Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie / Carl von Linde-Akademie Risiken,, Krisen,, Katastrophen p Wie lassen sich Extremereignisse beherrschen? Einführung ü u g Prof. Dr. Klaus Mainzer Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie Carl von Linde-Akademie T h i h U Technische Universität i ität Mü München h Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie / Carl von Linde-Akademie Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie / Carl von Linde-Akademie Zufall und das Gesetz der großen Zahl In der Ars conjectandi (1712) untersucht J. Bernoulli Z f ll Zufallsprozesse ( B ffairer (z.B. i Münzwurf), bei denen einzelne Ereignisse (z.B. Würfel) unabhängig, also mit konstanter Wahrscheinlichkeit (z.B. ½) verteilt sind. Nach dem Gesetz der großen Zahl wächst bei Vergrößerung der Stichproben di W die Wahrscheinlichkeit, h h i li hk it d dass sich i h ih ihre relative l ti Häufigkeit Hä fi k it rn (d.h. (d h A Anzahl hl z.B. B der Kopfwürfe geteilt durch Stichprobengröße n) dem Grenzwert ½ nähert. Dabei konzentrieren sich die meisten Stichprobendurchschnitte um ½ und nehmen in der Form einer Gaußschen Glockenkurve (Normalverteilung) ab. Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie / Carl von Linde-Akademie Seltene Ereignisse und das Gesetz der kleinen Zahl 1837 veröffentlicht der französische Mathematiker S. D. Poisson seine „Untersuchungen zur W h h i li hk it Wahrscheinlichkeit von Urteilen in Strafund Zivilsachen.“ Zivilsachen “ Die Poisson-Verteilung liefert Voraussagen über die Anzahl k des Eintretens seltener, zufälliger und voneinander unabhängiger Ereignisse innerhalb eines bestimmten Intervalls, wenn aus vorangehender Beobachtung bereits bekannt ist, wie viele Ereignisse man im Mittel innerhalb dieses Intervalls erwartet. Die Verteilung seltener Ereignisse nach Poisson b begründet ü d t das d Gesetz G t der d kl kleinen i Z Zahlen hl (L. (L von B Bortkewitsch tk it h 1898) 1898). Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie / Carl von Linde-Akademie F. Lundberg: Risiko der Versicherungsmärkte In seiner Dissertation von 1903 legte der schwedische Mathematiker F. Lundberg die Grundlagen der klassischen Versicherungsmathematik g . Bei einem Versicherungsunternehmen wird der Risikoprozess U(t) durch die Anfangsrisikoreserve g u, die eingehenden g Prämienzahlungen c und die Summe S(t) der Schadensausfälle Xi bestimmt: N ((tt ) U (t ) c t S (t ), S (t ) X i , t 0 . t 1 L db Lundberg setzt t t eine i homogene h P i Poisson-Verteilung V t il N(t) unabhängiger bhä i und d identisch id ti h verteilter Einzelschäden sowie eine konstante Prämienrate pro Zeiteinheit voraus. Damit lässt sich die Wahrscheinlichkeit bestimmten, dass der Risikoprozess eines U t Unternehmens h unter t den d Wert W t Null N ll sinkt i kt (Ruinwahrscheinlichkeit R i h h i li hk it). ) Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie / Carl von Linde-Akademie Zufallsdynamik der Risikoprozesse U(t) für exponentiell verteilte Schadenausfälle Lundbergs klassische Risikotheorie trifft nur für kleine Schadenausfälle zu (Cramér-Lundberg Bedingung). Wie beeinflussen aber einzelne extreme Ereignisse den globalen Risikoprozess? Pareto-verteilte Schadenausfälle erfüllen nicht die Cramér- Lundberg Bedingung. U(t) für Pareto verteilte Schadenausfälle Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie / Carl von Linde-Akademie L. B L Bachelier: h li Zufall der Finanzmärkte In seiner Dissertation "Théorie de la Spéculation" führt der französische Spéculation Mathematiker L. Bachelier (1870 - 1946) die statistischen Grundlagen der klassischen Finanztheorie ein. ein Dazu nimmt er an, dass Preisänderungen sich wie Zufallsbahnen von Molekülen in einer Brownschen Bewegung bzw. bzw Zufallsfolgen beim fairen Münzwurf verhalten. In diesem Fall hängt Zufall ab von (1) statistischer Unabhängigkeit („Jede Preisänderung ist unabhängig von der vorherigen.