Zukunft der jüdischen Gemeinde ist nicht rosig

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BaZ | Montag, 18. Oktober 2010 | Seite 24
Zukunft der jüdischen Gemeinde ist nicht rosig
Nationales Forschungsprogramm stellt zunehmende Differenz zwischen Rabbinat und Gemeinde fest
Kinder jüdisch sein sollen. Und
traditionell jüdisch zu leben heisst
unter anderem, einen koscheren
Haushalt zu führen und den Ruhetag Sabbat einzuhalten. «Das
Anforderungsprofil ist hoch»,
sagt Gerson.
Konflikt Ehe. Immer weniger
Gelebte Tradition. Orthodoxe Juden beim Einweihen einer neuen Thora für die Basler Synagoge im Jahr 2002. Foto Tino Briner
CLAUDIA KOCHER
Der Fortbestand kleinerer und
mittlerer jüdischer Gemeinden sei gefährdet, sagt Historiker Daniel Gerson. Das organisierte jüdische Leben werde
sich in Zukunft auf Genf und
Zürich konzentrieren.
Als die Methodistin Chelsea
Clinton vor Kurzem ihren jüdischen Freund Marc Mezvinsky
ehelichte, waren bei der Zeremonie ein Pfarrer sowie ein ReformRabbiner zugegen. In der Schweiz
sei eine solche Kombination undenkbar, sagt Historiker Daniel
Gerson vom Institut für Jüdische
Studien der Universität Basel.
Gerson hat zusammen mit Sabina
Bossert, Madeleine Dreyfus, Leonardo Leupin, Valérie Rhein sowie Isabel Schlerkmann im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft»
das Judentum in der Schweiz untersucht. Schweizweit gibt es ungefähr 18 000 Juden, rund 13 000
sind dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund verpflichtet. Rund 2000 Juden leben
im Grossraum Basel. Antisemitis-
mus sei heute nicht mehr das vorherrschende Thema, meint Gerson. «Er ist zwar nicht vollständig
verschwunden.» Aber die Juden
könnten heutzutage in allen gesellschaftlichen Bereichen Anteil
nehmen und seien anerkannte Interessensvertreter gegenüber Behörden und Mehrheitsgesellschaften, schreibt Gerson in seinem Schlussbericht.
Nach 1945 hätten Juden wie
auch Nichtjuden vom stets grös­
ser werdenden persönlichen Freiraum profitiert. So ermöglichte
ein Studium an der Universität
immer mehr Jüdinnen und Juden
vielschichtige Erfahrungen auch
mit der nicht jüdischen Gesellschaft. «Das gab und gibt ihnen
neue Perspektiven.» Die neuen
Perspektiven führten unter anderem zu einer hohen Mischehenquote, die heute bei 50 Prozent
liegt.
In der jüdischen Tradition
aber werden Kinder von Juden
und nicht-jüdischen Frauen nicht
automatisch jüdisch. Wenn jüdische Männer nicht-jüdische Frauen heiraten, muss die Frau zum
Judentum übertreten, wenn die
Juden seien bereit, sich den Bedingungen eines Rabbiners zu
unterwerfen. «Viele Juden leben
deshalb am Rande oder ausserhalb einer Gemeinde.» Die Leute
in der Gemeinde seien zwar frei,
nicht so wie die streng orthodoxen Juden, wo ein Rabbiner ganz
über die Lebensform bestimme.
«Aber bei der Eheschliessung
kommt es dann zum Konflikt.»
Die Israelitische Gemeinde in
Basel weist laut Gerson einen
starken Mitgliederverlust auf. Die
Gemeinde hat heute noch rund
1300 Mitglieder. Natürlich gebe
es dafür auch andere Gründe wie
die Abwanderung nach Israel
oder in die grössere Gemeinde nach Zürich (geschätzte 6000
Mitglieder). Das finanzielle Engagement, das für die Gemeinde geleistet werden müsse, sei beachtlich. Die Identifikation mit den
Gemeindeinstitutionen wie dem
Gemeindehaus oder dem Friedhof sei schwächer geworden.
Gerson beobachtet eine zunehmende Differenz zwischen
dem Rabbinat und der Gemeinde. Auch in Basel entstanden Reformbewegungen wie die Gemeinde Migwan oder die Ofek,
wo fortschrittlichere Ansichten
gepflegt und vor allem für die
Frauen, die traditionell eher stiefmütterlich behandelt würden, interessant seien. Denn auch jüdische Frauen seien vermehrt an
Gleichberechtigung interessiert.
