Protokoll: Musikgeschichte 1 (Prof. Dr. Meine)

Werbung
Protokoll: Musikgeschichte 1 (Prof. Dr. Meine)
In der ersten Vorlesung der Veranstaltung Musikgeschichte 1 bei Prof. Dr. Meine wurde zu
Beginn ein kurzer Überblick über das erste Themenfeld gegeben. In den kommenden Wochen
sollte nicht ein chronologischer Überblick der Musikgeschichte erarbeitet werden, sondern
Musik aus verschiedenen historischen Kontexten unter verschiedenen Gesichtspunkten behandelt werden.
Die Leitfrage dieser Vorlesung war: Wer macht Musik? Diese Fragestellung wurde in drei
Fragen aufgegliedert. 1. Wer bin ich, wer bist du durch Musik? 2. Wer wählt Musik aus?/Wer
denkt Musik aus? 3. Wer werde ich durch Musik?
Zunächst einmal wurde die Thematik der ersten Frage „Wer bin ich, wer bist du durch Musik?“ mithilfe von zwei Beispielen behandelt. Diese Frage richtet sich insbesondere auf die
Art und Weise, wie akustische Wahrnehmung der Umgebung die eigene Identität prägt. Die
akustische Prägung der Identität (was zu unserer Individualität beiträgt) kann durch eigene
Musik, Geräusche in der Stadt, Musik in der Stadt, Ohrwürmer u.v.m stattfinden. Das erste
Beispiel Cries of London von Orlando Gibbons, ein consort song für fünf Instrumentalstimmen und fünf Gesangsstimmen (Consort Song - engl. Liedgattung des 16. und 17. Jahrhunderts, welche sich aus dem Air und dem elisabethanischen Madrigal entwickelte1), ist ein Beispiel, wie eine akustische Umgebung, welche Einfluss auf die Identität und auch die persönliche Identitätswahrnehmung des Komponisten hat, Eingang in sein Werk findet. Das Stück
imitiert die Situation eines Marktes in England. Der Komponist geht hierbei insbesondere auf
die Marktschreier und ihre Angebote ein. Auffällig ist ebenfalls, wie Gibbons ein einfaches
Thema (d,fis,g,d) wie bei einem Choral durch die Stimmen laufen lässt, was die Nachahmung
des bunten Markttreibens soz. zusammenhält. Im Hinblick auf die Leitfrage kann festgehalten
werden, dass Gibbons, welcher erst im Bereich der geistlichen Musik arbeitete, bevor er in der
höfischen Kapelle der englischen Krone tätig wurde, mit seinem Stück eine Lebenswelt wiedergibt, die ihn als Mitglied der höfischen Gesellschaft weniger betrifft, ihm aber für seine
Identität als Londoner wichtig zu sein scheint. Gibbons präsentiert sich also als ein Londoner
und lässt diesen Aspekt akustischer Identitätswahrnehmung in seine Musik einfließen.
Auch das zweite Beispiel versucht die Geräusche einer bestimmten Umgebung künstlerisch
einzufangen, allerdings nicht die Heimat, sondern eine neue Stadt. Edgar Varéses Ameriques
zeichnet ein akustisches Bild von New York in den 20ern: viele neue Hochhäuser, die rauschende Großstadt mit viel Verkehr und vor allem der große Strom Hudson River. Varése
erklärt später, als er Ameriques komponierte, war er noch immer wie verzaubert von seinen
ersten Eindrücken, welche er in New York wahrnehmen konnte. Neben den vielen neuen Geräuschen, welche die für ihn neue Welt so aufregend machen, hört er auch Klänge, welche er
seit seiner Kindheit in sich trägt und Ideen wie Ursprünglichkeit in seine Musik mit einfließen
lassen. Varése, in seinem Kompositionsstudium vor allem durch Claude Debussy geprägt, ist
unter anderem dafür bekannt, dass er im Bereich der Orchestermusik mit Multimediaprojekten und elektroakustischen Instrumenten neue Wege ging. In Ameriques baut er eine Sirene
1
Information: wikipedia.org (https://de.wikipedia.org/wiki/Consort_Song) ein, welche den Spannungsverlauf des Stücks bestimmt. Man kann vom Einbruch des Akustischen in die Komposition sprechen.
