Das ist doch verrückt! Ein Heft über Irrsinn und Wahn

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Reihe 5
Das Magazin der Staatstheater Stuttgart
Oper Stuttgart / Stuttgarter Ballett / Schauspiel Stuttgart
Nr.2 Dez 2015 – Feb 2016
Das ist doch verrückt!
Ein Heft über Irrsinn und Wahn
EDITORIAL
SCHWERPUNKTTHEMA IRRSINN
UND WAHN
Von Shakespeare bis
zu zeitgenössischen
Sängern, Choreographen und Regisseuren:
Irrsinn und Wahn
haben Künstler aller
Epochen fasziniert
und inspiriert.
Verrückt, was dabei
herauskommt
Ob etwas Halluzination, Wahnvorstellung oder optische
Täuschung ist, lässt sich nicht immer eindeutig klären
Hamlet ist depressiv. König Lear paranoid.
Schizophrenie? Das wäre Jakob Lenz Thomas Stompe (Seite 20)
Titelmotiv: Steffen Mackert
Foto: Getty Images / Kollektion
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
»Was für ein Irrsinn!«, denken wir. »Woher kommt bloß dieser Hass?« Und wie
schützen wir uns davor, uns provozieren
zu lassen? Denn das ist es doch, was die
Terroristen wollen, oder? Unsere Paranoia,
unsere Wut und unseren Wahn entfachen.
Dabei sind Provokation und Wahn genau
das, was viele Menschen suchen, wenn
sie ins Theater gehen. Sicher, es darf auch
unterhaltsam oder erbaulich sein, aber
besonders lieben wir es, uns ordentlich
durchschütteln zu lassen. Und für den
Irrsinn und den Wahn brauchen wir Schauspiel, Oper und Ballett. Verrücker und
Verrückte.
Verrücker, das sind Dramatiker, Regisseure und Choreographen, deren Arbeit es
ist, Grenzen zu verschieben. Köpfe wie
Marco Goecke, dessen irre Choreographien
das Publikum zunächst irritierten, und
zwar so tiefgreifend, dass er sogar Hassbriefe erhalten hat (Seite 34). Opernsänger
wie Georg Nigl, der mit der Darstellung
des schizophrenen Jakob Lenz die gesamte
Welt der Oper verstörte – und begeisterte
(Seite 30). Und es sind Dramatiker, allen
voran William Shakespeare, der seine
Figuren aus ihrer Mitte reißt, vor Abgründe
schiebt, in den Wahnsinn treibt, damit
uns das Schicksal dieser Menschen
betrifft, verstört, belustigt, verunsichert
– berührt (Seite 24).
Warum kauft man dafür Eintrittskarten,
tut sich so was an? Weil es uns weiterbringt und unseren Empfindungsraum
vergrößert: Wir lernen, wir entdecken,
wir wachsen. Wir öffnen uns. Das genaue
Gegenteil von dem also, was Terroristen
und andere kalkulierende Wahnsinnige
erreichen wollen: dass wir dichtmachen,
mental, emotional, gesellschaftlich.
Einen solchen Gefallen sollte man niemandem tun.
Wir bleiben offen – und freuen uns auf Sie!
Die Staatstheater Stuttgart
3
INHALT
44
Nach dem
Applaus
Wie Schauspieler
Manuel Harder zu
sich zurückfindet
12
Mein Klang
Die Lieblingsstelle von
Solo-Klarinettistin
Nicole Kern
3
Editorial
4
Inhalt
FOYER
6
Bilder
12
Momente
13
Ausrüstung
14
Der Durchbruch gelang Angela Denoke als
Zitrusfrucht. Heute ist sie eine der größten
Opernsängerinnen ihrer Generation
Er will Personen, nicht Rollen zeigen: Im
Februar inszeniert Stephan Kimmig in
Stuttgart Orest. Elektra. Frauen von Troja
16
18
Mein Weg
20
Junge Seite
Für Mädchen, Jungs, Knirpse – und
andere Besucher, die schon wissen, wie
viel sechs mal sieben ist
Wer alles verstehen will,
dreht irgendwann durch
BÜHNE
20
Forensiker und Psychiater Thomas
Stompe erklärt die Facetten des Wahns
Kehrseite der Vernunft
Psychiater Thomas Stompe erklärt den
Reiz des Wahnsinns
32
Der Einschnitt
Abschied und Neuanfang. Armin Petras
entwickelt ein Theaterstück mit Witwen
34
40
38
4
Superhelden
Werden die Superhelden des Stuttgarter
Balletts es schaffen, den mächtigen Digitalus aufzuhalten? Zweiter Teil des Comics
Wann ist es
zu früh?
Über junge Mütter,
Kindsmord und
eine schrecklich
aktuelle Oper
Der Eigensinnige
Früher flüchtete das Publikum aus seinen
Aufführungen. Nun wurde Marco Goecke
zum Choreograph des Jahres ernannt
40
In anderen Umständen
Warum töten Mütter ihre Babys?
Nachdenken über das Undenkbare
BACKSTAGE
Illustrationen: Adrijan Steczek; Sasa Zivkovic; Steffen Mackert
Shakespeare jagte seine Figuren in den
Wahn, weil er wusste, das bringt Spannung.
Übersetzer Frank Günther erklärt die
Prinzipien. Mit dabei: ein Opernsänger,
ein Regisseur und ein Dirigent
SuperheldenComic
Digitale Tänzer fordern
das Stuttgarter Ballett
heraus
Meister des Verrückens
Fotos: picture alliance / dpa; Tobis Film; Martin Sigmund
38
24
42
Der Knacks
Ein gebrochener Fuß, eine verletzte Hand.
Zwei Künstlerinnen erzählen von der Krise
43
In der Probe
Was unsere Gäste denken, wenn sie im Ballett,
im Schauspiel und in der Oper Proben besuchen
44
24
Träumt
weiter,
ihr Narren!
Fünf Wahnsinnstypen: vom Träumer
bis zum Aussteiger
Mein Arbeitsplatz
Jürgen Siegert, stellvertretender Leiter der
Maske Oper / Ballett, erklärt den Gipsraum
44
Die Verwandlung
Wie kommen Schauspieler runter? Manuel
Harder über die Ruhe nach dem Applaus
45
Infografik
Wie die Ballettproduktion Salome entsteht
46
Was war da los?
Ein Foto und seine Geschichte
46
Impressum
32
Mein Leben nach
seinem Tod
Witwe Maja Majnik im
Gespräch mit Armin Petras
5
6
Gute Karten
Noch singt hier jedes Kind allein.
Doch diejenigen, die beim ersten
Casting zu Alice im Wunderland
im Oktober schauspielerisches
Talent und gute Stimme beweisen,
finden sich bald im Chor der Jungen Oper wieder: als Spielkarten
oder Gärtner der Königin. Einige
Plätze für Sänger zwischen zehn
und 23 Jahren sind noch zu
vergeben. Mail an: education@
staatstheater-stuttgart.de
Premiere ist am 2. Juni 2016
Fotos: Dominique Brewing
FOYER
7
FOYER
Foto: Youn-sik Kim
Goldtänzer
Wie erstarrt schwebt Friedemann
Vogel, knallhart die Muskeln. Dabei sind sie elastisch wie bei kaum
einem Tänzer. Das Publikum weiß:
Wie flüssiges Gold fließen seine
Bewegungen ineinander, Sprünge
landet der Erste Solist des Stuttgarter Balletts lautlos und weich.
Er ist eine Ausnahmeerscheinung
– und wurde dafür jetzt zum Kammertänzer ernannt. Wussten Sie,
dass Vogel Mitinhaber eines Modegeschäfts war? Name: Goldknopf
8
9
FOYER
Rebellion probieren. Zwischen
Anarchie und Anpassung pendeln.
Die erste Liebe erleben – und
enttäuscht werden. Regisseur Antu
Romero Nunes hat das Stück
von Fritz Kater über Jungsein und
Erwachsenwerden neu interpretiert. Und weil jede Epoche einen
Soundtrack braucht, stellt Nunes
auch eine Band auf die Bühne, hier
mit Frontfrau Lisa Marie Neumann. Premiere: 22. Dezember im
Schauspielhaus
10
11
Foto: David Spaeth
zeit zu lieben zeit zu sterben
FOYER
Halt mich!
Ausrüstung Es ist das unauffälligste
Mein Klang »Dieser Opern-Beginn ist für
Wie oft
vergessen
Schauspieler
ihren Text?
FRANK LASKE, 57, seit 1989
als Souffleur am Schauspiel
Stuttgart, antwortet:
Es kommt sehr selten vor,
dass ich nachhelfen
muss. Bei den Proben, die
wir Souffleure von Anfang
an begleiten, ist das anders:
Manche Schauspieler
inhalieren den Text regelrecht,
bei anderen dauert das
Lernen etwas länger. Es gibt
je nach Textmenge auch
Inszenierungen, da sind wir
gleich mit auf der Bühne.
Die kritischen Stellen markiere
ich übrigens schon während der Proben mit einem
Ausrufungszeichen. Nur
mit Bleistift, denn oft kann ich
diese Zeichen wieder streichen, da die entsprechenden
Stellen im Lauf der Zeit
keine Probleme mehr bereiten.
Während der Vorstellung
reagiere ich immer nur auf
Verlangen der Schauspieler.
Das kann ein Fingerschnippen
oder ein geflüstertes Text
bitte! sein – je nachdem, was
man vorher abgemacht hat.
Und im Idealfall bekommt niemand im Publikum mit,
dass ich nachgeholfen habe.
Wenn Sie auch eine
Frage haben, dann schreiben
Sie uns eine E-Mail an
[email protected]
12
– wie ein Vorhang, der hochgezogen wird
und den Blick freigibt auf den Mondschein
über dem Palast des Herodes.«
NICOLE KERN ist Solo-Klarinettistin des
Staatsorchesters Stuttgart und zu hören in
Aufführungen von Richard Strauss’ Salome ab
dem 22. November 2015
Ich kann nicht
glauben, ich weiß
nicht woran
Meine Szene »Dieser Satz sagt etwas
Entscheidendes über Nina und über
Kostja, den ich in Die Möwe spiele: Beide
haben immer andere für das eigene
Versagen verantwortlich gemacht und so
nie den Glauben an sich selbst gefunden. Ohne den Schutz einer Religion ist
Mein Moment »Das RosenAdagio in Dornröschen ist eine
der berühmtesten Szenen
im Ballettrepertoire. Ich bin als
Prinzessin Aurora mit vier
Prinzen auf der Bühne und balanciere minutenlang auf
einem Zeh. Als wir mit den Proben begonnen haben, hatte
ich solche Schmerzen, dass ich
es danach kaum nach Hause
geschafft habe. Auf der Bühne
ist das aber vergessen. Da
nehme ich nichts wahr als die
anderen Tänzer, die Musik
und das Publikum. Da ist das
Adagio das reine Vergnügen.«
HYO-JUNG KANG ist Erste
Solistin des Stuttgarter Balletts. In
der Rolle der Prinzessin Aurora in
Dornröschen ist sie am 20. Dezember 2015 im Opernhaus zu sehen
oder Amerikaner: Jeder spricht von
der »Susi«, als wäre es jemand,
zu dem man ein persönliches Verhältnis pflegt. Doch der Eindruck
täuscht. Tänzer wie Constantine Allen,
Erster Solist beim Stuttgarter
Ballett, führen mit ihren Susis eine
unsentimentale Beziehung. »Sie
gibt mir die Unterstützung, die ich
vor allem bei den Sprüngen und
Drehungen brauche. Das ist alles.«
Seine erste Susi trug der 22-Jährige
mit elf. Als sie ihrer trag- und haltefähigen Eigenschaften beraubt war,
landete sie im Müll. Allen hat regelmäßig zehn Susis im Einsatz. Bei
schweißtreibenden Proben braucht
er pro Tag mindestens zwei.
Grundsätzlich müssen sich Tänzer
selbst um ihre Susis kümmern.
Die Kostümabteilung springt nur ein,
wenn ein kniffeliges Problem zu
lösen ist, erklärt Nicole Krahl aus der
Produktionsleitung der Kostümabteilung des Stuttgarter Balletts.
Etwa, wenn ein Trikot so eng bemessen ist, dass das Suspensorium
so groß wie nötig und so eng wie
möglich sein muss.
Pro Jahr fallen etwa 100 Stück an.
Die meisten kommen von der Stange
in den Größen S, M und L und werden
angepasst – wobei sich die Größenangaben allein auf den Umfang des
Hüftgurts beziehen.