“), (2) statistischer Stationarität, und ((3)) Normalverteilung g („ („Preisänderungen g folgen g der Proportion p der Gaußschen Glockenkurve“). Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie / Carl von Linde-Akademie Z f ll d Zufallsdynamik ik des d D Dow Jones J Nach Bacheliers klassischer Finanztheorie ist jede tägliche Preisänderung unabhängig von der letzten und folgt dem milden Zufallsmuster, das die Gaußsche Verteilungskurve voraussagt. In diesem Fall sind die meisten Änderungen g klein und innerhalb einer Standardabweichung der durchschnittlichen Indexänderung. Tatsächlich weisen die Dow Jones Variationen große Ausreißer auf, die in den Gaußschen Standardtafeln nicht i ht berücksichtigt b ü k i hti t werden. d Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie / Carl von Linde-Akademie K lP Karl Popper und d der d schwarze h Schwan S h Nach dem Philosophen und Wissenschaftstheoretiker Sir Karl Popper (1902-1994) (1902 1994) sind allgemeine empirische Gesetze nur Hypothesen. Sie gelten nur vorläufig, bis sie durch ein (unverhofftes) Gegenbeispiel falsifiziert werden. Europäer glaubten bis ins 17. Jahrhundert: „Alle Schwäne sind weiß.“ B i der Bei d E Entdeckung d k Australiens A li wurden d schwarze Schwäne entdeckt. Eine komplexe p g globale Welt ist voller Überraschungen. Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie / Carl von Linde-Akademie B t Bertrand dR Russell ll und d der d naive i Truthahn T th h Viele positive Bestätigungen steigern nicht die W h h i li hk it einer Wahrscheinlichkeit i allgemeinen ll i A Annahme h . Der britische Logiker und Philosoph Bertrand Russell (1872-1970) erläutert dieses I d kti Induktionsproblem bl d durch h einen i Überraschungsschock: Jeden Tag wird ein Truthahn von einem Menschen gefüttert Nach vielen Monaten hält er das für eine gefüttert. allgemeine Lebensregel. Am Nachmittag des Mittwochs vor Erntedankfest wird dem Truthahn etwas Unerwartetes widerfahren und er wird seine Überzeugung ändern müssen… Sind wir naive Truthähne im Z i l Zeitalter der d Globalisierung? Gl b li i ? Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie / Carl von Linde-Akademie Milder Zufall (Bachelier): Glockenkurve beschreibt korrekt, wie sich Preise verändern. Varianz und Standard Abweichung (Markowitz): Gute Risikoabschätzung für einzelne Portfolios. Sharpe’s Beta und Kapitalkostenschätzung: Gute Abschätzung des Marktportfolios (CAPM). Black-Scholes Formel: Call-Optionen, Hedging, Volatilität etc. Die kl Di klassische i h Finanztheorie und Praxis der Finanzmärkte geht von Bacheliers Annahme des milden Zufalls aus. Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie / Carl von Linde-Akademie T b l Turbulenz in i der d Atmosphäre A hä und d in i Mä Märkten k Wechselnde Windgeschwindigkeit einer turbulenten Strömung Wechselnde Volatilität des Börsenmarkts mit wilden Preisänderungen von Monat zu Monat Mit zunehmender Globalisierung der Märkte werden wir gehäuft globale Fi Finanzkrisen ki erleben, l b d da immer i mehr h Menschen M h und d Institutionen I tit ti zusammenwirken und damit die Komplexität der Finanzsysteme wächst. Entgegen der klassischen Finanztheorie nach Bachelier müssen wir Frühwarnsysteme für extreme Situationen entwickeln. Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie / Carl von Linde-Akademie Universelle Theorie von Turbulenzen in Natur und Gesellschaft? Turbulente Strömungen werden in der Physik durch (stochastische) NavierStokes Gleichungen beschrieben. beschrieben Wegen ihrer Nicht-Linearität und Komplexität sind analytische und numerische Lösungen bei hoher Turbulenz häufig nicht bekannt. Zufallsveränderungen von Preisentwicklungen werden daher vereinfacht „wie zahme Störungen“ durch lineare stochastische Differentialgleichungen (Itō) dX t cX t dt 0 X t dBt mit erwarteter Rendite c, konstanter Volatilität 0 und Brownscher Bewegung Bt (nach Bachelier) beschrieben. Ihre eindeutige Lösung Xt heißt geometrische Brownsche Bewegung und fließt in die Herleitung der Black-Scholes Formel zur Wertberechnung von z.B. Call-Optionen und anderen Derivaten mit ein. Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie / Carl von Linde-Akademie Z h Zahme und d wilde ild Mä Märkte kt Aufgrund der zugrunde liegenden Brownschen Bewegung erzeugt die Black Scholes Formel ein zahmes Muster wie das Gaußsche weiße Rauschen. Beispiele von geometrischen Brownschen Bewegungen Lineare stochastische g g ((SDG)) mit Differentialgleichungen konstanten Koeffizienten erklären nicht die Fluktuationen und Sprünge in realen Daten. Daher wird die Brownsche Bewegung Bt d durch h -stabile t bil (Lévy) (Lé ) Prozesse P t ersetzt: t t dX t cX t dt X t dt Numerische Lösung einer SDG mit Nicht-Brownscher Bewegung Statt der Konstanten 0 kann auch eine stochastische Volatilität als zeitabhängige Zufallsfunktion 0= 0(t,) vorausgesetzt werden. werden Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie / Carl von Linde-Akademie Noah Effekt: Unstetigkeit und Einbrüche der Marktdynamik Noah-Effekt: Entgegen Bacheliers Annahme einer Normalverteilung gibt es tatsächlich abrupte Unstetigkeiten und plötzliche ökonomische Einbrüche. Mandelbrot nennt sie "Noah Effekt" Moses (Genesis) 7,4: “Denn von heute an in sieben Tagen will ich regnen lassen auf die Erde vierzig Tage und vierzig Nächte und vertilgen von dem Erdboden alles Lebendige, was ich gemacht habe.” und erinnert damit an das plötzliche Ereignis der Sintflut, auf die sich Noah Dank einer göttlichen Eingebung vorbereiten b it k konnte. t Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie / Carl von Linde-Akademie Joseph Effekt Langfristiges Marktgedächtnis Joseph-Effekt: Die beinahe Zyklen der M ktd Marktdynamik ik werden d in der biblischen Geschichte von Joseph beschrieben. Er deutet den Traum des Pharao prophetisch: p p Sieben Jahre des Hungers folgen sieben Jahre des Wohlstands. Joseph Moses (Genesis) 41, 28-30: „ ...dass Gott dem Pharao zeigt, was er vorhat. h Siehe, Si h sieben i b reiche i h J Jahre h werden d k kommen in ganz Ägyptenland. Und nach ihnen werden sieben Jahre des Hungers kommen, so dass man vergessen wird alle Fülle in Ägyptenland. Und der Hunger wird das Land verzehren.“ mahnt den Pharao, antizyklisch zu handeln, Vorräte in guten Zeiten anzulegen und sich auf die schlechten Zeiten vorzubereiten b it . Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie / Carl von Linde-Akademie -stabile bil (Lé (Lévy)) Prozesse P Wahrscheinlichkeitsverteilungen P(Sn) von Summen Sn=X1+…+Xn von identisch verteilten Zufallsvariablen konvergieren nach dem zentralen Grenzwertsatz mit wachsendem n zur Gaußschen Glockenkurve. Sie ist Beispiel für eine stabile Verteilungsfunktion, die ihre funktionale Form für verschiedene Werte n nicht ändert. Nach dem französischen Mathematiker P. Lévy y (1886-1971) sind alle stabilen Verteilungen durch einen Parameter (0 < 2) bestimmt: = 2 (Gaußsche Verteilung), =1 (Cauchy-Verteilung). Nicht Gaußsche ((„Lévy Lévy“)) stochastische Prozesse mit <2 haben unendliche Varianz. Ihre Verteilungen haben die Form PL(x)~x-(1+) einer Potenzfunktion, die (im Unterschied zur Gaußschen Glockenkurve) stark flukturierende Ausläufer („Sprünge“) besitzen. Im Funktionalraum aller Wahrscheinlichkeitsfunktionen konvergieren g die stabilen Verteilungen g g gegen g charakteristische Attraktoren. Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie / Carl von Linde-Akademie Hurst Parameter: Märkte mit und ohne Gedächtnis Hurst-Parameter: Der Grad der Abhängigkeit zwischen Preisänderungen e sä de u ge wird d du durch c de den Hurst us Parameter H gemessen. In der Standardfinanztheorie (mittlere Reihe) wird jede Preisänderung als unabhängig von der vorherigen mit H = ½ angenommen (Brownsche Bewegung). Die unterste Reihe zeigt den nachhaltigen Fall, wenn 1 >H > ½ ist und langfristige Preistrends auftreten (Joseph-Effekt). Die oberste Reihe zeigt den Fall ohne Nachhaltigkeit, wenn H < ½ und die Preisentwicklung wild und abrupt ist (Noah-Effekt). Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie / Carl von Linde-Akademie Noah Joseph Noah, Joseph, und Marktblasen Zusammenbrüche von Investmentblasen sind Noah-Effekte, Noah Effekte die nach spekulativen Wachstumstrends (Joseph-Effekt) eintreten. Die Internetblase von z.B. CiscoSystems zeigt, wie enthusiastische Investoren den Gewinntrend von 1999 in einen schwindelerregenden Aktienpreis extrapolieren. Als 2000 der Gewinn abflachte, stiegen Investoren fluchtartig aus, und die Blase begann zu implodieren. a und H interagieren als Ordnungsparameter in Märkten. Manchmal ist H = 1/α mit 0 < α < 2. Es handelt sich um die α -Levy-stabilen Prozesse mit Selbst-Affinität ( (unstetige t ti Ausreißer A iß und d unendliche dli h Varianz) V i ) und d großer ß empirischer i i h Evidenz E id . Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie / Carl von Linde-Akademie Selbstähnliche stochastische P Prozesse ( B (z.B. Skale en P Preisände erung Selbstähnlichkeit und Skaleninvarianz turbulenter Finanzmärkte Börsenentwicklungen) sind skalen skalen-invariant invariant und entsprechen Potenzgesetzen. In diesem Fall sind Zeit Links: Natürliche Logarithmen täglicher Endpreise des deutschen Aktien Index Voraussagen für alle Skalierungen möglich. möglich (DAX) zwischen dem 4. November 1986 und 4 4. August 1993 Rechts: Drei Zeitreihen mit 60 Tagen täglicher Preise, 60 Wochen wöchentlicher Preise und 60 Monaten monatlicher Preise. Zeit Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie / Carl von Linde-Akademie E t Extremereignisse i i und d 1/f-Rauschen R h Komplexe p Datenreihen besitzen ein Spektrum, das approximativ 1/fb(b>0) mit Frequenz f proportional ist. Das ist das 1/f -Rauschen Rauschen: z.B. Spektren mit weißem Rauschen (b=0) von statistisch unabhängigen und unkorrelierten Daten (Normalverteilung, Brownsche Bewegung) , rosa Rauschen (b=1), rotes Rauschen(b=2), =2) und schwarzes Rauschen (b=3). Der Grad der Irregularität nimmt mit größer werdendem b ab. ab Für b > 2 sind die Korrelationen nachhaltig (Joseph-Effekt), für b < 2 sind die Korrelationen ohne Nachhaltigkeit. Rosa und rotes Rauschen entspricht am besten der Selbstorganisation komplexer Strukturen zwischen vollständigem Zufall (weißes Rauschen) und starrer Regularität (schwarzes Rauschen). Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie / Carl von Linde-Akademie Frühwarnsysteme für Risiken, Krisen und Katastrophen Unser Wissen ist unvollständig, ll tä di aber b erweiterbar: Der Zufall lässt sich zwar nicht berechnen und kontrollieren. Wir können aber seine Systemgesetze analysieren und verstehen, um die Selbstorganisation nachhaltiger Entwicklungen zu ermöglichen! Aufzeichnung der seismografischen Wellen des Seebebens bei Sumatra (Dezember 2004) Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie / Carl von Linde-Akademie Komplexes Kausalnetz einer Krisenstrategie Extreme Störungen im anthropogenen System mit kaskadenhafter Ausbreitung nichtlinearer Effekte (z.B. g ) weichen von der Normalverteilung g ab. Kausalnetzwerke helfen, die Vulkanausbrüche, Erdbeben, Terrorangriffe) Ausbreitung der Effekte abzuschätzen und ein Krisenmanagement einzurichten. Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie / Carl von Linde-Akademie Vom Krisenmanagement zur Nachhaltigkeit Im Zeitalter der Globalisierung reicht kurzfristiges Krisenmanagement nicht aus. Die Dynamik von Extremereignissen muss in mathematischen Modellen dargestellt werden, um sie besser verstehen und nachhaltig beeinflussen zu können. Dazu bedarf es der interdisziplinären Zusammenarbeit von Theorie und Praxis von Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft.