Musik in Ihren Lebenswelten Musikleben im 17. Jahrhundert III Prof. Meine Protokoll vom 04.02.2016 Protokollant: Jan Henryk Rentel 1674: Ein Jahr Musik (in Lübeck, Paris, London und Rom) Wie schon zum Beginn der Vorlesungsreihe gesagt, ist die Auswahl der Geschichtsbeispiele immer eine persönliche Entscheidung, abhängig von individuellen Faktoren. Diese Vorlesung versucht dagegenzusteuern, nur das zu erzählen, was gerade "neu" in der jeweiligen Zeit ist, sondern stattdessen musikalischen Alltag zu präsentieren. Wichtig ist die Gleichzeitigkeit von Alltag, Neuheiten und besonderen Ereignissen. Zum Beispiel wird in Paris die tragédie lyrique eingeführt, während in Lübeck "normale", kontrapunktische Kantaten aufgeführt werden. Das Problem bei einer solchen Auswahl ist immer, dass man nur begrenzte Auswahlmöglichkeiten hat, da ein Großteil der erklungenen Musik nicht schriftlich überliefert ist. Das ändert sich zunehmend, je näher man den Blick zur Moderne wendet: Es gibt mehr Informationen darüber, wer, was, wann und warum komponiert, aufgeführt und in Auftrag gegeben hat. In dieser Vorlesung wird der Zeitraum von August bis Dezember 1674 beleuchtet. Wir erinnern uns an das Ende der letzten Vorlesung: An London, das eine hartes, von der Pest und dem großen Brand geprägtes Jahrhundert zu überstehen hat. London befindet sich in einer Zeit der "Restauration". Es gibt Theatermusik zu hören, das erste privatveranstaltete öffentliche Konzert und öffentliche Musik unter freiem Himmel in den Gärten. Wir springen nach Rom im Sommer 1674, 2000km südöstlich von London, mehrere Monate Reise entfernt. Zuerst wird ein Gemälde der piazza del popolo gezeigt, auf dem das porta (Tor) gezeigt ist, durch das man hindurchgeht, wenn man aus dem Norden nach Rom kommen möchte. An der piazza del popolo im Jahr 1674 stehen schon Gebäude wie die bekannten Zwillingskirchen, sowie ein Augustinerkloster, in dem sich Luther möglicherweise während seines Rom-Besuches aufgehalten haben könnte. Außerdem hat unweit der piazze del popolo (bis heute) die päpstliche Kurie ihren Sitz, die zu dieser Zeit über einen großen Teil des heutigen Italiens regiert. Mailand und Venedig waren unabängig, Süditalien unter spanischer Herrschaft. Rom befindet sich gerade mitten in der Phase barocker Baukunst. Zu dieser Zeit bekommt der Petersdom seine bis heute aktuellen Umbau. barock: abwertender Begriff aus der Kunstgeschichte (mehr dazu in späteren Teilen der Vorlesungsreihe) Rom ist deshalb so interessant für die Musikgeschichte, da im Vatikan (am südwestlichen Stadtrand) und in Rom geistliche und weltliche Botschafter aus der ganzen Welt lebten. Unter der großen ausländischen Elite waren viele Kulturförderer, unter anderem Kristina von Schweden. Kristina von Schweden (geboren 1616 in Stockholm, gestorben 1689 in Rom), war von 1632 bis 1654 Köngigin von Schweden. Sie hat die Krone freiwillig abgegeben, vermutlich, weil sie homosexuell war, sowie Heirat und Kinder abgelehnt hat. Zumindest ist sie zum Katholizismus konvertiert und mit ihrem Hofstaat - zur größten Freude des derzeitigen Papstes - nach Rom gezogen. Der Papst ließ anlässlich ihrer Konvertierung einen großen Empfang mit Reitern und Musik organisieren: Die röm.