Zur Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach

Werbung
Franz Willnauer
Zur Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach
Der Protestant Johann Sebastian Bach war von allen schöpferischen Musikern – nur der
Katholik Anton Bruckner steht ihm darin kaum nach – der am tiefsten religiöse; das heißt
auch, dass er der am wenigsten konfessionelle Komponist war. Seinen Glauben in Töne zu
setzen, das Loblied der Verherrlichung Gottes zu singen, war sein Amt – nicht aber, den
Inhalt seiner für die Kirche bestimmten Musik an ein bestimmtes Glaubensbekenntnis zu
binden. So steht neben dem Opus mysticum der katholischen h-moll-Messe, die ohne jeden
Auftrag in seinen letzten Lebensjahren entstanden ist, die schier unglaubliche Zahl von
rund dreihundert Kantaten (von denen gut zweihundert erhalten sind), die er in fast vierzig
Lebensjahren für den all-sonntäglichen protestantischen Gottesdienst seiner Kirche
geschrieben hat – und drei Passionsmusiken, von denen die nach dem Evangelisten
Matthäus, vertont in der kraftvollen Übersetzung Martin Luthers, in jeder Hinsicht die
größte ist: nach Umfang, Bedeutungstiefe, religiösem Gehalt, musikalischer
Kunstfertigkeit.
Dieses Monumentalwerk von rund drei Stunden Dauer dem Hörer einer bevorstehenden
Aufführung in einer halben Stunde nahezubringen, ist ein schier aussichtsloses
Unterfangen. Ganze Bücher sind über die Matthäuspassion geschrieben worden, die
Musikwissenschaft spürt bis zum heutigen Tag den tiefsinnigen Rätseln dieser Musik, den
Umständen ihrer Entstehung und ihrer ungewöhnlichen Rezeptionsgeschichte nach – und
findet auch immer wieder Neues, so vor nicht allzu langer Zeit den Nachweis, dass das
Werk nicht, wie jahrzehntelang geglaubt, 1729 zum ersten Mal aufgeführt wurde, sondern
schon zwei Jahre zuvor, am Karfreitag 1727 – eine kleine Korrektur nur, und doch müssen
jetzt
alle
Mendelssohn-Biographien
umgeschrieben
werden,
in
denen
die
Wiederentdeckung und erste Wiederaufführung des Werks 1829 durch den gerade einmal
20jährigen als Jahrhundertfeier gewürdigt worden ist.
Als ob das so wichtig wäre! Viel bedeutungsvoller finde ich, was Eduard Devrient, der
ältere Freund des Komponisten und nachmals berühmte Schauspieler, in seinen
„Erinnerungen an Felix Mendelssohn-Bartholdy“, erschienen 1872 in Leipzig, erzählt: „Wir
besprachen den wunderlichen Zufall, dass gerade hundert Jahre seit der letzten Leipziger
Aufführung vergangen sein müssten, bis diese Passion wieder ans Licht komme. – ‚Und’,
rief Felix übermütig, mitten auf dem Opernplatze stehend bleibend, ‚dass es gerade ein
Komödiant und ein Judenjunge sein müssen, die den Leuten die größte christliche Musik
wiederbringen!’“
Die größte christliche Musik, „wohl das heiligste Kirchenwerk der Deutschen“, wie der
bedeutende Bachforscher Arnold Schering formuliert hat: Damit ist Bachs Passion auch eine
Musik, die dem Vorwurf der Judenfeindlichkeit ausgesetzt ist, allein schon weil die
biblische Passionsgeschichte selbst seit den Anfängen des Christentums als judenfeindlich
wahrgenommen, ausgelegt und verkündigt worden ist. Mit dem Ausruf „Sein Blut komme
über uns und unsere Kinder“, der – übrigens nur von Matthäus – dem „ganzen Volk“ in den
Mund gelegt wird, habe auch das ganze jüdische Volk die Verantwortung und Schuld für die
Hinrichtung Jesu auf sich genommen, so die These. Diese Auslegung und Benutzung des
1
Bibelwortes, schreibt Johann Michael Schmidt in seiner Studie über die religiöse und
politische Wahrnehmung und Wirkung der Matthäuspassion, zog „eine Blutspur über die
ungezählten Judenpogrome im christlichen Europa bis hin zum rassistischen Antisemitismus“ unserer Tage.
