Beitrag von Johann Sonnleitner

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Mozart-Symposion Wien 2006, Beitrag von Johann Sonnleitner
I.Teil: „Mozarts Geist aus Moscheles’ Händen ?“
Zur Mozart-Rezeption im 19. Jahrhundert
Unter diesem Titel brachte Johann Sonnleitner einen Beitrag, in welchem Ausschnitte aus
Mozarts Klavier-Sonaten auf einem Wiener Hammerflügel gespielt und besprochen wurden.
Dabei wurde der Text der Mozart-Edition, die von Ignaz Moscheles in der Reihe
„Hallberger’s Pracht-Ausgabe“ besorgt wurde, verglichen mit dem Text heute vorliegender
Urtext-Ausgaben.
Moscheles schreibt zu seiner Ausgabe folgende Einleitung:
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Moscheles fühlte sich im Strom seiner Zeit als ein Hüter alter Traditionen. Wie einem anderen
Vorwort, dem zu seinen Studien op. 70 deutlich zu entnehmen ist, legte er auf die Beachtung
gewisser Elementar-Regeln grössten Wert, die seiner Meinung nach mit den Fortschritten des
Klavierspiels zu oft vernachlässigt wurden. Ausführlich schreibt er in 10 Paragraphen über
Anschlagskultur (Dynamik, Akzentuierung einschliesslich agogischer Feinheiten,
Artikulation, etc), dann über den gebundenen Stil, über den Takt als „die Seele der Musik“
und über zweckmässiges Ueben. Er empfiehlt auch den Gebrauch von Mälzels Metronom,
nicht um die Musik „im Betreff des Tactes durchaus mit mathematischer Genauigkeit“
vorzutragen, sondern nur zur genauen Information über den Grad der Bewegung vor dem
Spiel eines Satzes. Wichtig ist ihm die Qualitäts-Unterscheidung der einfachen und
zusammengesetzten Taktarten mit den entsprechenden differenzierten, mässigen Akzenten.
Im Beitrag ging es hauptsächlich um Phänomen-Studien in drei Bereichen: Tempo,
Artikulation und Pedal-Gebrauch.
Bezüglich der Artikulation zeigt sich bei Moscheles deutlich eine Tendenz: Die vielen Stellen,
die bei Mozart keine besonderen Artikulationszeichen tragen und durch das „ordentliche
Fortgehen“, d.h. durch ein differenziertes Nonlegato geregelt sind, werden bei Moscheles fast
ausnahmslos mit Zeichen versehen. Wie aus seinem Vorwort zu seinen Studien op.70 zu
entnehmen ist, unterscheidet er bewusst zwischen drei Staccato-Zeichen:
dem runden Staccato (Punkt): die Hälfte des Wertes klingt,
dem gespitzten Staccato (Keil): ¼ des Wertes klingt,
und dem mit Bögen verbundenen Staccato (Portato): ¾ des Wertes klingen.
Auch sind viele Verlängerungen der Mozart’schen Legato-Bögen festzustellen.
Durch dieses genaue Festlegen von bestimmten Artikulations-Arten ist selbstverständlich
auch der individuelle Spielraum des Interpreten eingeengt. Hier beginnt die Linie der zwar
wohlgemeinten, aber doch bevormundenden Interpretations-Ausgaben.
Ob Nuancen der Artikulation im Spiel realisiert und im Hören wahrgenommen werden
können, hat sehr viel mit dem Zeitmass zu tun. Und diesbezüglich liegen von Moscheles
Angaben vor, die - bei üblicher Lesart - nicht nur jenseits der Grenze des musikalisch
Sinnvollen und des technisch Machbaren zu liegen scheinen, sondern auch in Widerspruch
stehen zu den vielen von ihm überlieferten Aeusserungen über die Mode der
Tempobeschleunigung in seiner Zeit.
Moscheles hatte oft an den Tempi der Klassiker-Aufführungen seiner Zeitgenossen zu tadeln.