-kath. Kirche und somit der Papst profitieren nämlich selbsterklärend davon, wenn sich eine Persönlichkeit wie K. Von Schweden der reformierten Kirche abwendet. Kristina von Schweden war in Rom Mäzenin für Alessadro Stradella und Giacomo Carissimi und hat 1670 ein Theater gegründet (teatro tordinona), in dem bis 1675 unter päpstlicher Duldung auch Sängerinnen und Schauspielerinnen auftreten durften. Heute steht an dessen Stelle ein Denkmal. Theater aus dieser Zeit waren oft aus Holz gebaut und somit äußerst vergänglich. Ihr Wohnsitz war der Palazzo Farnese (zu der Zeit schon 100 Jahre alt). Heute beherbergt der Palazzo Farnese die französische Botschaft, die ecole francaise und ein Museum. 15. August 1674 (Mariä Himmlfahrt) – Palazzo Farnese Eine Serenade (ital.: sereno: klar, heiter; verbal-instrumentale Huldigung) von Alessandro Stradella wird aufgeführt. Stradella ist 1639 in Nepi nahe Rom geboren und 1682 ermordet worden. Von ihm sind etwa 300 Kompositionen überliefert, darunter hauptsächlich Kantaten, sowohl geistliche als auch weltliche, Oratorien, Intermedien, Prologe und Instrumentalmusik. Eine Kantate ist ein mehrsätziges Stück für Gesang und Instrumentalbegleitung. Sie besteht aus Rezitativen, Arien, Chorsätzen und Instrumentalritornellen. Ihre Entwicklung geht aus dem sich seit 1600 etablierenden Sologesang mit basso continuo hervor. Sie kann sowohl geistlich als auch weltlich sein. Serenata (weltl. Kantate): "Qual Prodigio è chio mir`!" (Stradella): Sie beginnt mit einer Sinfonia. In ihrer Partitur werden die zwei großen Streichergruppen selbstverständlich mit concertino und concerto grosso bezeichnet. Stradella spielt in seiner Komposition mit dem Klang und differenziert die unüblich vielfältige Streicherbesetzung stark aus. Das ist durchaus gewollt inszeniert. Es folgen ein Sopranrezitativ mit basso continio, das mit Tonmalerei arbeitet, eine Sopranarie mit concerto grosso (concerto di viole), die sehr rhythmisch gestaltet ist und ein Sopran-Bass-Duett, das Freundschaft und Feindschaft thematisiert, sehr syllabisch gestaltet ist und in dem die beiden Stimmen nah aneinander liegen. Das Duett kontrastiert insofern die Sopranarie, als dass die beiden Stimmen nicht rhythmisch im Dialog zueinander stehen, sondern mit harmonischen Reizen und großer Rhetorik im Vordergrund stehen. Zeitgenössische Dichtungen haben eine direkte Sprache und greifen auf reichhaltiges Vokabular zurück. Sie setzen auf starke Bilder und Dramatik, was die Musik möglichst plastisch umzusetzen versucht. Es gibt sowohl freie/prosa (Rezitative) als auch gebunde (Arie) Verse. Vokalstimmen werden bewusst syllabisch und rhetorisch geführt und es gibt keine Koloratur der Stimmen zum Selbstzweck. Die Instrumentalensembles werden erweitert (concerto grosso) und Stimmen expressiv, bewusst harmonisch geführt. Giacomo Carissimi, getauft 18.04.1605 in Marino bei Rom und gestorben am 12.01.1975 in Rom, war Jesuit, Komponist und Priester. Er war 45 Jahre lang Kapellmeister am Jesuitenkolleg (Bezug zur Uni Paderborn: ist auch ein ehem. Jesuitenkolleg): Zu seinen Aufgaben zählte die (musikalische) Ausbildung von Schülern, Chorknapen und die Pflege der Kirchenmusik. Unter anderem hat er Musik für die Basilica des collegium germanicum et hungarium und das oratorio san crocifisso an San Marcello geschrieben. Außerdem war er ab 1656 maestro di cappella del concerto die camera, also