Pressemitteilung der Kunststiftung Baden-Württemberg PRESSEMITTEILUNG // Laudatio auf Clytus Gottwald gehalten von Björn Gottstein Verleihung des Maria-Ensle-Preises 2016 8. Dezember 2016 An einem Oktoberabend im Jahre 1958 fasste Clytus Gottwald einen Entschluss. Er saß an diesem Abend in einem Wagen auf der Rückfahrt von Donaueschingen nach Stuttgart. In Donaueschingen hatte Gottwald unter anderem die Uraufführung der Poesie pour pouvoir von Pierre Boulez gehört, eine überwältigende Raummusik für Tonband und drei Orchester. Ein Werk, das Boulez später übrigens, wie andere seiner frühen Werke, die das radikale Experiment wagten, zurückgezogen hat. Ob und inwiefern Boulez dieses Werk gelungen ist, sei einmal dahin gestellt. Wichtiger ist, dass das Stück auf einen Hörer einen gewissen Eindruck machte und zu der Einsicht führte, dass Boulez als Komponist über eine Könnerschaft und eine Vision verfügte, die ihm, dem Hörer selbst abging. Gottwald hatte sich in den Fünfzigerjahren durchaus als Komponist versucht. Unter dem Eindruck der Poesie pour pouvoir fasste Gottwald nun den Entschluss, er beschreibt diesen Moment in der schnörkellos-lakonischen Art, die ihm zu eigen ist, in seiner Autobiografie, dass er selbst als Komponist nicht an dieses Niveau heranreichen könne werde. Man mag die Entscheidung, das Komponieren fortan einzustellen, bedauern. Gottwald wäre vielleicht kein so schlechter Komponist geworden, wie er damals geglaubt haben mag. Wenn man aber darauf schaut, welche Perspektiven sich in den folgenden Jahren stattdessen auftaten und welche Spuren Clytus Gottwald im Musikleben seiner Zeit hinterlassen hat, dann währt dieses Bedauern nicht allzu lang. Diese vielfältigen Perspektiven, die sich auftaten, lassen sich gut nur aus der bewegten Biografie des jungen Gottwald herleiten. Als Sohn eines Biologie- und Chemie-Lehrers, ein überzeugter Sozialdemokrat, der 1933 wegen seiner politischen Ansichten aus dem Schuldienst entlassen wurde, wuchs er in Schlesien auf, bekam im Alter von 11 Jahren ersten Geigenunterricht und wechselte 1940, im Alter von 15 Jahren, auf ein Gymnasium für musisch begabte Kinder nach Frankfurt. Der Zweite Pressemitteilung der Kunststiftung Baden-Württemberg Weltkrieg ließ die Träume eines Musikerlebens vorerst platzen. Die Geige musste gegen eine Waffe eingetauscht werden. Mit wenigen Sätzen schildert Gottwald in seiner Autobiografie seine kurze Zeit als Soldat und das Kriegsende, als er sich im September 1944 ergab, mit dem Satz "Monsieur, nous sommes hereux aussi que la guerre est finie pour nous". Er beschreibt auch die Gefangenschaft auf einer amerikanischen Baumwollplantage, die seine Hände so strapazierten, dass an eine Laufbahn als Violinist nicht mehr zu denken war. Auch hier, im Rückblick, kein Bedauern, denn so wurde aus Gottwald erst jener Sänger und Chorleiter, der die Vokalmusik des 20. Jahrhunderts revolutionierte. Nach dem Krieg dann Stuttgart, zunächst weil Gottwald bei einem Reisegefährten aus der Gefangenschaft in Fellbach unterkam, aber auch, weil in Stuttgart wieder ein Radiosender aufgebaut werden sollte. Gottwald wurde zunächst Sänger im BrucknerChor in Korntal, und dann Sänger der ersten Stunde des neuen Rundfunkchores, heute besser bekannt als SWR Vokalensemble. Gleichzeitig studierte er Musikwissenschaft, Theologie und Soziologie in Tübingen, später in Frankfurt, wo auch der damals in der