Leseprobe - Verlag Karl Alber

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Zichy 48208 / p. 1 /2.7.2012
Michael Zichy, Jochen Ostheimer,
Herwig Grimm (Hg.)
Was ist ein moralisches Problem?
VERLAG KARL ALBER
A
Zichy 48208 / p. 2 /2.7.2012
Innerhalb einzelner Disziplinen, zwischen verschiedenen Wissenschaften wie auch zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Paradigmen
ist umstritten, was ein Problem zu einem moralischen macht und
wem die Definitionsmacht über den Ausweis moralischer Probleme
legitimerweise zusteht. Darum fragt dieser Band nach den in der angewandten Ethik wirksamen unterschiedlichen Arten der Konstitution
moralischer Probleme. Vertreter verschiedener Wissenschaftsdisziplinen stellen dar, wie in ihrem jeweiligen Fach moralische Probleme
wahrgenommen und thematisiert werden.
Die Herausgeber:
Michael Zichy, Dr. phil., geb. 1975; Studium der Philosophie und
Katholischen Theologie in Salzburg; Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie (2002–2005); wissenschaftlicher
Koordinator des Zentrums für Ethik und Armutsforschung an der Universität Salzburg (2005–2006); wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Institut Technik-Theologie-Naturwissenschaft (TTN) an der LMU
München (2006–2011). Seit 2011 wissenschaftlicher Assistent am
Fachbereich Philosophie der Katholisch-Theologischen Fakultät der
Universität Salzburg.
Jochen Ostheimer, Dr. theol., M.A. phil., geb. 1975; Studium der Philosophie, Katholischen Theologie und Sozialpädagogik in Benediktbeuern, München und Berlin; freier wissenschaftlicher Mitarbeiter an der
Clearingstelle Kirche und Umwelt, 2002–2007; seit 2007 Akademischer Rat (a. Z.) am Lehrstuhl für Christliche Sozialethik an der LMU
München.
Herwig Grimm, Univ.-Prof. Dr., geb. 1978, Studium der Philosophie in
Salzburg, Zürich und München mit den Schwerpunkten Ethik und angewandte Ethik; 2004 bis 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Institut Technik-Theologie-Naturwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München, seit 2011 Professor am Messerli Forschungsinstitut der Veterinärmedizinischen Universität, Medizinischen Universität und Universität Wien, Leiter der Abteilung Ethik
der Mensch-Tier-Beziehung.
Zichy 48208 / p. 3 /2.7.2012
Michael Zichy, Jochen Ostheimer,
Herwig Grimm (Hg.)
Was ist ein
moralisches
Problem?
Zur Frage des Gegenstandes
angewandter Ethik
Verlag Karl Alber Freiburg / München
Zichy 48208 / p. 4 /2.7.2012
Originalausgabe
© VERLAG KARL ALBER
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012
Alle Rechte vorbehalten
www.verlag-alber.de
Satz: SatzWeise, Föhren
Herstellung: CPI buch bücher.de GmbH, Birkach
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei)
Printed on acid-free paper
Printed in Germany
ISBN 978-3-495-48508-8
Zichy 48208 / p. 5 /2.7.2012
Vorwort
Das weite Feld der angewandten Ethik wird keineswegs von der (philosophischen und theologischen) Ethik allein beackert. Vielmehr kann
man hier mittlerweile von einer regen Zusammenarbeit und einem
vielfältigen Austausch unterschiedlicher normativer wie empirischer
Disziplinen sprechen. Es zeigt sich, dass je nach Wissenschaft und je
nach Theorie ganz unterschiedlich bestimmt wird, was ein moralisches
Problem ist. Die Wahrnehmung eines moralischen Problems hängt wesentlich von theorieimmanenten Spezifika ab. Es gilt eben nicht: Ein
moralisches Problem ist ein moralisches Problem ist ein moralisches
Problem. Deshalb kommt der im Titel genannten Frage »Was ist ein
moralisches Problem?« im Bereich der angewandten Ethik eine wesentliche Bedeutung zu. Das vorliegende Buch hat zum Ziel, die Auseinandersetzung mit den Implikationen unterschiedlicher Zugänge im
Bereich der angewandten Ethik zu untersuchen und im Sinne einer
Selbstreflexion fortzuführen.
Dass dies gelungen ist, liegt in erster Linie an den Autorinnen und
Autoren, die sich nicht davor gescheut haben, sich den Mühen der
Selbstreflexion zu unterziehen. Für die erfolgreiche und unkomplizierte Zusammenarbeit sei ihnen an dieser Stelle herzlich gedankt.
Zum Gelingen dieses Buches haben aber auch viele andere beigetragen. So haben die Herausgeber ihren Institutionen für die Unterstützung dieses länderübergreifenden und interdisziplinären Projektes
zu danken: dem Fachbereich Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Paris-Lodron-Universität Salzburg, dem Lehrstuhl
für Christliche Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät
der Ludwig-Maximilians-Universität München und dem Messerli Forschungsinstitut an der Veterinärmedizinischen Universität Wien. Der
Dank gebührt hier vor allem den vielen Kolleginnen und Kollegen für
den lebendigen Austausch und die vielfältigen Anregungen. Unter
ihnen ist Martin Huth für die geduldige Erstellung des Manuskriptes
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Vorwort
ein besonderer Dank auszusprechen. Ebenfalls gedankt sei der PfarrerElz-Stiftung, die mit einer großzügigen finanziellen Unterstützung
zur Realisierung des Buchprojekts beigetragen hat. Ohne einen Verleger wäre die Erstellung eines Manuskriptes freilich vergebene Mühe,
und so sei abschließend den Mitarbeitern des Karl-Alber-Verlages für
die kundige und freundliche Unterstützung gedankt.
Michael Zichy, Jochen Ostheimer
und Herwig Grimm
6
Zichy 48208 / p. 7 /2.7.2012
Inhalt
Was ist ein moralisches Problem? Zur Reflexion von Aufgabe,
Methodik und Gegenstand der angewandten Ethik . . . . . . . .
Jochen Ostheimer, Michael Zichy und Herwig Grimm
11
Teil I
Disziplinäre Perspektiven
Was ist ein moralisches Problem aus Sicht der Moralphilosophie?
Angela Kallhoff
35
Über den Gegenstand der Angewandten Ethik . . . . . . . . . .
Carmen Kaminsky
61
Was ist ein moralisches Problem aus Sicht der Theologischen Ethik? 86
Konrad Hilpert
Was ist ein moralisches Problem? (Rechtswissenschaft)
Jens Kersten
. . . . . 110
Weg von konstruierten Problemen, hin zu größerer Lebensnähe:
Mentalisieren als moralpsychologisches Kernkonzept . . . . . .
Bernhard Schwaiger
133
Pädagogische Ethik: Wie die Pädagogik moralische Probleme
konstituiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Thomas Fuhr
161
7
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Inhalt
Teil II
Bereichsethische Perspektiven
Ethik der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Angelika Krebs
Was ist ein moralisches Problem in der Bioethik?
Zur Frage des Gegenstandes einer wissenschaftlichen Disziplin
Michael Zichy
191
. 215
Globalisierung: Weltarmut und Klimawandel als ethische
Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Thomas Kesselring
240
Öffentlichkeit und Moral. Zu Kernproblemen journalistischer
Berufsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Horst Pöttker
268
Was ist ein moralisches Problem in der Medizinethik? . . . . . .
Stella Reiter-Theil und Marcel Mertz
293
Der Wert der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Jochen Ostheimer
322
Moralische Probleme der politischen Ethik
Peter Koller
. . . . . . . . . . . 356
Sorgeethik. Skizze zur Gegenstandskonstitution, Kriteriologie und
Methode einer ›inwendigen‹ Ethik Sozialer Arbeit . . . . . . . .
