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Reisebericht
Sekundäres zur Winterreise
von
KARIN BERNHARD
Spätestens seit der Erfindung des Personal Computers hat die Publikation gedruckter
Erzeugnisse sintflutartig zugenommen. Es herrscht eine Informationsflut, die zu bewältigen
man kaum noch im Stande ist. Auch die Musikwelt wird mehr und mehr von Texten
überschwemmt, die mit der Musik nur noch bedingt zu tun haben. Eine spezielle Gattung
solcher schriftlichen Erzeugnisse stammt von Musikschaffenden selbst. Es handelt sich dabei
zum einen um Kommentare zu einzelnen Stücken, die zum Ziel haben, deren Verständnis zu
verbessern oder überhaupt zu ermöglichen, zum anderen um Texte, die ästhetische Aspekte
im engeren musikalischen, aber auch im weiteren weltanschaulichen Bereich behandeln. Aus
einiger Distanz betrachtet läßt sich feststellen, daß im Laufe des 20. Jahrhunderts ein nicht zu
übersehendes Rechtfertigungsbedürfnis der Kunstschaffenden entstanden ist, das spätestens in
der Pluralität der Postmoderne zu einem Rechtfertigungszwang anwuchs. Um den daraus
resultierenden veritablen Rechtfertigungsnotstand abzufedern, werden mittels moderner
Collagetechnik bereits existierende ästhetische und philosophische Konzepte zu vermeintlich
Neuem verschmolzen. Die eigene Kreativität rational zu begründen ist die neue Mode; je
wissenschaftlicher der Anstrich, desto besser. Nach Sinn und Zweck solcher sekundären
schriftlichen Erzeugnisse im Musikbereich wird selten gefragt. Der vorliegende Aufsatz
beabsichtigt, anhand eines exemplarischen Falls – der komponierten Interpretation der
Winterreise von Hans Zender1 – Fragen zu stellen, die zu beantworten der gute Ton oftmals
zu verbieten scheint.
„No musicology, no music criticism, can tell us as much as the action of meaning
which is performance. It is when we experience and compare different interpretations, this is
to say performances, of the same ballet, symphony or quartet, that we enter the life of
comprehension.”2 Dieses klare Bekenntnis zur Wichtigkeit der unmittelbaren Rezeption
musikalischer Werke durch George Steiner wurde zwar nicht im Hinblick auf Zenders
komponierte Interpretation der Winterreise verfaßt, fügt sich aber in gewisser Weise nahtlos
1
Hans Zender, Schuberts „Winterreise“. Eine komponierte Interpretation für Tenor und kleines Orchester,
Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1996; Hans Zender, Schuberts Winterreise. Eine komponierte Interpretation,
Hans Peter Blochwitz (Tenor), Ensemble Modern, Hans Zender (Dirigent), BMG Classics 09026 68067 2, 1995
(Aufnahme 1994).
2
George Steiner, Real Presences, London 1989, S. 8.
© 2003 Karin Bernhard
1
in die Reihe enthusiastischer Kommentare zu diesem Werk ein.3 Ähnlich wie Zender ist auch
Steiner der Ansicht, daß der Interpret nebst seiner Rolle als Dechiffrierer und Übersetzer von
vorgegebenen Texten auch ein die Texte Ausführender ist, wobei die Persönlichkeit des
Interpreten mit all seinen Erfahrungen notwendigerweise in eine Interpretation einfließen
muß. „Ingestion“, das Aufnehmen eines Kunstwerkes im Sinne einer Nahrungsaufnahme,
steht im Gegensatz zu „consumption“, dem reinen Konsumieren eines Kunstwerks.4 Infolge
der zunehmenden Schnellebigkeit unserer Zeit und eines Übermaßes an schriftlichen
Erzeugnissen in Form von Rezensionen, Kritiken, Sekundär- und Tertiärliteratur werde die
Rezeption von Kunst immer oberflächlicher und verkomme zum bloßen Konsum. Damit
verliere gerade die Musik die ihr innewohnende Sprengkraft, die sie nur dann entfalten könne,
wenn sie in ihrer ganzen Tiefe gefühlsmäßig durchdrungen werde. Steiner spricht von den
„implosive powers within the echo chambers of the self“, deren Wirkung vom Erreichen einer
„critical mass“ an innerer Auseinandersetzung und Anteilnahme abhängig sei.5
Wie aus diversen Texten von Zender deutlich wird, kann seiner Ansicht nach eine
solche kritische Masse in der routinemäßigen Aufführung von Klassikern oftmals nicht mehr
erreicht werden.6 Hierfür wird aber nicht wie bei Steiner ein durch das Überhandnehmen von
Sekundärerzeugnissen induzierter Mangel an Tiefe verantwortlich gemacht, sondern die
Veränderung des kulturellen und historischen Kontextes, der für heutige Ohren trotz aller
historischen Aufführungspraxis und Stilkunde nicht mehr herstellbar bzw. direkt erlebbar ist.