Musikwissenschaft nicht besonders gelittene Theodor W. Adorno unterrichtete. So waren die Voraussetzungen für den späteren Lebensweg geschaffen, als dann eine Begegnung mit der Musik von Olivier Messiaen folgte und mit einem Mal, so Gottwald, wusste er, in welche Richtung die Chormusik entwickelt werden musste. In Stuttgart hielten die Institutionen, die Musikhochschule, der Rundfunk, die Oper und auch die Presse nicht viel von Neuer Musik. Und so wurde Gottwald selbst aktiv und gründete 1960 jenen Chor, der der Musik der Nachkriegsavantgarde ein neues Gesicht verlieh: die Schola cantorum Stuttgart. Sechzehn Stimmen, ein schlanker Chor, in dem die Stimmen immer auch solistisch hervortreten konnten. Ich erinnere mich, dass ich mich in meiner Studienzeit im Köln der Neunzigerjahre einmal mit Brian Ferneyhoughs Time and Motion Study III befasste. Ein Chorstück, das auf arbeitsökonomische Studien zurückgeht, mit denen die Handgriffe von Pressemitteilung der Kunststiftung Baden-Württemberg Arbeitern analysiert und optimiert werden sollten. Ferneyhough verwickelt die Sänger in einen unguten Wettstreit mit ihrem Gegenstück vom Tonband, der Mensch ringt mit und kämpft gegen die Technik. Die Time and Motion Study III ist ein störrisches Stück Musik und auch ein Stück Gesellschaftskritik. Bei meiner Lektüre stieß ich zwangsläufig auf den Booklet-Text zur CD-Veröffentlichung des Werks. Dreimal dürfen Sie raten, wer diesen Text verfasst hatte. Dass man sowohl – aufgrund der profunden Kenntnis des Notentextes – eine musikalisch stichhaltigen Analyse schreiben und gleichzeitig den politisch-sozialen Hintergrund eines Werks durchdringen konnte, hat mich damals beeindruckt und ist mir, in dem Versuch der gesellschaftlichen Verantwortung von Musik auf dem Wege der musikalischen Analyse gerecht zu werden, bis heute eines der wichtigsten Leitbilder geblieben. Warum war Gottwald dazu in der Lage, so kompetent und so anregend über Neue Musik zu schreiben? Weil er aus der Praxis heraus schrieb, weil er die Stücke, über die er sich äußerte, studiert, analysiert und vor allem aber einstudiert und aufgeführt hat. Weil er aber auch Musikwissenschaft studiert hatte und deshalb über das Instrumentarium verfügte, stichhaltig über Musik zu sprechen. Weil er auch das politische Bewusstsein besaß, den politischen Hintergrund eines Werks zu durchdringen. (Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass Gottwald auch zu den ersten Naturschützern der Republik zu zählen ist, der schon früh ein "Stückle" erwarb und dort seinen Beitrag zum Artenschutz leistete.) Die vielen Tätigkeiten von Clytus Gottwald, als Sänger, Musikwissenschaftler, Chorleiter, Bearbeiter, Konzertveranstalter, Rundfunkredakteur, Publizist – diese Tätigkeiten befruchten sich gelegentlich, wie beim erwähnten Text über Ferneyhoughs Stück. Aber man wird auch den Verdacht nicht los, dass es manchmal die Wahrnehmung und Anerkennung seiner Arbeit im Wege stand. Denn wer einerseits gewichtige Kataloge zu den Handschriften deutscher Bibliotheken verfasste, konnte doch nicht gleichzeitig Musik von Maurice Ravel, Alban Berg und Gustav Mahler für Chor einrichten. Wer die Schola cantorum leitete, internationale Konzertreisen organisierte, neue Werke einstudierte – der konnte doch nicht gleichzeitig ansprechende Radiosendungen zur Pressemitteilung der Kunststiftung Baden-Württemberg Neuen Musik produzieren. Gottwald hat all