Einfach und frei.Wie für Montini die Mailänder Kirchen aussehen

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Christliche Kunst
Einfach und frei.Wie für
Montini die Mailänder
Kirchen aussehen sollten
er 6. Januar 1955 war ein
kalter, regnerischer Tag. Es
war der Tag, an dem der
neue Erzbischof von Mailand in der
Stadt Einzug hielt. Trotz des schlechten Wetters ließ es sich Giovanni Battista Montini nicht nehmen, den Weg
zum Mailänder Dom, wo ihn seine
Gläubigen erwarteten, im offenen
Wagen zurückzulegen. Lange Zeit
später sollte er sich wie folgt daran erinnern: „Als Wir vor nunmehr fast
sieben Jahren die Grenze dieser Diözese überschritten, Unseren Fuß auf
diesen gesegneten Boden gesetzt habe, haben Wir uns hinab geneigt, um
ihn zu küssen: wie kalt und nass war
er! Möge die Liebe dieses Kusses
auch heute noch in all Unserem
Bemühen spürbar sein!“ Sieben Jahre später – man schrieb den 12. November 1961 – schloss er mit folgenden Worten die Ansprache, bei der
er zum Bau von 22 neuen Kirchen in
seiner Diözese aufrief: „Mailand
wächst und wächst; es wächst ständig und immer schneller, und die einzige Sicherheit, die Wir haben, ist die
Notwendigkeit, die pastorale Sorge
für Unsere Gläubigen so zu gestalten,
dass sie mit dem Wachstum der neuen Stadtviertel mithalten kann…“.
Erst ein Jahr zuvor waren 60.000
Menschen aus den südlichen Regionen in die Stadt geströmt und hatten
„in den neuen Arbeitervierteln Zuflucht gefunden, die schon bald aus
allen Nähten platzten“. Es wurden
immer mehr Häuser gebaut, immer
mehr Straßen, aber in den Augen des
neuen Bischofs konnte dieses neue
Mailand nur allzu leicht zu einer Wüste werden, in der die Menschen sich
selbst überlassen blieben. Montinis
Sorge war lediglich die eines Seelsorgers für seine Gläubigen, er wollte in
den neuen Vierteln keine „kulturelle“
Hegemonie durchsetzen. „Wir ver-
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spüren die Verpflichtung, Uns ohne
Klagen und unermüdlich, mit ziviler
und christlicher Solidarität, an das
schnelle Wachstum Unserer Metropole anzupassen und den religiösen
und moralischen Beistand für die vielen neuen Pfarreien zu garantieren“,
stellte Montini klar, und fügte mit einer gewissen Bitterkeit hinzu: „Wir
hätten eigentlich gehofft, dass Mailand mit seinen historischen und
großen Pfarreien, seinem christlichen und mitfühlenden Herzen,
mehr Einsatz und Hilfsbereitschaft
zeigen würde; und Wir hätten auch
gemeint, dass Mailand, diese so
große und reiche Stadt, die derzeit ein
so erfreuliches Wirtschaftswachstum
erlebt, Unseren Weg erleichtern und
beschleunigen würde“. Aber genau
das war nicht der Fall: die Verantwor-
Giovanni Battista
Montini bei der
Grundsteinlegung
der Kirche Kirche
„San Michele Arcangelo
in Mater Dei“ nahe der
Monza-Allee, Mailand
(erbaut 1961).
tung dafür, die Mittel für sein großes
Bauvorhaben aufzutreiben, ruhte allein auf seinen Schultern: „Aber es
wird Uns dennoch nicht missfallen,
Uns ans Werk zu machen und Unsere ganze Hoffnung gerade wegen
Unserer Armut auf die Vorsehung zu
setzen, und auf jene Menschen, die
sich zu ihrem Werkzeug machen“.
In den achteinhalb Jahren seiner
Mailänder Tätigkeit ließ Montini in
der gesamten Diözese 135 Kirchen
Es waren die Jahre der großen
Immigrationswelle. Nach seiner Ernennung
zum Erzbischof von Mailand ließ Montini
die bedeutendsten Architekten nach Mailand
kommen, damit sie die neuen Kirchen bauen
konnten. Mit Mut und Hingabe.
von Giuseppe Frangi
Die Pfarrkirche „San Francesco d’Assisi“
in Fopponino, Mailand, konnte Anfang
der 1960er Jahren nach dem Plan
von Gio Ponti entstehen.