Andreas Lob-Hüdepohl
Was ist ein moralisches Problem aus Sicht der Technikethik? . . .
Armin Grunwald
Benthams Erben und ihre Probleme – Zur Selbstreflexion einer
Ethik der Mensch-Tier-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . .
Herwig Grimm
8
383
412
436
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Inhalt
Was ist ein moralisches Problem? Die Sicht der Wirtschafts- und
Unternehmensethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Michael S. Aßländer
476
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . .
501
9
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Zichy 48208 / p. 11 /2.7.2012
Was ist ein moralisches Problem?
Zur Reflexion von Aufgabe, Methodik und Gegenstand der
angewandten Ethik
Jochen Ostheimer, Michael Zichy und Herwig Grimm
1.
Anwendungsorientierung in der Ethik
Der Bezeichnung »angewandte Ethik« eignet eine gewisse Fragwürdigkeit, insofern die Ethik als Teil der praktischen Philosophie nicht ohne
»Praxisbezug« zu denken, mithin immer schon »anwendungsorientiert« ist. Gleichwohl ist diese Bezeichnung in der gleichen Weise sinnvoll, wie es angebracht ist, innerhalb der normativen Ethik zwischen
grundlegenden Erörterungen etwa über das Ziel menschlichen Lebens,
den guten Willen oder die Menschenrechte einerseits sowie andererseits
Reflexionen aktueller moralischer Probleme, die in der öffentlichen
Kommunikation als gewichtig behandelt werden, zu unterscheiden.
Die Übergänge sind freilich fließend. Zentral ist für das Verständnis
angewandter Ethik, dass es nicht um die schlichte Anwendung bereits
bestehender Prinzipien auf konkrete Fälle geht. Angewandte Ethik ist
nicht einfach ein praktischer Syllogismus, wie es die prinzipienlogische
Grundlegungsorientierung der neuzeitlichen Moralphilosophie nahelegen könnte. Umgekehrt genügen auch ethische Urteilskraft allein
oder kasuistische Einzelfallbetrachtungen nicht den Anforderungen
angewandt-ethischer Problemstellungen. Denn zum einen sind Gegenstand der Reflexion auch Fall- oder Problemtypen und nicht ausschließlich Einzelfälle. Zum anderen orientiert sich die Urteilskraft
ebenfalls an etwas Allgemeinem, arbeitet mit Regeln, ist jede begründete Entscheidung von Prinzipien getragen.
Für die »praktische Wende« der Ethik, die sich seit etwa 1970 beobachten lässt, gibt es mehrere Gründe, die teils eher mit der gesellschaftlichen Entwicklung zusammenhängen, teils eher in der Ethik
selbst liegen. Erstens werfen die rasanten technologischen und sozialen
Entwicklungen normative Fragen auf, die die Problemlösungskapazität
der traditionellen Moral wie auch des soziokulturell verbreiteten Alltagswissens übersteigen. Denn immer mehr praktisch bedeutsames
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Jochen Ostheimer, Michael Zichy und Herwig Grimm
Wissen ist immer weniger der unmittelbaren Erfahrung zugänglich.
Folglich wird der moralische Common sense, das gewachsene Ethos in
zunehmendem Maße überfordert. Zweitens erzeugt der Pluralismus
der modernen Gesellschaft einen erhöhten Bedarf an Moralreflexion,
um jenseits des Rückgriffs auf traditionelle moralische Autoritäten
einen gemeinsamen modus vivendi zu finden. Als dritter Grund ist zu
nennen, dass »die Ethik […] die Bereitschaft aufgebracht hat, den Elfenbeinturm der Wissenschaft zu verlassen und sich in das unübersichtliche Getümmel der moralischen Sorgen und Fragen des ›wirklichen Lebens‹ und seiner Akteure zu begeben.« (Zichy/Grimm
2008, 2) – In all diesen Aspekten erweist sich die angewandte Ethik als
ein typisches Kind der Moderne. Sie ist gleichermaßen Element und
Motor in dem für die Moderne charakteristischen Prozess des Reflexivwerdens der Konstitutionsbedingungen gesellschaftlicher Strukturen und Entwicklungen.
Die verstärkte Nachfrage nach einer Anwendungsorientierung
der Ethik führt zu Diskursen, die hinsichtlich ihrer Themen, ihrer Methoden, ihres normativen Status, ihres gesellschaftlichen Ortes noch
wenig geklärt sind. Schon die begriffliche Bestimmung ist alles andere
als einheitlich; meist ist die Rede von angewandter Ethik und Bereichsethik. Es scheint, dass die Entwicklung eines neuen gesellschaftlichen
Phänomens beobachtet werden kann, das immer deutlichere Konturen
gewinnt, dessen Einordnung aber noch unklar ist und für das die etablierten Kategorien nicht ganz passen.
2.
Zur Aufgabe der angewandten Ethik
Aus der Anwendungsorientierung erwachsen dem ethischen Denken
spezifische Aufgaben und Vorgehensweisen, die sich großteils darauf
beziehen, herauszuarbeiten, worin genau das moralische Problem besteht. Dazu gehört erstens und grundlegend, die in einem Diskurs explizit erhobenen wie auch die latenten moralischen Ansprüche auf
einen angemessenen Begriff zu bringen. Darüber hinaus sind die Voraussetzungen und die (zwingenden oder möglichen) Implikationen
von Argumenten bzw. Begriffen aufzuklären. Die dritte und vierte
Aufgabe ist die Systematisierung sowie die kritische Prüfung der Ansprüche. Dies ist der Ort für Begründungsfragen. Zuletzt sind die Ansprüche zu gewichten und gegeneinander abzuwägen. Spätestens hier
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Was ist ein moralisches Problem?
treten die bekannten Methodenkontroversen der Ethik auf, die in der
Öffentlichkeit häufig den Eindruck erwecken, ethische Urteile seien
rein subjektiv. Über diese Fehlinterpretation aufzuklären, ist eine weitere Aufgabe der angewandten Ethik.
Darüber hinaus ist es eine wichtige Leistung der angewandten
Ethik, ethische Prinzipien und Argumentationsweisen weiterzuentwickeln. »Anwendungen« in neuen Konstellationen wirken auf Begründungen zurück, erzeugen gleichermaßen neue Gründe wie auch
neue Normen bzw. Prinzipien sowie, aber seltener, neue Methoden
(insbesondere die Argumentation mit mittleren Prinzipien, kohärentistische und verantwortungsethische Ansätze erfahren wichtige Anstöße aus der angewandten Ethik). Neue Gestaltungsmöglichkeiten
verändern mitunter die bestehenden Ethosformen, die umso mehr der
klärenden Reflexion bedürfen. Entscheidend ist dabei, dass derartige
Transformationen in Moral und Ethik »nicht primär aus theoretischen,
sondern aus praktischen Gründen gefordert« werden. (Bayertz 1991,
39; vgl. 33–44)
Ein wesentlicher Aspekt der (Re-)Konstruktion moralischer Probleme in der angewandten Ethik ist die Analyse von Konflikten. Diesbezüglich lassen sich drei Konfliktdimensionen unterscheiden. Auf der
Interessenebene werden Vor- und Nachteile bei der Verteilung von
Gütern ausgehandelt. Derartige Kontroversen können grundsätzlich
durch einen Kompromiss gelöst werden, indem die Vorzüge und Belastungen ausgeglichen werden. Insofern können sie als »teilbare Konflikte« qualifiziert werden, die sich nach dem Modell von »mehr oder weniger« regeln lassen. Im Unterschied dazu lässt sich ein Streit über die
Geltung und das Gewicht von Werten und Normen nicht auf diese Art
vergleichsweise einfach lösen. Denn aus Werten bauen sich Positionen
auf, die aufzugeben die jeweiligen Parteien kaum bereit sind. Derartige
Wert- oder Überzeugungskonflikte sind folglich »unteilbar«, sie gehorchen dem Prinzip »entweder oder«. (Hirschman 1994, 301–303;
Ostheimer 2012, Kap. 3) 1 Die dritte relevante Dimension ist die Tatsachenebene. Bereits Tatsachen und nicht erst die Bewertungen sind
Gegenstand erbitterter Kontroversen. Eine Konsequenz aus solchen
Tatsachenstreitigkeiten ist eine »Politisierung des Kognitiven« (Van
den Daele 1996, 299; Luhmann 1984, 535; Lübbe 2002), wie sie bei der
Van den Daele zufolge, der mehrere Diskurse in Ethikkommissionen untersucht hat,
sind Konflikte dieser Art allerdings eher selten, vgl. van den Daele 2008, 360.