Auch dieser außerkünstlerischen, profanen, ja politischen Wirkung der Matthäuspassion
sollten wir uns also bewusst sein, wenn wir uns in Größe und Schönheit von Bachs Musik
vertiefen und uns mit ihrer Stellung in der Geschichte der Kirchenmusik beschäftigen. Nur
einige Schichten dieses vielschichtigen, ja unauslotbaren Kunstwerks können wir durchwandern, und von den vielen Zugängen, die möglich sind, möchte ich den nächstliegenden
wählen: den über die äußere Gestalt des Werks und dessen religiöse Aussage..
Bachs Matthäuspassion ist, dies vorweg, für den Kirchenraum geschrieben, nicht für den
Konzertsaal – auch wenn Wilhelm Furtwängler einmal gemeint hat: „Überall, wo die
Matthäuspassion aufgeführt wird, ist Kirche“, und sie wurde auch in den wenigen
nachweisbaren Aufführungen zu Bachs Lebzeiten ausschließlich als Umrahmung zur Liturgie
des Vespergottesdienstes am Karfreitag aufgeführt. Auf den ersten Teil, der mit dem Verrat
des Judas und der Gefangennahme Jesu endet, folgte keine Pause, sondern eine einstündige
Predigt, der weitaus längere zweite Teil beginnt daher auch mit einer Erinnerung an die
Gefangennahme, damit man wieder in das Passionsgeschehen zurückfindet, und endet mit
der Grablege Christi und der Klage der gläubigen Gemeinde „Wir setzen uns mit Tränen
nieder“. Dreieinhalb Stunden Gottesdienst in ungeheizter Kirche auf harten Holzbänken:
Bach hat der Leipziger Kirchengemeinde einiges zugemutet.
Und er hat die Passionsmusik in der Disposition der ausführenden Kräfte exakt auf „seine“
Thomaskirche zugeschnitten und so die Grundlage für die einzigartige Werk-gestalt gelegt,
die uns zunächst beschäftigen soll. Auffälligste Besonderheit: Die Matthäuspassion ist für
zwei getrennt aufgestellte Chöre geschrieben, von denen jeder seine eigene
Orgelbegleitung und sein eigenes Orchester hat – jedes gleicherweise aus Streichern, Flöten,
Oboen und Fagotten bestehend (die Mitwirkung von Pauken und Trompeten verbot sich am
Karfreitag von selbst). Demgemäß waren auch die Träger der solistischen Partien den beiden
Chören zugeteilt, wobei Bach wohl mit jeweils zwölf Sängern pro Chor auskommen musste.
Auch konnte er die Sopran- und Alt-Stimmen des Chorsatzes nur mit Knaben und
falsettierenden Männern besetzen und keine eigenen Solisten beschäftigen, sondern musste
deren Partien von seinen begabtesten Chorsängern singen lassen..
Den vier Solisten – Sopran, Alt, Tenor, Bass – sind die betrachtenden Texte anvertraut, die
Bach den „erbaulichen Gedanken zum Karfreitag“ aus den fünf Bänden der „Ernst-,
schertzhafften und satyrischen Gedichte“ von Christian Friedrich Henrici entnommen hatte,
einem Leipziger Gelegenheitsdichter, der seine Werke unter dem Pseudonym Picander
veröffentlichte. Diese poetischen Betrachtungen gießt Bach in die Form von Arien, fünfzehn
an der Zahl, sie bilden musikalisch wie theologisch das Herzstück der Passion. Die zwei AltArien „Blute nur, du liebes Herz“ und, von der Solo-Violine umschmeichelt, „Erbarme dich,
mein Gott“ oder die von der Traversflöte begleitete Sopran-Arie „Aus Liebe will mein
Heiland sterben“ – all diese Arien sind im besten Sinn des Wortes „populär“, nämlich
musikalischer Menschheitsbesitz geworden, wie vielleicht nur noch Mozarts Arien aus dem
„Figaro“ oder „Don Giovanni“. Sie bringen den dramatischen Handlungsablauf zum Stillstand
und zielen auf tröstliche Ermutigung und persönlichen Zuspruch, oder fordern den
zuhörenden, mitleidenden Gläubigen auf, die Passion des Heilands zu verinnerlichen.
2
Den Evangelientext selbst überträgt Bach dem „Testo“, einem „Zeugen“, der – in der
Partitur als „Evangelist“ bezeichnet – die Geschichte vom Leiden und Sterben unseres Herrn
Jesu Christi in Rezitativform vorträgt, begleitet lediglich von den Continuo-Instrumenten
Orgel, Cello und Fagott. Da die Partie für Tenor geschrieben ist, übernimmt dieser Sänger in
manchen heutigen Aufführungen auch die Tenor-Arien, während die übrigen Solisten in der
Regel auch den „handelnden“ Personen des Passionsgeschehens – Jesus, Petrus, Judas,
Pilatus, Landpfleger usw. – ihre Stimmen leihen.