Dass Tänzer mit der Susi ihrer Anatomie auf die Sprünge zu helfen
versuchen, ist ein Gerücht, das nichts
mit der Realität, wohl aber mit
der Vergangenheit zu tun hat. Unter
Kavalieren war es einst üblich, an
entscheidender Stelle mit Watte nachzuhelfen. Schon im Namen des
Vergrößerungsapparats offenbarte
sich die Absicht der Herren: Renommiersuspensorium.
die Suche nach dem, wer man ist, ziemlich schwierig. Ich bin aber überzeugt, dass
sie dafür auch nachhaltiger ist.«
MANOLO BERTLING spielt den Kostja
in Die Möwe von Anton Tschechow. Am 4. und
29. Dezember 2015, am 2., 9. und 25. Januar
und am 14. Februar 2016 im Schauspielhaus
Fotos: Simone Ulmer; Stuttgarter Ballett; Martin Sigmund
CHRISTOF SCHMID, 30,
Lohnbuchhalter aus Rottenburg
am Neckar, fragt:
mich etwas ganz Besonderes: Eine einzige
Klarinette darf diese Riesen-Partitur eröffnen! Und so grausam die Oper Salome
letztlich auch ist, so zauberhaft ist ihr
Anfang. Ein schneller, exotisch-schillernder
Lauf, leise und weit hinauf in den Himmel
Kleidungsstück der männlichen
Tänzer und doch würden sie niemals
ohne es auf die Bühne gehen. Unter
dem Beintrikot, dort, wo normalerweise die Unterhose sitzt, hält das Suspensorium alles Wesentliche zusammen. Gemacht ist es aus elastischer
Baumwolle, einem längeren Gummiriemen, der um die Hüfte geht, und
einem kürzeren Streifen, der längs
über den Po den Gurt mit der Vorderseite verbindet. Seine Funktion: das
einzige Körperteil zu fixieren, das
der Tänzer nicht mit seinen Muskeln
kontrollieren kann, und es gleichzeitig unsichtbar zu machen. Ohne
würde sich jeder Tänzer nackt
fühlen, wenn er im Kostüm vor dem
Publikum stünde.
Unter dem Namen Suspensorium
kennt dieses Utensil allerdings
niemand. Egal ob Russe, Brasilianer
13
FOYER
ANGELA
DENOKE:
»Ich bin keine
Rampensau.
Der kollegiale
Zusammenhalt ist mir
wichtiger«
MEIN WEG
Das Früchtchen
Unbedarft startete Angela Denoke ihre Karriere. Mit Leichtigkeit und Mut zu
Extremen wurde sie eine der größten Opernsängerinnen ihrer Generation
14
gerade so reingerutscht.« Ihre Karriere ist kein Versehen,
aber ein Beweis dafür, dass man umso leichter ans Ziel
kommt, je lockerer man sich auf den Weg macht. Auch
dass sie in Ulm vorsingt, folgt keinem Plan. Sie will es
halt mal ausprobieren.
Bald gibt es ein festes Engagement in Stuttgart,
später Auftritte in Wien, Paris, New York und bei den
Salzburger Festspielen. Heute ist sie eine der führenden
Sängerinnen ihrer Generation – und eine, die Extreme
nicht scheut. Nicht aus Sensationsgier, sondern »weil
es für die jeweilige Inszenierung wichtig war«, sang sie
schon mit Glatze, freiem Oberkörper oder nackt. Aber
sie sagt auch: »Ich bin keine Rampensau. Der kollegiale
Zusammenhalt auf der Bühne ist mir wichtiger.«
Im Januar kommt Angela Denoke in Jenufa von Leoš
Janácek nach Stuttgart zurück. Wieder ein tragischer
Part. »Mich interessieren diese Rollen, weil sie nicht
eindimensional gebaut sind«, sagt sie. Die Orange von
damals ist ganz schön weit gekommen. Veronika Wulf
JENUFA
von Leoš Janácek
Wieder im Repertoire ab 9. Januar 2016 im Opernhaus
1961
Stade
Deutschland
1992
Ulm
Deutschland
1996
Stuttgart
Deutschland
2000
Bühnen weltweit
u. a. Wien, Paris,
New York, Salzburg,
London, Berlin,
Mailand, Rom
2016
Stuttgart
Deutschland
Foto: Javier del Real Fernández (aus Alceste von C.W. Gluck, Madrid)
D
er Durchbruch gelingt Angela Denoke als
Zitrusfrucht. Sie ist 30 Jahre alt und studiert
Gesang, als das Ulmer Theater sie für vier Jahre verpflichtet. In Die Liebe zu den drei Orangen von
Sergei Prokofjew ist ihre erste Partie, ihre erste Rolle:
Ninetta, die dritte Orange. Mit diesem kleinen Part den
Grundstein für ihren Weg auf die größten Bühnen der
Welt zu legen, das passt zu einer Frau, die von sich sagt:
»Meine sogenannte Karriere hat sich quasi ergeben.«
Man kann auch sagen: Das Talent hat ihr keine andere
Wahl gelassen.
Die Liebe zur Musik entwickelt die heute 53-Jährige
schon als kleines Kind. Mit vier Jahren erhält sie Klavierunterricht, ihr Lehrer ermutigt sie, in der Kantorei
zu singen, und gibt ihr ab dem 14. Lebensjahr auch Gesangsunterricht. Nach dem Abitur wählt sie den sichereren Weg und studiert zunächst Schulmusik in Hamburg.
Die Dinge heiter zu nehmen und mit hanseatischem
Understatement aufzutreten – diese Eigenschaften helfen Denoke auch, als sie feststellt, dass sie lieber Gesang
studieren will. Denn bei der ersten Aufnahmeprüfung
fällt sie prompt durch. »Beim zweiten Vorsingen bin ich
FOYER
STEPHAN
KIMMIG
»Die Bühne:
ein leerer
Raum, eine
Welt neben
der Welt –
für mich das
Tollste«
MEIN WEG
Der Suchende
Er experimentiert, erfindet,
entdeckt. Der Regisseur
Stephan Kimmig lässt sich
auf keinen Stil festlegen.
Seine einzige Konstante: die
Erforschung des Ichs
1959
Stuttgart
Deutschland
DIE
HAMLETMASCHINE
1981
München
Deutschland
1986
Berlin
Deutschland
16
jungen Holländerin) gepackt, zieht er nach Amsterdam. Auf der Suche nach der richtigen Kunstform und
dabei auch nach sich selbst pinselt er »irgendwelche
Thesen« auf Wände und beteiligt sich an »seltsamen
Projekten« – fern vom klassischen Texttheater, das er
aus Deutschland kennt. »Da saßen Schauspieler auf
der Bühne, aßen Äpfel und murmelten Schiller-Texte.
Fünf Stunden lang. Ohne Handlung.«
Mit 31 findet Kimmig seinen Glauben an die Kunst
wieder. Er erhält ein Engagement in Freiburg. Einen
Stil hat er noch immer nicht definiert, aber dafür die
Suchscheinwerfer neu ausgerichtet. Er fängt an, die
Persönlichkeit der Schauspieler abzutasten. »Wenn
man in ihnen nur die Rolle sieht und nicht die Personen, ist alles langweilig.« Dieses Gespür liegt seither
seiner Arbeit zugrunde. Im Februar 2016 wird er mit
der Inszenierung Orest. Elektra. Frauen von Troja wieder in das Schauspiel-Ensemble von Armin Petras eintauchen. Schon vor anderthalb Jahren, bei der Zusammenarbeit für August: Osage County. Eine Familie,
habe er sich, sagt Kimmig, in dessen bedingungslose
Hingabe verknallt. Veronika Wulf
OREST. ELEKTRA. FRAUEN VON TROJA
nach Euripides, Sophokles und Aischylos
Premiere am 20. Februar 2016 im Schauspielhaus
1988
Amsterdam
Niederlande
1991
Freiburg
Deutschland
2000
Hamburg
Deutschland
2009
Berlin
Deutschland
Mit freundlicher Unterstützung der
Ringer AG
Foto: Arno Declair
N
ew York, 1978: In der Metropolitan Opera
schweben die Tänzer des Stuttgarter Balletts
über die Bühne. Mittendrin ein 19-jähriger
Statist. Seine Aufgabe: ein Tablett Gläser über die
Bühne zu tragen. Plötzlich verliert er die Balance. Ein
Krach aus tausend Scherben, die Tänzer schreien und
Stephan Kimmig rennt von der Bühne. »Die Nerven«,
sagt der 59-Jährige heute und lächelt. Knapp 40 Jahre
sind seitdem vergangen.
Schon als Jugendlicher will Kimmig ans Theater, das
Stuttgarter Haus engagiert ihn als Nebendarsteller.
Manchmal, wenn nicht geprobt wird, schleicht er sich
auf die Bühne. »Der leere Raum war für mich das Tollste, die Welt neben der Welt.« Diesen Raum auszufüllen
ist seitdem sein Ehrgeiz. Doch an der Schauspielschule
fliegt er regelmäßig aus dem Unterricht, weil er die
Professoren kritisiert. Er will eine eigene, bessere Form
finden, also inszeniert er zu Hause auf 26 Quadratmetern. Kimmig, inzwischen 24, wirbt Sponsoren, mietet
ein Loft und führt die Bluthochzeit von Federico García
Lorca auf. Die Vorstellung ist ausverkauft, Theaterprofis gratulieren.
Doch dann stürzt Kimmig in eine Künstlerkrise. »Ich
hielt jegliche kulturelle, ja menschliche Äußerung für
eine Lüge.« Vom Nihilismus (und der Liebe zu einer
Rahmenprogramm rund um
Wolfgang Rihm auf
www.opernhaus.ch/hamletmaschine
PREMIERE 24 JAN 2O16
JUNGE SEITE
AM THEATER ARBEITEN
Höhlen bauen!
Natascha von Steiger ist Bühnenbildnerin am Schauspiel Stuttgart
und hat dort auch die Kulissen für Ronja Räubertochter und
Pünktchen und Anton entwickelt. Hier erzählt sie von ihrer Arbeit
Zunächst lese ich das Stück und schaue, wie die Stimmung ist: Ist
sie eher lustig, gefährlich oder traurig, wild, spannend oder fröhlich?
Diese Stimmung versuche ich dann in meinen Bühnenentwürfen zu
zeigen. Dazu spreche ich viel mit dem Regisseur.
Wenn meine Idee klar ist, baue ich ein Bühnenmodell aus Pappe
und Papier. Das richtige Bühnenbild baue ich aber nicht, das machen die Schreiner, Maler, Bildhauer, Schlosser, Dekorateure in den
Werkstätten und die Bühnentechniker, Beleuchter, Tontechniker auf
der Bühne.
Gibt es bei Pünktchen und Anton etwas Ähnliches?
Ja. Ich habe mir eine Art Karussell überlegt, das die Stadt zeigt, sich
aber auch in andere Orte verwandelt, in das Wohnzimmer der Pogges
zum Beispiel oder in das Tanzcafé.
Warum sind Sie Bühnenbildnerin geworden?
Am Bühnenbild für Pünktchen und Anton habe ich drei Monate gearbeitet. Manchmal dauert es von der Idee bis zur fertigen Bühne
aber auch sechs Monate.
Als kleines Kind habe ich sehr gern mein Zimmer umgeräumt. Außerdem habe ich gern im Wald Stöcke, Blätter und Sachen gesammelt
und daraus in Schuhkartons kleine Welten eingerichtet. Eigentlich
hat mich das nie losgelassen. Später wollte ich deshalb erst Schaufensterdekorateurin oder Architektin werden. Durch Zufall konnte ich
dann ein Praktikum bei einem Bühnenbildner machen. Danach war
mein Berufswunsch klar und ich habe in Wien Bühnenbild studiert.
Arbeiten Sie an Kinderstücken anders als an solchen für
Erwachsene?
Was geschieht eigentlich mit dem Bühnenbild, wenn ein
Stück nicht mehr gespielt wird?
Wenn ich eine Bühne für Kinder erarbeite, frage ich mich, was mir als
Kind Spaß gemacht hätte. Ich will etwas finden, das zum Stück passt
Wir haben einen riesigen Lagerraum, in dem viele Bühnenbilder
Platz haben. Interview: Isabelle Erler
Wie lange arbeiten Sie und Ihre Kollegen an einem Bühnenbild?
18
Warum
können
Opernsänger so
laut singen?
Peter Pan, der Junge, der nicht erwachsen werden will, hat einen Erzfeind: den
unheimlichen Captain Hook. Aber selbst
der fürchtet sich manchmal. Finde die
bunten Buchstaben im Bild und trage
sie in die Kreise mit den gleichen Farben ein. Von oben nach unten kannst
du nun lesen, was dem Pirat so richtig
Angst macht. (Lösung auf Seite 46)
Illustrationen: Stephanie Wunderlich
Wie machen Sie das?
und worin Kinder auch gerne spielen würden. In Ronja Räubertochter
zum Beispiel steht auf der Bühne ein riesiger Berg aus Räubersäcken. Innen ist er hohl und man kann hineingehen. Dieser Haufen
ist manchmal Berg, Höhle oder die Burg von Ronjas Familie. Ich war
total glücklich, als ein Kind sagte: »So einen Kissenberg möchte ich
auch zu Hause haben.«
Fotos: privat; Natascha von Steiger; A.T. Schaefer; Martin Sigmund
Als Bühnenbildnerin denke ich mir Räume für ein Theaterstück aus,
in denen die Schauspieler später spielen. Ich schaffe ihnen also eine
Art Spielplatz.