In der von seiner Frau herausgegebenen Auto-Biographie kann man auf S. 321,322 lesen:
„Ihm fehlten überall die Traditionen seiner Jugend. Die rasende Schnelligkeit, die manches
Nötchen verschluckt, das Ausspinnen eines Andante, bis es zum Adagio wird, ein Andante
con moto, dem das moto fehlt, ein Allegro commodo, das sich’s gar nicht mehr bequem
macht, das alles störte ihm den Genuss. Im Anfang wagte er, den jüngeren Kunstbrüdern seine
Ansicht darüber mitzutheilen, doch blieb sie unbeachtet, und da es nicht in seiner
Geschmacksrichtung lag, sich einer Zeitbewegung entgegenzustemmen, so nährte er sich an
solcher Musik, die er liebte, und in einer Weise, wie er sie liebte – und schwieg.“
Als Beispiel, an dem vieles Erwähnte lesend betrachtet und nach Möglichkeit spielend
studiert werden kann, sei hier der Anfang der Sonate KV 284 aus der Moscheles-Edition
abgedruckt. Man beachte die Metronom-Angabe Viertel = 160! Das ist das :
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Da der Beitrag am Symposion hauptsächlich von den klingenden Beispielen lebte und sich
wenig für eine schriftliche Wiedergabe eignet, wird hier stattdessen eine kleine Sammlung
von Beispielen zur Verfügung gestellt, die im Zusammenhang mit der Problematik der frühen
Metronom-Angaben von Interesse sein dürften. Der Vergleich der Angaben zeigt bereits im
blossen Durchlesen, dass die Interpretation der frühen Metronom-Angaben im Sinne ihrer
Autoren keineswegs als eine längst geklärte Angelegenheit ad acta gelegt werden kann. Hier
liegt ein noch ungelöstes Problem vor.
Die Beispiele stammen aus einer umfangreichen und immer anwachsenden Sammlung, die im
Laufe der Unterrichtstätigkeit in den vergangenen Jahren an der Musikhochschule Zürich, an
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der Schola Cantorum Basiliensis, bei Kursen an der Universität für Musik in Wien und an der
Musikhochschule in Prag u.a. praktisch durchgearbeitet wurden. Eine Veröffentlichung als
eine Art Hörbuch ist in Vorbereitung.
Wenn die Beispiele, am besten im eigenen Spiel erprobt, dazu beitragen können, das Interesse
an der vielschichtigen und zentralen Frage der Zeitmasse wach zu halten oder neu zu
entfachen, dann haben sie ihren Zweck erfüllt.
II. Teil: Halbes Tempo? – Doppeltes Tempo?
Eine kleine Parade paradoxer Metronom-Angaben zu Mozart und Beethoven
Noch zu Mozarts Zeit galt: Die Taktart mit den vorkommenden Notenwerten ergibt das
Tempo ordinario des gewöhnlichen C-Taktes und die „Tempi giusti“ der verschiedenen
geraden, ungeraden und zusammengesetzten Taktarten. Diese Grundlage wird dann weiter
modifiziert durch die vielen charakterisierenden Beiwörter zu einer reich abgestuften Skala
von musikalischen Bewegungen. Zu Beethovens Zeit wurde das Bedürfnis immer dringender,
die Tempi auch durch die schon früher bekannten Pendelangaben, durch Zeitdauerangaben
und schliesslich durch Metronomangaben noch genauer zu bestimmen.
Ein Problem ist nur, dass bereits vorher Begriffe und Gebräuche bei weitem nicht so
einheitlich verwendet wurden, wie wir es uns heute wünschen würden.
Es kann zu Verschiebungen und Verengungen von Bedeutungen kommen. Andantino kann
langsamer oder schneller als Andante sein. Was wurde in einem bestimmten Stilbereich unter
Allegro verstanden? Wer würde heute Charaktere wie „ruhig, sanft und einschmeichelnd;
tiefsinnig oder schwärmerisch; schwermüthig oder harmonisch verwickelt; maestätisch,
grossartig und erhaben; brillant, jedoch ohne Anspruch auf allzugrosse Bewegung der
Geläufigkeit“ unter dem Begriff „Allegro“ einordnen? Bei Czerny gehört dies alles noch
dazu.
Ein „Metronom“ ist für einen Musiker jene unbeliebte Tick-Maschine. Für einen
Altertumsforscher ist ein Metronom ein Beamter, der als „Marktpolizist“ für die Einhaltung
der Masse und Gewichte zu sorgen hatte. Der Kontext bestimmt die Bedeutung eines Wortes.
Sind mit dem Wort „Tag“ astronomisch 24 Stunden gemeint? Oder meint man damit nur den
hellen Teil des Tages? Oft wird ein Teil für das Ganze genannt. So ist es auch fraglich, ob mit
einer Arm- oder Pendel-Schwingung eine einzelne Bewegung in eine Richtung oder eine Hinund - Herbewegung gemeint ist.
