XWiener Porträts: Leon Epp 1955. Der Direktor des Wiener Volkstheaters der Jahre 1952–68 durchbrach den Brecht-Boykott mit der Premiere von „Mutter Courage und ihre Kinder“ am 23. Februar 1963, in der Regie von Gustav Manker und mit Dorothea Neff in der Hauptrolle. Unter Epp wurde Wedekind für die deutschsprachigen Bühnen wiederentdeckt, er pflegte die österreichische Moderne (u. a. Uraufführung von Helmut Qualtingers „Die Hinrichtung“, 1965) ebenso wie das österreichische Volksstück oder die moderne internationale Gegenwartsdramatik. Für europaweite Furore sorgten die Inszenierungen von Jean Genets „Der Balkon“ (1961) und „Die Wände“ (1963), jeweils in den Ausstattungen von Hubert Aratym. Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung, Fotoarchiv Arbeiter-Zeitung P1/1765 RWiener Porträts: Hans Weigel, anfangs der sechziger Jahre, in der typischen Pose des Kaffeehausliteraten. Aus dem Schweizer Exil zurückgekehrt, entwickelte sich der in der sprach­ skeptischen Tradition der klassischen Wiener Moderne stehende Weigel ab 1946 zum unbestritten bedeutendsten Theaterkritiker des Landes. In der von ihm 1951–54 herausgegebenen Anthologienreihe „Stimmen der Gegenwart“ förderte er vor allem junge Autoren; nicht zuletzt gilt er als Entdecker von Ingeborg Bachmann. Zusammen mit Torberg betrieb er maßgeblich den höchst umstrittenen, sogenannten „Brecht-Boykott“, mit Torberg teilte er die Leidenschaft für den Fußball, im Besonderen für die Wiener Austria. Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung, Fotoarchiv Arbeiter-Zeitung P1/392 169 RWiener Porträts: „Bei mia woa imma a ein bisserl das Herz dabei“, „I woa a Opfer“ und „Orgien im Gemeindebau“: Mit der Figur des Herrn Karl in der kongenialen Fernsehregie Erich Neubergs gelang Helmut Qualtinger eine beispiellos präzise und schonungslose Bestandsaufnahme der „österreichischen Seele“. Der (gemeinsam mit Carl Merz verfasste) Monolog eines sechzigjährigen Lagerhilfsarbeiters zählt zu den großen Texten der österreichischen Nachkriegsliteratur und seziert wie kein zweiter die Abgründe eines spezifisch österreichisch/wienerischen Menschen in all seiner opportunistischen Selbstzufriedenheit, faschistoiden Borniertheit und selbstgenügsamen Verschlagenheit. Einen Tag nach der Fernseherstausstrahlung am 15. November 1961 feierte das Stück seine Premiere im Theater in der Josefstadt, Qualtinger stand 168-mal als Herr Karl auf der Bühne. Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung, Fotoarchiv Arbeiter-Zeitung P1/1723 RWiener Porträts: Gerhard Bronner, 1965. Der 1922 als Sohn einer proletarischjüdischen Favoritener Familie geborene, unter dramatischen Umständen nach Palästina emigrierte und 1948 zurückgekehrte Musiker und Kabarettist war anfangs der fünfziger Jahre zu dem Kreis um Michael Kehlmann, Carl Merz und Helmut Qualtinger gestoßen und hat die Songs zu so legendären Kabarettprogrammen wie „Brettl vor’m Kopf“, „Blattl vor’m Mund“, „Spiegel vor’m Gsicht“ beigetragen. Viele davon, wie das die zeitgenössische Politkorruption persiflierende „Der Papa wird’s schon richten“ oder der beinahe dadaistisch anmutende Wortspiele verwendende „Bundesbahnblues“, haben zeitlosen Klassiker- und Kultstatus erlangt. Mit „Der g’schupfte Ferdl“ (1952) und „Der Halbwilde“ (1956) erwies sich Bronner als ebenso sensibler wie zynisch-prägnanter Analytiker vorstädtischer Jugendmilieus. Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung, Fotoarchiv Arbeiter-Zeitung P1/1613 170 171 KULTUR OWiener Institutionen: Mit der Vereinigung der Wiener Philharmoniker, schrieb das Neue OWiener Porträts: Happening mit Günter Brus am 8. Juli 1965. Der durch seine geopoliti- sche Marginalisierung bedingte Bedeutungsverlust Wiens in der Nachkriegszeit hatte sich lange Zeit als ein spürbares Manko an liberaler Urbanität und kosmopolitischem Habitus bemerkbar gemacht. Kulturell dominant wurde vielmehr eine aus dem Trauma von Krieg, Zerstörung und Nationalsozialismus hervorgehende, restaurative Ästhetik des Guten und des Soliden. Momente der intellektuellen und künstlerischen Öffnung (Wiener Gruppe um H. C. Artmann, Ossi Wiener und Gerhard Rühm) blieben zunächst marginal und in ihrer Wirkung beschränkt. Erst die bewusst gesetzten und weithin auf entrüstete Ablehnung treffenden Provokationen des Wiener Aktionismus um Brus, Otto Muehl, Hermann Nitsch und Rudolf Schwarzkogler vermochten ab Mitte der sechziger Jahre ansatzweise eine avantgardistisch inspirierte Wiedergewinnung der Moderne einzuleiten. Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung, Fotoarchiv Arbeiter-Zeitung E10/535 172 Österreich anlässlich des ersten „Nachkriegskonzerts“ vom 27. April 1945, sei der Stadt, dem Land eines der berühmtesten Orchester der Welt geschenkt, eine fanatische Musikergemeinschaft als „Treuhänderin des Wahren und Schönen“. Mehr als alles andere hat zur globalen Verbreitung des von dieser Ikone der bürgerlichen Hochkultur entwickelten „Wiener Klangs“, zu dessen publicity- und tantiementrächtiger Verwertung das seit 1959 alljährlich vom Österreichischen Fernsehen live und sukzessive weltweit übertragene Neujahrskonzert beigetragen. Es begründete die philharmonische Strauß-Tradition und wurde erstmals 1939 unter Clemens Krauss abgehalten, in jenem Jahr, da der Strauß-Spezialist Willi Boskovsky zum Konzertmeister des Orchesters avancierte. Krauss war als politisch belastet noch 1945 mit einem zweijährigen Berufsverbot belegt worden. Boskovsky (hier in einer Abbildung vom 1. Jänner 1962) folgte 1955 auf Krauss und blieb, als eine Art Strauß’sche Inkarnation, bis 1979 Dirigent des Neujahrskonzertes. Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung, Fotoarchiv Arbeiter-Zeitung E25/730 173 KULTUR XWiener Institutionen: die Wiener Eisrevue, „Ope- rette auf dem Eis“. Aus der in der Kriegszeit aufgebauten Revue Karl Schäfers – die u. a. einen wesentlichen Teil des erfolgreichsten deutschsprachigen Schwarzweißfilms aller Zeiten, Géza von Cziffras „Der weiße Traum“ aus dem Jahr 1943, bestritten hatte – hervorgegangen, nahm die Wiener Eisrevue ihren Betrieb unter unsagbaren materiellen Bedingungen noch 1945 auf dem Platz des Eislaufvereins auf. Ab Februar 1946 wurden Auslandstourneen unternommen, Mitte der fünfziger Jahre, am ersten Höhepunkt des Kalten Krieges, gastierte die Revue unter dem Namen „Wiener Eisballett“ in Moskau und Leningrad, wo sie geradezu kultische Verehrung genoss. Sehr bald hatten die Wiener ihren spezifischen Stil entwickelt: Die einzelnen Bilder und Szenen waren durch einen losen Handlungsfaden verknüpft und wurden vor allem durch die live interpretierte Originalmusik von Robert Stolz zu „Eisoperetten“ verdichtet, deren Stars Österreichs zahlreiche Europa- und Weltmeisterinnen und -meister stellten. Im Bild ein Szenenausschnitt aus der Revue „Illusionen“ des Jahres 1960. Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung, Fotoarchiv Arbeiter-Zeitung E25/715 174 11 3 U Popularkulturen: Im Jänner 1956 feierte der King of Jazz, Louis KULTUR Armstrong, mit seinen All Stars und der Bluessängerin Velma Middleton einen triumphalen Erfolg im Wiener Konzerthaus. Der Nationalsozialismus hatte den Jazz als „rassisch minderwertig“ und „Negermusik“ geächtet, und auch der dominante Kulturkonservativismus nach 1945 machte sein antiamerikanisches Sentiment zu nicht geringen Teilen an der rhythmusbetonten, emotionsgeladenen Vitalität der „schwarzen“ Musiktradition fest. Unter diesem Vorzeichen kam der enthusiastischen Aufnahme Satchmos ein hoher symbolischer Stellenwert zu. Das Konzerthaus, so die Tagespresse in ihren Kritiken, sei für diesen Abend in New Orleans gelegen. Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung, Fotoarchiv Arbeiter-Zeitung E25/111 OWiener Institutionen: John F. Kennedy besucht im Rahmen des Wiener Gipfeltreffens mit Nikita Chruschtschow vom 3. und 4. Juni 1961 die Wiener Sängerknaben. 1924 war das in der feudalen Tradition der Hofsängerknaben stehende Institut als Wiener Sängerknaben neu gegründet und kontinuierlich zu einem professionellen Musikbetrieb ausgebaut worden. Die vier Chöre erwiesen sich mit der Vielzahl ihrer internationalen Konzerte, Welttourneen, Film- und Plattenaufnahmen als ein wichtiges und repräsentatives Instrument zur Befestigung des Rufes Wiens als einer Welthauptstadt der Musik. Seit 1948 sind Internat und Übungsstätte der Wiener Sängerknaben im Palais im Augarten (Wien 2) untergebracht. Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung, Fotoarchiv Arbeiter-Zeitung P1/957 176 177 3 U Popularkulturen: Eine neue, konsum- und kapitalismuskritische Jugendbewegung kündigt sich an. Sie findet ihren kulturellen Ausdruck wie ihre politische Identität nicht zuletzt in einer neuen, aus den Vorbildern des US-amerikanischen Rhythm & Blues entwickelten Rockmusik. Ikonen der neuen Rockkultur kommen aus dem englischen Mittelstand und bündeln Lebensgefühl und rebellisches Potenzial der Jugend in einer Musik von eigentümlicher Anziehungskraft und Intensität: Blick in das Publikum des Rolling-Stones-Konzerts in der Wiener Stadthalle im September 1965. Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung, Fotoarchiv Arbeiter-Zeitung E7/429 OPopularkulturen: Spezifische Formen des Anti-Amerikanismus fanden ihren Ausdruck nicht zuletzt in den omnipräsenten Klagen über den Konsumerismus und Nihilismus der Nachkriegsjugend. Subversion, Renitenz und die radikale Umdeutung traditioneller Werte kristallisierten sich, so die zeitgenössische, aus dem Faschismus klandestin weiterwirkende Deutung, nicht zuletzt um die Begeisterung für den Jazz. „Afrikas Rache komplett“, titelte die Wiener Bilderwoche 1955 anlässlich des Auftritts des Kings of Swing, Lionel Hampton. Beim Welthit „Hey! Ba Ba Re Bop“ seien sämtliche Hemmungen gefallen. Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung, Fotoarchiv Arbeiter-Zeitung E10/710 178 179