dies getan, und er hat, was er tat, stets herausragend gemeistert. Bei all seinen Tätigkeiten ist er jedoch selten derjenige gewesen, der im Rampenlicht stand, der Ehre, Ruhm und Aufmerksamkeit auf sich zog. Bei all seinen Tätigkeiten hat er doch stets gerne eine Rolle eingenommen, die, wenn sicher auch nicht im Schatten oder gar im stillen Kämmerlein, so doch aber im Dienste anderer stand, und meist waren diese anderen Komponisten. Er hat die Komponisten, die wir heute zu den großen Namen zählen, in ihrer Anfangszeit unterstützt und sie auch ein Künstlerleben lang begleitet. Eine Initialzündung war sicher dt 31,6 von Dieter Schnebel 1965, und dann der Auftrag an György Ligeti , von privater Hand mit 1.000 D-Mark finanziert. Die Schola cantorum führte Lux Aeterna 1966 erstmals auf, ein Stück, das nicht nur durch die Verwendung in dem Film 2001 von Stanley Kubrik über die Neue Musik hinaus berühmt wurde. Pierre Boulez komponierte Cummings ist der Dichter, Helmut Lachenmann seine beiden Consolations, Heinz Holliger Dona nobis pacem. 1972 dann erstmals die Öffnung zur amerikanischen Avantgarde: die Song-Books von John Cage, deren Aufführungen durch die Schola für die CageRezeption in Deutschland maßgeblich wurde. Aber auch der Minimal-Komponist Steve Reich. Eine breites Repertoire also, aber beileibe keine Beliebigkeit darin. Gottwald hat immer klare Vorstellungen gehabt und als Nicolaus A. Huber seinen Kompositionsauftrag für Harakiri mit einem reduktionistischen Konzeptstück erfüllte, setzte Gottwald das Stück kurzerhand ab, weil er es nicht als musikalisch hochwertig genug erachtete. An einer Stelle diagnostiziert Gottwald ein vorläufiges Ende der Chormusik. Gustav Mahler, Claude Debussy, Maurice Ravel oder Alban Berg haben kaum für Chor geschrieben. Arnold Schönberg und Anton Webern fanden keine Anerkennung. Hindemiths Belebungsversuche scheiterten. So lag die Chormusik zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs darnieder. Erst die Neue Musik nach 1945 entdeckte den Chor neu. Messiaen, Luigi Nono, Mauricio Kagel, Dieter Schnebel. "Chormusik", schreibt Gottwald, "wurde wieder an den Blutkreislauf der aktuellen Musik Pressemitteilung der Kunststiftung Baden-Württemberg angeschlossen." Wenn wir auf die vielen Vokalensembles schauen, die sich heute der Neuen Musik widmen, die Neuen Vocalsolisten Stuttgart, die Schola Heidelberg, Exaudi in London, Les Jeunes Solistes in Paris, dann lässt sich vielleicht ermessen, wie wichtig Gottwalds Beitrag gewesen ist. Ich habe die nicht-exponierte Rolle Gottwalds erwähnt. In vielen seiner Funktionen war er ein Ermöglicher, jemand der Voraussetzungen schuf und der Ideen und Visionen Realität werden ließ. Er tat dies mit Überzeugung. In seiner Arbeit war er bodenständig, und doch auch immer subversiv. Der Maria-Ensle-Preis wird an Menschen verliehen, deren Lebenswerk nicht hinreichend gewürdigt worden ist. Nun hat man Gottwald vielleicht nicht übersehen. Aber durch die Rolle, die Gottwald im Musikleben spielte, blieb die ihm zustehende öffentliche Anerkennung häufig aus. Ich freue mich deshalb und bin auch ein wenig stolz, Clytus Gottwald heute zur Verleihung des Maria-Ensle-Preises mit diesen Worten gratulieren zu dürfen. Kontakt Presse: Anna Maria Katz Kunststiftung Baden-Württembreg Gerokstr. 37, 70184 Stuttgart Tel.: 0711 / 25 99 39 13 [email protected] Weitere Informationen unter: www.kunststiftung.de