Darüber hinaus finden sich Anklänge aus Schönbergs fünf Orchesterstücken und Strawinskys
Le sacre du printemps. Die musikalische Umsetzung seiner Umgebung erinnert ein wenig an
Programmmusik. Felix Meyer spricht von einer „onomatopoetischen Nachahmung im Bann
der Spätromantik“. Dies wird vor allem durch die musikalische Umsetzung des Flussmotivs
deutlich, was im Sinne der Psychoanalyse auf einen Bewusstseinsstrom bzw. ein völlig neues
Bewusstsein in der neuen Stadt hinweisen kann. Alles in Allem kann der Hörer nicht nur die
Begeisterung des Komponisten für seine neue Stadt wahrnehmen, sondern sich auch ein
akustisches Bild von der Lebenswelt des Komponisten machen und diesen selbst besser verstehen. Diese Art von Darstellung und Interpretation sowie die neuen Wege, die Varése in der
Instrumentation geht, prägen das Musikverständnis und den Musikbegriff an sich.
Neben dieser Art von Selbstdarstellung durch Musik prägt nicht nur die eigene Identitätswahrnehmung unser Musikverständnis, sondern auch, wer die Musik auswählt und ausdenkt.
Auch für diese Fragestellung wurden zwei Beispiele angeführt.
Das erste Beispiel ist einer Messe entnommen, ein Kyrie des frankoflämischen Komponisten
Josquin Desprez, welches er für den Fürsten von Ferrara schrieb. Die Musik mit dem Titel
Hercules Dux Ferrarae überträgt die Vokale des Namen des damaligen Fürsten von Ferrara
Ercole d´Este auf Tonsilben (Do Re Mi Fa usw.). Hieraus entsteht das Thema des Kyrie. Es
wird angenommen, dass der Titel auch als Text gesungen wurde. Somit wird nicht Gott mit
dem Ruf „Herr, erbarme dich“ angerufen, stattdessen wird der Fürst angerufen. Demzufolge
wird dieser weltliche Herrscher mit geistlicher Musik verehrt. Die Größe des Fürsten wird so
zur Religion erhoben. Man kann in diesem Fall tatsächlich von einem „musikalischen Denkmal“ reden, mit welchem sich der Fürst identifiziert. Folglich lässt sich festhalten, dass dieses
Beispiel beweist, dass Musik Identitäten im kulturpolitischen Zusammenhang stärkt und sowohl symbolisch als auch zur Stärkung und Demonstration von Macht eingesetzt werden
kann. Auch zeigt uns der Hintergrund der Musik, dass Auftraggeber genauso bedeutend wie
Komponisten sind in den Prozessen der Entstehung, Ausübung, Verbreitung und Erinnerung.
Musikgeschichte wird also nicht nur von Komponisten geschrieben, sondern auch von Ausübenden und Auftraggebern.
Das zweite Beispiel zu dieser Teilfrage sind die Unterrichtsinhalte für das Abiturfach Musik.
Die Vorgaben schreiben drei Themenkomplexe vor. Der erste heißt „Musik im Spannungsfeld
gesellschaftlicher Entwicklungen“ und umfasst Werke Schuberts, Beethovens, Kurt Weils
aber auch Musik von Public Enemy und Jimmy Hendrix. Der zweite Block mit dem Titel
„Ästhetische Kategorien in musikalischer Komposition zwischen Expressionismus und Neuer
Sachlichkeit“ orientiert sich an den Werken Schönbergs, Strawinskys, Mossolows, Hindemiths und Bartoks. Das dritte Leitthema „Neue Klang- und Ausdrucksmöglichkeit“ befasst
sich mit neuen Technologien und musikalischen Gestaltungsmöglichkeiten2. Es können Stücke von Stockhausen Kraftwerk, Numbers u.v.m. behandelt werden. Auffällig ist bei diesen
Themenvorgaben, dass nur wenige Kulturkreise und in erster Linie auch nur das 20. Jahrhun 2
Information: Standardsicherung NRW (https://www.standardsicherung.schulministerium.nrw.de/abitur-­‐
gost/fach.php?fach=19) dert behandelt werden. Auch dies beeinflusst die Identität der Schüler, wie im Zusammenhang
mit der ersten Leitfrage bereits nachgewiesen wurde.