1
13
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Jochen Ostheimer, Michael Zichy und Herwig Grimm
Einschätzung von Risiken besonders deutlich wird. Darüber, dass der
Umgang mit einer bestimmten Technik verantwortlich gestaltet werden muss, herrscht Einigkeit. Doch die Komplexität moderner Techniken und gesellschaftlicher Handlungsfelder verhindert in der Regel
einfache und klare Prognosen und Bewertungen (man denke nur an
Atomkraft, grüne Gentechnik, Nanotechnik oder an die Regulierung
des Finanzmarkts). Insofern ist Risiko als »die entscheidungstheoretische Seite von Komplexität« (Ostheimer/Vogt 2008, 197) ein wesentliches Thema insbesondere in technikorientierten Handlungsfeldern
und damit für die Methode der angewandten Ethik bedeutsam.
3.
Der Ort angewandter Ethik: moralphilosophische
Wissenschaft und Politikberatung
In der angewandten Ethik sind grundlegend zwei Reflexions- oder Diskurstypen sowohl in methodischer als auch in soziologischer Hinsicht
zu unterscheiden, wobei die Grenzen nicht trennscharf sind. Angewandte Ethik hat zum einen die Gestalt einer theoretisch-moralphilosophischen Behandlung praktischer Fragen in wissenschaftlicher
Hinsicht. Zum anderen gibt es die Diskussion gleicher oder ähnlicher
Fragen im weiten Feld der Politikberatung und der mannigfaltigen
Ethikkommissionen. Im ersten Fall ist Ethik dem Wissenschaftssystem
zuzurechnen. Die Kommunikation erfolgt gemäß den wissenschaftlichen Gepflogenheiten, d. h. zumeist in der typischen Form wissenschaftlicher Publikation bzw. Tagung, auch wenn Themen erörtert werden, die der Gesellschaft unter den Nägeln brennen und für die eine
Lösung entwickelt werden soll.
Anwendungsorientierte ethische Reflexion in Politikberatung,
Technikfolgenabschätzung und in den mannigfaltigen Kommissionen
findet hingegen im Rahmen eines deliberativen Verfahrens statt. Es
handelt sich um ein »Gespräch« unter Anwesenden in einer institutionalisierten Form. Das bedeutet, dass andere kommunikative Selbstverständlichkeiten oder auch Zwänge herrschen. Darüber hinaus gilt,
in inhaltlich-ethischer Hinsicht, das Hauptaugenmerk nicht der Normbegründung (was ja das zentrale Thema der normativen Ethik seit der
Neuzeit ist). Die Aufgabe besteht vielmehr darin, einen praxistauglichen und moralisch adäquaten Regelungsvorschlag zu erarbeiten, mit-
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hin eine »moralpragmatische« Argumentation zu entwickeln. (Kaminsky 2005, 146–176) 2
Dies bedeutet, dass die Argumente an der Lösung des jeweiligen
Problems auszurichten, insofern pragmatisch zu begründen sind. Sie
müssen situativ angemessen, realisierbar sowie effektiv sein, d. h. sie
müssen in der Lage sein, einen wirksamen Beitrag zu einer faktisch
umsetzbaren Problemlösung zu leisten. Regelungsentwürfe, die diese
Anforderungen nicht erfüllen, sind grundsätzlich untauglich. Darüber
hinaus müssen sie als moralisch legitim ausgewiesen werden. Dazu
sind Regelungen oder die »durch sie induzierte Praxis […] auf moralische Normen, Werte, Leitbegriffe und Strebensziele [zu] beziehen,
die weitestgehend unstrittig sind und mehrheitlich anerkannt werden«. (Kaminsky 2005, 105)
An dieser Stelle sieht sich die angewandte Ethik mit einem faktischen Pluralismus konfrontiert: in den moralischen Wert- und
Normvorstellungen, in der ethischen Theorielandschaft, in den fachwissenschaftlichen Daten und Gutachten, in den politischen Präferenzen. Vorschläge müssen sich daher stets an mehreren Kriterien messen
lassen. Diese Diversität der Maßstäbe macht darauf aufmerksam, wo
Schwierigkeiten und dass Kompromisse zu erwarten sind. Implementierungsaspekte sind nicht zu vernachlässigen und schlagen womöglich
auf ethische Begründungs- und Abwägungsüberlegungen durch.
Angewandt-ethische Diskurse haben eine vierfache Ausrichtung.
Als ethische Diskurse befassen sie sich erstens mit moralischen Problemen auf einer theoretisch und methodisch reflektierten Weise; ihre
Ausrichtung ist dabei normativ. Zweitens haben die moralischen Probleme, derer sich die angewandte Ethik annimmt, die spezifische Eigenart, komplex zu sein und mehrere Handlungs- und Wissensgebiete
zu berühren. Sie sind »auf eine nicht-triviale und oft vertrackte Weise
mit empirischen Fragen verknüpft« (Bayertz 1999, 74). Daher ist die
normativ-ethische stets mit einer fachwissenschaftlichen Dimension,
Freilich müsste diese Art angewandter Ethik weiter differenziert werden. Eingespielte
Ethikkomitees in Krankenhäusern weisen ganz andere Gepflogenheiten auf als dauerhaft oder ad hoc einberufene Ethikkommissionen, die die Politik beraten sollen; vgl.
etwa die Divergenzen zwischen Saake/Kurz 2006 (die klinische Ethikkomitees untersuchen) und van den Daele 1996, 2001 (der ein partizipatives Verfahren zur Technikfolgenabschätzung bei gentechnisch veränderten Pflanzen analysiert). Vgl. auch die
Unterscheidung zwischen »Konsensuskonferenzen«, »Clearingkommissionen« und
»Expertenkommissionen« bei Rippe 2000, 154–159.
2
15
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die sich aus dem jeweiligen Handlungsfeld ergibt, zu verbinden. Die
am Ende des Reflexions- oder Konsultationsprozesses entwickelten Urteile oder Regelungsvorschläge stellen »gemischte Urteile« dar, sie verbinden Tatsachen- und Werturteile. (Düwell 2008, 5–10; Schüller
1980, 313 f.) Für die angewandte Ethik ist daher der Kontextbezug konstitutiv. »Die Formen und Möglichkeiten einer Handlungsleitung
durch die Ethik hängen wesentlich von der Gestalt des jeweiligen
Handlungsfelds ab« (Honnefelder/Hübner 2005, 70; i. O. z. T. herv.);
und für das Durchdringen dieser Handlungsbereiche ist die angewandte Ethik auf Theorien und Forschungsergebnisse nicht-ethischer Fachwissenschaften angewiesen, und zwar meist von mehreren Fachwissenschaften zugleich. Aus diesem Grund lässt sich die Arbeitsweise der
angewandten Ethik als transdisziplinär charakterisieren. Dies erklärt
darüber hinaus, warum sich die Reflexionen im weiten Feld der angewandten Ethik so stark unterscheiden können. Dem jeweiligen Handlungsfeld entspringen je anders strukturierte moralische Probleme,
und diese Unterschiede schlagen auf die Gestalt der ethischen Argumentation durch. Dennoch bestätigt sich der Verdacht nicht, dass stets
die jeweils »günstige« normativ-ethische Theorie gewählt wird, z. B.
für wirtschaftsethische Angelegenheiten der Utilitarismus, in medizinethischen Fragen der Kantianismus, bei politischen Auseinandersetzungen der Kontraktualismus.