3
Claudia Bullerjahn, Zur Rezeption von Franz Schuberts Winterreise im 20. Jahrhundert, demonstriert an
Werken von Hans Zender, Reiner Bredemeyer und Friedhelm Döhl, in: Hans-Joachim Erwe / Werner Keil
(Hrsg.), Beiträge zur Musikwissenschaft und Musikpädagogik, Hildesheim 1997, S. 180–212; Wilfried Gruhn,
Auf der Suche nach der verlorenen Wärme? Zu Hans Zenders komponierter Interpretation von Schuberts
„Winterreise“, in: Musica 48 (1994), S. 148–154; ders., Interpretation im Verstehensprozeß, in: Hermann
Danuser / Siegfried Mauser (Hrsg.), Neue Musik und Interpretation, Mainz etc. 1994 (= Veröffentlichungen des
Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 35), S. 67–80; ders., Wider die ästhetische Routine.
Hans Zenders Version von Schuberts „Winterreise“, in: Neue Zeitschrift für Musik 158 (1997), S. 42–47; Peter
Revers, „…Schnee, du weißt von meinem Sehnen“: Aspekte der Schubert-Rezeption in Hans Zenders Winterreise
(1993), in: Otto Kolleritsch (Hrsg.), „Dialekt ohne Erde“ Franz Schubert und das 20. Jahrhundert, Wien und
Graz 1998 (= Studien zur Wertungsforschung 34), S. 98–120; Klaus Hinrich Stahmer, Bearbeitung als
Interpretation. Zur Schubertrezeption Gustav Mahlers, Hans Zenders und Friedhelm Döhls, in: Klaus Hinrich
Stahmer (Hrsg.), Franz Schubert und Gustav Mahler in der Musik der Gegenwart, Mainz etc. 1997 (= Schriften
der Hochschule für Musik Würzburg 5); Zur Menachem, Past and Present in Music: Reflections after Listening
to Hans Zender’s / Schubert „Die Winterreise“, in: Avner Biron, Assaf Zohar, Yinam Leef und Amos Chetz
(Hrsg.), Music in Time, Jerusalem 2000, S. 61–64; James Wishart, Re-composing Schubert, in: Michael Talbot
(Hrsg.), The Musical Work: Realitiy or Invention?, Liverpool 2000, S. 205–230 (über Zenders Winterreise:
S. 219–226).
4
George Steiner, Real Presences, S. 10.
5
George Steiner, Real Presences, S. 10.
6
Hans Zender, Interpretation – Schrift – Komposition, in: ders., Neue Musik und Interpretation, Mainz 1994,
S. 31–42; ders. und Peter Oswald, Die existentielle Wucht des Originals. Hans Zender über seine Winterreise im
Gespräch mit Peter Oswald, in: Österreichische Musikzeitschrift 49 (1994), S. 304–305; Hans Zender, Wir
steigen niemals in denselben Fluß, in: ders., Wir steigen niemals in denselben Fluß. Wie Musikhören sich
wandelt, Freiburg i. Br. 1996, S. 9–19; ders., Schuberts „Winterreise“ – Notizen zu meiner „komponierten
Interpretation“, in: Wir steigen niemals in denselben Fluß, S. 83–87.