RÄTSELHAFT
Im oberen Teil unseres
Halses befinden sich die
Stimmlippen, die du dir
vorstellen kannst wie die
beweglichen Seiten eines
großen, waagerecht liegenden Nadelöhrs. An ihnen
strömt beim Sprechen wie
beim Singen Luft aus unseren Lungen vorbei und versetzt sie in Schwingungen –
ein Ton entsteht. Für einen
schönen, vollen und bis
in die letzte Reihe des Opernhauses klar hörbaren Gesang
trainieren Sänger sehr viel
und unterschiedliche Bereiche. Zum Beispiel üben sie,
ihren Atem zu steuern, ihren
Körper bewusst wahrzunehmen und nicht zu verspannen. Für das laute Singen
– wie übrigens auch für das
Singen zarter, leiser Töne –
trainieren sie mit speziellen
Übungen auch ihre Stimmlippen. Jeden Tag aufs Neue.
Ein Berg
aus Säcken,
in dem man
wohnen kann:
Bühnenbild
für das Stück
Ronja Räubertochter
Was genau machen Sie als Bühnenbildnerin?
NACHGEFRAGT
Opernsängerin Diana Haller als
Angelina in La Cenerentola
VOL
LW
THEATERKINDER
Name
Alter
Lieblingsbeschäftigung
Seit neun Jahren lerne
ich klassisches Ballett
und seit drei Jahren bin
ich Schülerin der John Cranko
Schule, der Ballettschule des
Stuttgarter Balletts. Dort
gehe ich jeden Tag hin, wenn
meine normale Schule aus
ist. An manchen Tagen habe
ich zwei Stunden Ballettunterricht, an anderen vier.
Dann üben wir Schritte
und Sprünge und studieren
Choreographien ein. Das
sind längere Schrittfolgen
für einen ganzen Tanz.
In der vergangenen Spielzeit habe ich zum ersten
Mal bei einer richtigen Ballettaufführung mitgemacht:
Ich hatte bei Dornröschen
verschiedene kleine Rollen,
zum Beispiel das junge
Dornröschen. Am Anfang war
das sehr aufregend. Aber
jetzt geht es schon ganz gut
mit dem Lampenfieber.
Es macht mir sehr viel
Spaß zu tanzen. Und es
ist toll, den Zuschauern zu
zeigen, was ich kann, und
dafür am Schluss Applaus
zu bekommen.«
ITZI
An d
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»Für
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mich einen
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für dich
TERMINE
PETER PAN
Peter Pan bringt den Kindern Wendy,
Michael und John das Fliegen bei
und nimmt sie schließlich mit nach
Nimmerland, wo sie mit Elfen spielen und gegen Piraten kämpfen.
Kostenlose Einführung für Kinder je
45 Minuten vor Vorstellungsbeginn.
Familienoper für Kinder
ab 8 Jahren von Richard Ayres.
Am 12., 13., 18., 27.12.2015,
2. und 5.1.2016 im Opernhaus
NACH(T)GESPRÄCH
Regisseure, Sänger, Dirigenten und
Dramaturgen beantworten nach
der Peter-Pan-Vorstellung Fragen
von Kindern und ihren Familien.
Am 18.12.2015 im Opernhaus
DORNRÖSCHEN
Weil die böse Fee nicht zur Taufe
der kleinen Prinzessin Aurora eingeladen ist, soll Aurora sich zur
Strafe mit 16 Jahren an einer Spindel stechen und sterben. Eine gute
Fee mildert den Fluch in einen
100-jährigen Schlaf ab, aus dem ein
Prinz Aurora am Ende erlöst.
Kostenlose Einführung für Kinder
ab 6 Jahren jeweils 45 Minuten vor
Vorstellungsbeginn.
Ballett von Marcia Haydée.
Am 19., 20., 21. und 22.12.2015
im Opernhaus
PÜNKTCHEN UND ANTON
Obwohl ihre Eltern reich sind, verkauft Pünktchen nachts in der
Stadt Streichhölzer. Dort trifft sie
Anton, der bettelt, weil er arm und
seine Mutter krank ist. Pünktchen
und Anton werden Freunde. Als
Diebe das Haus von Pünktchens
Eltern ausrauben wollen, ist Anton
sofort zur Stelle.
Für Kinder ab 7 Jahren von Erich
Kästner. Am 20., 25., 26.12.2015
und 24.1.2016 im Schauspielhaus.
Weitere Termine unter
www.schauspiel-stuttgart.de
Zum Stück gibt es eine CD mit
Musik.
FAMILIENFÜHRUNGEN MIT
MINI-TANZWORKSHOP
Ehemalige Tänzerinnen führen
Kinder und ihre Familien hinter die
Bühne, erzählen Spannendes vom
Tanzen und laden im Workshop
spielerisch zum Mittanzen ein.
Für Kinder zwischen 6 und 12
Jahren. Am 2., 3., 30., 31.1. und
13., 14.2.2016 im Opernhaus
19
BÜHNE
Manchmal ist es die Liebe. Manchmal ist es ein Joint.
Manchmal reicht eine schlaflose Nacht.
Ein Gespräch mit dem Psychiater Thomas Stompe über
das Verrücktwerden, den Wahnsinn und den ewigen
Reiz, die Schwelle zu überschreiten – und auszurasten
INTERVIEW: MARTIN THEIS
20
Foto: picture alliance
Die Kehrseite
der Vernunft
Mutiert vom
ruhebedürftigen
Schriftsteller zum
wahnsinnigen
Mörder mit der
Axt: Jack Nicholson
im Film Shining
21
BÜHNE
Der Keim des Wahnsinns steckt wohl in uns
allen. Die Schwelle ist jedoch bei jedem unterschiedlich hoch. Für mich war die therapeutische und wissenschaftliche Arbeit am
Wahn immer eine Expedition in eine andere Welt. Sie ist fremd und vertraut zugleich.
Das ist ein großes Abenteuer.
Wo liegt denn die Schwelle?
Meist bei einem Fehler in der Urteilsbildung.
Das heißt, der Betroffene hat eine Reihe von
Ideen, zu denen er durch falsche Annahmen
gekommen ist. Oder er hat aus richtigen Annahmen falsche Schlüsse gezogen.
Können Sie uns Beispiele für dieses
Phänomen geben?
Das häufigste Wahnthema ist die Verfolgung. Betroffene glauben, die Polizei, die
Mafia oder ein böser Dämon sei hinter
ihnen her. An zweiter Stelle steht der Größenwahn. Dabei misst sich jemand Kräfte
zu, die er nicht hat. Bei schizophrenen Erkrankungen meint er etwa, Jesus Christus zu
sein oder ein berühmter General. Besonders
bizarr sind hypochondrische Wahnideen.
Man glaubt, dass einem Leid zugefügt wird.
19. Jahrhundert wurde Wahnsinn mit Moral
vermengt. Promiskuität galt als Wahn. Bis
ins 20. Jahrhundert wurde Selbstbefriedigung als krankhafte Neigung gesehen, die
angeblich zu weiteren Störungen und Geisteskrankheit führen sollte.
Psychiater können unterscheiden zwischen
Menschen, die an Hexerei glauben, und solchen, bei denen es schon ein krankhafter
Verhexungswahn ist.
das Erlebte verfestigt und wiederholt, führt
das in den Wahn. Es gibt die Theorie, dass
daraus die Schizophrenie geboren wurde.
Gibt es Formen von Wahn, die nur in
bestimmten Teilen der Welt auftreten?
Besonders Frauen wurde oft Wahnsinn
angedichtet. Woran liegt das?
Wir nennen sie kulturgebundene Syndrome. In Südostasien und China gibt es einige derartige Phänomene. Bei Koro etwa
glauben Männer, ihr Penis würde sich in
ihren Körper zurückziehen und sie müssten daran sterben. Das beruht auf der Vorstellung, das Yang, die männliche Energie,
würde versiegen und dem Betroffenen die
Lebenskraft rauben. Ein anderes Beispiel
aus dem asiatischen Raum ist Amok. Ursprünglich bezeichnete man damit einen
akuten psychischen Ausnahmezustand,
in dem jemand mit einer Machete Menschen umbringt. Das hat nichts mit den
meist geplanten Amokläufen bei uns zu
tun. Begrenzt auf westliche Gesellschaften
sind dagegen Magersucht, Bulimie und das
Burn-out-Syndrom.
Ja. Ich habe das in meiner Studienzeit
selbst erlebt. Eine Prüfung stand bevor und
ich wollte die Nacht durchlernen. Ich habe
eine Kanne schwarzen Kaffee getrunken. Irgendwann konnte ich nicht mehr und wollte
schlafen gehen. Als ich in den Spiegel sah,
schaute mich ein grauer Schrumpfkopf an.
Ich schloss die Augen und öffnete sie wieder.
Er war immer noch da. Erst als ich geschlafen hatte, sah ich wieder mein Gesicht. Mit
einer Neigung zur Schizophrenie hätte ich
daraus einen tollen Wahn bauen können.
Daran, dass Männer das Sagen hatten. Zuletzt schrieb man Frauen die Hysterie zu.
Das hat sich erst mit der Emanzipation geändert. Doch so merkwürdig es klingt: Durch
den vermeintlichen Wahn entstanden für die
betroffenen Frauen Freiräume. Sie konnten
ein Verhalten zeigen, für das sie sonst heftig
sanktioniert worden wären. Alte Fotografien
von hysterischen Anfällen zeigen Frauen oft
in sehr lasziven Posen.
Wie haben sich Wahnvorstellungen
über die Jahrzehnte verändert?
Die großen Themen sind konstant. Da ist
etwa die Idee, verfolgt, beobachtet oder
gesteuert zu werden. Doch wie diese Ideen
inhaltlich aufgefüllt werden, ist abhängig
von Zeit und kulturellen Symbolsystemen.
Zu Beginn des 20. Jahrhundert spielten Elektrizität und Röntgenstrahlen eine große Rolle
im schizophrenen Erleben. Heutzutage gibt
es Menschen, die glauben, die ganze Welt
sei ein Computerspiel. Andere meinen, sie
würden in der Matrix leben oder seien die
Hauptdarsteller einer Truman-Show.
Schon in der Antike assoziierte man
Wahnsinn auch mit Inspiration, Ekstase
und Sehertum. Gilt das immer noch?
Wer ist schuld, wenn jemand wahnsinnig
wird? In der frühen Neuzeit schob man
die Verantwortung auf vermeintliche Hexen – und folterte sie grausam, um ihnen
ein Geständnis zu entreißen
Eine ehemalige Patientin von mir war überzeugt, im Schlaf würden ihr fremde Männer
die Beine absägen, den Bauch aufschneiden
und die Gedärme rausreißen. Das durchlebte
sie jede Nacht.
Heute definieren wir Wahnsinn anders
als früher. Was finden wir inzwischen
normal, was einst als verrückt galt?
Den Begriff Wahnsinn verwenden wir in der
Psychiatrie nicht mehr. Wenn überhaupt,
wäre er für die schwersten psychischen
Störungen reserviert. Früher bezeichnete
man so ein Verhalten, das von der Norm
abwich. Man fasste den Wahnsinn als göttliche Strafe oder Folge von Hexerei auf. Im
22
Bis heute finden Sie diese Kehrseite in traditionellen Kulturen. Schamanen und Heiler erlangen ihren Zugang zur Geisterwelt
häufig erst durch eine schwere psychische
Krise. Sie zeigen Symptome, die wir als dissoziative Pseudopsychose deuten würden.
Das geht auch in den Bereich der Hysterie.
In ihrem kulturellen Rahmen sind Schamanen und Heiler aber stabile Persönlichkeiten.
In westlichen Kulturen wollen die Menschen
alles erklären. Vor allem, wenn sie etwas erleben, das außerhalb des Alltäglichen liegt.
Nigerianische Patienten haben häufig kurze psychotische Zustände. Dann hören sie
Stimmen oder haben optische Täuschungen.
Sie lassen das aber erst mal so stehen. Dabei können die Symptome abklingen. Wer
dagegen sofort anfängt, nach Erklärungen
zu suchen, leistet Wahnarbeit.
Wo fängt der Irrsinn an? Der Wunsch
nach dem neuesten Markenprodukt kann
sich zur Hysterie steigern – und lässt
Menschen zu Hunderten die ShoppingTempel stürmen
Der französische Philosoph Michel
Foucault bezeichnete den Wahnsinn als
das Andere der Vernunft . Er
beschrieb, wie die rational-aufgeklärte
Gesellschaft den Wahnsinn ausschließt
und die Betroffenen wegsperrt.