bauen – viele konnten noch in seiner
Amtszeit fertiggestellt werden. Es
war eine Strategie, die schon sein
Vorgänger Kardinal Schuster verfolgt hatte. Der zukünftige Papst Paul
VI. war sich der Bedeutung dieses historischen Moments nur allzu bewusst und führte die Strategie mit
großer Begeisterung fort. Für die Kirche eröffnete sich in den neuen Vierteln, die am Rande der Stadt wie Pilze aus dem Boden schossen, ein neu-
es Missionsgebiet. Aber der Weg war
dornig: es war schwer, die Mittel für
den Bau der Kirchen aufzutreiben,
die Pfarrer selbst waren oft nur notdürftig untergebracht, nicht selten
schlechter als ihre Gläubigen. „Ich
bin stolz auf euch“, sagte Montini
1962 zu ihnen, „ich bin stolz darauf,
Priester zu haben, die das pastorale
Leben unter solch widrigen Umständen akzeptieren; die es als eine Ehre
betrachten, soviel Unbill zu ertragen,
eine große Verantwortung zu haben,
aber so gut wie keine Mittel; die
gleichsam wie Bettler leben in notdürftigen Unterkünften ohne jeglichen Komfort. Wenn ihr dereinst eure Kirchen und eure Pfarreien habt,
werdet ihr noch an diese Zeit zurückdenken… denn das ist euer Glück: ihr
könnt eure Pfarreien selbst gestalten,
dem Wichtigkeit verleihen, was wesentlich ist im religiösen Leben: der
kirchlichen Lehre“.
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Rechts und oben, zwei Bilder der Pfarrkirche
des Evangelisten Lukas, an der Grenze zu Lambrate,
Mailand, die in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre
nach einem Plan von Gio Ponti entstanden.
In diesem kleinen Wörtchen
„selbst“ kommt die ganze Ausrichtung zum Ausdruck, die Montini seinem Kirchenbau-Projekt geben wollte. Damals waren in Mailand die bedeutendsten Architekten beschäftigt, und der Erzbischof beschloss, ihnen sein Vertrauen zu schenken, sie
mit seinen wichtigsten Projekten zu
beauftragen. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger beschloss Montini,
der Modernität Tür und Tor zu öffnen. Seine Erwartungen waren
hoch: „Die Kunst stellt sich in den
Dienst des Kirchenbaus. Dieses Einfließen der Kunst in Unsere Projekte
erfüllt Unser Herz mit Freude“. Aber
er sparte auch nicht mit Ermahnungen: „Wir wollen eine Architektur,
die frei ist in ihrer modernen Inspiration, aber zurückhaltend und vernünftig in ihrem baulichen Anspruch: dies ist nicht die Zeit der Monumente, der Mosaike und des verschwenderischen Tands. Es ist die
Zeit, in der es gilt, mit einfachen Bauten den Glauben unseres Volkes zu
bewahren“ (1961).
Und tatsächlich: Der erste Kirchenbau, den Montini ein Jahr nach
seinem Einzug in Mailand weihen
konnte, verkörpert diese Vorstellungen perfekt. Die Kirche Unsere Liebe
Frau der Armen im neuen Arbeiterviertel nahe Baggio wurde von den
Architekten-Kollegen Luigi Figini
und Gino Pollini geplant. Die beiden
hatten sich schon mit dem Bau der
Olivetti-Werke in Ivrea samt dazugehörigen Gebäudekomplexen (den
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Unterkünften für die Arbeiter und einem Kindergarten) einen Namen gemacht. Figini und Pollini waren Erben des italienischen Rationalismus
und schufen in jenem Viertel aus „Minimalbauten“ eine Kirche von extremer Schlichtheit, die wenig kostete
und aus einer Stahlbetonstruktur bestand. An der Fassade mit kaum angedeutetem Frontgiebel fügten die
Architekten große Einlagen aus lombardischem Backstein ein, die als einfache Dekorationen dienten.
Das Gebäude wurde der Muttergottes geweiht, die 1933 im belgischen Banneux einem jungen
Mädchen erschienen war, Mariette
Beco. Im Jahr 1942 war die Erschei-
nung erstmals von der Kirche anerkannt worden; dann erneut in den
Jahren 1947 und 1949. 1949 wollten die Bergarbeiter von Limbourg
„die Arbeiter in Baggio“ ihrer Nähe
versichern und stifteten der Kirche eine Kopie der Muttergottesstatue von
Banneux, die noch heute im linken
Kirchenschiff verehrt wird. Das von
den Architekten Figini und Pollini geplante Gebäude ist beeindruckend
harmonisch, aber es gibt keinerlei
überflüssigen Tand. Es wirkt fast
schon derb in seiner Schmucklosigkeit, wenn da nicht dieser plötzliche
Lichteinfall wäre, der den Raum in
ein warmes Gelb taucht: eine quadratische, oben von einem ebenfalls qua-
Die Pfarrkirche „Madonna dei Poveri“ (Unsere Liebe Frau der Armen) in der Nähe
von Baggio, Mailand, entstand in der ersten Hälfte der 1950er Jahre nach dem Plan der
Architekten Luigi Figini und Gino Pollini. Sie war das erste, von Montini geweihte Gotteshaus.