Ob 1 oder 100 die „grössere“ Zahl ist, hängt davon ab, ob man divisiv (teilend) oder additiv
denkt. Zu Mozarts und Beethovens Zeit gab es im Geldwesen noch beide Denkungsarten.
Heute muss uns ein Numismatiker erklären, dass mit einer Münze mit der Aufprägung „2 ein
Reichsthaler“ ein halber Reichsthaler gemeint war. So fliessen auch in unserer modernen
Notation zwei Traditionen zusammen: die ältere aus der Mensuralmusik stammende Notation,
die von der Teilung ausgeht, und die neuere aus der Tabulatur kommende Notation, in der
z.B. ein ¾-Takt oder ein 9/8-Takt ein „ganzer Takt“ ist.
Es folgen nun zur Anregung für eine Erweiterung des Blickfeldes einige Doppel-Beispiele,
die sich gegenseitig beleuchten.
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1. Mozarts „Champagner-Arie“ aus dem Don Giovanni.
In der Klavierschule von Peter Johann Milchmeyer („Kleine Pianoforte-Schule für
Kinder, Anfänger und Liebhaber“, Dresden 1801) sind zu fast 100 kleinen Stücken
genaue Zeitdauern in Minuten und Sekunden angegeben, aus denen Lehrer und
Schüler das angemessene Zeitmass ermitteln können. Unter den Stücken gibt es einige
Beispiele, für die auch Metronom-Angaben aus derselben Epoche überliefert sind. Zu
einer Kurzfassung der „Champagner-Arie“ lesen wir bei Milchmeyer:
„32 Takte in 32 Sekunden“. Man prüfe es: das ergibt ein Zeitmass von Viertel = 120.
Die beiden frühesten erhaltenen Metronom-Angaben, nämlich die im Klavier-Auszug
des Verlages Schlesinger, Paris 1820 und die Angabe des Komponisten Vaclav Jan
Tomasek, 1839, scheinen erstaunlicherweise ungefähr das Doppelte von Milchmeyers
unmissverständlicher Zeitangabe zu empfehlen:
Schlesinger: „Presto, Halbe = 138“,
Tomasek: „Presto, Halbe = 116“.
2. Das Finale in Beethovens Klaviertrio, op. 1/2
mit der Bezeichnung „Presto“ wurde von Moscheles mit „Viertel = 160“ und von
Czerny mit „Halbe = 80 bzw. 96“ metronomisiert. Das Hauptmotiv, die Figur der
Repercussio ist auf den Streichinstrumenten nach der buchstäblich gelesenen TempoAngabe technisch möglich, nicht aber auf historischen und modernen Flügeln. Daher
habe Beethoven – so wurde argumentiert – im Klavierpart die Tonwiederholungen zu
trillerartige Legato-Figuren und zu geschüttelten Akkorden umgewandelt.
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Diese zunächst einleuchtend klingende Argumentation erweist sich aber in der
Zusammenschau mit anderen Meronom-Angaben von Czerny als ganz und gar nicht
stichhaltig. Denn dieser fordert in der Repetitions-Etüde (Nr.22) seiner „Schule der
Geläufigkeit“ vom Klavier just dasselbe Tempo „Halbe = 96“.
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(Klavierprofessoren und Studenten der Wiener Universität für Musik und andere
Pianisten-Kollegen haben am 2007 restaurierten Ignaz-Bösendorfer-Flügel aus dem
Besitz von Czerny aus eigener Erfahrung bestätigt, dass die scheinbar geforderte
Repetitionsgeschwindigkeit auch nicht annähernd erreicht werden kann.)
Anlässlich der Metronomisierungen zu Czerny’s Etüden darf hier auf einen seltsamen
Widerspruch aufmerksam gemacht werden. Czernys Allegro-Etüden im C-Takt mit
Sechzehnteln sind durchschnittlich mit „Halbe = 104“ bezeichnet. Die Fingerübungen
von Charles Hanon wurden zum selben Zweck wie die Czerny-Etüden geschrieben. Im
Vorwort dazu erklärt Hanon die doppelten Metronom-Angaben als eine allmäliche
Temposteigerung von „Viertel = 60 bis Viertel = 104“. Demnach wäre Hanons
Maximaltempo nur die Hälfte von Czernys Durchschnitts-Tempo.