Den beiden Chören weist Bach unterschiedliche Funktionen zu – in der Literatur wird der Chor
I bald als Vertreter des Reiches Gottes, bald als Verkündiger des Evangeliums gedeutet, der
Chor II dagegen dem Reich des Weltlichen zugeordnet oder als Adressat und Zuhörer verstanden; Bach erzielt mit ihnen aber auch starke dramatische Wirkungen. Bald repräsentieren
sie die versammelte Gemeinde der Gläubigen in den kunstvoll-schlichten Choralsätzen (das
von Paul Gerhardt gedichtete Kirchenlied „O Haupt voll Blut und Wunden“ ist der
berührendste von allen), bald verkörpern sie den gläubigen Betrachter der Passion Christi.
Vor allem aber stehen sich die Chöre als „Turbae“ gegenüber (das lateinische Wort turba
bedeutet Menschen-menge, Lärm), hier als die verschiedenen Personengruppen des
Passionsgeschehens, als Jünger Jesu, als Soldaten, Priester oder das fanatisierte Volk, das die
Kreuzigung Jesu verlangt. Den Ausbruch der Volksmenge, die auf die Frage des Landpflegers
„Welchen wollt ihr unter diesen zweien, den ich euch soll losgeben?“ mit dem auf einem
misstönigen verminderten Septakkord komponierten Schrei „Barrabam!“ antwortet, dürfen
wir als einen der eindrucks-vollsten Momente der Musikgeschichte ansehen.
Im Anfangschor und in den Schluss-Chören beider Teile, schreibt der Musikwissenschaftler
und Bach-Herausgeber Hermann Keller, stellt der Doppelchor „die großen Quadern“ hin, die
das mächtige Gebäude des ganzen Werkes zusammenhalten. Zitat: „Besonders großartig ist
der in herbem e-moll gehaltene, über einen endlosen Orgelpunkt ausgespannte Eingangschor, in dem die Töchter Zions um den Herrn klagen, dann aber ein dritter Chor von
Knabenstimmen – in der Thomaskirche von der höchsten Empore herab – den Choral ‚O
Lamm Gottes unschuldig’ anstimmt und unsern Blick über die wogende Volksmenge hinweg
zum Kreuz erhebt, an das der Gottessohn angeschlagen ist.“ Nur an einer einzigen Stelle
allerdings vereinigen sich die beiden Chöre und die beiden Orchester zu einer gemeinsamen
Aussage: für die zwei Takte mit dem Bekenntnis des Hauptmanns, der den Leichnam Jesu
bewacht: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen“. Eindrucksvoller hätte Bach sein
Glaubensbekenntnis nicht formulieren können.
Damit nähern wir uns der zweiten Schicht, die diese Passionsmusik dem Hörer offenbaren
möchte: ihrem religiösen Gehalt. Bach ist ein Meister darin, religiöse Bezüge, theologische
Inhalte und gedankliche Hintergründe in musikalische Sprache – Johann Mattheson hat
dafür das Wort „Klangrede“ gefunden – zu übersetzen. Er benutzt wie selbstverständlich
Tonmalerei und Zahlensymbolik zur Auslegung der Bibelworte. Der Bachforscher Emil
Platen schreibt in seiner Studie über die Matthäuspassion von „bildhafter Melodik“, doch es
ist echte Tonmalerei, wenn sich in der Arie „Blute nur, du liebes Herz“ die Melodie bei der
Stelle „denn es ist zur Schlange worden“ tatsächlich wie ein Schlangenleib windet, oder
wenn im Mittelteil der Arie „Buß und Reu“ bei den Worten „daß die Tropfen meiner
Zähren“ die Tränen, von den beiden Flöten gespielt, in Staccato-Noten zu Boden fallen.
Oder wenn der Evangelist berichtet: „Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriß in zwei
Stück, von oben an bis unten aus“, dann vollführen Orgel und Continuo-Instrumente die
Bewegung des Zerreißens in Zweiunddreißigstel-Läufen, „von oben an bis unten hin“. Auch
die „Blitze und Donner“, die der Chor angesichts des gefangen genommenen Jesus
3
herbeiruft, oder den Hahn, der „alsbald krähete“, als Petrus seinen Herrn zum dritten Mal
verraten hatte, hat Bach mit in geradezu plakativer Barocker Tonmalerei geschildert.