MAILAND. 135 Baustellen für neue Kirchen
dratischen Glasgitter verschlossene
Öffnung ist das einzige schlichte Zugeständnis, das die Architekten machen, um – ebenfalls in aller Schlichtheit – auf die Zentralität des Altars
und des Tabernakels zu verweisen.
Auf diese Lösung hatten die beiden
Architekten bereits bei einer anderen, von ihnen geplanten Kirche
zurückgegriffen: St. Johann und Paul
in Affori. Beeindruckend ist hier vor
allem der Abschluss des Altarraums
mit einer hexagonalen, rosa gestrichenen Wand, fast wie um dezent
hervorzuheben, welch wertvollem
Zweck dieser Ort bestimmt ist.
Schon ein Jahr darauf konnte
Montini jene Kirche weihen, die als
die gewagteste galt und bereits heftige Debatten ausgelöst hatte. In Baranzate, einer stark wachsenden
Siedlung im Norden Mailands, hatten zwei andere bekannte Architekten, Angelo Mangiarotti und Bruno
Morassutti, auf die Erfahrung des
berühmten Strukturingenieurs Aldo
Favini gestützt den Plan für eine
„Glaskirche“ entwor fen. Vier
schlanke Säulen im Innern stützen
ein großes flaches Fertigdach, das so
den Eindruck extremer Leichtigkeit
vermittelt. Die vier Wände bestehen
aus gläser nen Flächen, die mit
weißem Styropor verkleidet sind.
„Ist es denn möglich, dass Euer Bischof eine solche Kirche weiht?“,
sagte Montini 1957 bei der Weihe
der Kirche. „Es ist möglich, weil ich
in dem neuen Bau eine tiefe Symbolik erkennen kann, die uns das Wesentliche des Gotteshauses in Erinnerung ruft, dem Ort, wo sich die
Die Johannes
dem Täufer und dem
hl. Paulus geweihte
Pfarrkirche
in Mailand, die in
der zweiten Hälfte
der 1960er Jahre
entstehen konnte.
Für das Projekt
zeichneten
die Architekten
Luigi Figini und
Gino Pollini
verantwortlich.
Menschen versammeln, um ihren
Geist zu Gott zu erheben; dem Ort,
an dem sie zu Brüdern werden. Diese Kirche aus Glas hat in der Tat ihre
Sprache; eine Sprache, die an die
Apokalypse angelehnt ist, wo geschrieben steht: Vidi civitatem
sanctam descendentem de coelo;
ihre Wände – so heißt es in der Apokalypse – waren aus Kristall“. Aber
Montini ging noch weiter: er erklärte, was ihn dazu bewogen hatte, die
Unserer Lieben Frau vom Erbarmen
geweihte Pfarrei derart avantgardistischen Architekten anzuvertrauen:
„Die Kirche stellt eine Neuheit dar,
und die Neuheit gehört in den Bereich der heiligen Dinge: wenn die
Religion lebendig ist, schließt sie die
Neuheit keineswegs aus, sondern
fordert sie sogar, sucht sie, erforscht
sie so lange, bis sie in der Seele fündig wird. Cantate Domino canticum novum, heißt es in der Schrift.
Und ich bin hier, um alles Neue, was
mir die Kunst zu bieten hat, mit offenen Armen zu empfangen. Ich habe
keinerlei Vorurteil gegen das Neue,
solange es nicht nur eine vorübergehende Laune ist.“
Aber in Montinis „Arbeitsteam“
waren nicht nur rationalistische Architekten vertreten, sondern auch jene, die die Kultur des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hatte und deren Hang zum Monumentalen stark
ausgeprägt war. Montini zuliebe waren sie jedoch bereit, sich der notwendigen Schlichtheit zu beugen. Einer davon war Giovanni Muzio, ein
Architekt, der unter dem Faschismus
seine Blütezeit erlebt hatte und von
1956 bis 1958 mit dem Bau der Kirche „San Giovanni Battista della Creta“ beschäftigt war: einem niedrigen
Gebäude mit einer Fassade aus Backstein und schlichten Zierfriesen.