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Die zeitliche und damit kulturelle Entfernung sei so groß geworden, daß durch die
Musiksprache des Originals die „existentielle Wucht“7 desselben nicht mehr unmittelbar
wirksam sein kann. Wo Steiner in seinem für Zender „unglückseligen Buch“8 eine intensivere
Auseinandersetzung mit der Musik selbst empfiehlt, verschreibt Zender, der dies für
unwirksam hält, dem Hörer eine dem heutigen Material- und Interpretationsstand angepaßte
Interpretation. Auch hier stellt sich sogleich wieder die von Steiner aufgeworfene Frage,
inwieweit eine solche aktualisierte Interpretation aus sich selbst heraus reden kann und
inwieweit sie sekundärer Texte bedarf, um adäquat rezipiert zu werden. Ausgehend von der
durch Zender unterstellten Abnutzung der Schubertschen Tonsprache soll in der Folge das
Verhältnis
von
Zenders
aktualisierender
Interpretation
und
der
ihr
gewidmeten
Sekundärliteratur betrachtet werden.
Zenders komponierte Interpretation der Schubertschen Winterreise wird in der
Literatur ausnahmslos sehr positiv abgehandelt. Insbesondere wird die von Zender
vorgenommene Aktualisierung der Tonsprache, die „die existentielle Wucht des Originals“9
wiederherzustellen versucht, als durchweg gelungen angesehen.10 Es handelt sich hier also um
eine unkonventionelle Interpretation eines Klassikers, von der man annimmt, sie vermöge das
aufrüttelnde Potential der ursprünglichen Musik zu vermitteln – in einer Unmittelbarkeit der
Wirkung, wie sie etwa in Steiners Ansatz in der Tat nur der musikalischen Aufführung selbst
zugetraut wird. Gleichzeitig liegt hier aber auch der Fall einer modernen Musik vor, über die
sowohl vom komponierenden Interpreten wie auch von anderen Sachverständigen einiges
geschrieben wurde. Steiner zufolge kann aber die unmittelbare Wirkung der Musik viel mehr
aussagen als alle Sekundärliteratur. Bedürfen wir also, um diese neue Interpretation der
Winterreise zu verstehen, überhaupt der Vermittlung mittels erklärender Texte des
Komponisten? Und von welchem Punkt an ist die Bereitstellung von Kommentaren durch den
Komponisten selbst ein nicht nur entbehrlicher, sondern vielleicht sogar störender Akt der
planvollen Rezeptionslenkung?
7
Zender, Notizen zur Winterreise (wie Anm. 6), S. 87.
Zender, Interpretation – Text – Komposition (wie Anm. 6), S. 42.
9
Zender, Notizen zur Winterreise (wie Anm. 6), S. 87.
10
Einzig Klaus Hinrich Stahmer wagt es, einige kritische Bemerkungen zur komponierten Interpretation
anzuführen. So wird etwa gefragt „ob nicht Zender in der Direktheit der Aussage zuweilen die Grenzen des
guten Geschmacks überschreitet“, (Stahmer, Bearbeitung als Interpretation [wie Anm. 3], S. 52) etwa mit der
onomatopoetischen Umsetzung der knurrenden Hunde in Nr. 17 „Im Dorfe“ (vgl. Zender, Komponierte
Interpretation [wie Anm. 1], S. 134 ff). Die bei Zender „quasi-sinfonische Ausarbeitung“ der Nr. 24 „Der
Leiermann“, welche zu einer vollständigen Auflösung des Tonsatzes führe, läuft gemäß Stahmer dem durch
seine Skizzenhaftigkeit offen gehaltenen Satz im Schubertschen Original insofern zuwider, als sie „das
Schlußlied im Sinn des Abschieds aus Das Lied von der Erde [Mahler] ausformuliert“ (Stahmer, Bearbeitung als
Interpretation [wie Anm. 3], S. 55).
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3
Zender versteht es, wie viele andere auch, als Notwendigkeit, ein theoretisches
Gebäude zu errichten, welches die Motive seines Schaffens, sei es als Komponist, als
Interpret oder als Dirigent, darlegt und beleuchtet. In seinem Text Interpretation – Text –
Komposition entwirft er ein Konzept, das die eigentlichen Beweggründe für sein
musikalisches Handeln verdeutlicht. Frei nach dem bei Heraklit entlehnten Motto „Wir
steigen niemals in denselben Fluß“11 bzw. „Den in dieselben Flüsse Steigenden fließen andere
und immer andere Wasser zu“,12 collagiert Zender prominente philosophische, literatur- und
musiktheoretische Denkansätze zu etwas vorgeblich Neuem.