Und Zahlensymbolik: Wenn in der Abendmahlsszene die Jünger fragen: „Herr, bin ich‘s?“,
dann erklingt diese Stelle genau elf Mal. Judas weiß, dass er Jesus verraten wird und fragt
deshalb nicht. Auch die im Barock hochaktuelle Tonartensymbolik dient Bach zur
Charakteri-sierung konträrer Stimmungswerte des Passionsgeschehens. Seelische Vorgänge
wie Leiden, Trauer, Hoffnung oder Triumph finden überdies in Form von Tempowahl,
Intervallschritten, Stimmlage oder Instrumentenwahl ihren Niederschlag in der Partitur. So
verwendet Bach, um nur ein Beispiel zu nennen, gleich drei unterschiedliche Arten der
Oboe: die Oboe d’amore als Sinnbild für die Seele oder das Herz des Menschen (so in der
Arie „Ich will Dir mein Herze schenken“ oder in dem Choral „O Mensch, bewein dein Sünde
groß“), die Oboe da caccia, die Jagd-Oboe, „als Sinnbild für das Bemühen Jesu, uns
einzufangen, zu gewinnen für das Reich Gottes“ (Ludwig Prautzsch) wie in der Arie „Sehet,
Jesu hat die Hand, uns zu fassen, ausgespannt“, während die Verwendung der „normalen“
Oboe wohl gedeutet werden kann als Ausdruck des menschlichen Geistes und Willens – so
in der Arie „Ich will bei meinem Jesu wachen“.
Aber Bach geht in dem Bestreben, seine Musik zum Träger der religiösen Botschaft zu
machen, noch weiter und dringt dabei tiefer in Struktur und Gewebe des musikalischen
Textes ein. Er bedient sich dabei bestimmter kompositorischer Mittel, die in der Barockzeit
jedem Musiker geläufig waren und von der Musikwissenschaft „Figuren“ genannt werden; sie
leiten ihren Ursprung und ihren Namen aus der schon seit der Antike gepflegten Disziplin der
Rhetorik her. Bei Bachs rhetorischen Figuren handelt es sich allerdings nicht um sprachliche
Wendungen, sondern um melodische Motive oder Harmonien, um Akkorde und ihre Verbindungen, mit denen Bilder des Textes, Eindrücke des Betrachters, Empfindungen der
gläubigen Seele musikalisch wiedergegeben werden.
Einige Beispiele mögen dieses Verfahren verdeutlichen: Das Seufzermotiv in der Alt-Arie
„Buß und Reu“, den immer wiederkehrenden Halbtonschritt, hört jeder; das in vier vertikal
und zur Seite ausgespannten Noten komponierte Kreuzsymbol dagegen lässt sich nur aus der
Partitur herauslesen. Wenn Bach das Hinaufsteigen Jesu mit den Jüngern zum Ölberg in
Musik setzt, dann komponiert er eine aufsteigende Kette von elf Sechzehntelnoten,
beginnend im Continuo, fortgesetzt vom Evangelisten, mit einer Achtelnote am oberen Ende:
Jesus geht seinen elf Jüngern voran, einer – Judas – fehlt. Noch eindrucksvoller: Die Gestalt
des Gottessohnes hüllt Bach grundsätzlich in eine weihevolle, jenseitige Aura – manche
Autoren schreiben von einem Heiligenschein, der sie umgibt –, indem er die Worte Jesu nur
von den Streichinstrumenten in lange gehaltenen, piano gespielten Akkorden begleiten lässt.
In besonderem Maße bedient sich Bach in seiner Passion der Zahlensymbolik, die bekanntlich
in allen seinen Werken eine Rolle spielt. Man muß nicht zu den Zahlenfetischisten gehören,
die in jedem Werk Bachs die Takte oder die Noten zählen, mit denen sie Bachs verborgene
Inhalte oder Botschaften aus den Kompositionen heraus-zulesen glauben, um auffallende, ja
erstaunliche Koinzidenzen zwischen biblischem Geschehen und musikalischer Ausdeutung
festzustellen. Auch hier nur ein Beispiel: Die Bass-Arie „Gebt mir meinen Jesum wieder“
reflektiert die Erkenntnis des Judas, dass er übel gehandelt hat, als er Jesus verriet. Die
gebrochenen Dreiklänge in der Violinstimme dieser Arie, die unter den Musikern den
Beinamen „Klingel-Arie“ bekommen hat, sind in Gruppen von je vier Sechzehntelnoten
notiert und stellen das Klingen der Silberlinge dar, die der verzweifelte Judas den
Hohepriestern vor die Füße wirft – es sind genau dreißig.