Stimmen Sie Foucault zu?
Warum wollen wir dennoch alles
analysieren und ergründen?
Die Umstellung auf den Erklärungszwang
des abendländischen Geistes kam mit dem
deutschen Idealismus und dem französischen Rationalismus. Auch für ein extrem
fremdartiges Phänomen muss nun sofort ein
logisches Erklärungsmuster her. Wenn sich
Da muss man differenzieren. Wir finden bei
Schamanen sicher keine schizophrenen Psychosen. Es wäre naiv zu glauben, dass man
an so einer Krankheit wächst. Im Gegenteil.
Häufig verselbstständigt sie sich und baut
die Persönlichkeit ab.
Bei uns wäre der Schamane aber ein
Fall für den Psychiater.
Symbol für die Welt des Wahns: die
Zwangsjacke. Heute werden Kranke mit
Medikamenten ruhig gestellt
Heute beobachte ich eher ein
Spiel mit dem Wahnsinn. Er
hat eine hohe Anziehungskraft,
findet den Weg in Filme und
auf Theaterbühnen
für Schizophrenie und für Kreativität
verantwortlich sein soll. Hat der
Wahnsinn eine produktive Seite?
In seltenen Fällen kann eine chronische
Psychose die Kreativität befeuern. Das trifft
jedoch nur bei drei bis fünf Prozent der Patienten zu. Bei allen anderen flacht es eher
ab. Kreativität beruht darauf, dass man sich
von der Rationalität ein Stück entfernt und
einen Zugang zum Unbewussten bekommt.
Der gesunde Mensch kann das imaginäre
Material dann wieder rational bearbeiten.
Inwiefern gehen wir anders als andere
Kulturen mit dem Wahn um?
Übersehen wir in unserer Zivilisation
das Potenzial der Verrückten?
Was in unserer Kultur unter Wahnsinn fällt,
kann woanders relativ normal sein. In westafrikanischen Kulturen wie Nigeria und Ghana ist es üblich, alle möglichen Probleme
auf Hexerei zu schieben. Der Clou ist: Die
Machen wir uns also selbst verrückt?
Fotos: projekt.gutenberg.de (Quelle); shutterstock; picture alliance / dpa; privat
Herr Professor Stompe, Sie haben sich
der Erforschung des Wahnsinns
verschrieben. Wo fängt der Wahn an?
Heute beobachte ich ein Spiel mit dem Wahnsinn. Er hat eine Anziehungskraft, findet den
Weg in Filme und auf Bühnen. Doch eine relativ rationale Gesellschaft wie unsere kann
ihn nur bis zu einem gewissen Grad zulassen.
Insofern hat Foucault recht.
Was ist heute der Reiz des Wahnsinns?
Er entzieht sich dem Leistungsprinzip, widerspricht der Rationalität und den Forderungen der Gesellschaft. Menschen suchen
veränderte Bewusstseinszustände, sei es in
der Meditation oder im Rausch. Der Unterschied ist aber, dass die sich noch kontrollieren lassen und nach einer Weile verschwinden. Der Wahn stößt einem Menschen zu. Er
will damit weder widerständig sein noch der
Gesellschaft einen Spiegel vorhalten.
Forscher haben ein Gen entdeckt, das
Ist eine Veranlagung zu einer Psychose
sogar von Vorteil, wenn man Großes
schaffen will?
Man geht davon aus, dass die Gesunden in
einer Familie mit Schizophrenen tatsächlich
kreativer sind. Sie haben damit auch Vorteile, einen Partner zu finden. So geben sie die
Veranlagung an ihre Nachkommen weiter.
In einer Ihrer Arbeiten haben Sie sich
mit Gestaltungen des Wahnsinns bei
Shakespeare beschäftigt. Warum?
Unabhängig von meinem Beruf als Psychiater interessiere ich mich für Literatur.
Shakespeare war ein großartiger Menschenbeschreiber. Viele seiner Figuren leiden an
einem Wahn. Ich wollte wissen, wie er das
literarisch entstehen lässt.
Die Protagonisten sind wie unsere Stellvertreter. Sie erleben etwas, das wir nicht
durchleben müssen. Trotzdem können wir
daran teilhaben. Wenn dort oben jemand
umgebracht wird, können wir unsere eigenen unterdrückten Aggressionen auskosten,
ohne selbst zum Mörder zu werden. Das ist
ähnlich wie bei einem Drogentrip. Man kann
etwas integrieren, was normalerweise außen vor ist.
Aristoteles schrieb diesem Erleben eine
katharsische Wirkung zu. Die Seele
werde beim Anblick der Tragödie von
negativen Affekten befreit. Worin genau
liegt die reinigende Kraft des
Wahnsinns?
Die katharsische Wirkung besteht vermutlich darin, dass wir froh sind, nach dem
Abenteuer des Geistes wieder zurück in die
Normalität zu dürfen. Wir suchen immer
wieder Entlastung von der abendländischen
Rationalität. Die einfachste Form ist der Sexualakt. Da wird kurzfristig unser rationales
Korsett aufgebrochen, das man aber schnell
wieder zuschnürt. Genauso der Wahnsinnige auf der Bühne. Er mobilisiert etwas in
mir – dem ich mich zum Glück auch wieder
entziehen kann.
Sie diagnostizieren die Protagonisten?
Die Figuren lassen sich heutigen Begriffen
gut zuordnen. Hamlet ist depressiv. König
Lear macht eine paranoide Entwicklung
durch, als deren Basis seine herrische,
hochfahrende Persönlichkeit zu sehen ist.
Interessant ist, dass die Schizophrenie in
Shakespeares Kabinett fehlt. Sie wurde
erst 200 Jahre später beschrieben. Etwa bei
E. T. A. Hoffmann oder in Georg Büchners
Lenz. Das spricht für die Theorie, dass die
Schizophrenie in irgendeiner Form mit der
Moderne assoziiert ist.
Was geschieht mit dem Zuschauer,
wenn er auf der Bühne eine
wahnsinnige Figur sieht?
PROF. DR. THOMAS STOMPE, 56,
ist Experte für transkulturelle sowie forensische
Psychiatrie. Er lehrt an der Universitätsklinik
Wien und untersucht Erscheinungsformen des
Wahns in unterschiedlichen Kulturen. Über
den Wahnsinn hat Stompe zahlreiche wissenschaftliche Artikel und Bücher veröffentlicht,
darunter Vom Wahn zur Tat und Wahnanalysen
23
BÜHNE
Der
Meister
des
Verrückens
Manchmal nerven
sie uns, manchmal quälen
sie uns, manchmal
treiben sie uns an und ein
bisschen von ihnen
steckt in uns allen: fünf
Wahnsinnstypen, die
wir aus dem Alltag kennen
– und natürlich aus
Shakespeares Dramen
DER TRINKER Seine Lockerheit ist verführerisch, die Unabhängigkeit anziehend. Doch stammt
die Lässigkeit vom Fusel und die Autarkie ist fremdbestimmt, er bleibt ja immer außen vor. Kein
Wunder, bei dem Gestank und dem Benehmen. Lässt man ihn dennoch ein, bringt er Schwung in die
Runde, was aber zu Unwucht führt, Chaos, Krawall. Seine Stimmung schwankt wie eine Jolle im
Orkan. Konventionen sprengt er, wenn er von Liebe säuselt – doch die Wacholderfahne nimmt uns
gleich wieder die Lust. Er ist oft begabt, sogar genial, bleibt aber stets eine tragische Gestalt, denn
im Kern des Trinkers steckt Faulheit. Wo andere arbeiten und reflektieren, nimmt er die Abkürzung,
kippt Schnaps, schmeißt Pillen, törnt sich an. Aber eins muss man ihm lassen: Feiern kann er!
Illustrationen: Steffen Mackert
Zauberei und Täuschung, Macht und Liebe, Hass und
Vergeltung. Drogen, Lust, Entrücktheit und
Verrücktsein ziehen ab Mitte Dezember in Stuttgart ein.
Dieser Irrsinn hat mit Shakespeare zu tun
Diese Spielzeit wird derbe und fein, gewaltig und
lieblich. Es werden Fabelwesen auftauchen, Elfen, Könige, Prinzen und Prinzessinnen, Huren,
Geister, Säufer. Es wird um alles gehen und um
nichts. Wie immer, wenn Shakespeare auf dem
Spielplan steht.
Intendant Armin Petras nimmt sich für das
Schauspiel Stuttgart Der Sturm vor. Für Oper und
Schauspiel inszeniert Calixto Bieito The Fairy
Queen, eine Semi-Oper von Henry Purcell, deren Handlung auf Shakespeares Sommernachtstraum basiert. Auf der einen Seite das Mysterienspiel um den gestrandeten Königzauberer
Prospero, den Reue und Rachegelüste umgeistern. Auf der anderen Seite der leichte Reigen um
Täuschung, Lust und Liebe. Doch egal, ob sich
das Publikum dem Finsteren oder dem Flirrenden
zuwendet, die Unterhaltung ist garantiert. Wie
immer, wenn es Shakespeare gibt.
Denn Shakespeare rockt.
Er ist der meistgespielte, meistgelesene und
wohl am häufigsten verfilmte Autor der Weltgeschichte. Er rockt im wahrsten englischen
Wortsinn: Er ist ein Ver-rücker und Verschie-
ber, Geschichtenerzähler der Extreme. »Destroy
your characters« lautet in Hollywood eine Regel
für Drehbuchschreiber. Es ist das Destillat des
Shakespeare-Prinzips.
Kein Autor der Weltliteratur quält seine Charaktere so erbaulich. »Er treibt seine Figuren in
den Wahnsinn«, erklärt Shakespeare-Experte
Frank Günther. »Und damit führt er vor, dass
in uns Triebe brodeln, die imstande sind, die
Grenzen der Realität zu sprengen.« (Interview
ab Seite 26)
Diese sechs Seiten stehen im Zeichen Shakespeares – und des Wahnsinns. Erfahren Sie, was
Ausrasten für Shakespeare bedeutet. Wie es ist,
wenn zwei Irre zusammenarbeiten (Seite 29).
Wie ein Künstler den Wahnsinn spielt (Seite 30).
Und was Trinker, Träumer, Narr, Lügner und Aussteiger mit der Sache zu tun haben. Sie gehören
nämlich zu Shakespeares Stammpersonal, in
unterschiedlichen Konstellationen tauchen sie
immer wieder auf.
Jede Verschiebung ihres Charakters, jede
kleinste Ver-rückung in Raum und Zeit – und das
Drama nimmt seinen Lauf. Ralf Grauel
SCHAUSPIEL STUTTGART
DER STURM
VON WILLIAM SHAKESPEARE
Premiere: 11. Dezember 2015
im Schauspielhaus
KOPRODUKTION
OPER STUTTGART &
SCHAUSPIEL STUTTGART
THE FAIRY QUEEN
VON HENRY PURCELL /
WILLIAM SHAKESPEARE
Premiere: 31. Januar 2016
im Schauspielhaus
25
BÜHNE
In den Wahnsinn treiben
Shakespeares elisabethanisches Englisch verstehen
heute selbst die Engländer kaum noch. Auch die
200 Jahre alten Übersetzungen von August Wilhelm
Schlegel funktionieren nicht mehr. Wenn heute jemand auf der Bühne sagt: »Ei, du mein liebes Mühmchen«, weiß kaum einer, dass damit die Cousine gemeint ist. Sprache entwickelt sich, deshalb müssen
wir Shakespeares Werk lebendig halten.
Shakespeare quält in seinen Stücken viele der Figuren so sehr,
dass sie durchdrehen. Warum? Antworten von Frank Günther
FRANK GÜNTHER, 68,
ist der deutsche
Shakespeare-Übersetzer. Nach mehr
als 40 Jahren Arbeit
will er 2016 das
gesamte dramatische
Werk Shakespeares
durch haben. Er wäre
damit der Erste, der
alle Theaterstücke
von Shakespeare ins
Deutsche übertragen hat. Die Inszenierung Der Sturm
arbeitet mit Günthers
Text. Am 30. Januar
2016 spricht Günther
im Foyer des
Schauspielhaus über
»seinen Dichter«
Shakespeare war fasziniert von Menschen, die dem
Menschsein entrückt werden. Er wollte wissen, wie
sie sich in Extremsituationen verhalten. Also trieb er
seine Figuren in den Wahnsinn, zeigte, was ein Sturm
in der Seele anrichtet. Zu seiner Zeit galt die gezügelte Vernunft als Ideal. Shakespeare dagegen führt
vor, dass in uns Triebe brodeln, die imstande sind, die
Grenzen der Rationalität zu sprengen.
Welche Wirkung hatte das auf das Publikum?
Shakespeare zeigte mit seinen Figuren: Verwandlung
ist möglich. Seine Figuren verändern sich, sie hinterfragen sich selbst. Dieser Erkenntnisprozess reichte bis
ins Publikum: Shakespeares Stücke fordern dazu auf,
sich selbst zu erkennen. Für die Zuschauer waren seine
Stücke deshalb auch hoffnungsstiftend.