Eine noch wichtigere Rolle als
Muzio spielte bei Montinis Kirchenbauprojekten jedoch Gio Ponti, ein
international anerkannter Architekt
und Designer, der im Zeitraum von
10 Jahren in Mailand drei Kirchen
baute. Die erste Kirche, St. Lukas,
entstand zwischen 1955 und 1960
im Viertel Lambrate. Eine einfache
Kirche, eingepfercht zwischen hohen neuen Bauten, mit wenig Platz
um sie herum. Das war auch der
Grund, warum Ponti beschloss, sie
ein paar Meter über das Straßenniveau anzuheben. Die von einem breiten Dach bedeckte konkave Fassade
schmückte er mit Granitfliesen, einem billigen Material, dem Ponti
durch ihre Diamantenform einen
„edlen“ Anstrich gab. Wunderschön
und hell ist das Innere der Kirche: die
breite hintere Wand mit ihren blauweiß gemalten Streifen erinnert an
romanische lombardische Stilelemente. Ein paar Jahre später wurde
Ponti mit einem Projekt in seiner ¬
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Zwei Aufnahmen von der Pfarrkirche
Unsere Liebe Frau von der Barmherzigkeit
in Baranzate, Mailand, die auch „Glaskirche“
genannt wird. Sie entstand 1957 nach
dem Plan der Architekten Angelo Mangiarotti
und Bruno Morassutti, sowie des Ingenieurs
Aldo Favini.
Heimatpfarrei, einer zentraleren Zo- Komitee für neue Kirchen ein. Die
ne bei Magenta, beauftragt: „San Leitung übertrug er Enrico Mattei,
Francesco al Fopponino“ war ein der damals mit dem Bau von „San
sehr viel ehrgeizigeres, anspruchsvol- Donato“ beschäftigt war – dem
leres Projekt, besonders was die Hauptsitz des italienischen ÖlkonHöhe des Kirchenschiffs anging. Das zerns ENI vor den Toren Mailands.
Diamantenmotiv ist auch hier vertre- Als Mattei 1962 unter tragischen
ten, auf den kleinen Fliesen ebenso und noch ungeklärten Umständen
wie an den großen Fenstern (von de- starb, übernahm Montini selbst den
nen einige zum Himmel hin offen Vorsitz des Komitees und beauftragte
sind) und am Portal. Stets jedoch im Ignazio Gardella, einen anderen beEinklang mit der franziskanischen deutenden Mailänder Architekten,
Schlichtheit. Montini lag dieses Pro- mit dem Projekt einer Kirche für das
jekt sehr am Herzen. Er kam dreimal „Arbeiterdorf“ San Donato. Dass die
auf die Baustelle, das erste Mal
bei der Grundsteinlegung am 4.
Mai 1961 („Auf dass hier der
wahre Glaube, die Gottesfurcht
und die Bruderliebe herrschen
mögen!“, ließ er auf das Pergament schreiben, das mit dem
Grundstein eingemauert wurde). Gio Ponti zeichnete noch
für eine andere wunderschöne
Kirche verantwortlich: die Kirche im Krankenhaus „San Carlo“, die Santa Maria Annunciata geweiht ist: ein suggestiver
Bau, dessen gekrümmte längliche Form an ein Schiff erinnert.
Kardinal Montini, Erzbischof von Mailand,
In dem Bemühen, Mailand
mit Enrico Mattei, dem Montini die Leitung
mit den nötigen Kirchen auszudes Komitees für neue Kirchen übertragen hat.
statten, richtete Montini das
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Kirche dem heiligen Enrico geweiht
wurde, war ein Ehrerweis Montinis
an Enrico Mattei. Wie für eine „Dorfkirche“ angemessen, plante Gardella
ein extrem schlichtes, langgezogenes
und niedriges Gebäude mit einem tief
überhängenden Dach. Die einzige
Zierde der Betonwände ist eine lineare Zierleiste aus weißem Stein, die
sich über die gesamte Länge der Kirche zieht, innen wie außen. Das Licht
fällt von zwei, im oberen Bereich der
Kirche angebrachten Fenstern in
den Raum und vermittelt den Eindruck von Harmonie, Bewegtheit und Leichtigkeit.
Am 23. Mai 1963 leitete
Montini die Zeremonie der
Grundsteinlegung für eine neue
Kirche: San Gregorio Barbarigo. Es sollte die letzte sein,
denn nur wenige Wochen später, am 21. Juni, wurde er zum
Papst gewählt. Bei diesem Anlass sagte er: „Wir sind heute
zusammengekommen, gerührt
darüber, dass Unserer Stadt das
Glück zuteil wird, in ihrer Mitte,
innerhalb ihrer Stadtmauern,
den Bau eines neuen Gotteshauses zu erleben, die Schaffung einer geistlichen Familie
guten Volkes.“
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