Drittens eignet der angewandten Ethik eine politische Dimension.
Das Attribut »politisch« verweist zum einen darauf, dass das jeweilige
moralische Problem einen öffentlichen Charakter hat und politischrechtlichen Regelungsbedarf erzeugt. Zum anderen ist damit angesprochen, dass die deliberativen Diskurse als Teil der Politikberatung anzusehen sind. Als Diskurs wiederum, das ist das vierte Merkmal,
orientieren sie sich idealerweise am Ziel der Problemlösung; sie schaffen einen Rahmen für eine gemeinsame Suche nach einer angemessenen Problembeschreibung und für eine Verständigung über einen Regelungsvorschlag. Insofern kann der Habermas’sche Diskursbegriff mit
den konstitutiven Merkmalen des zwanglosen Zwangs des besseren
Arguments und des Motivs der kooperativen Wahrheitssuche den Leitmaßstab abgeben. (Habermas 1995, 130 f.)
16
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Was ist ein moralisches Problem?
4.
Praxisrelevanz oder Methodenreflexion: ein Widerspruch?
Insbesondere die Komplexität der Fragestellungen, die Verquickung mit
anderen Wissenschaften und die Relevanz für andere Teilbereiche der
Gesellschaft macht es dringlicher denn je, das methodische Rüstzeug
angewandter Ethik immer wieder neu zu reflektieren. Das Bewusstsein
für die Wichtigkeit theoretischer Fundierung und moralphilosophischer
Selbstreflexion läuft Gefahr, zugunsten des programmatischen Wunsches nach mehr Praxisrelevanz in den Hintergrund zu treten. Denn
eine »ethics on demand« lässt wenig Zeit für grundlegende Reflexion.
Der Eindruck drängt sich auf, dass je nach Bedarf Methoden entworfen werden, die eine Lösung der drängenden Probleme versprechen, während jene Methoden, die unter dem Verdacht der Theorielastigkeit, Praxisferne oder praktischen Untauglichkeit stehen, in
akademische Refugien verbannt werden. »Ethical tools«, »problemorientierte Methoden« und »ethische Entscheidungshilfen« machten in
den letzten Jahren Furore. (Zu praxisorientierten »ethical tools« und
»ethischen Entscheidungshilfen« vgl. Aerts 2006; Beekman et al. 2006;
Beekman/Brom 2007; Deblonde/Graaff/Brom 2007; Forsberg 2007;
Grimm 2006; Huppenbauer/Benardi 2003; Kaiser et al. 2007; Mepham
1996; Mepham et al. 2006; Millar et al. 2006, 2007; Porsborg Nielsen et
al. 2007; Skorupinski et al. 2007; Zichy 2007.) Hierbei handelt es sich
um hilfreiche und wichtige Hilfsmittel. Doch die Frage ist, ob es ihnen
auch gelingt, das in den genuin ethischen Theorien entwickelte Reflexionspotenzial zu nutzen. Gerade die Tendenz, angewandte Ethik als
Bereichsethik des jeweiligen Handlungsfeldes bzw. der entsprechenden
Wissenschaftsdisziplin zu etablieren 3 , gibt Anlass zur Vermutung,
dass der gesunde moralische Menschenverstand vielfach als ausreichende »methodisch-ethische« Voraussetzung angesehen wird, wäh-
Dies lässt sich z. B. an der folgenden Auswahl von Zeitschriften verdeutlichen, welche
die bereichsspezifische Thematisierung ethischer Fragen im Titel tragen: Zeitschrift für
medizinische Ethik; Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik; BMC Medical
Ethics; Business and Professional Ethics Journal; Clinical Ethics; Health Ethics Today;
International Journal of Business Governance and Ethics; Internet Journal of Law, Healthcare and Ethics; Journal of Agricultural and Environmental Ethics; Journal of Ethics
in Mental Health; Journal of Mass Media Ethics; Journal of Information Ethics; Journal
of Medical Ethics; Journal of Military Ethics; NanoEthics; Neuroethics; Science and
Engineering Ethics.
3
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Jochen Ostheimer, Michael Zichy und Herwig Grimm
rend den fachwissenschaftlichen Standards die eigentliche Bedeutung
zugeschrieben wird. 4
Damit drohte der gerechtfertigte und zweifellos wichtige Anspruch auf Praxisrelevanz die methodologische Selbstreflexion der angewandten Ethik ins Abseits zu drängen. Infolgedessen würde die Ethik
ihre ureigene und zentrale Aufgabe permanenter und kritischer Selbstvergewisserung aufgeben. Wie beides zusammengehen kann, Praxistauglichkeit und methodische Fundiertheit, ist die methodologische
Herausforderung der angewandten Ethik. Diesem Anliegen dient das
vorliegende Buch: Es möchte das Projekt der methodologischen Selbstaufklärung der angewandten Ethik vorantreiben.
5.
Zur Konstitution moralischer Probleme in der
angewandten Ethik
Die vielfältigen Konstitutionsbedingungen und Arbeitsweisen der angewandten Ethik sichern ihre Anschlussfähigkeit und begründen ihre
gesellschaftspolitische und wissenschaftliche Relevanz. Doch verstellt
dieser Erfolg zugleich den Blick darauf, dass, wie gerade skizziert, zunehmend die theoretischen Fundamente der (angewandten) Ethik verschwimmen und es immer umstrittener ist, was sie überhaupt leisten
kann und soll. Deutlich wird dies daran, dass schon die Bestimmung
eines moralischen Problems – als Voraussetzung jeder weiteren Problembehandlung und -lösung – kaum noch nach allgemein verbindlichen Standards gelingt.
In jeder Wahrnehmung bzw. Konstitution eines moralischen Problems sind neben fundamentalethischen Aspekten sowohl disziplinenspezifische Blickwinkel als auch anwendungsbereichsspezifische Zugänge wirksam. Aus diesem Grund herrscht in einer spezialisierten
und ausdifferenzierten akademischen Landschaft kein gemeinsames
Verständnis mehr darüber, was ein moralisches Problem ist. Der innerwissenschaftliche Dissens besteht innerhalb einzelner Disziplinen,
zwischen verschiedenen Wissenschaften wie auch zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Paradigmen. Ihm korrespondiert ein innerDies führt teilweise so weit, dass philosophische oder theologische Fachethiker ihre
Anwesenheit in Ethikkommissionen rechtfertigen müssen. (Ach/Runtenberg 2002,
138–182)
4
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Was ist ein moralisches Problem?
gesellschaftlicher Dissens zwischen lebensweltlicher Praxis und wissenschaftlicher Reflexion. Umstritten ist dabei nicht nur, was ein Problem zu einem moralischen macht, sondern auch bzw. noch viel mehr,
wem die Definitionsmacht über den Ausweis moralischer Probleme
legitimerweise zusteht.
Das Buch hat zum Ziel, das Projekt der Selbstaufklärung der angewandten Ethik um einen weiteren Schritt voranzubringen, indem es
zur Reflexion über die in der angewandten Ethik wirksamen unterschiedlichen Arten der Konstitution moralischer Probleme anregt. Vertreter relevanter Wissenschaftsdisziplinen und der unterschiedlichen
Bereichsethiken wurden zu diesem Zweck eingeladen 5 , einerseits darzustellen, wie in ihrem jeweiligen Fach moralische Probleme wahrgenommen und thematisiert werden, und andererseits über die Implikationen für eine Methodologie der angewandten Ethik nachzudenken.
