>STUDIE< Musiker sein: Zwischen Beruf und Berufung Im Gespräch mit erfolgreichen Berufsmusikern Teil 1 Hans Günther Bastian Im Rahmen einer Langzeitstudie zu beruflichen Entwicklungen und Karrieren mit dem Titel 20 Jahre später – was ist aus den ehemals hochbegabten Jungmusikern geworden?1 stellten wir die alte Frage, ob und in welchem Maß Musiker ihren Beruf auch als Berufung erleben bzw. bewerten. > In diesem Beitrag werden Teilergebnisse aus semi-narrativen Interviews mit diesen Musikern (n = 52) veröffentlicht, die entweder auf eine erfolgreiche Karriere zurückblicken können oder die das Musizieren ganz privat auf hohem Niveau pflegen. Zur Erinnerung: 1989 hatten wir eine Biografiestudie über musikalisch Hochbegabte mit dem Titel Leben für Musik – Eine Biographie-Studie über musikalische (Hoch-)Begabung (mit Interviews aus dem Jahr 1985) sowie nachfolgend eine Repräsentativstudie Jugend am Instrument 2 vorgelegt. Im Vorwort der Studie Leben für Musik schrieben wir seinerzeit: „Wir werden den weiteren Lebensweg [der jungen Musiker] wann und wo immer möglich mit Interesse verfolgen. Über eine Langzeitstudie (Was ist aus ihnen geworden?) wäre mit gebührendem Zeitabstand nachzudenken.“3 > Wo die Bedürfnisse der Welt mit deinen Talenten zusammentreffen – dort liegt deine Berufung! < Aristoteles Heute, mehr als 20 Jahre später, haben wir tatsächlich nachgefragt: Was ist aus diesen seinerzeit musikalisch sehr begabten Jugendlichen geworden (allesamt waren sie Bundesteilnehmer und -preisträger der Wettbewerbe „Jugend musiziert“)? Wo stehen sie heute als berufstätige Erwachsene? Haben sich ihre Träume vom internationalen Interpretenhimmel erfüllt? Besetzen sie exponierte Stellen in ausgewählten Orchestern? Sind sie erfolgreiche Solisten im internationalen Konzertleben geworden? Unterrichten sie als Professoren an Hochschulen? Wie ist ihre berufliche Entwicklung 38 zu dieser oder jener Position verlaufen? Welche Schübe und Fortschritte haben sie erlebt, aber auch welche Krisen und Depressionen mussten sie verkraften? Auch Biografien talentierter Menschen verlaufen nie so glatt, wie Betroffene es sich selbst und Außenstehende ob der außerordentlichen Begabung es sich oftmals vorstellen. Lebensläufe ereignen sich nie so bruchlos linear in strahlendem Dur nach oben, sondern die Entwicklung von Musikern kann auch kräftig in Moll intonieren, gerade weil sie – von Musik geprägt – emotional so extrem empfindsam sind. Im Rahmen unserer Gespräche stellten wir die Frage nach der Koinzidenz von Beruf und Berufung. Ist Musiker sein ein Beruf wie jeder andere Beruf oder fühlt der Musiker doch mehr eine Berufung? Wann sprechen wir überhaupt von Berufung, was meint diese alltagssprachliche Steigerung des Begriffs „Beruf“ hin zur „Berufung“? Versuchen wir zunächst einen begriffs-semantischen Zugang.4 Erwachsene Menschen sind für gewöhnlich erwerbstätig, sie haben einen Beruf erlernt und üben ihn auch aus, ohne indes irgendeine Berufung zu dieser Tätigkeit zu spüren. Unter Beruf versteht man allgemein eine institutionalisierte Tätigkeit, die ein Mensch für finanzielle oder herkömmliche Gegenleistungen oder im Dienste Dritter regelmäßig erbringt bzw. für die er erzogen und ausgebildet wurde. Im Allgemeinen dient die Ausübung eines Berufs der Sicherung des Lebensunterhalts. Die erwirtschafteten Geld-, Sach- oder