Müssen sich, um eine solche Wirkung zu erzielen,
auch beim Autor Genie und Wahnsinn vereinen?
Ich glaube, es ist ein Klischee, dass Dichter nur gut
sind, wenn sie im wilden Rausch die Poesie anzapfen. Auch Shakespeare war zunächst Handwerker, er
wurde von Kollegen gelobt, weil er seine Stücke so
zügig schrieb. Zu diesem Handwerk kam eine große
Empathie: Er konnte fühlen wie seine Figuren.
Shakespeare gilt als Dichter des Wahnsinns. Warum ist das so?
Man muss wissen, dass es zu seiner Zeit gewisse
Standardszenen auf den Bühnen gab: Sterben, Morden, Liebesschmachten, zotige Clownsszenen. Dazu
gehörten auch Wahnsinnsszenen. Die Zuschauer
liebten den Wahnsinn, es gab eine Faszination am
Grauen. Es war damals durchaus üblich, einen Nachmittagsausflug in die Irrenanstalt zu machen, um
sich ein bisschen zu gruseln. Shakespeare ist auf diese Bedürfnisse eingegangen und hat die damaligen
Konventionen zugleich mitgeprägt.
Und wie reagierte das deutsche Publikum?
Shakespeare traf den Nerv der Zeit, als er vor über
250 Jahren hier etabliert wurde. Davor gab es nur
sogenanntes Schichttheater. Nicht mal im Theater
sprach der König mit dem Bauern. Doch dann kam
Shakespeare mit seinem Zauberkasten der Fantasie.
Plötzlich trat der König neben dem Dieb auf, die Verliebten neben den Verrückten. Es war reales Theater,
nicht so gekünstelt wie das französische.
Die Faszination am Abnormen kennen wir auch
heute. Aber wie kommt es, dass uns Shakespeares
26
Wie schaffen Sie es, dass Ihre Übersetzungen zu
Shakespeare passen und gleichzeitig heute verstanden werden?
400 Jahre alte Figuren immer noch begeistern
und erschüttern?
Weil es bei ihnen um Macht, Neid, Gier, Eifersucht,
Liebe und die Angst vor dem Sterben geht. Sie stellen Fragen, die Menschen auch in anderen Zeiten
und Gesellschaftsformen beschäftigen. Viele Werke
Shakespeares funktionieren deshalb heute noch als
Reflexionsfläche unserer selbst.
Es gibt Dinge, die bleiben müssen: Ein Blankvers ist
ein Blankvers. Wo gereimt ist, muss gereimt werden.
Und wo früher ein Witz stand, soll auch heute gelacht
werden. Aber wörtlich zu übersetzen bringt nichts.
Bei Shakespeare geht Romeo liebeskrank in einen
Hain aus Bergahorn, bei Schlegel in einen Kastanienwald. Wenn man aber weiß, dass Shakespeare nur
deswegen Romeo in den Bergahornhain schickt, weil
Bergahorn auf Englisch »sycamore« heißt und sycamore wie »sick« und »Amor« klingt und den liebeskranken Romeo ironisiert, dann ist es textgetreuer,
Romeo unter eine Trauerweide zu schicken.
Was erkennen wir in Der Sturm und der SemiOper The Fairy Queen, der Ein Sommernachtstraum zugrunde liegt? Die Werke stehen in dieser
Saison im Programm.
Wie immer bei Shakespeare sind solche Fragen nicht
in einem Satz zu beantworten. Was beiden Stücken
gemeinsam ist, ist die Märchenhaftigkeit ihrer Erzählung: Weil sie sich nicht an den konkreten Alltag binden, lassen sie eine Freiheit für Grundsätzliches. Vom
Sommernachtstraum heißt es, Shakespeare habe das
Stück zur Unterhaltung einer Hochzeit geschrieben.
Den Hintergrund bildet eine Nacht im Sommer, in
der sich alle Grenzen des Normalen auflösen und nur
Triebhaftes geschieht, wie es in der täglichen Welt der
Alltagsvernunft niemals passieren könnte – und das
Erschreckendes und Fürchterliches an die Oberfläche
holt. Es ist eine bösartige Beschreibung der Liebe, die
keineswegs ewig ist, sondern eine Selbsttäuschung,
die leicht manipuliert werden kann. Aus dem Stück
spricht Sarkasmus über Klischees, die man auch heute durchaus wieder als Klischees lebt.
Was entgegnen Sie Kritikern, die auf Werktreue
bestehen?
Ich bin absolut werktreu, indem ich untreu bin. Mit
meinen Übersetzungen möchte ich die gleiche Wirkung erzielen wie Shakespeare damals. Es gibt lediglich eine originale Aufführung von King Lear. Die fand
1606 statt. Alle anderen danach waren werkuntreu.
Theater ist immer ein Spiegel der jeweiligen Zeit.
Wo beginnt denn Werktreue? Müssten in Stücken
von Shakespeare heute noch alle Frauenrollen von
Männern gespielt werden? Und würde ein solches
Transvestitentheater nicht eher komisch als klassisch wirken?
Wie viel Mut erfordert es, in Texte einzugreifen,
die in ihrer Form jahrhundertelang erfolgreich
die Bühnen beherrscht haben?
Und bei Der Sturm?
Der handelt von der Fantasie: Was täte ich, wenn ich
König wäre und Zauberkräfte hätte? Jeder Mensch hat
Feinde, jeder hasst irgendwen, jeder möchte sich an
irgendwem für irgendwas rächen. In diesem Stück
geht es um eine Aufarbeitung der Vergangenheit von
Leuten, die Schuld auf sich geladen haben. Prospero, der ehemalige Fürst von Mailand, bekommt seine
Feinde in seine Macht und muss entscheiden, was
er mit ihnen anstellt. Vernichtet er sie, quält er sie?
Nein, er will sie zu besseren Menschen machen, indem er sie mit Bildern ihrer selbst konfrontiert, in der
Hoffnung, dass sich daraus ein inneres neues Erleben
einstellt. Das deprimierend Moderne ist: Es klappt
nicht so recht. »O schöne neue Welt«, sagt Miranda,
seine Tochter, »wie schön die Menschen sind.« Und
er antwortet: »Du kennst sie nicht.«
Wie stark muss ein Übersetzer eingreifen, um Liebe, Hass und Wahn aus der alten Vorlage glaubhaft rüberzubringen?
Ich besitze eine natürliche Unverschämtheit. Die hat
auch nicht darunter gelitten, dass ich nach meinen
ersten Übersetzungen als große Sau beschimpft wurde. Damals warf man mir Verbalhurerei vor, weil ich
genau dort werkgetreu gemaulhurt habe, wo Shakespeare deftig geferkelt hat. Das wusste nur niemand,
weil Schlegel den Text geschönt hat, um sich dem
Etepetete-Geschmack seiner Zeit anzupassen.
Zwei Stücke fehlen Ihnen noch, dann haben Sie
alle von Shakespeare übersetzt. Das hat vor Ihnen
nicht einmal Schlegel geschafft. Ist das Rekordsucht oder auch eine milde Form des Wahnsinns?
Foto: Ralf Zwiebler
Es gibt kaum ein Stück von Shakespeare, in dem
nicht in irgendeiner Form die Normalität durchbrochen wird. Was soll dieser Wahnsinn?
Mit König Johann und König Heinrich VIII. übersetze
ich zwei Stücke, die wahrscheinlich nie aufgeführt
werden. Zu Recht. Aber vielleicht will’s ja jemand
lesen. Ich muss das abrunden. Und wenn ich nach
dem letzten Satz noch nicht genug von Shakespeare
habe, dann gibt es da ja noch seine 154 Sonette.
Interview: Lisa Rokahr
DER NARR Distanz ist seine Wohlfühlzone. Mitten danebenstehen. Dabei sein, aber niemals Anteil nehmen. Er ist Philosoph,
Satiriker, Kritiker und Kommentator, den wir brauchen, um an der
Welt nicht zu verzweifeln. Ironie, Spott, Häme, Sarkasmus und Zynismus – er jongliert mit Sprache und Bedeutung, dass uns schwindlig wird und wir in seinem Unsinn Sinn finden. Uns unterhält er,
während er sich selbst am eigenen Nihilismus langsam vergiftet. So
richtig verstehen wir ihn ohnehin nie, unser Begreifen ist nur ein
gefühltes. Für Nachahmung ist er viel zu schnell und gewitzt. Größter Feind: seine Eitelkeit. Größte Gefahr: Sobald der Zynismus
seine Empathie aufgefressen hat, ist er wund, leer, ausgebrannt –
und depressiv
BÜHNE
Den Wahnsinn inszenieren
DER TRÄUMER Er ist naiv,
Blut, Sperma, E-Gitarren: Calixto Bieito und Christian Curnyn gelten als
die großen Irren der Opernwelt. Wie arbeiten die bloß zusammen?
kindlich, unverdorben – und
doch will keiner mit ihm tauschen.
Blumig leidet der Träumer an
der Welt, und wo wir uns längst in
ihr eingerichtet haben, schaut
er zu den Sternen, redet über alles
Mögliche, schwärmt von Liebe,
Idealen, Wahrheit, Gerechtigkeit,
legt seine Finger schlafwandlerisch in unsere Wunden und mümmelt genauso verschlafen davon,
ab zum nächsten Konjunktiv, den
er besteigt wie ein Beifahrer
den Beiwagen, und statt sich festzuhalten, staunt er wieder in der
Gegend herum – bis es ihn in der
ersten harten Kurve aus der
Bahn wirft. Träumer bleibt kaum
einer ein Leben lang, die wenigsten überstehen den ersten Akt.
Sie saufen, fliehen, welken, sterben. Bis ein Kind ihre tollen Ideen
am Wegesrand entdeckt, sie
hochhält und wir sie zu Helden
machen – posthum
Blutüberströmte Kinderleichen (Turandot), verschwenderische Verwendung von Sperma (Don Carlos) oder durchbohrte Körper (Macbeth) – bei Calixto
Bieito scheint jeder zu wissen, was ihn erwartet: oft
schmerzhafte, manchmal brutale, aber immer radikale Bilder. Von denen hat der katalanische StarRegisseur in seiner Karriere in der Tat unzählige
geliefert, wie der stolze Reigen der Jubelstürme und
Buh-Kaskaden des Publikums bezeugt. Es waren so
viele, dass eine der faszinierendsten Metamorphosen
der letzten Dekade fast unbemerkt geblieben ist: die
Verwandlung Bieitos vom Bürgerschreck zu einem
der großen Poeten der zeitgenössischen Oper.
Radikal, das ist er immer noch. Kaum jemand
taucht so bedingungslos in Libretti und Partituren
ein, bis er buchstäblich jedes Wort, jeden Ton auswendig kennt. Kaum jemand schürft so tief nach dem,
was eine Oper uns heute erzählen kann, seziert so
gnadenlos die Mechanismen von Gewalt (Soldaten),
Macht, Liebe, Identität (Platée) oder Religion (Parsifal). Vor allem aber lässt kaum jemand seiner künstlerischen Intuition so radikal freien Lauf. Bei Bieito
hat das Wort »Probe« noch seine ursprüngliche Bedeutung. Kein Einfall ist zu verrückt, keine Idee zu
spontan, um nicht sofort ausprobiert zu werden. Der
Lohn: Bilder voller Charme und Poesie, die leiser sind
als früher, aber dafür noch tiefer in unser Menschsein
blicken. »Vielleicht will ich nur meine Wahrheit finden«, sagt Bieito. Man fragt sich, wie es sich mit solch
einem radikalen Poeten zusammenarbeitet.
DER LÜGNER Zwei Sorten
Sex und Stratocasters
Fotos: A.T. Schaefer; Eric Richmond
Lügner gibt es: Intrigant und
Prediger. Der Intrigant umgarnt
sein Gegenüber, zieht Fäden
der Sehnsüchte, spielt Menschen
wie Marionetten. Er sucht
Macht und Liebe, sein Verlangen
nach beiden ist aber so unersättlich, dass er immer höhere
Risiken eingeht und am Ende
Verderben und Tod findet. Doch
seine Intrigen, Visionen, ja,
Innovationen sind echte ActionTreiber. Die zweite Sorte ist
gefährlich, denn sie glaubt ihre
Lügen selbst. Politiker, Propheten,
Verkäufer, die ihre Weltbilder
von allen Unschärfen bereinigen,
Parolen schleifen und so lange
austesten, bis wir deren Glattheit
(wie eigentlich immer) mit
Wahrheit verwechseln. »Wir sind
das Volk«, »Geiz ist geil«, »Du
willst es doch auch«: Die Rhetorik
ist billig, aber sie funktioniert.