4
Die Fülle und kunstvolle Formung der musikalischen Details zu schildern, mit denen Bach die
Klangrede seiner Musik zum Vehikel für seine Glaubensbotschaft macht, kann in dieser
kurzen Einführung nicht gelingen. Eigentlich lässt sich nur aus der Partitur entschlüsseln, was
er an drastischer Tonmalerei, an eindringlicher Affektmusik, an hintersinniger Ton-, Klangund Zahlensymbolik in seine Passions-musik gelegt hat. Doch darf uns angesichts solcher
Detailbetrachtung nicht aus den Augen geraten, welch vollendetes musikalisches Kunstwerk
im Sinn der absoluten Musik diese Passion ist. Auch der Hörer, der sich ihrer
Glaubensbotschaft verschließt, empfängt von ihr eine überwältigende Fülle dessen, was
große Musik vermitteln kann: Betroffenheit, Zuspruch, Beglückung.
In ihrem zeitlichen Umfeld betrachtet, ist Bachs Matthäuspassion zukunftsweisendes
Experiment, Gipfelwerk und Endpunkt einer jahrhundertelangen Entwicklung zugleich.
Indem wir das Werk in seinen geschichtlichen Kontext einordnen, um daran seine
Einzigartigkeit zu erkennen, erschließen wir eine weitere, für diese kurze Einführungsstunde
notgedrungen letzte – Schicht dieses komplexen Kunstwerks. Was uns heute als eine der
vollkommensten Schöpfungen Bachs, ja als einer der Höhepunkte der abendländischen
Musikgeschichte gilt, wurde von seinen Zeitgenossen als ein verworrenes,
schwerverständliches Monstrum empfunden, zu aufwendig, zu ausladend, zu opernhaft. In
Christian Gerbers „Historie der Kirchen-Ceremonien in Sachsen“ aus dem Jahr 1732 lesen
wir: „Als ... diese Paßions-Music ... zum erstenmal gemacht ward, erstaunten viele Leute
darüber und wußten nicht, was sie daraus machen sollten. Auf einer Adelichen Kirch-Stube
[einer Empore] waren viele Hohe Ministri und Adeliche Damen beysammen, die das erste
Paßions-Lied aus ihren Büchern mit großer Devotion sungen. Als nun diese theatralische
Music angieng, so geriethen alle diese Personen in die größte Verwunderung, sahen einander
an und sagten: ‚Was soll daraus werden’ Eine Adeliche Wittwe sagte: ‚Behüte Gott, ihr
Kinder! Ist es doch, als ob man in einer Opera-Komödie wäre.’ Aber alle hatten ein Mißfallen
daran und führten gerechte Klage darüber.“
Um das Missfallen der Leipziger protestantischen Gemeinde von 1727 verstehen zu können,
muss man einen Blick auf die kirchenmusikalische Praxis jener Zeit werfen, aus der heraus
Bachs Passionsvertonung in der Tat wie der Ausbund einer maßlosen modernistischen
Phantasie wirken musste. Gewiss, die musikalische Ausschmückung des Passionsgeschehens
ist uralter kirchlicher Brauch. Schon im frühen Mittelalter wurde die Passionsgeschichte an
je vier Tagen der Stillen Woche mit verteilten Rollen gesungen, zunächst im gregorianischen
Choral, seit der Renaissance im Madrigalstil. Während aber in der katholischen Liturgie
Zutaten zum gesungenen Evangelientext nur zögernd gewagt wurden und die lateinische
Sprache nicht preis-gegeben werden durfte, schuf Martin Luthers revolutionäre Hand auch
für die Passionsmusik neue Möglichkeiten. In Luthers Kirche standen sich Klerus und Laien
nicht mehr als Gegensätze gegenüber, sondern waren als „Gemeinde“ in aktiver
Gottesverehrung miteinander verbunden. So wurde der Kirchengesang zum einigenden Band
des protestantischen Glaubens. Damit war es selbstverständlich, dass sich Martin Luthers
Kirche auch im Kirchenlied, dessen Melodie man Choral nannte, der deutschen Sprache
bediente.
Die erste Passionsmusik in deutscher Sprache entstand schon 1530. Johann Walther, der
Mitverfasser von Luthers „Geystlichem Gesanck-Büchlein", war ihr Komponist. Diese
deutsche und viele gleichzeitig komponierte lateinische Passionsmusiken gehörten noch der
älteren Passionsform an, der sogenannten dramatischen Passion. Der gregorianische
Musikstil wirkte in diesen Choralpassionen noch nach: der Evangelientext wurde von
einzelnen Sängern „accentisch“, d. h. auf einem Ton gesungen, vorgetragen, nur in den
Chorstellen, in denen die „Scharen" der Jünger oder des jüdischen Volkes zu Wort kamen,
5
konnte sich die Mehrstimmigkeit entfalten. Eingeschobene Choräle und betrachtende
Stücke unterschiedlicher poetischer Herkunft belebten diese Passions-Historien.