Die Herausgeber erhoffen sich dadurch einen – den synoptischen Vergleich ermöglichenden – Überblick über die gängigen Denkansätze und
Wahrnehmungsweisen bei der Konstitution moralischer Probleme und
eine intensivierte Auseinandersetzung mit einem in der angewandten
Ethik bislang kaum bearbeiteten Methodenproblem.
Der Zielsetzung des Buches, die Konstitution moralischer Probleme sowohl aus Sicht unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen
als auch aus Sicht der unterschiedlichen Bereichsethiken zum Thema
zu machen, entspricht die Struktur des Buches. Im ersten Teil kommen
die wissenschaftlichen Disziplinen zu Wort, die sich mit angewandter
Ethik befassen: von der Philosophie über die Theologie, die Rechtswissenschaften, die Psychologie bis hin zur Pädagogik. Im zweiten Teil
versammeln sich – in alphabetischer Reihung – die Perspektiven der
Bereichsethiken.
Angela Kallhoff legt einen Ansatz zu einer grundlegenden Aufklärung der verhandelten Sache vor: Was überhaupt ist ein moralisches
Problem und somit Gegenstand der moralphilosophischen Reflexion?
Wie unterscheidet es sich von anderen Schwierigkeiten oder Konflikten? Dabei differenziert sie zunächst zwischen subjektiven moralischen
und objektiven moralischen Problemen. Erstere bilden eine unhintergehbare Konstante insofern, als wir immer eine bestimmte Perspektive
Wie es häufig das Schicksal derartiger Projekte ist, haben sich nicht alle Zusagen auch
in einem Beitrag niedergeschlagen, so dass der vorliegende Sammelband nur einige ausgewählte Stimmen versammelt.
5
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Jochen Ostheimer, Michael Zichy und Herwig Grimm
auf eine problematische Situation haben und dabei entweder in Interessenskonflikte gelangen, Probleme mit der Erfindung und Festschreibung eines normativen Selbstbildes bekommen oder überhaupt in die
Lage kommen, dass die Absicht, tugendhaft zu handeln, ein Problem
aufwirft. Was vorausgesetzt werden kann, ist eine individuelle Suche
nach dem Richtigen im Leben. Auf der objektiven Ebene sind moralische Probleme exemplarisch dann festzustellen, wenn entweder im
Zuge eines willentliches Verstoßes gegen wohlbegründete Normen
Verletzungen der Grundrechte begangen werden oder Gesolltes unterlassen wird, sodass eine Missachtung z. B. eines erklärbaren naturethischen Wertes stattfindet.
Carmen Kaminsky legt in ihrem Beitrag zur Aufklärung des Phänomens der angewandten Ethik bzw. Bereichsethik ein Vorverständnis
zugrunde, wonach sich eine Verzahnung von Ethik und Pragmatik konstatieren lässt. Der Fokus einer diskursiven Auseinandersetzung vor
dem Hintergrund konkreter, situativer moralischer und pragmatischer
Verantwortungsprobleme kann nicht auf eine letztgültige Begründung
von Handlungsrichtlinien gerichtet sein. Vielmehr sieht Kaminsky das
Erfordernis einer multiperspektivischen Beratung, in der so rational
wie möglich (ohne Anspruch auf strenge Kohärenz und Konsistenz),
aber eben auch konkret handlungsorientiert vorgegangen werden soll.
Die Bereichsethik wäre mithin auf die Praktikabilität von Entscheidungen hin zu öffnen, so dass die jeweiligen Verantwortungsprobleme mit
moralphilosophischer Unterstützung wenn schon nicht lösbar, so doch
bewältigbar werden.
Nicht anders als die philosophische will die Theologische Ethik
Antworten auf die alte und immer neu drängende Frage geben, wie
man handeln und leben soll. Das Besondere Theologischer Ethik, so
Konrad Hilpert, ist der Bezug auf die in einer Religionsgemeinschaft
gelebte Glaubensüberzeugung. In dieser Bestimmung sind zwei immer
wieder anzutreffende Fehldeutungen zurückzuweisen. Zum einen ist
das Ethische nicht bloß nachrangige Anwendung von biblischen Geboten und von Dogmen, wie insbesondere das lange Zeit vorherrschende
Modell der Gesetzesethik meinte. Vielmehr gehört das Ethische zum
Kern des christlichen Glaubens in einem personalistischen Verständnis.
Zum anderen und damit zusammenhängend entwickelt die Theologische Ethik keine »Sondermoral« jenseits der praktischen Vernunft.
Vielmehr ist sie wie die philosophische Ethik mit denselben für die
Moderne charakteristischen Spannungen konfrontiert, die das Metho20
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Was ist ein moralisches Problem?
denproblem der angewandten Ethik virulent werden lassen: die Spannungen zwischen Neuheit und Tradition, zwischen Experten- und allgemeinem Wissen, zwischen der Pluralität ethischer Ansätze und der
Einheit des sittlichen Anspruchs sowie zwischen theoretischen Prinzipien und Lebenspraxis.
Im deutschen Recht, das – so Jens Kersten in seinem Beitrag –
weder auf ein Naturrecht, für das Recht und Moral identisch sind,
noch auf einen Rechtspositivismus, der streng zwischen Recht und
Moral unterscheidet, aufbaut, werden moralische Probleme unterschiedlich konstituiert. Individuelle moralische Probleme, die als Ausdruck persönlicher Freiheit (v. a. Glaubens-, Weltanschauungs- und
Gewissensfreiheit) begriffen werden, sind auf verfassungsrechtlicher
Ebene konstituiert, wodurch die individuelle Entscheidungsfreiheit
möglichst weitgehend garantiert wird. Ihre durch Abwägung zu ermittelnden Grenzen findet diese Freiheit allein an anderen verfassungsrechtlichen Gütern. Kollektive moralische Probleme, die also auf dem
gesellschaftlichen Selbstverständnis beruhen, sind hingegen auf der
Ebene des »einfachen« Gesetzes konstituiert. Dabei werden Wertungen des kollektiven Moralverständnisses zum einen durch moralbezogene Generalklauseln wie diejenige der »guten Sitten« und der »öffentlichen Ordnung« eingefangen. Zum anderen werden kollektive
Moralvorstellungen vor allem in Fragen der Bioethik über den Filter
anpassungsfähiger rechtsberatender, -konkretisierender und -anwendender »Ethikkommissionen« in Recht umgewandelt.
Bernhard Schwaiger plädiert in seiner Reflexion des Verhältnisses
von Psychologie und angewandter Ethik dafür, dass die Moralpsychologie moralische Probleme nicht nur wie üblich als Mittel der Theoriekonstruktion und -überprüfung betrachten, sondern sich verstärkt der
realen moralischen Probleme um ihrer selbst willen annehmen sollte.
Dazu gehört zentral, alle vier Phasen einer moralischen Handlung zu
berücksichtigen: die Phase der Regulation des momentanen Handlungsimpulses, die Reflexion der Situation und Handlungsziele, die
willentliche Umsetzung der Handlungswahl und schließlich die Überprüfung der Handlungseffekte. Die Moralpsychologie hat, wie Schwaiger an den zentralen Ansätzen von Jean Piaget, Lawrence Kohlberg,
Carol Gilligan und Jonathan Haidt zeigt, bisher nur bestimmte Aspekte
isoliert betrachtet. Piaget etwa interessierte sich in seiner Analyse des
kindlichen Murmelspiels ebenso wie Kohlberg in seiner Beschäftigung
mit moralischen Dilemma-Situationen vor allem für den Reflexions21
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Jochen Ostheimer, Michael Zichy und Herwig Grimm
aspekt moralischen Handelns. Während bei Gilligan reale moralische
Probleme in den Vordergrund rücken, nehmen diese bei Haid wieder
einen extrem künstlichen, theorieinduzierten Charakter an. Im abschließend vorgestellten Mentalisierungskonzept von Peter Fongay
findet Schwaiger jedoch einen Ansatz, der nicht nur die vier Handlungsphasen adäquat zu integrieren vermag, sondern dadurch auch
den Ansprüchen gerecht werden kann, die an eine das konkrete moralische Problem ernst nehmende Moralpsychologie zu stellen sind.