Dagegen hilft nur Gelassenheit
Dirigent Christian Curnyn müsste es wissen. Erstens
war er bereits Bieitos Partner bei der gefeierten Platée-Inszenierung 2012 in Stuttgart. Zweitens ist er
selbst ein Schwergewicht seiner Zunft: Das Händelversessene Großbritannien überschüttet den Spezialisten für Barockoper seit Jahren mit Preisen für seine
Aufführungen. Drittens aber spielt Curnyn in Bieitos
Liga, was die kreative Radikalität angeht. Lustvoll
überhäuft ihn die britische Presse mit euphorischen
Kommentaren à la »There is nothing to beat the musical output« (Evening Standard) und Titeln wie »Bad
boy of baroque« (Guardian).
Zugegeben, in anständigen Lebensläufen sind derartige Titel von eher begrenztem Wert. Aber wer Solisten mit glitzernden Stratocaster-E-Gitarren Arien
schmettern lässt (Platée) oder dasselbe Stück schlafend in einem Bett auf der Bühne beginnt, während
eine der männlichen Hauptfiguren einen hocheroti-
schen Moment mit ihm durchlebt, schert sich nicht
sehr um die Headlines der Presse.
Bieito und »The man, who’s putting the shock into
the baroque« (Guardian) in einem Team? Das kann ja
– nun, heiter ist möglicherweise der falsche Ausdruck
an dieser Stelle. Also ist es besser, gleich zu fragen:
»Wie ist es, mit Calixto zu arbeiten?« In der Pause
bis zu Christian Curnyns Antwort hätte selbst Vivaldi kaum eine Zweiunddreißigstel platzieren können:
»Großartig!«
Du siehst gut aus auf dem Bett
Und dann erzählt der Brite, wie er während der Proben zu Platée in erwähntem Bett auf der Bühne lag.
»Calixto schaute kurz rüber zu mir und sagte: ›You
are looking good on that bed.‹« Damit war diese Idee
im Moment ihrer Entstehung fertig ausprobiert und
wurde direkt in die Inszenierung übernommen. »So
ist das immer mit ihm: Alles fließt.« Der katalanische Regie-Radikale ist in der Probenarbeit legendär
für die Sanftmut, die er verbreitet. Kaum ein lautes
Wort fällt. Der gemeinsame Fluss der Ideen ist alles.
Wenn beide in diesen Fluss eintauchen, dann gibt es
keine Zuständigkeitsbereiche mehr, nur gemeinsame
Suche. Solisten nicken, wenn man sie danach fragt,
und berichten, dass Bieito eine Atmosphäre schafft,
in der man selbst über Grenzen gehen will – und geht.
Spontanität und Radikalität sind also das, was
beide verbindet. Weshalb auch keiner von ihnen sagen konnte, was für eine Fairy Queen die Stuttgarter
Zuschauer zu sehen bekommen werden.
Sicher ist nur, dass das Libretto basierend auf
Shakespeares Sommernachtstraum und die Musik
von Henry Purcell diesen beiden sanften Berserkern
mehr als genug Gelegenheit geben wird, radikal Neues zu erschaffen. Bemerkenswert ist dabei nicht nur
ihre Zusammenarbeit, sondern auch die Kooperation von Oper und Schauspiel. Schauspieler, Sänger,
Staatsopernchor und Staatsorchester treten gemeinsam auf. Gesungen wird auf Englisch, gesprochen
auf Deutsch.
Dass »neu« dabei niemals Selbstzweck, sondern
Ergebnis ihrer künstlerischen Vision ist, macht das
Warten auf diese Premiere nicht leichter: Curnyn und
Bieito wollen Barock-Opern relevant halten – und
sensationell. So sensationell, aufregend, unterhaltsam, wie sie es für ihr Publikum am Tag der Uraufführung waren. Das wird ihnen mit etwas Fortune wieder
gelingen. Dafür kann man durchaus etwas Radikalität
in Kauf nehmen. Michael Matthiass
CALIXTO BIEITO, 52,
ist ein spanischer
Regisseur mit
Vorliebe für extreme
Inszenierungen. In
Stuttgart hat er unter
anderem bei Jenufa,
Parsifal, Der fliegende
Holländer und
Platée Regie geführt
CHRISTIAN
CURNYN, 43,
hat sich auf barocke
Musik spezialisiert
und gründete die Early
Opera Company.
2013 erhielt er den
BBC Music
Magazine Award.
Vor The Fairy Queen
dirigierte er in
Stuttgart Platée
29
BÜHNE
Den Wahnsinn spielen
Bariton Georg Nigl spielte unlängst Jakob Lenz als Schizophrenen.
So überzeugend, dass sich manche schon Sorgen um ihn machten
Er verhält sich nicht konform und verschreckt dadurch andere. Er predigt, er versucht, Tote mit Gebeten wieder lebendig zu machen. Die anderen können
nicht akzeptieren, dass er Dinge tut, die aus dem üblichen Handlungskanon herausfallen. Erst die Sicht der
anderen, die Situation macht ihn scheinbar zu einem
Problem. Das könnte jedem passieren.
GEORG NIGL, 43,
wurde 2015 von der
Zeitschrift Opernwelt zum Sänger des
Jahres gekürt. Die
tiefgründige Interpretation von Gesangsrollen gelingt ihm so
überzeugend, dass
Komponisten inzwischen eigens für
ihn Stücke schreiben.
Im November 2015
sang Nigl die Titelrolle in Jakob Lenz an
der Stuttgarter Oper
ÜBRIGENS ...
Alle gezeigten
Emojis entsprechen
folgenden Figuren
bei Shakespeare:
Den Narr Puck
kennen wir
aus Sommernachtstraum
Träumerin
Titania verliebt
sich dort
in einen Esel
Berühmter
Aussteiger:
Prospero in
Der Sturm
Trinculo
und Stephano
landen auf
Prosperos Insel
Auch dort:
Luftgeist Ariel
und Lügenfürst Antonio
30
Weil Wahnsinn durch äußere Umstände
ausgelöst wird?
Ja. Wenn wir in alle Hirne schauen könnten, würden wir sehen, wie oft das Leben die Menschen erst
wahnsinnig gemacht hat. Das kennt jeder aus dem
Alltag, man erfährt es in abgeschwächten Varianten
ja selber immer wieder.
Zum Beispiel?
Ich konnte einmal in meiner Wohnung nicht arbeiten,
weil nebenan die Musik zu laut war. Also ging ich
raus. Aber auf der Straße konnte ich nicht telefonieren, weil neben mir der Asphalt aufgerissen wurde.
Und als ich vor dem Lärm in ein Geschäft geflohen
bin und dort nach dem Preis für einen Stuhl namens
LC4 gefragt habe, um mich zu beruhigen, sagte der
Verkäufer: »Nein, das ist nicht der LC4, sondern der
LC8.« Da habe ich geantwortet: »Lecken Sie mich
doch am Arsch!« Und bin rausgestürmt. Der konnte
nichts dafür. Der Lärm hatte mich irre gemacht.
Wie spüren Sie dem Wahnsinn nach?
Ich versuche die Qual zu verstehen, die dadurch
hervorgerufen wird, dass man sich nicht gehört und
verstanden fühlt. Es ist vielleicht wie bei einem
Tinnitus, diesem quälenden Ton im Innenohr eines
Betroffenen, der ihn fast irre macht, den aber
niemand sonst vernimmt. Wenn man sich das auf
Stimmen gesteigert vorstellt, die auf einen
einreden, die kein anderer wahrnehmen kann, ist
man nah am Wahnsinn. Es geht immer um eine
sehr große Einsamkeit.
Wie vertraut müssen Gefühle sein, um sie
darstellen zu können?
Wenn man nicht verstanden wird, treibt einen das
zwangsläufig in eine Situation des Auf-sich-selbstzurückgeworfen-Seins. Das kann ich sehr gut nachfühlen, denn ich habe schon Momente großer Einsamkeit in meinem Leben empfunden.
Ist Empathie eine Voraussetzung für die Arbeit?
Die Leute glauben immer, ich gehe auf die Bühne und
mache mal eben einen auf Klaus Kinski, und das war
es. Das ist grundfalsch. Meine wahre Arbeit findet
lange vorher statt, beim Studium der Texte, der Partituren, im Dialog mit anderen Beteiligten des Stückes.
Wie lange bereiten Sie sich vor?
Ich habe drei Jahre über Jakob Lenz gebrütet, um der
Sache auf den Grund zu gehen. Dann erst habe ich
die Freiheit, auf der Bühne zu improvisieren. Mein
eigenes Empfinden ist nur noch das Salz in der Suppe,
eine Art Geschmacksverstärker. Aber wenn ich weiß,
was ich spiele, kann ich mich nicht total von mir entfernen – dann steht da nicht 100 Prozent Jakob Lenz,
sondern auch immer ein bisschen Georg Nigl.
Erhoffen sich die Zuschauer immer ein bisschen
echten Wahnsinn vom Künstler?
Das kann ich Ihnen nicht sagen, weil ich dafür zu sehr
auf der anderen Seite stehe. Für mich ist das eine Frage der Interpretation meiner Rolle, das ist Schwerstarbeit, egal ob lustig oder wahnsinnig. Ich versuche,
das Thema zu begreifen und meine Antworten zu
finden. Wenn ich mich mit etwas so ausführlich beschäftige, möchte ich erreichen, dass jemand neu
über etwas denkt oder etwas Neues erfährt.
Fasziniert die Menschen Wahnsinn auf der
Bühne so, weil er eine Freiheit jenseits aller
Normen verspricht, eine Regellosigkeit, von der
alle träumen?
Gerade bei Jakob Lenz haben wir gesagt, wir wollen
eben nicht, dass die Zuschauer sich von einem Wahnsinn vor ihnen einfach unterhalten lassen, der nichts
mit ihnen zu tun hat. Wir müssen sie in eine Verunsicherung bringen, sodass sie sich fragen: Könnte
mir das auch passieren? Was ist mein Anteil daran?
Wie sehr nimmt Sie ein solches Stück mit?
Am Tag nach der Generalprobe war ich zu Tode betrübt, weil mir bewusst wurde, wie einsam und traurig Jakob Lenz gewesen sein muss. So gerne hätte ich
ihm gesagt, wie viele Leute er heute berührt. Dass er
das nicht mehr erfährt, das hat mich tief deprimiert.
Welchen Einfluss hat so eine intensive
Auseinandersetzung mit dem Stoff auf Ihr
Leben?
Ich kann wirklich sagen, ich bin nicht mehr der, der
ich vor fünf Jahren war. Als ich jetzt den Preis des
Sängers des Jahres erhalten habe, über den ich mich
freue und der mich sehr ehrt, war doch die Freude
der anderen für mich die schönste Auszeichnung.
Dass ich nicht nur einsam am Tisch sitze und mich
irgendwo alleine hineinwühle, sondern dass andere
das wahrnehmen – das ist wunderbar.
Interview: Rainer Schmidt
DER AUSSTEIGER Hierhin rettet sich, wer nicht mehr kann: ins Abseits, Sabbatical oder Kloster,
Foto: Martin Sigmund
Herr Nigl, wie irre ist Jakob Lenz?
in die Höhle, unter die Brücke, auf die Insel, den Jakobsweg oder ins Basiscamp des Mount Everest. Er ist das
menschgewordene Jack-Wolfskin-Prinzip. »Den Modequatsch mache ich nicht mit«, sagt er, wendet uns
Rücken und Markenlogo zu, verduftet. Doch egal wovon er sich abwendet (Ruhm, Konsum, Menschenkrach,
Plastikquatsch): Wenn er wiederkommt, sollte er mindestens die Zehn Gebote im Gepäck haben. Je länger
jemand oben, unten, raus oder weg ist, umso heller sollte die Erleuchtung strahlen. Wehe, da kommt nichts.
Dann ist er wieder, was er vorher war: einer von vielen
BÜHNE
Jacqueline Kennedy mit ihren
Kindern John
und Caroline
nach dem Staatsbegräbnis für
den ermordeten
John F. Kennedy
Wie geht es im Leben weiter, wenn die Hauptfigur fehlt? Gestern noch Ehefrau,
plötzlich Witwe. Was passiert danach? Wo beginnt der Abschied?
Vom Mann, Partner, Geliebten, Tyrann? Solche Fragen will Schauspielintendant
Armin Petras in seinem neuen Stück The King’s Wives ergründen.
Ein Spaziergang mit einer Frau, die von ihrem größten Verlust berichtet
TEXT: VERONIKA WULF
32
Fotos: Getty Images / Kollektion; Martin Sigmund
Der Einschnitt
Es ist ein ungleiches Paar, das aus der Pforte
des Schauspielhauses Stuttgart kommt: Armin Petras, 51, unauffällig mit grauer Mütze
und Kapuzenpullover, und Maja Majnik, 52,
lachsrote Wildlederjacke, rötliche Locken. In
der nächsten Stunde wird sie mit Petras über
ein Thema sprechen, mit dem sie sich auskennt: Abschiednehmen. Denn sie ist Witwe.