Schon um 1500 aber entwickelte sich, vor allem auf niederländischein Boden, eine jüngere
Form der Passionsmusik, die sogenannte „motettische" Passion. In ihr waren auch die
Solopartien in polyphonem Stil gehalten. Beide Formen, die des schlichten Sprech-gesangs
und die voll auskomponierte, bestanden eine Generation lang gleichwertig nebeneinander,
und beide bedienten sich teilweise der lateinischen, teilweise der deutschen Sprache.
Erst im 17. Jahrhundert trat zum Gesang der Gemeinde die Orgelbegleitung, erst in der
„Auf-erstehungshistorie" von Heinrich Schütz (1623) wurde der Accentus-Gesang vom
Generalbass – zunächst einem Gambenquartett – begleitet. Schritt für Schritt wurde daraus
die Form des Rezitativs entwickelt. Von nun an befruchten die stilistischen Entwicklungen
der anderen Musikgattungen die Passionsmusik in reichstem Maße. Aus der Oper wird die
Solo-Arie übernommen, durch den bedeutenden Lüneburger Komponisten Christian Flor
wird 1667 das Orchester eingefügt. Der Metaphernschwulst pietistischer Frömmigkeit auf
der einen, die drastische Realistik der Hamburger Oper auf der anderen Seite bleiben nicht
ohne Wirkung auf die Komponisten von Passionsmusiken. Seinen vorläufigen Abschluss
erreicht dieses vielfältige Fließen musikalischer und textlicher Formen durch den
dichtenden Hamburger Ratsherrn Barthold Heinrich Brockes.
Seine Passionsdichtung „Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende Jesus" (1712)
wird zum ersten überlokal bedeutsamen, ja zum „klassischen" Passionstext: Reinhard Keiser,
Georg Friedrich Händel, Georg Philipp Telemann und Johann Mattheson komponierten ihn
nacheinander. Bach verwendete ihn als Grundlage für die Johannespassion. Allen
musikalischen Stilelementen gab die Brockes’sche Dichtung Raum: dem reifen Rezitativ, der
Da-Capo-Arie, dem Choralgesang, wie er durch den kurfürstlich-brandenburgischen Kapellmeister Johann Sebastiani in die Passion einbezogen worden war; an die Stelle des
Evangelistenberichtes setzte Brockes eine in freier Versform gehaltene Passions-erzählung.
Diesem Textschema folgte auch die Matthäuspassion, nur griffen Bach und sein Textdichter
Picander wieder auf den originalen, deutschsprachigen Evangelientext Luthers zurück. Um
die Gestalt Picanders hat sich ein Rankenwerk von Ablehnung und Miss-verständnis gelegt.
Dass Bach bei dem Verfasser unzüchtiger Hochzeits-Carmina den Text zur Matthäuspassion
bestellte, wurde als Missgriff angeprangert, dass er auf die Textgestaltung selbst Einfluss
nahm, als Eingeständnis der zweifelhaften Qualitäten Picanders ausgelegt. Der Wahrheit
am nächsten kommt wohl die Überzeugung, dass Bach mit voller Absicht die damals
repräsentativste Dichterfigur Leipzigs zum Mitarbeiter erkor, gerade weil er den
verfügbaren „modernen" musikalischen Mitteln eine gleichfalls „aktuelle" Textgestaltung
entgegenstellen wollte. Die Überwachung von Picanders Text-entwurf dagegen entpuppt
sich als vernünftiges Arbeitsprinzip, wie wir es von der Zusammenarbeit zwischen Librettist
und Komponist aus der Musikgeschichte von Mozart und da Ponte bis zu Richard Strauss und
Hofmannsthal kennen. Ebenso leuchtet es ein, dass sich Bach – aus musikalischen Gründen
wie auf Grund seiner tiefen Religiosität – die Auswahl der Kirchenlieder, die als
Choralstrophen in die Passion aufgenommen werden sollten, selbst vorbehielt.
Anbetung Gottes und Verkündigung der Glaubenslehre ist die Doppelaufgabe aller
Kirchenmusik. Wo sie anbetet, muss sie versuchen, die Größe und Erhabenheit Gottes in
ihrer eigenen Gestalt abzuspiegeln. Wo sie aber verkündet, muss sie sich die sinnlich
mitreißende Macht der Musik dienstbar machen, muss sie sich an den Mitmenschen des
jeweiligen Hier und Jetzt wenden, muss sie den Hörer mit dem Mittel der Aktualität
6
ansprechen. Johann Sebastian Bach war sich dieses Auftrags seiner Musik zutiefst bewusst.