3. Das Scherzo in Beethovens Hammerklavier-Sonate, op. 106
trägt die vom Komponisten selbst stammende Bezeichnung „Assai vivace, Punktierte
Halbe = 80“.
Von Ignaz Moscheles sind zwei hochinteressante Angaben überliefert, die dem
Anschein nach das Zeitmass beinahe verdoppeln bzw. halbieren. In der Stuttgarter
Hallberger-Ausgabe übernimmt Moscheles Beethovens originale Angabe, bringt aber
in seiner aus derselben Zeit stammenden Ausgabe im Verlag Holle, Wolfenbüttel, die
Metronom-Angabe „Viertel = 132“!
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4. Im Scherzo der Hammerklavier-Sonate
beginnt im Takt 81 ein Teil im 2/4-Takt mit der Bezeichnung „Presto“.
Dazu gibt es von Beethoven keine Metronom-Angabe, wohl aber von Carl Czerny:
„Halbe = 152“.
Die Angabe von Moscheles in der Holle-Edition lautet dagegen:
„Viertel = 160“. Wiederum etwas bewegter als das halbierte Zeitmass.
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5. Die Einleitung zur Fuge der Hammerklavier-Sonate.
Hier liegt der Fall umgekehrt. Beethovens originale Angabe lautet:
„Largo, Sechzehntel = 76“.
In der Holle-Ausgabe von Moscheles kann man deutlich lesen: „Achtel = 76“.
6. Der 1. Satz von Beethovens Hammerklavier-Sonate, op. 106,
war und ist seit jeher wegen der ungemein hohen, originalen Metronom-Angabe
„Halbe = 138“ ein Stein des Anstosses und Gegenstand heftiger Diskussionen.
Erstaunlich ist, dass die beiden scheinbar das Zeitmass halbierenden Angaben von
Moscheles meines Wissens bisher nie in die Diskussion einbezogen worden sind.
Sowohl die Holle-Ausgabe als auch die Hallberger-Ausgabe bringen übereinstimmend
die höchst überraschende Angabe: „Viertel = 138“.
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Dass es sich dabei nicht um Druckfehler handeln kann, wird bestätigt durch das, was
Moscheles in seiner Beethoven-Biographie „The Life of Beethoven“, London 1841, in
einer Fussnote auf S. 252 über den Fall schreibt.
„Ich habe in meiner Ausgabe dieser Sonate das Tempo des 1. Satzes mit MM Viertel =
138 bezeichnet, weil Beethoven selbst diese Zahl angegeben hat. Er selbst gab,
entsprechend Wegelers Notizen, den Notenwert mit einer Halben, ich mit einem
Viertel an; doch wird meiner Meinung nach keine der beiden Bezeichnungen dem
Charakter des Satzes gerecht. Die Halbe beschleunigt ihn zu einem so fürchterlichen
prestissimo, wie es Beethoven kaum selbst beabsichtigt haben kann, da er das dem
Allegro ursprünglich vorgesetzte Beiwort „Assai“ zu streichen anordnete. Die
Viertelnote verlangsamt den Satz allzu sehr; und obwohl ich in meiner Ausgabe
Beethovens Zahl in Ehrfurcht vor dem grossen Mann stehen liess, würde ich doch
einen Mittelweg vorschlagen, und zwar: Halbe = 116.“
Auch für Carl Czerny ist Beethovens hohe Angabe ein Problem. Er schreibt zu diesem
Satz:
„Die Hauptschwierigkeit liegt in dem vom Autor selber vorgezeichneten ungemein
schnellen und feurigen Tempo, ferner in dem Vortrage der melodiösen, aber
vielstimmigen und im strengsten Legato auszuführenden Stellen, in der reinen
Ausführung der Passagen, Spannungen und Sprünge, und endlich in der Ausdauer,
welche das Ganze fordert. Alle einzelnen Schwierigkeiten sind Sache aufmerksamer
Uebung, die Auffassung des ganzen grossartigen, mehr im Sinfonie-Styl gehaltenen
ersten Satzes entwickelt sich bei oftmaligen Spielen, nachdem es bereits richtig im
gehörigen Zeitmaass einstudiert worden.“
Was ist nun das „gehörige Zeitmaass“ im Sinne von Beethoven, Czerny und
Moscheles?