Sie laufen fünf Kilometer vom Kubusbau
des Schauspielhauses zum Nord, der Spielstätte des Schauspiel Stuttgart im Norden
der Stadt. Früher produzierte dort eine Firma
Autoteile, seit fünf Jahren proben hier die
Staatstheater Stuttgart und führen Stücke
aus dem Theaterrepertoire auf.
Hier plant Petras sein Projekt Abschied
von gestern, das sich dem Loslassen und
Neuanfängen widmet. Es ist mehr als ein
Theaterstück. Rund 30 Veranstaltungen
sollen ab Januar im Nord stattfinden. Eine
davon ist ebenfalls ein Spaziergang, der vom
Schauspielhaus durch den Stadtteil ins Theater führt. Die Blicke der Zuschauer werden
bei Nach Norden! mittels Knopf im Ohr auf
Ungeahntes und Neues gelenkt. Angekommen im Theater, soll es weitere Formate geben: Tanz, Workshops, Konzerte, Partys und
Mischungen aus diesen.
Jede Veranstaltung entsteht aus einer
Partnerschaft. Theatermacher begegnen
dem Publikum, Kunststudenten, Flüchtlingen. Das Stück The King’s Wives entwickeln
sechs Schauspieler mit sechs Witwen. Sie
haben den größten Abschied erlebt: den von
einem geliebten Menschen. Bei Spaziergängen und Hausbesuchen sprechen sie über
den Tod und das Weiterleben.
Eine der Witwen ist Maja Majnik. Ihre erwachsenen Kinder haben sie dazu ermutigt.
»Vielleicht ein Schritt, den Verlust anders zu
verarbeiten als bisher.«
Vor 25 Jahren ist sie aus Ex-Jugoslawien
nach Stuttgart gekommen, um Deutsch zu
lernen. Am Anfang sollten es nur drei Monate sein, doch sie verliebte sich, heiratete,
bekam zwei Kinder und blieb. Sie war glücklich – bis ihr Mann krank wurde. Diagnose:
Hirntumor. Vier Jahre später war er tot.
Das ist sieben Jahre her. »Ich bin ziemlich
gut im Verdrängen«, sagt Majnik mit leicht
rollendem R. Am Anfang war sie über sich
selbst erstaunt: »Ich konnte manchmal ganz
neutral darüber reden, als wenn ich nicht
persönlich betroffen wäre.« Rückblickend
weiß sie, das war Selbstschutz. Direkt nach
Wie lernt man loszulassen? Intendant Armin
Petras im Gespräch mit Maja Majnik
dem Tod ihres Mannes besuchte sie eine
Therapeutin, doch vor einer Depression haben ihre Kinder sie gerettet. In vielen Gesprächen halfen sie sich gegenseitig, den
Schmerz zu verarbeiten. Inzwischen sind die
Kinder 20 und 22 und wohnen noch immer
bei ihrer Mutter in einem Haus nahe Stuttgart. »Dann bin ich nicht so allein.«
Maja Majnik hat sich in ihrem neuen Leben eingerichtet. Sie arbeitet als Verkäuferin
und als Model und bekommt Witwenrente.
Die Jahre mit ihrem Mann nimmt sie als
Geschenk. »Er hat mich nach Deutschland
gebracht und ich fühle mich wohl hier. Auch
wenn der Grund meines Daseins nicht mehr
bei mir ist.« Über seinen Tod werde sie nie
ganz hinwegkommen. »Immer wieder kommen Tsunamis in meiner Seele hoch, egal
ob ich im Supermarkt bin oder mich mit der
Nachbarin unterhalte, und ich fange an zu
weinen.« Manchmal reicht ein Geruch oder
ein Lied.
Über all das wird sie auch mit ihrem
Schauspielpartner sprechen. Ob es ein Mann
oder eine Frau sein wird, steht noch nicht
fest. »Wir werden in den nächsten Tagen die
Partner zusammenbringen, die am besten
passen, oder auch die, zwischen denen der
größte Kontrast herrscht«, erklärt Petras. Auf
der einen Seite die Witwen. Maja Majnik ist
mit 52 die jüngste, die älteste ist 77. Eine
hat ihren Mann vor 30 Jahren verloren, eine
andere erst in diesem Jahr. Auf der anderen
Seite die Schauspieler, die meisten zwischen
20 und 30. »Ich finde diese Mischung aus
jung und alt sehr interessant«, sagt Petras.
»Mit 20 habe ich noch keine Sekunde über
den Tod nachgedacht.«
Aus den Gesprächen schreibt er mit den
Schauspielern das Stück. Jeder Schauspieler
wird auf der Bühne das Leben »seiner« Witwe verkörpern. Und auch diese treten auf:
In einer Choreografie stehen sie im Kreis, in
dessen Mitte ein Schauspieler tanzt, stellvertretend für die verstorbenen Männer.
Ein weiterer Teil von Abschied von gestern ist eine Erinnerungsskulptur, bei der die
Besucher Dinge ablegen können, die sie gern
hinter sich lassen würden: die letzte Zigarette, das Höschen der Exfreundin, die Bücher
für die nie beendete Promotion.
Petras und Majnik haben ihr Ziel erreicht.
Die Spielstätte Nord trägt noch immer das
Flair einer Fabrikhalle: Beton, graue Fassade, Metalltreppen. Der abgelegene Ort ist
außerhalb der Aufführungen wenig belebt.
Theaterprojekte wie Abschied von gestern
sollen das Publikum ab der nächsten Spielzeit einladen, länger als die Dauer eines
Stücks zu bleiben.
Ausgerechnet Themen wie Abschied und
Tod sollen Zuschauer anziehen? »Genau
die«, sagt Petras. »Ich versuche immer, Themen zu finden, die ein bisschen bäh sind.«
Das Thema Abschied lag für ihn auf der
Hand. »Deutschland befindet sich im Wandel. Durch die enormen Flüchtlingszuströme wird sich unsere Gesellschaft komplett
verändern. Wir müssen Abschied nehmen
von unserer bisherigen Kultur, sonst entsteht Hass, und der führt zum Bürgerkrieg.«
Das Theater biete die Möglichkeit, wertfrei
zu diskutieren. »Politik muss wehtun, Theater überzeugt durch Emotionen.« Deshalb
wird ein Teil des Projekts das Stück Die Kinder des Herakles sein, bei dem Flüchtlinge
mitspielen.
Auch im Kleinen, findet er, werde zu wenig Abschied genommen. »Wir hetzen so sehr
durch unseren Alltag, dass keine Zeit mehr
bleibt zurückzublicken.« Dabei sei es wichtig,
über das Getane nachzudenken, um etwas
Neues zu beginnen. »Manchmal mag es gut
sein, am Anfang einen Einschnitt wegzubügeln. Aber sich gar nicht damit zu beschäftigen, führt zu Wunden, die nicht mehr heilen.«
Seine letzte Frage vor dem Eingang zur
Probebühne: »Kann man Abschiednehmen
lernen?« – »Ich glaube nicht«, sagt Majnik.
»Aber vielleicht zeigt meine Geschichte, dass
es weitergeht. Sonst gäbe es uns Menschen
nicht seit Tausenden von Jahren.«
SCHAUSPIEL STUTTGART
THE KING’S WIVES
Premiere am 5. Februar 2016
im Nord
33
BÜHNE
Ich staune jedes Mal
darüber, dass
sich Leute in unser
Theater setzen
Unzertrennlich:
Marco Goecke,
Hauschoreograph
beim Stuttgarter
Ballett, und Gustav.
Rückenansichten
dürften Goeckes
Publikum sehr
vertraut sein
Als Marco Goecke 2001 seine ersten Ballette präsentiert,
verlassen Zuschauer empört den Saal. Im Herbst 2015 wird er
von der Zeitschrift Tanz zum Choreographen des Jahres gewähIt.
In den 14 Jahren dazwischen hat sich vor allem die
Wahrnehmung seiner Arbeit geändert. Marco Goecke selbst ist
der geblieben, der er immer war: ein Grenzgänger
TEXT: USCHI ENTENMANN
S
tellen Sie sich vor, Sie stehen
vor einem modernen Gemälde, dessen Linien und Komposition sich jeglicher Deutung
verweigern. Sie betrachten das Bild, keine
Form verweist auf irgendetwas, das Ihnen
bekannt erscheinen mag. Vor Ihren Augen:
pure Abstraktion. Und dennoch regt sich was
in Ihnen, jede Menge sogar, und bevor das
eine Gefühl voll da ist, drückt sich schon das
nächste nach oben: Beunruhigung, Irritation, Mitleid, Trauer, Aufregung, Freude, Rührung. Sie verstehen nichts. Und sind zutiefst
erschüttert und bewegt. Willkommen in der
wunderbaren Welt von Marco Goecke.
Goecke ist ein Forscher, Tester, Fragensteller. Er reduziert, um zu erkennen. Er
34
FOTOS: ROMAN NOVITZKY
fragt, um neue Fragen zu finden. Er sucht,
um Dinge zu entdecken, die es vorher nicht
gab. Die Tänzer seiner Choreographien vollführen Bewegungen, die neu und ungesehen
sind, keine von ihnen hat es so zuvor gegeben. Flatternde, zitternde Bewegungen sind
das, sie folgen so schnell und unvermittelt
aufeinander, dass es Zuschauer regelmäßig
auf den Rand der Sitze zieht, weil sie keinen
einzigen dieser flüchtigen Momente verpassen wollen, keine dieser seltsamen Bewegungen, die sie noch nie gesehen haben
– und die sie so berühren. Und dann kommt
schon die nächste. Und die nächste.
Diese Fähigkeit, das tatsächlich Neue
zu schaffen, macht Marco Goecke zu einem Grenzenverschieber und Innovator. Er
zeichnet große Gefühle mit kleinsten Strichen. Seine Choreographien balancieren auf
einem schmalen Grat zwischen dem Zauber
des Moments und der Ahnung vom Ende.
Sie sind zerissen, abstoßend und elegisch
zugleich. Egal sind sie nie.
Die Stuttgarter haben lange gebraucht,
sich an diesen Mann zu gewöhnen. Nach
einer weitgehend unauffälligen Karriere als
Tänzer ernannte ihn Intendant Reid Anderson 2005 zu seinem Hauschoreographen. In
Stuttgart wagte er seine ersten Experimente,
die das Publikum polarisierten, zum Teil Empörung und offene Ablehnung hervorriefen.
So ist das immer mit dem Neuen. Es wird
zuerst abgelehnt, dann erkannt, dann gefeiert. Zeit für ein Gespräch.
35
BÜHNE
Herr Goecke, Sie lassen Ihre Tänzer zu
Musik von Bob Dylan, Jimi Hendrix und
Johnny Cash antreten. Warum das?
Manchmal arbeite ich ja auch mit dem
großen Orchester. Ich bin schon froh, wenn
ich überhaupt eine Musik gefunden habe.
Irgendwie muss man ja anfangen. Mit dem
ersten Ton oder dem ersten Schritt.
Woher kommen Ihre Ideen?
Ich habe keine Ideen, das ist das Schlimme. Kein Konzept, keinen Plan. Wenn ich
ein Stück anfange, kann ich meine Angst
davor gar nicht in Worte fassen. Ich gehe
zur ersten Probe in einen leeren Ballettsaal
und warte auf die Tänzer. Wenn der erste beginnt, sehe ich sofort eine Bewegung, einen
Schritt und wir fangen an.
Warum tragen Sie immer Sonnenbrille?
Ich verstecke mich dahinter. Manchmal
brauche ich ein bisschen Distanz, obwohl
es mir bei jeder Probe um die Begegnung
mit den jungen Menschen geht, das ist der
Sinn. Außerdem bin ich Perfektionist. Wenn
Licht oder Szenerie nicht perfekt sind, ertrage ich es nicht – mit Sonnenbrille sehe ich
das nur diffus.
Sie sind Minimalist. Kein buntes Licht,
kaum Bühnenbild, Schwarz und Weiß.
Die Tänzer: schwarze Hosen. Warum?
Das kam aus der Not heraus. Als junger Choreograph hatte ich keine Kostüme, da waren
nur schwarze Hosen im Fundus, aber dafür
waren die Tänzer schön und gut gebaut. Das
habe ich kultiviert. Mich interessieren die
Bewegungen, nicht die Klamotten.
Wie haben Sie Ihre Anfänge erlebt?
Man verdient nichts, hat aber die Möglichkeit, mit Tänzern zu experimentieren. Ich
lebte vom Arbeitslosengeld, hatte eine Wohnung ohne Dusche, konnte die Stromrechnung nicht bezahlen, starrte manchmal zum
Döner-Imbiss rein, weil ich Hunger, aber kein
Geld hatte, mir einen zu kaufen.
mich verrückt, sehen in mir einen schrägen Vogel. Ich kann die Menschen reinziehen in meine
Choreographie, sodass sie dafür brennen. Darauf beruht mein eigentlicher Erfolg und das
Wichtigste überhaupt: Ich gehe in den Ballettraum und die Tänzer freuen sich.