Tauschleistungen dienen der Stillung der persönlichen Bedürfnisse oder denen der sozialen Gemeinschaft (z. B. der Familie), der der Ausübende angehört. Dazu gehören in erster Linie die Ernährung, die Bekleidung, der (häusliche) Schutz vor Gefahr und Krankheit und die Vorratsbildung. Darüber hinaus üben viele Menschen berufsähnliche Tätigkeiten aus, die nicht oder nur indirekt entlohnt werden (durch soziale Anerkennung oder persönliche Befriedigung). Ehrenämter, amateurhaft ausgeübte Tätigkeiten (z. B. Kunst oder Sport) und intensiv betriebene Hobbys bilden daher Schnittmengen zum „Beruf“. Im Sinn des Grundgesetzes ist ein Beruf eine auf Dauer angelegte das Orchester 11.09 >STUDIE< © Felix Broede Erwerbstätigkeit, die zur Sicherung und Erhaltung der Lebensgrundlage dient (Art. 12 GG).5 In einigen Berufen wird jedoch auf eine so genannte Berufung besonderer Wert gelegt. Berufung meint in geradezu religiös-spirituellem Sinne das Vernehmen/Verspüren einer inneren Stimme, die einen zu einer bestimmten Lebensaufgabe drängt. So spricht man von einer Berufung zur Menschenführung, zur Medizin, zum Ordensleben, zum Priesteramt, zum Richteramt, ja eben auch zur Musik als einem Berufensein, das im Herzen und im speziellen Talent jedes einzelnen Menschen tief verankert ist. Berufung erscheint als eine Erhöhung des beruflichen Seins, als eine Qualitätsstufe beruflicher Erfahrung, die nicht jeder Erwerbsarbeit zukommen mag, ja auch als Geschenk, das einem gegeben wurde. Am Beispiel des Musikers ließe sich unterscheiden: Man ist von Berufs wegen Orchestermusiker, daran mag zunächst nichts Berufenes sein, das ist einfach Arbeit im Sinne des Gelderwerbs, ein bisweilen „hartes Brot“. Die Berufung des Orchestermusikers meint dagegen mehr, sie wird als Privileg gesehen, überhaupt Musik machen zu können und zu dürfen. Berufen ist der Musiker primär für die Musik und nicht für irgendeine Stelle im Berufsleben. Berufensein ist ein Gefühl, das sich einstellen mag, „wenn man nach einem Konzert dasteht und tausend Leute rasten aus vor Begeisterung“. Musizieren wird dann als eine besondere Fähigkeit angesehen, die ein Mensch als inneren Auftrag erlebt. Edgar Krapp hat einmal sinngemäß formuliert: „Wir machen Musik, nicht weil wir sie wählen und wollen, sondern weil wir sie machen müssen!“ Eine Berufung liegt also immer dann vor, wenn Menschen – bei welcher Tätigkeit auch immer – eine innere Notwendigkeit spüren, das zu tun, was sie tun. Jörg Widmann Jörg Widmann hebt dieses „Müssen“ in unserem Gespräch eigens hervor: „Kunst kommt von müssen. Also ich kann nicht anders. Es muss auf die Welt. […] Ich meine nicht ,Müssen‘ im Sinne von Zwanghaftigkeit, sondern im Sinne von ,Geht gar nicht anders, es kommt von innen. Es muss nach außen kommen‘ […] In der Interpretation müssen wir jedes Mal wieder die Musik neu erfinden. Das ist ja das Interessante oder das Schöne an der Musik. Die steht auf dem Papier und wir müssen sie trotzdem neu transportieren. Ich entdecke neue Sachen, Geheimnisse. Gerade bei diesen Dingen, die man glaubt zu kennen. […] Ich könnte auch die Komponiererei mal lassen. Ich habe das letzte Jahr keine Note komponiert. Nur ,konzertiert‘. Und das so exzessiv, dass ich mit meinem Instrument noch mehr verwachsen bin. Das war eine wunderschöne Erfahrung. Natürlich könnte ich das eine oder andere lassen, aber ich kann nicht. Selbst wenn ich wollte. Und ich will nicht mal. Das eine befruchtet das andere, und ich würde nie auf die Idee kommen, die Klarinette aufzugeben. Ich könnte gar nicht. Geht auch gar nicht. Alleine diese Glückserfahrung mit diesem Instrument, dass ich von das Orchester 11.09 frühester Jugend an eigentlich durch meine musizierenden Kollegen, also Klassenkameraden, immer die Gelegenheit hatte, meine Werke zu hören.