Diese reform-jüdischen Gemein-
den würden sich stark um die Integration der nicht jüdischen Angehörigen bemühen. Dies sei vor
allem bei Frauen der Fall, die bis
90 Prozent der erwachsenen
Übertrittskandidaten ausmachten, so Gerson. Da in nicht-orthodoxen Gemeinden auch die Kinder von nicht-jüdischen Müttern
relativ einfach ins Judentum aufgenommen werden, seien sie für
viele Mischehefamilien eine attraktive Alternative.
offene USA. Der Historiker stellt
fest, dass in den USA auch auf
Ehepaare aus Mischehen zugegangen werde. In der Isrealitischen Gemeinde Basel zeige sich
der Gemeindevorstand zwar auch
offen gegenüber solchen Ideen.
Mittlerweile dürften auch Kinder
aus Mischehen die jüdische Primarschule besuchen. «Wohl weil
es ihnen sonst an genügend Kindern fehlen würde.» Doch liberale Ideen liessen sich hier nicht mit
dem Rabbinat vereinbaren. «Der
Rabbiner würde damit seine orthodoxe Glaubwürdigkeit verlieren.» Ein gleichberechtigtes Nebeneinander von orthodox und
liberal sei in Basel nicht denkbar.
Die Zukunft für die Juden in
Basel sieht Gerson als nicht sehr
rosig. Positiv sei immerhin: «Das
jüdische und das nicht-jüdische
sind nicht mehr so klar getrennt.»
Der Fortbestand kleinerer und
mittlerer jüdischer Gemeinden
aber, sagt Gerson, sei gefährdet.
Das organisierte jüdische Leben
werde sich im Wesentlichen auf
Genf und Zürich konzentrieren,
so sein Fazit. Der Historiker
glaubt nicht, dass ihn nun jüdische Gemeinden zu einem Vortrag einladen werden. «Über solche Probleme wird in der Öffentlichkeit nicht gerne geredet.»
«Der jüdische Heiratsmarkt in Basel ist beschränkt»
Rabbiner Yaron Nisenholz über die Gründe des Mitgliederschwunds in der Israelitschen Gemeinde Basel
INTERVIEW: CLAUDIA KOCHER
Seit zwei Jahren ist der 36-jährige
Yaron Nisenholz Rabbiner der Israelitischen Gemeinde Basel. Die Studie
von Daniel Gerson kannte er bis zum
Interview mit der BaZ nur vom Hörensagen.
BaZ: Herr Nisenholz, in seiner Studie
kommt Daniel Gerson vom Institut für
Jüdische Studien der Uni Basel zum
Schluss, dass sich das organisierte jüdische Leben in Zukunft auf Genf und
Zürich konzentrieren, Basel also keine
Bedeutung mehr haben wird.
Yaron Nisenholz: Die Israelitische
Gemeinde Basel (IGB) ist sehr aktiv,
zum Beispiel mit dem Studentenverband und der Jugendarbeit. Auch haben wir viele religiöse und soziale Angebote im Programm, und es gibt in
Basel zwei koschere Restaurants. Ich
glaube nicht, dass die Gemeinde hier
bald verschwinden wird.
Wie viele Mitglieder haben Sie heute und
wie viele hatten Sie vor zehn Jahren?
Letztes Jahr hatten wir 1140 Steuerzahler. Dazu kommen noch rund 200
Kinder und Jugendliche. Im Jahr 2000
waren es 1271 zahlende Mitglieder.
1980 verzeichnete das Statistische Amt
im Kanton Basel-Stadt 1780 Personen,
die als Religion jüdisch angaben, letztes
Jahr waren es in dieser Statistik noch
1195. Das ist doch ein rechter Schwund.
Natürlich machen wir uns Sorgen
über die Zukunft. Wir wissen noch
nicht, wohin sie uns führen wird.
Dank den Chemiekonzernen wie Roche oder Novartis hoffen wir, dass
wieder mehr jüdische Leute nach Basel kommen. Relativ neu haben wir
eingeführt, dass Zuzügler bei der IGB
zwei Jahre gratis Mitglied sein können. Sie sind dann zwar nicht Vollmitglied und können nicht abstimmen.