Auch die Vertonung des Passionstextes wurde ihm – über den konkreten Anlass, die
kirchliche Feier der Karfreitagsvesper musikalisch auszuschmücken, hinaus – zum Mittel,
den Verkündi-gungsauftrag seiner Kirchenmusik zu erfüllen.
Noch Bachs Vorgänger in Leipzig, Johann Kuhnau, hatte sich jahrzehntelang geweigert, den
Auftrag protestantischen Musizierens zur Aktivierung der Gläubigen und damit zur Aktualität
anzuerkennen: erst 1721, ein Jahr vor seinem Tode, komponierte auch er eine Passion aus
dem Geist seiner Gegenwart. Bach dagegen verwarf schon in der Johannes-passion die
oratorische Passionsform, in der die Leidensgeschichte des Herrn motettenhaft oder a
cappella gesungen wurde. Mit der Verwendung der „modernsten“ musikalischen
Stilelemente schuf Bach im Wortsinn „gegenwärtige" Kirchenmusik. Neapolitanischer
Opernstil und altdeutsche Choralweise, dramatisch bewegtes Rezitativ und vielstimmige
Chorfuge wurden durch ihn zusammengefügt zu der unfassbaren Einheit seiner
„Passionspredigt". Dass die Karfreitagsmusik den Charakter des Erbaulichen verloren hat und
zum macht-vollen Aufruf an das Gewissen des gläubigen Hörers geworden ist, verdanken wir
dem großen Thomaskantor.
Ich fasse zusammen: Aus vier Elementen fügt sich Bachs Matthäuspassion zum Ganzen, und
vier Stilelemente tragen auch den musikalischen Bau des Werkes. Der Bericht vom Leiden
Christi und das Drama des Passionsgeschehens sind in den Worten der Heiligen Schrift
gegeben. Die Betrachtung der gläubigen Seele ist Gegenstand der Verse Picanders; und für
das Bekenntnis der Gemeinde zum leidenden und triumphierenden Gott stehen die
Choralverse. Dem entsprechen in eindrucksvoller Parallele Herkunft und Eigenart der
musikalischen Stilmittel. Der Choral stammt aus dem protestantischen Gemeinde-gesang,
die betrachtenden Arien dagegen sind der Kunstform der Oper entlehnt. Für das
Leidensdrama steht die gewaltige Polyphonie der Chorsätze ein, und die Stimme des
Evangelisten ist im Rezitativ der Generalbass-Zeit festgehalten.
Bachs schöpferische Phantasie hat aber auch hier die bestehenden Modelle gesprengt und,
ohne das neu aufkommende und festgefügt barocke Musikdenken in einer billigen Synthese
zu verwässern, eigene gültige Formtypen geschaffen. Monodisches und Polyphones stoßen in
seiner Partitur hart aneinander. Die neunzehn Turbae-Chöre und die kunstvollen ChoralHarmonisierungen, die im schlichten vierstimmigen Satz ein Höchstmaß an Textausdeutung
erzielen, künden von Bachs kontrapunktischer Meisterschaft. Wie Entdeckerfahrten ins noch
unbekannte Land der Homophonie muten dagegen die rezitativischen Einleitungen zu den
Solo-Arien an. Während die Arien selbst als sogenannte „da-capo-Arien“ im dreiteiligen
Aufbau (Anfangs- und Schlussteil sind identisch, der Mittelteil bringt neue melodische
Gedanken) den üblichen Kantaten-Arien entsprechen, hat Bach für diese Einleitungen die
Form des „Arioso" erfunden. Im Gegensatz zu dem nur von den Continuo-Instrumenten
begleiteten, als „Secco“ [trocken] bezeichneten Rezitativ des Evangelisten werden diese
„Accompagnato“-Rezitative vom gesamten Orchester untermalt und leiten so bruchlos in die
eigentlichen Arien über. Bachs Ariosi verwenden dabei nicht nur dieselben Instrumentalbesetzungen wie die folgen-den Arien, sondern auch deren thematisches Material für
ihre eigene Melodie- und Begleit-stimme.