rein darstellend
mimesis=imitatio
mimikry, blinde
Nachahmung
aktiv
schöpferisch
Komponist
schöpferisch
Text
Interpret
mitschöpferisch
mimesis=
productio
passiv
rezipierend
Klingende
Darstellung
Hörer
handelnd
Beispiel 1: Traditionelles Kommunikationsschema (oben) und seine Umdeutung durch Zender (unten)
Ausgehend von dem traditionellen dreiteiligen Kommunikationsschema, wie es in Beispiel 1
(obere Zeile) dargestellt ist, versucht Zender die Aufgaben von Komponist, Interpret und
Hörer neu zu deuten (untere Zeile). Mittels eines Streifzuges durch die Sekundärliteratur
erlöst er den Interpreten von seiner rein vermittelnden, den Hörer von seiner passiv
rezipierenden Rolle. Der Interpret hat zumindest mitschöpferisch Anteil an der Entstehung
eines Werkes, der Hörer integriert das Gehörte in sein Handeln. An die Stelle der klassischen
dreiteiligen Ordnung tritt eine zweiteilige, in deren Zentrum das handelnde Subjekt steht,
welches in einem fortwährenden Sich-in-Beziehung-Setzen die schaffende und die
rezipierende Seite in sich vereint. Versucht man diese neue Auffassung in einer Skizze
festzuhalten (vgl. Beispiel 2) wird die Nähe zur taoistischen Ordnung unverkennbar. Das
handelnde Subjekt würde dem Tao entsprechen, das für den ständigen Wandel aller Dinge
verantwortlich ist, das die dualistische Natur aller Dinge in einer Balance hält und so Einheit
11
12
Nach Heraklit, zit. nach Hans Zender, Wir steigen niemals in denselben Fluß (wie Anm. 6), S. 9 und 12.
Zender, Wir steigen niemals in denselben Fluß (wie Anm. 6), S. 19.
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schafft.13 Nicht umsonst verweist Zender ganz am Ende seines Textes auf die alte asiatische
Kultur.
schafft
handelndes
Subjekt
rezipiert
Beispiel 2: Definition des „Autor-Seins“ (nach Zender) als fortwährendes „Sich-in-Beziehung-Setzen“
Im Grunde sind die beiden Ordnungen nicht wesentlich verschieden. Die klassische
Darstellung verdeutlicht eher die einzelnen Stationen, die ein Werk in seiner Genese
durchläuft, während die zweite Darstellung das optimale Verhalten des Einzelnen darstellt,
der in ausgewogener Abwechslung verschiedene Rollen einnimmt, die sich gegenseitig
beeinflussen. Wie Autor, Interpret und Hörer sich verhalten, ist eine qualitative
Angelegenheit, die in Zenders Augen üblicherweise in einer unerträglichen Polarisierung von
„aktiv“ und „passiv“ erstarrt ist, wobei der Interpret mechanisch imitiert. Diese klassische
Rollenverteilung, die erst durch das Artefakt der Schriftlichkeit (also etwa seit Guido von
Arezzo) überhaupt entstehen kann, wird aufgeweicht, sobald die schöpferische Tätigkeit nicht
mehr nur auf den Komponisten beschränkt wird. Während in der mündlichen Überlieferung
eine Einheit zwischen der Gestalt und dem Sinn der Gestalt bestand, entsteht durch den
Versuch der Notation eine Kluft zwischen Werk und Text. Es wird eine Dualität geschaffen,
in der die Gestalt und deren Sinn nicht mehr identisch sind. Die räumlichen Vorgänge des
Textes, die dem sehenden Bewußtsein zugeordnet werden und eine Linearität aufweisen,
widersprechen den zeitlichen Parametern der Musik, deren Verständnis eines hörenden
Bewußtseins bedarf, das sich durch Nicht-Linearität auszeichnet.
Diese Nicht-Linearität des hörenden Bewußtseins muß wohl als die Fähigkeit
verstanden werden, Musik nicht nur als streng dem zeitlich Sukzessiven folgendes Ereignis
wahrzunehmen, sondern analog zur Sprache als Träger eines nicht von der Zeit abhängigen
Inhalts. Nichtsdestotrotz wird die Musik in Analogie zu Lessings Auffassung der Poesie vor
allem als Handlungsfolge erkannt, die dem Text als totes Zeichensystem entgegensteht. Wird
ein Text interpretiert, also wiederbelebt, müssen damit notwendigerweise Differenzen
13
Vergleiche hierzu etwa Laotse, Tao Te King, hrsg. von Hans-Georg Möller nach den Seidentexten von
Mawangdui, Frankfurt a. M. 1995.