zuständig für Kammermusik bei Kristina von Schweden. Näher erläutert wird sein Werk anhand der geistlichen Kantate "Vanitas, Vanitatem" für Soli (SSATB), Chor (SSATB), Orchester und basso continuo. Vanitas (lat.: leerer Schein, Eitelkeit, Vergänglichkeit, Nichtigkeit) Vanitas, die Vergänglichkeit alles Irdischen angesichts des Todes ist zu Carissmis Zeit ein großes Thema und er als Komponist, der sich der vergänglichsten aller Künste verschrieben hat, nimmt sich dem Thema vanitas auch an. Die Kantate beginnt mit einer Sinfonia mit Ritornellfunktion, besetzt mit zwei Instrumenten im Violinschlüssel und basso continuo. Ein Solorezitativ greift das Buch Kohelet (Bibel, altes Testament) auf, das von der Vergänglichkeit von Reichtum, Macht und Wissen handelt. Nachdem der Solist zur Erkenntnis gekommen ist, das alles vergänglich ist, mahnt der Chor refrainartig: "Vanitas vanitatem et omnia vanitas!", was so viel heißt wie "Vergänglichkeit ist vergänglich und alles ist vergänglich!". Eine feste Grenze zwischen einer Kantate und einem Oratorium ist schwer festzulegen. Wenn eine Kantate abendfüllend ist, kann man sie auch Oratorium nennen. Wichtige Eigenschaften sind, dass es geistlich für Soli, Chor und Orchester und nicht szenisch ist (obgleich es musikalisch viele Schnittstellen mit der Oper hat). Viele Oratorien aus dem 17. Jahrhundert findet man nicht unter dem Stichwort Oratorium, sondern unter Historien oder histoire sacreé. Lübeck, 9. Dezember 1674, 2. Sonntag im Advent (Jahr nicht genau bestätigt) In St. Marien wird eine Bearbeitung Buxtehudes eines Adventsliedes aus dem 16. Jhd. aufgeführt: "Ihr lieben Christen, freut euch nun", BuxWv 51, für zwei Soprane, Alt, Tenor, Bass, drei Violinen, zwei Violas, Violone, Fagott, drei Zinken, zwei Trompeten, drei Posaunen (!) und basso continuo (Orgel). Der Stil dieser Kantate unterscheidet sich grundlegend von Kantaten Stradellas oder Carissimis: Buxtehunde verwendet wesentlich mehr kontrapunktische Techniken. Allerdings gibt es auch Parallelen. So teilt auch Buxtehude die Streicher und kommt auf eine insgesamt 13-stimmige sinfonia. Darauf folgen ein Choral mit Streicherensemble sowie ein Chor mit ganzem Orchester und vielen Solisten (mind. 5). Wir sehen Gemälde aus der Zeit, um uns vor Augen zu führen, wie die Instrumente im 17. Jahrhundert ausgesehen haben könnten. Achtung: Bilder aus dieser Zeit sind mindestens stilisiert oder sogar allegorisch (Hunde stehen für Treue, Vögel für Erotik). Praetorius' syntagma musicum wird nahegelegt, um eine Orientierung zu den Instrumenten des 17. Jhds. zu erhalten. Eine Gemeinsamkeit der Städte (Rom, Paris, London, Lübeck) im Jahresende 1674 ist, dass überall Weihnachtsmusik erklungen ist. Diese hat zunehmend von Kontrasten vor allem von Harmonie und Rhythmik gelebt. Gattungen des 17. Jahrhunderts: – Oper, Theater – Musik für Clavecin und Viola da Gamba – vor allem Solo- oder Consortmusik, Suiten – weltliche und geistliche Kantaten (in Latein oder Vulgärsprache) – Oratorien Stile: – neue Musikströmungen (frz./ital.) – norddeutsche Musik, älteren, traditionelleren Stils (KP) Anlässe: – Genuss, Freude – persönliche Bekenntnis/Ausdruck – Frömmigkeit – kultureller Austausch – Selbstdarstellung – militärische Siege – Aufträge des Adels – Kirchenfeste – 1. öffentliches Konzert