Während so durch die Identität der Figuration oder des Rhythmus die Verbindung vom
Arioso zur Arie hergestellt wird, weiß Bach, gleichfalls mit rein inner-musikalischen
Verfahren, auch die Brücke vom Arioso zum vorausgegangenen Rezitativ des Evangelisten
zu schlagen. Hier wie dort wird die Singstimme silbenweise deklamierend geführt, hier wie
7
dort erhebt sie sich über gleitenden Harmoniefolgen. So werden nicht nur die beiden wohl
die Ariosi – etwa das den beiden Travers-Flöten anvertraute „Du lieber Heiland du“ zur AltArie „Buß und Reu“ oder das Arioso zur ebenfalls schon erwähnten Arie „Ich will dir mein
Herze schenken“, bei dem die beiden Oboen d’amore den Tränensee unter dem Sopransolo
imaginieren – ihrem Wesen und ihrer Entstehung nach, zu den eigentlichen lyrischen
Höhepunkten der Passion. Nur mehr die Christusworte aus dem Evangelium hat Bach mit
solch ergreifender Scheu in Musik gesetzt.
Auf verschiedene Ebenen ist damit das Passionsgeschehen auch musikdramaturgisch
gestellt. Der leidende Gott, seine Jünger, seine Richter und der Pöbel des Volkes „agieren"
auf der höchsten Ebene. Die gläubige Gemeinde, die Christi Martertod in den Chorälen
kommentiert, steht in diesem geistigen Spannungsraum am unteren Ende. Dazwischen ist
das weite Feld der zumeist solistischen, manchmal auch chorischen Betrachtungen, der
Arien und Wechselchöre, deren eindeutige Zuordnung nicht leicht zu treffen ist. Es war
freilich nur die Folge einer nachlässigen Editionspraxis, dass der dramaturgische Bau der
Passion, in dem Handlung, Erbauung und Aufruf ihren genauen Platz haben, lange Zeit in
Vergessenheit geraten war. Denn Bach hatte in der 1736 angefertigten prächtigen
Partiturreinschrift seiner Matthäuspassion durchaus für Klarheit in den – wenn man so
sagen darf – spirituellen Hierarchien gesorgt, indem er der Komposition den Picander’schen
Text und, mit roter Tinte geschrieben, den des Evangeliums vorangestellt hat. Dort tritt,
durch Titelüberschriften deutlich eingeführt, die biblische „Tochter Zion" zu den schon
genannten Ebenen hinzu. Somit wird nicht der sündige Einzelmensch zum Partner dieses
Gottesdramas, sondern die vollkommen reine Seele, wie sie Realität und Individuation
nicht kennen. Die „Tochter Zion" ist der ideale Gläubige, sie ist die „Geliebte des Herrn",
die seiner Partnerschaft würdig ist.
Mit großer Logik führt Bach diesen Gedanken auch in der Musik durch. Nicht in einer
Einzelstimme kann diese biblische Symbolgestalt ihren Ausdruck finden, nur das Kollektiv
des Chors erfüllt die Bedingung des Überindividuellen. Am deutlichsten wird Bachs Absicht
im Eingangschor, der ein Zwiegespräch zwischen der wissenden „Tochter Zion" und der
blinden Christenheit darstellt. Vom Beginn dieses Chores an, in dem die Zions-Tochter alle
gläubigen Seelen aufruft: „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen", bis zur letzten Textzeile
des Schlußchores „Ruhe sanfte, sanfte ruh'" spannt das „Tochter Zion“-Symbol einen
geheimen Bogen, der in beiden Teilen der Passion noch zwei weitere Stützpunkte findet –
in den Arien mit Chorbegleitung: „Ich will bei meinem Jesu wachen“ und „Sehet, Jesu hat
die Hand, uns zu fassen, ausgespannt“. Gleich viermal also hat Bach der biblischen Tochter
Zion Stimme und Raum gegeben.
"In dieser Woche habe ich dreimal die Matthäuspassion des göttlichen Bach gehört, jedes
Mal mit dem Gefühl der unermesslichen Verwunderung. Wer das Christentum völlig
verlernt hat, der hört es hier wirklich wie ein Evangelium." Diesen Satz aus einem Brief
Friedrich Nietzsches an seinen Freund Erwin Rohde möchte ich an das Ende meiner kurzen
Werkbetrachtung stellen. Er bekräftigt, was auch meine persönliche Überzeugung ist: Auch
und gerade in der Matthäuspassion hat sich, nach Bachs eigenem Willen, das autonom
Musikalische dem Religiösen untergeordnet. Eben das ist das eigentliche Wunder dieses
Wunderwerks, dass sich die Genialität des „Machens" vor der Demut des Glaubens beugt.
Tiefe Religiosität, die letztlich nicht mehr an die Form einer Konfession gebunden ist, hat
sich im Medium höchster Kunst verwirklicht.
8
Herunterladen