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entstehen, so daß eigentlich bei jeder Darstellung des Intendierten, das Zender auch als
Realisierung der Wahrheit bezeichnet, ein neuer Text entsteht. Der Akt des Interpretierens
avanciert von der uninspirierten Imitatio zum wahren schöpferischen Prozeß der Mimesis. Zur
Verdeutlichung zitiert Zender Adorno und Derrida. Die Idee eines sakrosankten Textes wird
zugunsten einer offenen Intertextualität aufgegeben; jede kreative Beschäftigung mit einem
Text läßt notgedrungen einen neuen Text entstehen. Die blinde Nachahmung hingegen führt
zum Verlust der Aussagekraft eines Textes, der auf diese Weise nicht aktualisiert wird. Ziel
einer Interpretation muß es aber nach Zender sein, den Text zu aktualisieren und somit
produktiv in ihn einzugreifen. Paradoxerweise leistet ungewollt gerade die historische
Aufführungspraxis, die durch den Versuch der Wiederherstellung des Urtextes und der alten
Spielweisen auf nachgebauten Instrumenten die Musik peinlich genau zu rekonstruieren
versucht, dem stilistischen Pluralismus Vorschub, indem neben einem willkommenen
Verfremdungseffekt auch ein Nebeneinander diverser gut begründeter Interpretationsstile
entsteht – in striktem Gegensatz zu der lange Zeit üblichen Standardisierung der Interpretation
klassischer Werke. Die Interpretationskultur verliefe sich in eine Sackgasse, wenn nicht die
positiven
Konsequenzen
aus
solchem
stilistischen
Pluralismus
gezogen
würden.
Zukunftsweisende Ansätze findet Zender in der von Bernd Alois Zimmermann praktizierten
ausgefeilten Collagetechnik oder in der Ausbildung einer eigenen Tonsprache unter
Zuhilfenahme verschiedenster bereits existierender Elemente durch Olivier Messiaen. Es ist
die Neuformulierung, die Neudeutung des bereits Vorhandenen, die Umschaffung von alter in
neue Gestalt, die, so Zender, als Zentrum des schöpferischen Prozesses erkannt werden muß.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß für Zender der Text der Versuch zur
Fixierung eines Werkes ist, welches allein durch den Faktor Zeit zu etwas grundlegend
Instabilem wird. Die egozentrierte Vorstellung eines schaffenden Autors, dessen Originalität
sich als sein geistiges Eigentum in patentierbaren Erfindungen niederschlägt, wird
aufgegeben. An die Stelle des klassischen Autors tritt das komponierende Subjekt. Dieses
komponierende Subjekt mit all seinen höchst individuellen Eigenschaften wird als
Handlungsinstanz begriffen, die sowohl auf interpretatorischer wie auf auktorialer Ebene,
denn das ist im Grunde ein- und dasselbe, mit Neudeutung beschäftigt ist, mit „Umschaffung
alter Gestalt durch die Versetzung in neuen Kontext“.14 Hieraus ergibt sich das in Beispiel 2
skizzierte Schema, in welchem die Bewegung zwischen zwei Polen zum Zentrum der
Betrachtung wird. Das, was diese Bewegung erzeugt, untersteht nicht dem bewußten Willen,
ist nicht steuerbar, auch nicht beschreibbar – ist, wenn man will, der „schöpferische Funke“;
14
Zender, Interpretation – Text – Komposition (wie Anm. 6), S. 38.
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für das handelnde Subjekt ist es im Moment des Erlebens mehr eine Art Seins–Zustand, die es
dann als Erfahrung festhalten will. Dazu wählt es eine Formulierung. Im Moment der
konkreten Formulierung wird das Individuum aktiv und wählt bewußt eine Form der
(schriftlichen) Aufzeichnung. Dies bezeichnet Zender bereits als Interpretation. Was das
Werk letztlich ausmacht, ist also noch nicht an eine materiale Erscheinungsform gebunden.
