. Text von Clemens Coudenhove
von Lady Gaga oder ­Lilly Allen. Der
von dem Bestreben, neue Hörer zu
Geschmacksfrage. „Die meiste, die
Ö3-Chef vergleicht den Musikmarkt
beste, die schönste Musik habe ich auf gewinnen (Tagesreichweite) beziemit dem Automarkt. „Als ich ein Kind
hungsweise Hörer länger an den Gemeinem iPod. Musik im Radio ist imwar, gab es Kleinwagen, Mittelklasseräten und ihren Stationen zu halten
mer ein Kompromiss“, meint Matthias
wagen und ­Limousinen. Heute gibt es
(Marktanteile) darüber hinaus auch
Euler-Rolle, ehemaliger ­88.6- und Ö3über 20 unterschiedliche Klassen.“ Bei
an der Musikprogrammierung feilen,
Morgenmoderator und Gründer des
Ö3 hätte man sich seit der ProgrammMultimedia-Produktionsunternehmens Stichwort MP3-Player und Smart­
reform 1996 unabhängiger von der
phones? Wohl kaum!
ERplus. Unterschiedliche AuffassunMusik gemacht, wobei Spatt jedoch
gen zum Programm bei 88.6 wären
klarstellt: „Die Musikprogrammierung
„Talk-about“-Sender
der Grund für seinen Weggang geweist für uns weiterhin das wesentliche
sen, einen neuen Weg wollte er gehen. Egal ob Euler-Rolle (noch) zu einer
Minderheit gehört oder nicht: Der Dia- Programmelement.“ Daneben sei Ö3
„Das klassische Formatradio, wie wir
in Sachen Information und Unterhalgnose, dass die Bedeutung von Musik
es aus den 1990er-Jahren kennen, hat
tung führend, das würden Mafo-Unterim Radio – aufgrund von mobilen
für mich keine Zukunft. Die Leute
suchungen immer wieder bestätigen.
speicherfähigen Geräten, abnimmt,
­interessieren sich nicht für seichten
„Bei Information und Unterhaltung hastimmt Ö3-Senderchef Georg Spatt
Müll, sondern sehnen sich nach dem
ben wir keine Konkurrenten, nur bei
prinzipiell zu, „wenngleich nicht so
echten Leben“, ist Euler-Rolle überder Musik“, ist sich Spatt ­sicher. „Reschnell wie teils angenommen“. Spatt
zeugt und scrollt auf seinem iPhone
levant“ wolle man sein, etwa wenn Ö3
ist der Meinung, dass diese Diskussirauf und runter.
sofort nach dem Erdbeben einen Reon hauptsächlich von Menschen geRick Dees, ein bekannter DJ aus
porter nach Haiti schicke und massiv
führt wird, die sich stark für Musik
den USA, erreicht seine Hörer wie etvon den Olympischen Spielen berichte.
­interessieren. „Sehr viele Leute hören
wa Euler-Rolle über eine iPhone-Ap­
„Ich vergleiche Ö3 mit anderen FreizeitRadio, interessieren sich aber nicht
plikation, mit der sich der User aus
und Medienangeboten. Wer steht für
sonderlich für Musik“, ist Spatt über­unterschiedlichen Musikgenres seine
Gesellschaftsberichterstattung? Wo
zeugt und verweist auf die DiskussioTracklisten individuell zusammenstelspielen wir in der Wahrnehmung bei
nen rund um die legendäre Sendung
len kann, „the hottest shit“, versteht
gewissen Themen mit? Wo amüsiert
sich. So viel zu seinem Musikkonsum. Musicbox, die von 1967 bis 1995
man sich mehr über Alfons Haider: im
nachmittags eine v
­ öllig andere HörerEr sehnt sich nach „Radio mit Herz
Web, im Print, im TV oder auf Ö3?