Um der Gefahr zu entgehen, durch voreiligen Antworten von der Lösung des
Rätsels noch weiter abzudriften, sei noch an einige Bemerkungen einer von Beethoven
hoch geschätzten Persönlichkeit erinnert. Sie stammen von dem Berliner
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Musikschriftsteller und Begründer der „Berliner Musikalischen Zeitung“, Adolph
Bernhard Marx.
7. Die Angaben von Adolph Bernhard Marx (1795 – 1866)
zu einigen Sätzen aus Beethovens Klavier-Sonaten. Auf Seite 65 seines Buches
„Anleitung zum Vortrag Beethovenscher Klaviermusik“, 2.Auflage, Berlin 1875 heisst
es über das Finale der A-Dur-Sonate op. 101: „Für einen tüchtigen Spieler ist es nicht
unerreichbar, den Satz etwa noch einmal so geschwind zu spielen, als sich gebührt.
Aber werden die Zuhörer auch im Stande sein, alle Stimmen zu vernehmen und
durchzufühlen, die das polyphone Gewebe bilden?“ Und kurz darauf appelliert er an
die Spieler, die „aus Ungestüm, oder Behagen an glänzender Darstellung, oder auf
Antrieb des Ehrgeizes das Bewegungsmaass übertreiben“ und dabei gewisse FinalSätze „noch ein- oder zweimal so schnell“ spielen als es derem Inhalt zukommt und
sie damit verderben. Marx nennt konkret die Finales’s der Sonaten Op. 26, 27/2, 53,
57.
An anderer Stelle schreibt Marx: „Technische Ausführbarkeit darf durchaus nicht zum
schnellen Zeitmass verleiten; die ersten Sätze der Sonten Op.13 (der pathetischen
Sonate), 28, 90, 101 sind gar wohl noch einmal so schnell ausführbar, als ihr Inhalt
gestattet.“
Der konservativ eingestellte Marx hat die Tempo-Empfehlungen der Autoritäten
Czerny und Moscheles für Beethoven nirgends kritisiert und sie daher als ungefähre
Richtschnur wohl noch gutgeheissen. Demnach müsste es einem „tüchtigen Spieler“,
der die buchstäbliche Interpretation der MM-Angaben für richtig hält, möglich sein,
die besagten Sätze etwa doppelt so schnell zu spielen, als die Angaben zu fordern
scheinen. Die Zahlen von Czerny und Moscheles sind aber bereits derart hoch, dass
der Versuch einer Zeitmass-Verdoppelung schlichtweg als absurd abgetan werden
kann.
Es folgt daraus, dass Marx die Metronom-Angaben von Moscheles und Czerny zu
diesen Sätzen wohl kaum im buchstäblichen Sinne aufgefasst hat und dass die von ihm
kritisierten „tüchtigen Spieler“ bereits damals die alten Angaben entweder
missverstanden oder einfach nicht mehr beachten haben.
8. Das Menuett aus der „Jupiter“- Symphonie von Mozart ist bezeichnet mit „Allegretto“.
Johann Nepomuk Hummel gibt in seiner Kammermusik-Fassung die
Metronomisierung „Punktierte Halbe = 88“. Das ist genau dieselbe Zahl, die auch
Czerny in seiner „Pianoforte-Schule“(1840) und in seiner „Schule der Tonsetzkunst“
als das damals in Wien gebräuchliche Walzer-Tempo angibt. Aehnliche
Metronomisierungen gibt Hummel auch für die Menuette der übrigen späten MozartSymphonien. Auch viele von Beethovens und Czernys Angaben für lebhafte Menuette
und Scherzi, (übrigens auch der Walzer von Chopin) liegen in diesem Bereich. So
scheint der Fall klar zu sein.
Glücklicherweise gibt es für das Walzertempo der Zeit auch ein Dokument eines
Tanzmeisters, der es nicht metronomisch bezeichnet, sondern unmissverständlich in
Takten pro Minute. Paul Bruno Bartholomay gibt in seiner „Tanzlehrschrift“ von 1839
für den Walzer das Tempo von „48 – 50 Takten pro Minute“. Nur ein einziger
Metronomgrad darunter ist die Hälfte von Czernys Angabe. Das ist, auch in der
Zusammenschau mit der quasi halbierenden Angabe von Moscheles zum Scherzo von
Beethovens Hammerklavier-Sonate wiederum ein starkes Indiz für ein variables Lesen
der frühen Metronom-Angaben.