Bei der pädagogischen Ethik, so beginnt Thomas Fuhr seine breit
angelegten Ausführungen, handelt es sich um eine Auseinandersetzung mit Ziel, Inhalt und Form von Erziehung und Bildung. Die Komplexität dieser Auseinandersetzung ist eine weitreichende und unbewältigte. Der Aufweis der Vieldimensionalität geschieht zunächst
über die Beschreibung des heterogenen Feldes – so wird darauf hingewiesen, dass die Ziele der Schulbildung nicht aus einer allgemeinen
Pädagogik ableitbar sind, ebenso wenig wie die der Erwachsenenbildung oder etwa der Sozialpädagogik. Ein Streifzug durch die Geschichte und Gegenwart der Theorielandschaft vermittelt den Eindruck großer Unterschiede in den Ansätzen. Generell aber zeigt sich, dass die
pädagogische Ethik die Konzepte der philosophischen Ethik nur spezifisch und autonom rezipiert, ohne aber in ihrer systematischen Begründung völlig auf jene verzichten zu können. Zudem arbeitet Fuhr
als Übereinstimmung heraus, dass sowohl Lernen als auch Moral emotional-motivationale, handelnd-einübende und kognitive Dimensionen
aufweisen. Ein weiteres zentrales Thema ist die Selbstvergewisserung
qua Arbeit am Berufsethos, die je nach Arbeitsfeld und pädagogischer
Disziplin nicht nur sehr unterschiedlich ausfällt, sondern auch je verschiedene Aufmerksamkeit genießt. Ebenfalls von generellem Belang
bleibt die Spannung von Fürsorge und Paternalismus, die der grundsätzlichen Asymmetrie des pädagogischen Arbeitens entspricht. Um
trotz Diversität Orientierung zu gewährleisten, plädiert Fuhr für eine
Bezugnahme auf »grundlegende Urteile« im Sinne Rawls’, denen Intuitionen wie auch Überlegungen zugrunde liegen und die vor dem
Hintergrund jeweiliger Institutionen formuliert werden.
Angelika Krebs widmet ihren Beitrag einem spezifischen Thema
der Beziehungsethik: der erotischen Liebe, die für sie zum Kernbestand
eines jeden gelungenen menschlichen Lebens zählt. Dabei setzt sie sich
zentral mit den drei wichtigsten Liebesmodellen auseinander. Gemäß
dem Verschmelzungsmodell besteht die Liebe in der Überwindung des
22
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Was ist ein moralisches Problem?
Egoismus und dem Versuch der – im Grunde unmöglichen – Einswerdung mit dem anderen. Problematisch daran ist jedoch nicht nur, dass
hier Liebe als etwas Unerreichbares dargestellt, sondern dass darüber
hinaus die Autonomie der Individuen nicht berücksichtigt und dass
Unterdrückung und Ausbeutung Tür und Tor geöffnet werden. Noch
größer ist diese Gefahr aber im Care-Modell der Liebe, dem zufolge
Liebe in der sich selbst aufopfernden Sorge um den anderen besteht.
Zudem verkennt dieses Modell die Reziprozität der Liebe. Angemessen
erscheint Krebs dagegen das Dialogmodell der Liebe, das Liebe als ein
»kommunistisches« Miteinander im Zeichen geteilter Werte begreift.
Dass Liebe Partei ergreift, wie ein bekannter moralischer Kritikpunkt
lautet, kann ihr dabei nicht zum Vorwurf gemacht werden. Denn »die
Bevorzugung des geliebten Menschen ist eudaimonistisch angezeigt.«
Allerdings darf Liebe auch nicht per se als moralisch angesehen werden. Dies zeigt sich insbesondere dort, wo der Liebe moralische Grenzen zu setzen sind.
Michael Zichy erarbeitet in seinem Aufsatz zur Bioethik zuerst
eine grundlegende Bestimmung der zentrale Begriffe Moral, Problem
und Bioethik. Auf dieser Basis stellt er fest, dass sich ein moralisches
Problem in der Bioethik als ein defizitärer Istzustand darstellt, der von
jemandem als solcher erkannt wird und dessen Überführung in einen
Sollzustand zumindest Schwierigkeiten verursacht. Die Problemebenen hierbei sind die der Normenbefolgung, der Norm selbst und, auf
einer mittleren Ebene, die der Interpretation und Implementierung
dieser Normen. So ist etwa nicht unmittelbar klar, was beispielsweise
aus der Menschenwürde für die Gewinnung humaner embryonaler
Stammzellen folgt. Was hier überhaupt als Problem auftritt, hängt
nicht zuletzt von der Definition der Bioethik selbst ab; Zichy plädiert
diesbezüglich für einen relativ weiten, aber nicht zu weiten und jede
Definierbarkeit sprengenden Begriff bioethischer Probleme: es geht
um den Bereich des Handelns, in dem Eingriffe Auswirkungen auf unser Verständnis des Phänomens Leben haben, d. h. den Status menschlichen und nichtmenschlichen Lebens betreffen, wobei wir immer
selbst mitbetroffen zu sein scheinen. Nicht zuletzt deshalb sind diese
moralischen Probleme wohl besonders heftig umstritten, auch in der
Öffentlichkeit. Sie erfordern oft einen Kompromiss, weil ein Konsens
nicht zu haben ist.
Thomas Kesselring geht das Phänomen der Globalisierung unter
einer doppelten, problemorientierten Perspektive an: der Zusammen23
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Jochen Ostheimer, Michael Zichy und Herwig Grimm
hang von Weltarmut und Klimawandel wird als ethische Herausforderung thematisiert. Dazu stellt Kesselring kritisch die drei wesentlichen
ethischen Diskussionsstränge dar: den utilitaristischen Zugang mit der
Leitidee der Pflicht zur Leidminderung, den menschenrechtlichen mit
der Forderung nach einer verpflichtenden allgemeinen Grundversorgung sowie einen dritten Ansatz, der stärker konkretisierend Gerechtigkeitsprobleme untersucht. Ein zweites methodisches Problem, dass
der Autor entfaltet, ist die Frage, ob und inwiefern die reichen Länder
für die Entstehung globaler Armut mitverantwortlich sind – eine Frage, die empirische und normative Dimensionen umfasst. Etwas anders
gelagert stellt Kesselring diese Frage nochmals mit Blick auf die Verursachung des Klimawandels, der die bedrohlichste Kausalverknüpfung
von Wohlstands- und Armutsgesellschaften darstellt.
Horst Pöttker fokussiert seinen Beitrag auf die Konvergenzen und
Diskrepanzen zwischen allgemeiner Moral und der Berufsethik des
Journalismus. Die – universalistisch verstandene – allgemeine Moral
kann dabei traditionell durch die goldene Regel oder modern durch
die Menschenrechte erfasst werden. Die spezifischen moralischen Anforderungen des Journalismus ergeben sich aus dessen Hauptaufgabe,
in einer ausdifferenzierten komplexen Gesellschaft einen für alle zugänglichen Raum zu schaffen, in dem »alle vorhandenen Erfahrungen,
Erkenntnisse und Interessen allgemein bekannt gemacht und zueinander vermittelt werden«: die Öffentlichkeit, ex negativo verstanden als
Prinzip der Unbeschränktheit von Kommunikation. Daraus leiten sich
die berufsspezifischen Pflichten zu Offenheit bzw. vorurteilsfreier
Wahrnehmung, zu Wahrheit und Distanz und eben auch zum Publizieren ab. Mögliche Widersprüche zwischen allgemeiner und berufsspezifischer Moral, die eine sorgfältige Abwägung erfordern, ergeben
sich nun etwa dort, wo die journalistische Tätigkeit persönliche Beziehungen zum Mittel der Informationsbeschaffung verzweckt, wo die
Persönlichkeitssphäre verletzt und wo – wie im Falle der verdeckten
Recherche – getäuscht wird. Wie Pöttker abschließend ausführt, ist
davon auszugehen, dass sich durch neuere Entwicklungen wie etwa
die Beschleunigung der journalistischen Tätigkeit in der digitalen Medienwelt, die Verschiebung der Grenze von öffentlich und privat und
neuen Anforderungen des Schutzes des religiösen Empfindens diese
Diskrepanzen verschärfen werden.