Die Individualität des handelnden Subjekts, die sich in der Materialwahl niederschlägt, steht
überindividuellen Kräften gegenüber, die vom Autor gleichsam punktuell in einer Form
eingefangen werden.15 Diese Formgebung ist bereits Interpretation, so daß das Darstellen
eines Textes durch einen Interpreten bereits zur Interpretation zweiter Ordnung wird. Der
Interpret ist also nicht nur auf den Akt der Hervorbringung konzentriert, er hat vielmehr auch
die Aufgabe, sich anhand eines bereits bestehenden Textes in einen bereits bestehenden
geistigen Raum einzufühlen und die dort ausgedrückte Botschaft zu aktualisieren. Um einen
anderen Begriff verlegen, spricht Zender vorsichtig von Wahrheit. Die Aufgabe des
Interpreten besteht also gleichsam darin, der Wahrheit – dem unveränderlichen Faktor – ein
neues, aktuelleres Kleid zu verleihen – das rasch veraltende Material muß immerfort angepaßt
werden. Nicht nur die Vorstellung, daß „jede Notation […] schon Transkription eines
abstrakten Einfalls“16 ist, sondern auch die Idee, daß ein musikalisches Kunstwerk in der Zeit
unveränderliche Faktoren einfängt, die an alterndes oder vergängliches Material gebunden
werden, ist im Prinzip nicht neu. Der von Zender in einer Fußnote erwähnte Ferruccio Busoni
beispielsweise konstatiert dies gleich zu Beginn seines Entwurfs einer neuen Ästhetik der
Tonkunst.17
In der Zeit unveränderliche Faktoren
bewahren vor dem Veralten:
Rasch alternde, vergängliche Faktoren,
die der ständigen Erneuerung bedürfen:
•
•
•
•
•
•
Geist eines Kunstwerks
Maß der Empfindung
Das Menschliche, das in ihm ist
Form, die diese drei Faktoren aufnimmt
Mittel, die sie ausdrücken
Geschmack der Entstehungs-Epoche
Beispiel 3: Unveränderliche und veränderliche Aspekte eines Kunstwerkes nach Ferruccio Busoni
15
Der Autor wird laut Zender „zum Sprachrohr überindividueller Kräfte“ (Zender, Interpretation – Text –
Komposition [wie Anm. 6], S. 39). Die Tradition, in der Zender steht, wird umso deutlicher, wenn wir
berücksichtigen, daß Arnold Schönberg Ferruccio Busonis Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (siehe
unten, Anm. 16) intensiv gelesen und mit zahlreichen Bemerkungen versehen hat.
16
Ferruccio Busoni, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, hrsg. von Hans Heinrich Stuckenschmidt, mit
Anmerkungen von Arnold Schönberg, Frankfurt a. M. 1974, S. 29.
17
Vgl. Busoni, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (wie Anm. 16), S. 8.
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7
Man könnte demnach für das Beständige – die Wahrheit – eine Identität von Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft annehmen, wie sie bereits von Bernd Alois Zimmermann in
Anlehnung an Augustinus veranschlagt wurde.18
Der Autor schafft. Der Interpret schafft und aktualisiert. Der Prozeß ist in beiden
Fällen eine schöpferische Neudeutung und insofern identisch. Der Text, der für die
Individualität des handelnden Subjekts steht, evoziert so einen Vorgang endloser
Differenzbildung, durch den sich Wahrheit mitteilt. Genau wie auf musikalischer Ebene
versucht Zender offensichtlich auch auf der sekundären verbalen Ebene eine Aktualisierung
bereits existierender Konstrukte vorzunehmen – dies unter Zuhilfenahme bereits existierender
Konzepte, die sehr fragmentarisch zitiert und zu einer Collage zusammengefügt werden.