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9. Mozarts Arie der Pamina „Ach, ich fühl’s“ aus der Zauberflöte war bereits 1815 ein
Gegenstand der Diskussion. Der Komponist und Musiktheoretiker Gottfried Weber hat
in der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung dazu einen Aufsatz und Aufruf
veröffentlicht. (Nachzulesen bei Clemens-Christoph von Gleich: Mozart, Takt und
Tempo, S. 125 ff)
Weber kritisiert die damals sich verbreitende Praxis, das Andante-Zeimass fast zu
einem Adagio zu zerdehnen und aus der Arie der jungen, feurig liebenden Pamina ein
„Klagelied eines liebessiechen Mädchens“ zu machen. Er nennt dazu Pendel-Angaben
in Rheinischen Zoll, die auf Metronomwerte umgerechnet werden können.
Entscheidend ist dabei wieder die Frage, wie diese zu lesen sind.
Vergleichende Experimente, mit verschiedenen Personen in verschiedenen
Zusammenhängen haben immer wieder heilsames Staunen hervorgerufen.
„Achtel = 96“, buchstäblich gelesen, sollte das von Weber als viel zu langsam
verworfene Zeitmass ergeben. Es sollte den Eindruck von Langeweile erwecken. Das
war bei den Experimenten aber niemals der Fall. Im Gegenteil: es wurde meist als fast
zu rasch empfunden. Die Weber’sche Charakterisierung des „Klageliedes eines
liebessiechen Mädchens“ wurde stets nur bei der metrischen Interpretation „Achtel =
48“ als zutreffend erklärt.
Genau so überraschend waren die Experimente mit dem von Weber positiv
vorgeschlagenen Zeitmass. Es liegt bei normaler, buchstäblicher Interpretation bei
Achtel = 138 – 152 und bei metrisch-halbierender Interpretation bei Achtel = 69 – 76.
(Webers Tempo wurde von einem Zeitgenossen, der Mozart’sche Aufführungen
gehört hatte und sich mit den mitwirkenden Orchestermusikern darüber beraten hatte,
bestätigt.)
Die Reaktionen der am Experiment Teilnehmenden deckten sich mit denen des
Mozart-Forschers Carl Bär, der 1963 von der Möglichkeit einer variablen
Interpretation noch nichts gewusst und die buchstäblich gelesenen Tempo-Angaben
aus einem musikalischen Instinkt heraus als „übersetzt“, als „unannehmbar“ und
„irgendwie anfechtbar“ bezeichnet hatte.
Einen deutlichen Hinweis darauf, dass diese Angaben nicht 1:1 gemeint sein konnten,
haben wir in der Metronom-Angabe des Zauberflöten-Klavierauszuges (Schlesinger,
Paris, 1822). Dort ist die Arie mit „Achtel = 88“ (buchstäblich zu lesen) bezeichnet.
Dieses Zeitmass liegt 12 Metronom-Graden weit entfernt vom Mittelwert der
buchstäblich gelesenen Angabe 138 – 152, aber nur 4 Grade neben dem Tempo
„Achtel = 69 – 76“, das sich bei – wie wir meinen - sachgemässer Interpretation ergibt.
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Die Reihe solcher Beispiele könnte mit Leichtigkeit fortgesetzt werden, wenn es den hier zur
Verfügung stehenden Rahmen nicht sprengen würde. Vermutlich genügt aber auch schon
diese kleine Auswahl, um einsehen zu können, dass das Rätsel der frühen MetronomAngaben keineswegs schon gelöst ist, wie es oft behauptet wird. Gerade an musikalischen
Ausbildungsstätten besteht die Verpflichtung, das Problem mit den üblichen
Verlegenheits_Antworten von defekten Metronomen, schwerhörigen und bezüglich der
Metronom-Angaben schlampigen oder inkompetenten Komponisten zur Seite zu schieben.
Die junge Generation erwartet erfahrungsgemäss von den älteren Kollegen und Experten nicht
eine fertige Lösung, aber zumindest die Anerkenntnis des Problems und die Offenheit für.
alternative Lösungsansätze
Berechtigterweise tauchen im Zusammenhang mit solch paradox erscheinenden Angaben
immer wieder bestimmte Fragen auf:
1. Gibt es Belege und Erklärungen in musiktheoretischen Schriften für den ambivalenten
Umgang mit Metronom-Bezeichnungen? Und wo ist ein Uebergang zum heutigen
einheitlichen Gebrauch belegt?