Im Anschluss an einen knappen historischen Aufriss der Entwicklung der Medizinethik und nach wichtigen begrifflichen Klärungen wie
24
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Was ist ein moralisches Problem?
etwa der des Unterschieds zwischen ethischen und moralischen Problemen oder der zwischen Medizinethik – die der Gesundheitsethik subsumiert wird –, der philosophischen Ethik und der Bioethik setzen sich
Stella Reiter-Theil und Marcel Mertz zunächst mit allgemeineren
Charakteristika moralischer Probleme auseinander. Diese zeichnen sich
dadurch aus, dass sie Konflikte intra- und/oder interpersoneller Art zur
Sprache bringen und zu Unsicherheit und/oder Uneinigkeit führen.
Damit es aber überhaupt zur Erkenntnis und Artikulation moralischer
Probleme kommen kann, sind – so die systematische Grundthese dieses
Beitrags – normative Rahmensysteme nötig. In der Medizinethik sind
dies die gesellschaftlich etablierten Wertungssysteme (Moral, Recht
usw.), medizinisches, pflegerisches oder therapeutisches Ethos, medizinethische Methoden und philosophisch-ethische Theorien. Das Konzept
einer »gelebten Medizinethik«, die von den Problemen des medizinischen Alltags ausgeht und »sich mit den Zielsetzungen der Medizin
identifiziert«, wird deutlich von der philosophischen Ethik abgegrenzt.
Den medizinischen Praktikern, bei denen es sich in aller Regel um moralphilosophische Laien handelt, kommt eine wichtige ethische Kompetenz zu. Das Themenspektrum der Medizinethik, d. h. die Bandbreite
an moralischen Problemen, ist groß und lässt sich nicht auf die »klassischen« Fragen verengen. Die Einheit der Medizinethik ist darin gewahrt, dass der axiologische Kern eines jeden medizinethischen Problems in einem zentraler Wert gegeben ist: dem Wohl der Patienten
und anderer von einer medizinischen Handlung Betroffener.
In seiner methodologischen Reflexion der Naturethik unterscheidet Jochen Ostheimer drei Fragerichtungen. Die Kontroversen betreffen erstens Status und Wert der Natur selbst, ferner relevante Aspekte
der Naturnutzung sowie – und dies wird aus Platzgründen nur als Thema genannt – den normativen Gehalt der Natur (»Naturrecht«). Hinsichtlich des ersten Gesichtspunkts wird aufgezeigt, welch starke Umdeutungen gegenwärtig in Bezug auf Status und Wert der Natur
stattfinden. Von einer sedimentierten Begrifflichkeit und einer etablierten Methode kann hier nicht die Rede sein. Vielmehr besitzt dieser
angewandt-ethische Diskurs das Potenzial, das überlieferte moralische
Universum neu zu vermessen, wie die Analyse des Changierens zwischen unterschiedlichen Zentrierungen auf den Eigenwert der Natur, in
die der Mensch eingebettet ist, und der Fokussierung auf den instrumentellen Wert für den Menschen zeigt. Mit Blick auf die zweite Frage,
den gebrauchenden Umgang mit der Natur, entfaltet Ostheimer Nach25
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Jochen Ostheimer, Michael Zichy und Herwig Grimm
haltigkeit als ein Naturnutzungsprinzip, das die Perspektive des vernetzten Denkens mit drei normativen Zugängen verbindet. Die darin
enthaltenen zentralen Gerechtigkeitsprinzipien wie intergenerationelle oder Beteiligungsgerechtigkeit werden knapp dargelegt.
Peter Koller nähert sich der Frage, was ein moralisches Problem in
der politischen Ethik ist, zunächst über eine allgemeinere Bestimmung
der Begriffe der Moral und der politischen Ethik. Letztere versteht er
weit gefasst als »das Nachdenken über die normativen Anforderungen,
denen Menschen als Teilnehmer am politischen Leben – als öffentliche
Amtsträger, als Vertreter politischer Gruppierungen oder einfacher
Bürger – unterworfen sind, um eine legitime, d. h. intern für alle Beteiligten akzeptable und extern gegenüber allen Außenstehenden vertretbare soziale Ordnung zu erreichen und auf Dauer zu sichern.« An zwei
Themenfeldern der politischen Ethik wird die Art der Konstitution
eines moralischen Problems exemplifiziert: Erstens wird mit Blick auf
das grundsätzliche Verhältnis zwischen Politik und Ethik die Frage
erörtert, ob und inwieweit Politik als moralfreier Raum begriffen werden muss. Nach der Diskussion vier verschiedener Modelle kommt
Koller zum Schluss, dass die Politik durchgängig moralischen Erfordernissen unterworfen ist. Zur weiteren Konkretisierung behandelt er
zweitens das Problem der »schmutzigen Hände«, also die Frage, ob ein
moralisch legitimes Ziel unter Umständen den Einsatz moralisch falscher Mittel rechtfertigen kann. Hierzu führt Koller aus, dass allgemein gültige Moralregeln für gewisse Fälle politischen Handelns durch
ihrerseits ethisch zu rechtfertigende Zusatz- und Ausnahmeregeln eingeschränkt werden können.
Die Handlungslogik moderner Sozialprofessionen lässt sich nach
Andreas Lob-Hüdepohl als intersubjektive Praxis engagierter Sorge
rekonstruieren. Als solche sind sie immer schon moralisch engagiert.
Sie sind von ihrem eigenen berufsspezifischen Selbstverständnis wesentlich an der Förderung von Autonomie und Partizipation ihrer
Adressaten ausgerichtet, und insofern sind sie immer schon von Vorstellungen über menschenwürdige und gelingende Lebensformen geprägt. In dieser Hinsicht analysiert die bereichs- oder professionsspezifische ethische Reflexion den unhintergehbaren doppelten Charakter
des Mandats: In der Sozialen Arbeit und den anderen Sozialprofessionen wohnt der Fürsorge für die Hilfsbedürftigen stets auch die Dimension der Kontrolle und der Normalisierung inne. Mit Blick auf diese
Spannung präzisiert die Sorgeethik als die auf das sozialprofessionelle
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Was ist ein moralisches Problem?
Handlungsfeld bezogene Gestalt der angewandten Ethik die ethische
Legitimation des beruflichen Selbstverständnisses als Menschenrechtsprofession. Mit Blick auf den Grundlagendiskurs der allgemeinen Ethik
zeigt sie auf, welche Konsequenzen unterschiedliche moralphilosophische Ansätze bei ihrer Übertragung auf die Praxis entfalten können,
wodurch sie zu einer »Neuvermessung allgemeinethischer Kriterien
und Prinzipien« beiträgt; zudem macht sie deutlich, dass das Verhältnis
von allgemeiner und angewandter Ethik weder deduktiv noch einsinnig
ist. In einer stärker anwendungs- oder praxisorientierten Ausrichtung
trägt die Sorgeethik zur Aufklärung der zum Teil impliziten, zum Teil
widersprüchlichen normativen Gehalte des sozialen Sektors bei. Dabei
weist Lob-Hüdepohl auch auf die Unterschiede zur in der Praxis bereits
fester etablierten Medizinethik hin. Methodisch geht sie dabei in vier
Schritten vor, die in je spezifischer Weise Nähe bzw. Distanz zur Berufspraxis suchen.