Wo liegt nun aber der Unterschied zwischen einer wirklichen Aktualisierung des bereits
Ausgedrückten und einer rein mechanischen Reproduktion? Wann geht bei einer solchen
Aktualisierung der Hauptgegenstand verloren? Wie weit darf eine Interpretation in die
Substanz eingreifen? In Zenders Überlegungen gelingt die Synthese eines neuen Konzeptes
deshalb nicht, weil es sich selbst nicht zu reflektieren vermag. Die Idee eines handelnden
Subjektes, das sich zwischen zwei Polen bewegt, unterscheidet sich, wie oben gezeigt, nicht
wesentlich von der klassischen Ordnung von Autor, Interpret und Rezipient. Während sich die
Neuordnung auf das schaffende und rezipierende – das handelnde – Individuum konzentriert
(von dem sie sich eigentlich distanziert), beschreibt die klassische Ordnung einzelne Stationen
eines Werkes in seiner möglicherweise nie endenden Genese. Das eine ist vom anderen nicht
trennbar; es handelt sich also lediglich um einen Perspektivenwechsel. Die Bewegung wird
mittels des taoistischen Prinzips der ständigen Verkehrung zweier entgegengesetzter Pole
beschrieben. Zender erwähnt allerdings nicht, daß genau dieses Konzept auch auf einer
höheren Ebene der Betrachtung zur Anwendung gelangen müßte. Das Festhalten des
Konzertbetriebes, des konservativen Konzertpublikums am Konventionellen einerseits und
die Versuche, dem etwas entgegenzusetzen, andererseits – ob man von der Erneuerung des
Materialstandes oder der Wiederherstellung der Sprengkraft des Originals reden will, spielt
keine Rolle – sind wiederum zwei solche Pole, zwischen denen es eine ständige Bewegung
gibt. Außer Acht gelassen wird von Zender zudem in Bezug auf das eigene Werk – die
komponierte Interpretation der Schubertschen Winterreise –, daß zur Erfassung der
vermeintlichen Wahrheit, die mittels der Aktualisierung des Materials wieder besser zum
18
Vgl. Bernd Alois Zimmermann, Über die Beharrlichkeit der Mißverständnisse (1956), in: Bernd Alois
Zimmermann, Intervall und Zeit. Aufsätze und Schriften zum Werk, hrsg. von Christof Bitter, Mainz 1974, S. 17–
19; Aurelius Augustinus, Bekenntnisse, hrsg. von Kurt Flasch und Burkard Mojsisch, Stuttgart 1989, bes. Elftes
Buch, S. 303–332.
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Ausdruck gebracht werden soll, ein Eindringen in die Sprache des Originals nötig ist, auf
welches qualitativ wohl am ehesten noch Steiners Forderung nach einer zum Verständnis
unerläßlichen „critical mass“ an Auseinandersetzung zutreffen kann.
Die für die Collage verwendeten Theoriefragmente werden aneinandergereiht, wobei
das vorhergehende jeweils das Stichwort für das darauf folgende gibt, ohne daß die
Verschmelzung zu etwas Neuem gelingt. Der ambitionierte Text erregt letztlich den Verdacht,
lediglich eine Rechtfertigung der eigenen Vorgehensweise – des gewagten Zugriffs auf ein
musikalisches Meisterwerk – zu sein – dies nicht zuletzt deshalb, weil die komponierte
Interpretation der Winterreise auch als Beispiel aus dem Fundus eigener Werke eingebracht
wird.19
Die Tertiärliteratur versucht nun unter Zuhilfenahme der Texte Zenders die
komponierte Interpretation der Winterreise zu rezipieren und wiederum zu interpretieren.
Ausnahmslos alle Texte20 stützen sich auf die von Zender entworfenen Theoriekonzepte: Die
komponierte Interpretation erscheint als deren logische Konsequenz. Die durchgehend
positive Rezeption unter strenger Berücksichtigung der Zenderschen Texte entpuppt sich so
als Zirkelschluß. Müßte eine „Offenheit des Hörens“21 nicht generell auch für die Rezeption
eines Werkes in Bezug auf die dazu entstandene Sekundärliteratur gelten? Was aber würde
dabei herauskommen, träte man dieser komponierten Interpretation ohne entsprechendes
Vorwissen entgegen? Was würde passieren, würde man mit diesem Werk (und ein solches ist
es spätestens mit der Veröffentlichung der Partitur geworden) konfrontiert, ohne das Original
zu kennen? Wäre da genug Sprengkraft, genügend Transparenz, die das Werk sich aus sich
selbst heraus erklären ließe? Ist es denn nun ein eigenständiges Werk oder steht es soweit in
Abhängigkeit vom Original, daß es per se nicht die intendierte Botschaft mitteilen kann?