“ > Wenn Sie dazu berufen sind, Straßen zu kehren, dann kehren Sie sie wie Michelangelo Bilder malte oder Beethoven Musik komponierte oder Shakespeare dichtete. Kehre die Straße so gut, dass alle im Himmel und auf Erden sagen: Hier lebte ein großartiger Straßenkehrer, der seinen Job gut gemacht hat! < Martin Luther King Musiker fühlen sich im Allgemeinen für die Musik berufen. Die Frage des Warum lässt sich u. a. über eine Antwort auf die Frage nach dem Wesen und Wirken des Faszinosums Musik beantworten. Musikerleben und Musikmachen sind eine besondere Art, sich in dieser Welt zu befinden und sich dabei selbst zu finden. Musik fungiert als Tagebuch und Psychiaterin, sie dient als Attacke und seelischer Striptease, sie ist Poesie und Aufschrei, sie vermittelt Denken und Fühlen. Von jeher ging von Musik ein Mythos aus, eine Faszination, die menschliche Emotionen der Freude und Trauer, der Begeisterung und Betrübnis auslöst, ja die allen Schattierungen menschlichen Lebens und Erlebens ihren Ausdruck verleiht. Musik ist ein Fenster zur Erkenntnis von uns selbst, angesichts ihrer vielfältigen Wirkungen ein Prüfstein für alle Modelle unseres Bewusstseins und Geistes. Sie dringt in die Zentren des Fühlens und Denkens, sie wirkt auf nervale und hormonale Systeme. Jene Euphorie, die wir beim Musizieren und Musikhören empfinden, verändert uns psychisch und physisch. Es gibt kein der Musik vergleichbares Medium, das so vielfältige und scheinbar selbstverständliche Zusammenhänge mit unserem Gefühlsleben aufweist. Wie viel stärker muss dieses Faszinosum „Musik“ für diejenigen sein, die sich für einen Musikerberuf entschieden haben und darin ihre Berufung spüren. Diese Faszination erleben aber nicht nur die meisten Berufsmusiker unserer Stichprobe, sondern auch jene Probanden, die Musik nicht zum Beruf machten und dennoch ganz privat intensiv musizieren. Alle, die einmal auf einem hohen Niveau musiziert haben, können sich ein Leben ohne Musik nicht vorstellen. Musik ist eine Leidenschaft, von der sie nicht lassen können, offensichtlich eine Berufung, in der sie zu sich selbst finden. < 1 Die Studie wird im Frühjahr 2010 beim Verlag Schott Music in Mainz erscheinen (Autoren: Hans Günther Bastian und Martin Koch). 2 Hans Günther Bastian: Jugend am Instrument. Eine Repräsentativstudie, Mainz 1991. 3 Hans Günther Bastian: Leben für Musik. Eine Biographie-Studie über musikalische (Hoch-)Begabung, Vorwort: Jürgen W. Möllemann, Beiträge von: Adam Kormann, Mainz 1989, S. 3. 4 In ihrem Beitrag „Von der Berufung zum Beruf“ gebraucht Magdalena Bork den Begriff der Berufung entgegen der üblichen Begriffssemantik für die Bezeichnung der Ausbildungszeit des Musikers, die Zeit vor dem Beruf, für das Studium, in dem man quasi für die Musik berufen wird (in: das Orchester, 4/2009, S. 33 f.). 5 http://de.wikipedia.org /wiki /Beruf. > Teil 2 dieses Beitrags erscheint in der nächsten Ausgabe von das Orchester (12/09) 39