In seiner Reflexion auf moralische Probleme der Technikethik verweist Armin Grunwald zu Beginn auf die relative Novität der Disziplin: Erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat das zerstörerische Potential etwa der Atombombe sowie das Aufkommen der Gentechnik und
der damit verbundenen Fragen zu einer Formierung der Technikethik
als eigenen Bereich geführt. Ein erstes methodisches Problem, das im
Technikdiskurs faktisch besonders stark auffällt, ist die Vermischung
der Begriffe »Ethik« und »Moral«, deren Klärung daher eine vordringliche Aufgabe der angewandten Ethik ist. Auf dieser Basis lässt sich
dann als Ausgangspunkt angewandt-ethischer Reflexion »normative
Unsicherheit« bestimmen, d. h. die Orientierungslosigkeit, mit der ein
Handelnder jenseits einer moralischen Standardsituation konfrontiert
ist. Besonders hervorgehoben wird der pro-aktive Charakter dieser Bereichsethik. Denn es geht auch und vor allem darum, erst im Entstehen
begriffene Techniken auf ihr Ziel bzw. ihren Zweck hin zu prüfen, die
verwendeten Mittel (und ihre »Nebenfolgen«) in ein Verhältnis dazu
zu stellen und auch nicht intendierte Folgen zu berücksichtigen. Das
Herstellen von Technik ist dabei keineswegs ethisch neutral oder ein
Handeln im außermoralischen Sinn. Vielmehr sind sowohl das Herstellen als auch das Verwenden von Technik moralisch zu verantworten. Grunwald geht es wesentlich um Folgenbewertung, wobei er sich
ausdrücklich gegen den Verdacht wendet, dass in diesem Zusammenhang einer konsequentialistischen Ethik irgendein Vorzug eingeräumt
werden müsse.
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Jochen Ostheimer, Michael Zichy und Herwig Grimm
Am Beispiel der Entwicklung der Tierethik seit den 1970er Jahren
lässt sich besonders gut erkennen, wie stark die angewandte Ethik ihre
Impulse von der gesellschaftlichen Entwicklung und nicht von rein innerwissenschaftlichen Überlegungen erfahren hat. Die historische Entwicklung der letzten 40 Jahre lässt sich laut Herwig Grimm in drei
Phasen unterteilen. Das zentrale wissenschaftliche Interesse der ersten
Generation galt der Begründung des moralischen Status von Tieren.
Zugleich beteiligten sich Tierethiker selbst aktiv an der Tierschutzbewegung und versuchten, mithilfe ihrer theoretischen Reflexion die
soziokulturelle Gestaltung der Mensch-Tier-Beziehung zu reformieren. Die Folge dieses Engagements war ein Distanzverlust, der geeignet
war, das Ansehen der wissenschaftlichen Bemühungen in Zweifel zu
ziehen. In der zweiten Phasen stand die ethische Bewertung neuer
Handlungsmöglichkeiten infolge neuer Techniken (wie etwa Gentechnik) im Mittelpunkt sowohl der normativen als auch der Methodenreflexion. Damit geriet die Anwendungsorientierung als solche in den
Blick. Zugleich richtete sich die Aufmerksamkeit verstärkt auf die Eigenart und Besonderheit des Tiers gegenüber dem Menschen. Die dritte, aktuelle Tierethikergeneration (der auch der Autor zuzurechnen ist)
widmet sich nun der Aufgabe, die wissenschaftstheoretischen und -politischen Implikationen der bisherigen Entwicklungen aufzudecken
und gewinnbringend zu bearbeiten.
Die Wirtschafts- und Unternehmensethik steht vor zwei auf den
ersten Blick widersprüchlichen Gesellschaftsbeschreibungen, die zugleich mögliche Stoßrichtungen wirtschaftsethischer Argumentation
widerspiegeln, so Michael Aßländer in seinem Beitrag. Zum einen
stellt die Wirtschaft ein eigenständiges, funktional ausdifferenziertes
gesellschaftliches Subsystem dar, das nicht nur eine eigene Rationalität, sondern ebenso seine eigenen Sachzwänge entwickelt. Zum anderen lässt sich seit einiger Zeit vermehrt eine moralische Betrachtung
wirtschaftlicher Vorgänge in der Öffentlichkeit beobachten. So ist es
eine Hauptfrage, die moralische Qualität wirtschaftlichen Handelns
von Individuen und Unternehmen sowie ökonomischer Institutionen
zu analysieren. Die deutschsprachige Wirtschaftsethik war in dieser
Frage lange Zeit von der Kontroverse zwischen dem anreizbasierten
Ansatz von Homann und dem verständigungsorientierten Entwurf
von Ulrich geprägt. Inzwischen jedoch richtet sich das Augenmerk verstärkt auf empirische Studien und Fallanalysen, was eher der Aufgabe
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Was ist ein moralisches Problem?
angewandter Ethik entspreche, »konkrete praktische Normen für spezifische materielle Problemlagen« zu entwickeln.
Jeder der hier veröffentlichten Beiträge zur angewandten Ethik
nimmt eine je eigene Perspektive ein. Die entsprechende Bezugswissenschaft oder das jeweilige Handlungsfeld bestimmen den Duktus
der Argumentation wesentlich – wenngleich, wie etliche Autoren und
Autorinnen betonen, der gewählte Zugang stets auch partikulär ist. Es
zeigt sich, dass die angewandte Ethik auf die allgemeine normative
Ethik und, wie an einigen Stellen deutlich wird, auf die Metaethik unweigerlich bezogen bleibt. Doch die Art der Bezugnahme ist alles andere als einheitlich. Dies zu reflektieren – das wird auch deutlich –,
bleibt vor allem eine Aufgabe der Fachethik. Denn die Moralphilosophie und z. T. auch die theologische Ethik (die sich ja auch als allgemeine Ethik und nicht als angewandte »Religionsethik« versteht) sind stärker vom Handlungsdruck entlastet, weniger von den Sorgen und
Anliegen der Praxis bedrängt.
Dass in diesem Sinn vorgenommene Überlegungen der Moralphilosophie dann auch als Kritik oder gar als nicht hilfreiche Einmischung
von außen wahrgenommen werden, arbeiten einige Beiträge ebenfalls
heraus. Angewandte Ethik scheint sich bisweilen von ihrer ethischen
Herkunft deutlich distanzieren zu wollen. Die Vielfalt der Gründe, Ursachen und Motive, die dahinter stehen, zu erhellen, wäre eine lohnende Forschung, die noch zu leisten ist.
Als ein weiteres Ergebnis kann festgehalten werden, dass der Binnendialog zwischen den verschiedenen angewandten oder, hier vielleicht klarer: Bereichsethiken kaum ausgeprägt ist. Bei methodischen
Schwierigkeiten wird die jeweilige Fachwissenschaft oder auch die Moralphilosophie konsultiert, nicht aber der angewandt-ethische Diskurs
in anderen Handlungsfeldern. Ob dies seinen guten Grund in der Verschiedenheit der jeweiligen Bereiche hat, wäre gleichermaßen noch zu
klären.
Hier geht es nur darum, den Bestand zu sichten: wie jeweils ein
Problem als ein moralisches konstituiert wird. Denn dass es sich jeweils
(auch) um ein moralisches und nicht nur um ein technisches Problem
handelt, darin besteht eine große Übereinstimmung. Dies ist der Entstehungs- und Legitimationskontext der angewandten Ethik.
29
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