2 Welche Kriterien sagen uns, in welchem Fall die übliche moderne Lesart zur Anwendung
kommt und in welchem Fall die ältere, „halbierende“?
Man will „jetzt“, „alles“ und zwar „sofort“ wissen.
Zur ersten Frage:
Die Ambivalenz der frühen Metronom-Angaben dürfte schon alleine aus dieser kleinen
Parade von Paradoxien evident sein, jedenfalls für diejenigen, die ihr Blickfeld zu erweitern
bereit sind. Die oben angeführten Doppel-Beispiele sprechen eine deutliche Sprache. Aber
auch in musiktheoretischen Schriften gibt es Hinweise auf die metrische Denkweise.
Man lese z.B. im Werk von Moritz Hauptmann „Die Natur der Metrik und Harmonik“, 1853.
auf den Seiten 223 ff. unter dem Kapitel „Metrum und Rhythmus“ unter Ziffer 7. Darin heisst
es:
„Eine einfache Zeit ist keine metrische Einheit, kann als metrisches Ganzes nicht vorkommen.
Das Einzelne hat in metrischer Bestimmung allezeit nur als Theil des Ganzen, als erster oder
zweiter, seine Bedeutung, denn das metrische Ganze ist von seiner Bestimmung an ein
ungetrennt-Doppeltes, eine Zwei-Einheit.
Ein offizielles Verfallsdatum für den doppelsinnigen Metronom-Gebrauch gibt es
selbstverständlich nicht. Aber aus vielen Zeugnissen kann erschlossen werden, dass die frühen
Metronom-Angaben zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr im Sinne der Autoren verstanden
wurden. Solche Zeugnisse sind z.B. die Vorworte der posthumen Neuausgaben der Etüden
von Johann Baptist Cramer (durch Hans von Bülow), Carl Czerny (durch Heinrich Germer
und später durch Bruno Zwintscher), Sigismund Thalberg (durch Hugo Reinhold) , Friedrich
Burgmüller (durch Naoyuki Taneda), Franz Liszt (durch …), Charles-Valentin Alkan(durch
…) u.a.
Zur zweiten Frage:
Wann welche Lesart zur Anwendung kommt, ist nicht durch ein eindeutiges und einheitliches
Regelsystem theoretisch zu lösen, sondern - entsprechend ihrer Entstehung - „spielend“ in
der Praxis. Dazu ist geduldiges, treues Suchen nötig. Es bewährt sich die Technik des
„hinausgezögerten Urteils“. „Die Zeit, die wir auf eine Sache verwenden, ist der Massstab
unserer Liebe zu ihr.“ (Hugo Kükelhaus)
Im Irrgarten der frühen Metronomisierungen möge man sich stets daran erinnern, dass die
Angaben Bewegungs-Angaben sind, die ganz aus der Praxis des Taktschlagens gewonnen
wurden. Die unterschiedlichen und uneinheitlich gebrauchten Taktier-Bewegungen wurden
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auf dem mechanischen Apparat imitiert, wobei noch der beschränkte Umfang der Skala mit
zu bedenken ist. Mit einer Faustregel kann man sich auf den Weg machen:
Trenne zunächst Notenwert und Zahl. Beziehe sie nicht unmittelbar aufeinander.
Betrachte die Zahl lediglich als Information über die Frequenz der neutralen TickImpulse.
Dein musikalischer Verstand, Dein künstlerisches Gefühl und Deine spieltechnischen
Möglichkeiten (und auch die Deines Instrumentes) sagen Dir, wie die Impulse
musikalisch sinnvoll zu ordnen sind, auf welche Notenwerte sie im Kontext zu beziehen
sind. Dafür kommen sowohl die zu unterteilende Ganztakte (Beispiel 1, 3, 4, 8) und
Taktteile (Beispiele 2, 4, 6) als auch die Taktglieder (Beispiel 9) und sogar die Taktnoten
(Beispiel 5) in Frage.
Was ist das Schwerste von allem?
Was dir das Leichteste dünket,
Mit den Augen zu sehen,
was vor den Augen dir liegt.
(Goethe)
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Stefan Gottfried hat in seinem Beitrag beim Wiener Mozart-Symposion 2006 die
buchstäblich gelesenen Tempi vertreten, ohne alternative Interpretationsansätze zu erwähnen.
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