Abschließend kann man zu dieser zweiten Leitfrage festhalten, dass Musik nach geschichtlichen, ästhetischen und politischen Kriterien ausgewählt wird und so einen äußeren Einfluss
auf unsere Identität darstellt.
Die letzte Fragestellung „Wer werde ich durch Musik?“ wurde auch anhand von zwei Beispielen erklärt, um sowohl interne als auch externe Aspekte des Einflusses von Musik auf
Identität zu erklären. Musik kann in Form von drei verschiedenen Funktionen nicht nur Einfluss auf die Identität eines nehmen, sondern auch nachhaltig sein gesamtes Leben und seinen
Charakter ändern. Diese Funktionen sind Musik als Bildungsfaktor, als Zeitvertreib und als
Beruf.
Das erste Beispiel in diesem Zusammenhang, das Lied Meine weißen Erbsen aus Strawinskys
Poetique musicale führt vor Augen wie Musik kulturelle Identität ausmacht. Das volkstümliche Lied berührt den Komponisten und er fügt es in sein Werk mit ein. Im Gegensatz zu den
Beispielen der ersten Leitfrage kann man in diesem Fall von einer aktiven Veränderung sprechen, die Identitätsprozesse zuvor waren passiver. Das zweite Beispiel zeigt, dass Musik uns
auch von außen betrachtet zu anderen Menschen machen kann. 2005 wurde Gerhard Schröder
aus dem Amt des Bundeskanzlers entlassen. Sein persönlicher Musikwunsch für die
Entlassfeierlichkeiten war der Song My Way von Frank Sinatra. Für einen solchen Anlass
hätten viele Personen klassische Musik vorgezogen. Mit diesem Song präsentiert Schröder
sich und Deutschland auch in den Medien als locker und weltoffen.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass für die Leitfrage „Wer macht Musik?“ bei den
vielen Beispielen aus unterschiedlichsten historischen Kontexten ähnliche Aspekte relevant
sind. Durch die ganze Musikgeschichte hindurch ist Musik sowohl ein Mittel des Ausdrucks,
welches die Identität und die Wahrnehmung der eigenen Identität ändert. Außerdem wird Musikgeschichte nicht nur von Komponisten geschrieben, sondern auch von Auftraggebern und
Ausübenden. Zuletzt ist Musik auch ein Mittel zu Präsentation und kann verschiedenste Botschaften und Stimmungen vermitteln. Somit kann die Frage „Wer macht Musik?“ direkt nicht
beantwortet werden. Komponisten verarbeiten ein Stück Identität und Umwelt in ihrer Musik,
Politiker präsentieren sich mit Musik und Musik ändert unabhängig von der geschichtlichen
Situation die Persönlichkeit von Komponisten und Hörer.
Als abschließendes Fazit kann angemerkt werden, dass für die musikwissenschaftliche Betrachtung von Musikgeschichte wir hieraus mitnehmen können, dass die hier erläuterten Fragestellungen äußerst relevant für die Untersuchung eines musikhistorischen Kontextes sind,
dass man sich also jedes Mal fragen sollte, wer der Auftraggeber ist, in welcher (akustischen)
Umgebung der Komponist gelebt hat oder wer genau die Zielgruppe ist und was dieser vermittelt werden soll.
Max Jenkins (1. Semester Schulmusik)
Herunterladen