Doch nach den zwei Jahren können
sie sich für eine Mitgliedschaft entscheiden ­oder nicht.
tet, beobachte ich auch. Ich bin aber
nicht einverstanden mit seinem Vorschlag, dass es in Basel keine Einheitsgemeinde mehr geben soll, sondern
einen Dachverband. In den letzten
zweihundert Jahren war in Basel die
orthodox geführte Einheitsgemeinde
ein erfolgreiches Modell. Vor allem,
weil die meisten Gemeindemitglieder,
wie die meisten Juden in Europa, sich
eher mit der Orthodoxie identifizieren, auch wenn sie nicht die Regeln
der Religion nach der Interpretation
des orthodoxen Judentums praktizieren. Die Reformbewegung in Europa
ist sehr klein. Sogar in den USA hat sie
grosse Probleme.
Vor allem Mischehen sollen die Fortführung der jüdischen Tradition gefährden.
Wie geht die IGB damit um?
Als eine orthodox geführte Einheitsgemeinde sind alle Juden in Basel
herzlich willkommen und ebenso alle,
die in Mischehen leben.
Auch in der Synagoge?
Ja. Bei uns in der Synagoge ist jeder
Mensch willkommen, aber als eine jüdische Gemeinde ist es klar, dass wer
bei uns Mitglied werden will, jüdisch
sein muss. Wer bei uns konvertieren
will, muss unter anderem orthodox
leben – im Gegensatz zu Reformgemeinden. Das heisst, er muss sich zum
Beispiel an das Koschergesetz oder
den Sabbat halten. Mischehen sind
aber nicht der einzige Grund, weshalb
wir kaum neue Mitglieder gewinnen.
Viele Jugendliche gehen nach der
Schule weg, sei es wegen eines Jobs
oder weil sie eine grössere Gemeinde
suchen. Die Jungen wollen neue Gesichter sehen. Auch ist der jüdische
Heiratsmarkt in Basel beschränkt.
Schule in Not
Melden sich viele Leute bei Ihnen, die
zum Judentum konvertieren wollen?
Nicht sehr viele. Wir haben ab und zu
Übertritte von Leuten, die nicht-jüdisch sind und sich fürs Judentum interessieren. Leute, die in einer Mischehe leben, wollen weniger übertreten,
da sie keine strengeren Regeln befolgen wollen.
Sie versuchen also nicht, Personen aus
Mischehen zu gewinnen?
Natürlich versuchen wir, neue Mitglieder zu finden. So gibt es alle drei
bis vier Monate einen Freunde-Anlass.
Das ist ein rein sozialer Anlass für Juden zwischen 30 und 55 Jahren. Die
Idee ist, näher zur Gemeinde zu rücken und für Leute gedacht, die sonst
Für den Status quo. Rabbiner Yaron Nisenholz will das Modell der orthodox-
geführten Einheitsgemeinde beibehalten. Foto Henry Muchenberger
keinen grossen Kontakt zur Gemeinde haben.
Wie viele Mitglieder der Gemeinde sind
denn aktiv religiös?
In Rahmen unserer orthodox geführten Einheitsgemeinde sind etwa 20
Prozent der Mitglieder praktizierende
Juden. Der Rest, also etwa 80 Prozent,
praktiziert das Judentum weniger. Da
hat jeder seine Art und seinen Stil.
Sie sagen, dass Sie nicht an ein Verschwinden der jüdischen Gemeinde
glauben. Halten Sie Gersons Studie für
übertrieben?
Die Arbeit von Herrn Gerson finde ich
gut. Den Ist-Zustand, den er beobach-
Problem wegen Harmos. Die
Israelitische Gemeinde (IGB)
führt in Basel eine eigene Primarschule. Zurzeit werden dort
17 Schülerinnen und Schüler
unterrichtet. Nun hat der ohnehin defizitäre Betrieb ein neues
Problem, schreibt das jüdische
Wochenmagazin «Tachles». Die
Situation werde durch die im
Kanton Basel-Stadt beschlossene Harmos-Reform verschärft, da die Primarschule
neu sechs statt vier Jahre dauern wird. Der Unterhalt der
Schule betrug bisher jährlich
490 000 Franken. Für Rabbiner
Yaron Nisenholz ist klar, dass
die jüdische Gemeinde eine
Grundschule braucht. Aber: «Es
ist eine grosse finanzielle Belastung.» Noch sei nicht klar, wie
man die finanziellen Probleme
lösen könne, aber an einer Lösung werde gearbeitet. cko
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