Könnte es sein, daß die „Wucht des Originals“ sogar abschwächt wird? Oder würde einem
gleichsam eine mögliche – stark interpretierende – Rezeption eines Individuums aufgedrängt,
das durch eine bestimmte Hör- und Rezeptionsgeschichte geprägt ist? Muß die komponierte
Interpretation tatsächlich als Aktualisierung verstanden werden? Könnte sie nicht auch anders
interpretiert werden? Haben die grotesken Elemente nicht auch etwas Humoristisches?
Verweist nicht die schlagerhafte Verstärkung der Singstimme in Nr. 13 „Die Post“22 auf das
Dreimäderlhaus und die überaus hohe Popularität der Schubertschen Musik schlechthin? Ist es
19
Vgl. Zender, Interpretation – Text – Komposition (wie Anm. 6), S. 41.
Vgl. oben, Anm. 3.
21
Hans Zender, Über das Hören, in: Happy New Ears, Freiburg i. Br. 1991, S. 15 (zit. nach Stahmer,
Bearbeitung als Interpretation [wie Anm. 3], S. 45).
22
Vgl. Zender, Komponierte Interpretation (wie Anm. 1), S. 106 ff.
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überhaupt erlaubt, so weit in die komponierte Interpretation hineinzuhören, die doch nur die
„existentielle Wucht des Originals“ wiederherzustellen intendiert?
Zusammenfassend kann wohl festgehalten werden, daß die komponierte Interpretation
der Schubertschen Winterreise durch Zender ein gelungener Versuch ist, die individuelle
Rezeption des Originals durch den komponierenden Interpreten wiederzugeben. Ob freilich
dieser neue Text für sich in Anspruch nehmen darf, die „existentielle Wucht des Originals“
wiederhergestellt zu haben, steht dahin – allein schon deshalb, weil es unklar bleiben dürfte,
welche Aussage der komponierten Interpretation als eigenständiges Werk zugesprochen
werden kann. Zender ist beizupflichten, wenn er schreibt: „In einer offenen, pluralistischen
und multikulturellen Gesellschaft muß das Kunstwerk seine Bezugspunkte selbst erst
definieren, um sich verständlich machen zu können; es gibt keine vorgegebenen Strukturen
mehr, die ihm dabei helfen. Nichts ist mehr selbstverständlich: weder Tonsystem noch Form,
weder Komplexitätsgrad noch der Bezug zu bestimmten Gruppen oder zu kulturellen
Traditionsfeldern der Gesellschaft.“23
Hervorzuheben ist hierbei, daß das Kunstwerk die notwendigen Bezugspunkte
schaffen soll, sich also gleichsam von innen heraus selbst definieren muß. Die gesamte
sekundäre Erklärungsebene, derer sich viele Komponisten bedienen, ja wohl bedienen
müssen, um überhaupt rezipiert werden zu können, erscheint vor diesem Hintergrund
fragwürdig. Es kann durchaus als Gütesiegel einer Komposition verstanden werden, ob die
notwendigen Bezugspunkte wahrnehmbar werden und sich das Werk aus sich heraus erklären
kann. Im vorliegenden Fall darf wohl angenommen werden, daß die komponierte
Interpretation der Winterreise dieser Anforderung gerecht zu werden vermag, allerdings nur,
sofern das Original bekannt ist, da die Interpretation in strenger Abhängigkeit von diesem
steht. Die Integration und Reflexion der seit ihrer Entstehung vergangenen Zeit in die
Komposition ist wahrnehmbar und geradezu offensichtlich; mitgeteilt wird allerdings vor
allem die Art und Weise, in der der – hier komponierende – Interpret die originale Winterreise
und ihre Geschichte rezipiert hat. Daß durch Sekundärtexte die Ernsthaftigkeit und Intention
des Verfahrens dargelegt werden muß, greift bereits empfindlich in die Freiheit des Hörers
ein, könnte aber prinzipiell auch als Bestandteil der Interpretation an sich gewertet werden,
weil diese ohnehin nur eine mögliche Rezeption im 20. Jahrhundert darzustellen vermag. Mit
diesen Einschränkungen – und unabhängig von den rezeptionslenkenden Begleittexten des
Komponisten oder sogar gegen sie – kann Zenders komponierte Interpretation der Winterreise
durchaus als gelungen gelten.
23
Zender, Wir steigen niemals in denselben Fluß (wie Anm. 6), S. 17.
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Anschrift der Autorin: Froschaugasse 20, CH-8001 Zürich
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