schaft anlockte als den typischen Ö3und Hirn“, wünscht sich authentische
Hörer. Vom „Taxlerknick“ war in Fach- Das ist unser Anspruch!“
Geschichten von Menschen, ankreisen damals die Rede. Noch vor
spruchsvolle Gespräche, Interviews,
Reportagen, und da hätten die öffentli- zehn Jahren hätte man von drei Märk- Musik ernst genommen
ten gesprochen: Pop, Oldies und dem, Wenn jemand aus der ORF-Radioflotte
chen-rechtlichen Sender sicherlich eiMusik ernst nimmt, dann sind das der
was man heute unter „Alternative“
nen Vorteil: bessere Moderatoren und
Kultursender Ö1 und der Jugendsender
einen längeren Atem. Und noch etwas: verstünde. „Heute gibt es etwa 25
FM4. „Wir bringen nicht die 500
Märkte und Genres. Als Mainstream„Wien als Weltstadt braucht ein Talk­größten Hits, machen kein Powerplay,
Sender muss ich ein Bouquet aus
Radio“, so Euler-Rolle, der den Erfolg,
sondern nehmen Musik sehr ernst und
etwa von Ö3, in seiner Konstanz sieht. ­Musik und Content anbieten.“
reden auch darüber“, stellt Monika
Spatt betont auch, dass es derzeit
Der seit 1993 in Österreich erhobe­Eigensperger klar. Die Senderchefin
einen Boom an Rockmusik gebe und
ne R
­ adiotest zeigt eine relativ kontiwill FM4 als Radio verstanden wissen,
sich das Konsumentenverhalten in­
nuierliche Entwicklung: Zwölf Jahre
das spannende Genres und künstlerinach dem Start von Privatradio in Ös- sofern geändert habe, als das Entstesche Karrieren beleuchtet, „wir spielen
terreich dominieren die ORF-Sender – hungsdatum der einzelnen Titel gar
nicht ab, wir präsentieren“, bringt es
nicht mehr so wichtig sei. Viel wichtiallen voran das Hitradio Ö3 – den
Eigensperger auf den Punkt und
ger sei, ob einem ein Titel von irgend­
Markt, wiewohl die Privaten in klei­verweist auf gesellschaftspolitische
jemandem empfohlen worden sei.
nen Schritten aufholen. Zuletzt (2.
Themen, Kultur, Film und Literatur,
Spatt nennt die Rolling Stones in eiHalbjahr 2009) beschleunigte sich
die FM4 neben der Musikkompetenz
nem Atemzug mit Green Day und verdiese Kurve, die Privaten gewannen
­ausmachen. „Nicht-Musik-Inhalte
weist auf den Aufstieg von Pop, etwa
an Tempo. Ob die Sender, abgesehen
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Matthias EulerRolle (ERplus):
„Radio mit Herz
und Hirn!“
Georg Spatt,
Ö3-Senderchef:
„Musikprogrammierung ist für uns
das wesentliche
Programmelement.“
Florian Novak,
LoungeFMGeschäftsführer:
„Grundrecht auf
Radio, das nicht
nervt.“
barkeit demonstrieren. Und je unterschiedlicher das Musikangebot, desto
mehr kann man auf Worte verzichten“, unterstreicht Novak und spricht
von einem „Grundrecht auf Radio,
das nicht nervt“. Dass ein Talk-Radio
in ­Österreich funktionieren würde,
bezweifelt der LoungeFM-Geschäftsführer.
Keine Hörer vertreiben
„Neue Musik hat immer einen Startnachteil. Das Publikum ist zu 95
­Prozent an alter Musik interessiert.
Musik, die berieselt, die begleitet.“
Das sagt Walter Gröbchen (monkey
musik), ein langjähriger Beobachter
der Musik- und Radioszene, der unter
anderem bei LoungeFM mitmischt
und Folgendes zu behaupten „wagt“:
„In den 80ern und 90ern hat man sich
auf eine Musikzusammenstellung
festgelegt, die über die Jahre einfach
weitergereicht wurde.“ Hinterfragen
müsste man so manche Musikberatungsunternehmen, die musikalisch
viel zu sehr mit den 1980er-Jahren
verhaftet seien. Ein Beispiel: Aus­
gerechnet David-Bowie-Songs seines
schlechtesten Albums „Tonight“, ­etwa
­„China Girl“ oder „Bluejean“, würden
am öftesten in heimischen Sendern
gespielt. Auf die musikalische Medienkonkurrenz durch mobile Geräte
würden Sender gar nicht ­reagieren,
„diese Leute gehören nicht zur Masse“,
sagt Gröbchen und schießt nach:
„Die meisten Sender wollen mit ihrem
­Musikprogramm keine Hörer ver­
treiben.“
Fazit: Ernsthafte Konsequenzen
auf die Musikprogrammierung ziehen Radiosendern ob der enormen
Verfügbarkeit von ­Musik nicht. Und
ob es in Zukunft ein Talk-Radio-­
Format geben wird, liegt wohl an
­einem Treiber à la Red Bull, der mit
­ServusTV beweist, wie anspruchsvoll
Privatrundfunk sein kann!
Bestseller 1|2 2010
michael ingenweyen, orf, loungefm
und weltpolitische Zusammenhänge
waren bei FM4 von Anfang an
­wesentlich“, unterstreicht sie.
Dass sich iPod & Co zu einer Art
­Konkurrenz der Mediengattung Radio entwickeln, glaubt Eigensperger
nicht und spricht von einer „Parallelität“ der beiden Kanäle: „Die Plattenkäufer waren immer schon eine
Minderheit. Obwohl immer mehr
Leute ihre Musiksammlung mit sich
herumtragen, wollen diese Leute
„Wir ­sehen uns an, mit welcher Musik
trotz­dem nicht immer dasselbe
diese Menschen aufgewachsen sind.
­hören, sondern Neues entdecken.“
Für viele ist das Rockmusik, etwa von
Allerdings komme man ­Eigensperger The Who oder den Rolling Stones“,
zufolge bei dieser Diskussion
sagt Stögmüller und ­ergänzt, dass
„schnell ins Hellsehertum“.
­natürlich laufend Hörerfeedbacks
­berücksichtigt würden.
Dudelfunk?
Florian Novak, Gründer des 2008
Dass reine Musikprogramme nie eine
terrestrisch gestarteten „Listen &
­Zukunft im Radiomarkt hatten, daRelax“-Senders LoungeFM, hält die
von ist Tobias Michatsch, ProgrammTatsache, dass Musik überall verfügleiter beim Moira-Sender 88.6, überbar ist, für eine spannende Entwickzeugt. „Content war und ist seit jeher lung, ortet ­allerdings eine Art Überforunverzichtbarer Bestandteil aller Hör- derung, „wenn Mobilfunkanbieter
funkprogramme, die den Anspruch
damit werben, wie viel zigtausend Tihaben wollen, erfolgreich zu sein.
tel sich der Kunde gratis auf sein HanDer Begriff Content wird nur in der
dy laden kann. Radio hat eine Filteröffent­lichen Diskussion, vor allem in
funktion, trennt die Spreu vom
der Forderung nach ‚mehr Content‘,
Weizen, gibt Orientierung“. Er ist
allzu häufig mit einem Anspruch
überzeugt, dass Menschen die ihren
nach mehr Informationen, mehr SeriPod befüllen vielleicht kurzfristig wevice oder generell mehr redaktioneller niger Radio hören, dann aber wieder
Tiefe, missbraucht. Insbesondere den
mehr. „Die Anfangseuphorie, wenn
privaten Anbietern hängt ja aus dieder iPod ­unter dem Christbaum liegt,
sem Grunde seit Sendestart der Vorverfliegt schnell“, sagt Novak.
wurf des viel zitierten Dudelfunks
nach“, sagt Michatsch, der mit dem
Erwachsene Stimme
88.6-Programm in erster Linie unterAngesprochen auf die immer wieder
halten will. Und die richtige Musik
­akzentuierte Forderung nach einem
zu spielen „war, ist und wird in mittTalk-­Radio, meint der ehemalige
lerer Zukunft der HaupteinschaltEnergy-104.2-Teilhaber: „Wir haben
grund für Massenprogramme bleiin Österreich ein Kompetenzproblem.
ben“. Allerdings bräuchte es eine
Eine gute erwachsene Stimme zu
„Entertainment-Welt“ hinter der
­finden ist schwer, und wenn, dann
­Musik, um aus einer „Musikabspielmuss man sich das erst einmal leisstation erst eine echte Radiomarke zu ten können. Stimme hat im Radio
machen“. Man müsse sehr genau ab­eine hohe Rechtfertigung.“ Novak
wägen, welcher zusätzliche Content
glaubt, dass Handys das gesprochene
von den Hörern erwartet würde.
Wort im Radio unter Druck setzen.
Christian Stögmüller, Geschäftsführer „Radio wurde einmal von einem Werdes erfolgreichen oberösterreichiber als ‚Management der Einsamkeit‘
schen Privatsenders Life Radio, weiß,
bezeichnet. Nicht allein zu sein, ist
dass man sich als Mainstream-Sender
ein Grundbedürfnis, das jeder Hannicht an Individual­geschmäckern oridybesitzer immer und überall bedieentieren kann, sondern nur versuchen nen kann, dafür braucht es heute
kann, „die musikalische ­Ausrichtung
keine Radio mehr.“ Und die Musik?
am Gefallensbild der Hörer festzu­
„Je ähnlicher die Musik auf den einmachen“. Das Durchschnittsalter der
zelnen Sendern ist, desto mehr muss
Life-Radio-Hörer beträgt 40 Jahre.
man durch Wortanteile Unterscheid-
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