Statt zu hungern hätten Sie doch nebenher kellnern können.
Ach, das geht schon. Training und Technik sind
heute anders als vor 30 Jahren. Das können die
alle. Mich interessiert das Wunder des Körpers
in jeder Bewegung, ich lese Medizin- und Anatomiebücher, frage meinen Arzt aus und gehe
mit diesem Wissen an die Grenze, manchmal
schiebe ich sie weiter. Ich zwinge die Tänzer,
Kopf, Hals und Brustkorb zu bewegen, bis es
wehtut. Gleichzeitig achte ich darauf, dass
nichts passiert. So suchen wir neue Energien.
Die Tänzer finden das gut, bis zur Erschöpfung.
Wozu? Es war eine tolle Zeit. Ich hing im Ballettsaal rum und trainierte, ich war ja noch
in Form, habe mal hier, mal dort geschlafen,
wo es Heizung und Dusche gab. Und fragte
andere Tänzer, ob sie in ihrer freien Zeit mit
mir arbeiten möchten. Ich empfinde es bis
heute als großes Glück und Geschenk, dass
Tänzer mit mir arbeiten wollen. Sie interessieren sich für meine flippigen Ideen, finden
Obwohl Sie ihnen viel abverlangen!
Woher die Lust zur Grenzüberschreitung?
Hebungen!
Es ist doch
doof, eine
Frau durch
die Gegend
zu tragen.
Ich frage
mich: Was
soll das?
Am Anfang war ich unsicher. Ich habe die Tänzer manchmal mit dem Rücken zu mir gedreht,
damit sie meine Unsicherheit nicht bemerken.
Aber es hat auch was mit Pablo Picasso zu tun.
Ich war neun oder zehn Jahre alt, als ich in der
Bibliothek Bildbände von Picasso fand. Ich fing
an zu zeichnen. Dieses Zerstückelte in seinen
Bildern, das habe ich tief in mich aufgenommen. Sie inspirieren mich bis heute beim Choreographieren. Wir haben ja nur zwei Arme und
Beine, einen Kopf und einen Hals. Ich möchte
diese Begrenzung überwinden, was natürlich
niemals gelingt. Aber einen Versuch ist es wert.
Wann kommt bei den Proben die Gewissheit, dass ein Stück gut wird?
Es ist ein Gefühl. Für eine Aufführung, die 20
Minuten dauert, brauche ich fünf Wochen Probe. Ich arbeite sehr spontan, probiere nichts
aus, suche nicht, baue eher. Ich verwerfe nicht
viel. Was fertig ist, bleibt so. Ich verliere keine
Zeit. Und arbeite nicht länger als zwei Stunden
pro Tag, danach bin ich fix und fertig. Wenn
die ersten sieben, acht Minuten stehen, bin ich
drin. Ich bin konzentriert und präzise in meinen
Forderungen, trotzdem lachen wir viel. Ich gebe
den Clown, die Tänzer merken kaum, dass ich
auf der Suche bin.
Warum gibt es bei Ihnen kaum Sprünge und
so gut wie keine Hebungen?
Hebungen! Ist doch doof, eine Frau rumzutragen. Was soll das? Sie ist doch kein ätherisches
Wesen, das man tragen muss. Vielleicht ausnahmsweise mal – aber es kostet unheimlich
viel Arbeit, man kann mit der Probe für eine
Hebung locker drei Stunden verbringen, das ist
mir zu lästig, das raubt mir Zeit und Nerven.
Choreograph und
Kurzhaardackel Gustav
einmal von vorne
36
Das klingt arrogant. Jahrelang haben Sie
das Stuttgarter Publikum damit geärgert.
Ich habe sogar Hassmails bekommen, wurde
ausgebuht. Wie gemein Menschen sein können!
Natürlich tut das weh, wenn Leute einen mit
Dreck beschmeißen. Aber das muss man in
meinem Beruf aushalten.
Hat die Kritik dazu geführt, dass Sie sich ein
wenig angepasst haben?
Ich habe nie Rücksicht auf den Geschmack der
Masse genommen. Viele junge Choreographen
sind so spießig und langweilig. Aber gerade als
junger Mensch muss man auf den Putz hauen.
Ihr Tänzer-Engagement schmissen Sie nach
vier Jahren hin. Waren Sie nicht gut genug?
Doch, ich finde schon. Nach der Ausbildung
tanzte ich in Berlin und dann in Hagen, unser Ballettdirektor dort war ein französischer
Choreograph, aber was ich tanzen musste, war
grausig. Mein Frust wurde immer größer, bis
eine Kollegin schließlich sagte: »Wenn dich das
so ankotzt, dann mach doch selber was.« Das
ärgerte mich, weil sie recht hatte. Also machte ich mein erstes Stück, inspiriert von Pina
Bausch, mit Musik von Franz Schubert: Der Tod
und das Mädchen. Damit fuhr ich 2000 nach
Hannover zum Choreographie-Wettbewerb und
war empört, dass ich es nicht mal ins Finale
schaffte. Ein bitterer Rückschlag.
Aber Sie machten weiter.
Ja. Übrigens hat es Vorteile, dass ich nur so kurze Zeit tanzte. Hätte ich viele Jahre mit eigenwilligen Choreographen wie William Forsythe
gearbeitet, würde ich ihren Stil nicht mehr aus
den Knochen kriegen. Das ist das Schicksal vieler Choreographen. Ich dagegen fing bei null an.
Mir war nur wichtig, nicht so zu choreographieren wie andere. Sondern so, wie ich das möchte.
Ich schöpfe bis heute allein aus dem eigenen
Hintergrund. Er ist mein Vokabular, meine persönliche Sprache.
Sie haben mehr als 40 Stücke choreographiert. Welches lieben Sie besonders?
Es sind eher winzige Momente. In dieser Unmenge von Schritten kann es ein kleiner sein,
auf den ich immer warte, weil er mich interessiert und fasziniert. Zum Beispiel, wenn die
Tänzerin bei einem Pas de deux mit einem Bein
kurz zur Seite tritt. Nichts Großes, aber den Moment mag ich. Manchmal choreographiere ich
ein Stück nur für so einen kleinen Moment.
Sie sitzen bei Premieren Ihrer Stücke niemals in der ersten Reihe. Warum nicht?
Ich schaue mir meine Stücke nie von vorne an.
Immer von der Seite oder hinten. Ich bin ja ein
Teil davon und staune jedes Mal darüber, dass
sich Leute in unser Theater setzen. Was wir
hier machen, ist doch im Weltgeschehen völlig
uninteressant. Wie altmodisch ist das denn?
Und doch unschlagbar, auch heute noch. Das
hat was sehr Kindliches. Wir sind aufgeregt wie
Kinder. Der Vorhang geht auf. Und die Magie
beginnt.
Forsythe /
Goecke /
Scholz
Drei besondere Stücke von
Stuttgarter Hauschoreographen
der Vergangenheit und Gegenwart, ausgesucht von Ballettintendant Reid Anderson. Marco
Goecke kreiert für diesen Abend
ein neues Stück: Lucid Dream.
Von Forysthe und Scholz werden
moderne Klassiker präsentiert
WILLIAM FORSYTHE, 66, gilt
als einer der bedeutendsten
Choreographen der Gegenwart.
Sein Stück the second detail
stellt die Regeln des klassischen
Balletts radikal auf den Kopf.
Reid Anderson hatte es beauftragt, damals noch als Direktor
des National Ballet of Canada.
Forsythe lotete die Bewegungsmöglichkeiten des Körpers
aus – und ging dabei bis an die
Grenze des Machbaren. In
seiner 20. Spielzeit als Ballettintendant in Stuttgart holt
Reid Anderson das weltweit berühmte Werk ein Vierteljahrhundert nach der Erstaufführung zum ersten Mal nach
Stuttgart.
Im selben Jahr wie the second
detail von Forsythe entstand
das Ballett die Siebte Sinfonie
von UWE SCHOLZ. Die Komposition Ludwig van Beethovens
hatte ihn zu einer kongenialen
Choreographie inspiriert, die bis
heute fasziniert. Das Markenzeichen des Choreographen, der
2004 im Alter von nur 46 Jahren starb, ist seine mitreißende
Musikalität. Die Siebte Sinfonie,
1991 für das Stuttgarter Ballett
entstanden, gehört zu seinen
besten Werken: ein lebensbejahendes Stück, poetisch bezaubernd und pure Umsetzung von
Musik in Tanz.
STUTTGARTER BALLETT
BALLETTABEND:
FORSYTHE / GOECKE / SCHOLZ
Premiere am 29. Januar 2016
im Opernhaus
37
Comic: Sasa Zivkovic
BÜHNE
38
39
BÜHNE
Das Entsetzen im ganzen Land war groß, als die 28-jährige
Quelle für lebensweltliche Dramen verschwunden, zumindest fast.
Annika H. im nordfriesischen Husum 2012 gestand, fünf eigene
»Die neue Verhütungsmethode war eine Zäsur in der Literaturge-
Babys kurz nach ihrer Geburt umgebracht zu haben. Die Mutter von
schichte«, beschrieb die Süddeutsche Zeitung einmal den Nebeneffekt
zwei Kindern hatte die Schwangerschaften vor ihrem Mann verheim-
der neuen sexuellen Freiheit. »Kein Stoff mehr für Tragödien.«
Die Mutter, die das Leben schenkt und gleich wieder nimmt –
Jenufa von Leoš Janácek, in dem eine Küsterin das Neugeborene ihrer
kaum ein anderes Verbrechen wühlt uns so auf, kaum eine andere
Stieftochter Jenufa tötet, um deren Ehre zu retten, heute trotzdem
Tat macht uns fassungsloser – und hilfloser. Denn auch wenn wir in
und immer noch gerade junge Menschen?
Deutschland nur wenige tragische Einzelfälle im Jahr registrieren,
»An der großen Angst, ungewollt schwanger zu werden, hat sich,
dürfte es selbst die nach unserer Selbstwahrnehmung eigentlich gar
völlig unabhängig von den jeweiligen sozialen Umständen, nichts ge-
nicht geben, weil es dafür keine »Gründe« mehr gibt, weder moralisch
ändert«, berichtet Barbara Tacchini von der Jungen Oper, wo Schul-
noch ökonomisch. Aber stimmt diese Einschätzung?
klassen regelmäßig in Workshops Themen und Stücke aufarbeiten.
Denn auch im aufgeklärten 21. Jahrhundert platzen Kondome, werden
fasziniert. So entstand der bekannte Mythos der Medea, die ihre Kinder
Zeitlos provozierend: eine schwangere
15-Jährige in einer Vitrine. Im August 2014
zeigte der holländische Künstler Dries
Verhoeven in Hamburg seine Performance
Ceci n'est pas ... 10 Ausnahmen von
der Regel
umbrachte, um sich an ihrem Ehemann Jason zu rächen, der sie verlassen und verraten hatte. Eine grausame Tat in einer grausamen Zeit,
ausgeführt von einer selbstbewussten, starken Frau – daraus machte
Pillen vergessen und spielt die Vernunft im Alkoholrausch plötzlich
für ein paar entscheidende Momente keine Rolle mehr – schon nimmt
das Drama seinen Lauf.
Wo in Jenufa das Neugeborene die Ehre und damit den Lebensweg
Euripides um 430 vor Christus ein Drama, das kluge Köpfe von Seneca
der Küsterin-Stieftochter zerstören könnte, sehen junge Leute heute, so
bis Heiner Müller und Elfriede Jelinek zu Adaptionen inspirierte.
die Erfahrung aus dem Dialog mit Jugendlichen, Kinder als einen Teil in
Sehr viel später, in der Aufklärung, tauchte eine neue Art der
ihrem ausgeklügelten Lebensoptimierungsplan. Oft wird der Nachwuchs
Kindsmörderin auf: die meist ledige junge Frau aus einfacheren Ver-
aber auch als eine Art Hindernis betrachtet, besonders, wenn er zum
hältnissen, die aus Scham und Angst vor der Schande und dem Ver-
falschen Zeitpunkt kommt und Ziele gefährdet.
lust ihrer Ehre den ungewollten Nachwuchs tötet. Eine Täterin, die
Barbara Tacchini beobachtet eine Generation, die ihre große
vor allem auch ein Opfer der herrschenden Verhältnisse und eines
Freiheit auch als große Orientierungslosigkeit begreift und auf der
überholten Tugendkanons ist. Diese Sicht war damals neu und für
ein enormer Druck lastet, ein nach allen Maßstäben unbedingt er-
viele unerhört. Daran entzündeten sich weitreichende Diskussionen
folgreiches, tolles Leben zu führen. Das sind höchste Erwartungen an
über die Familien- und Sexualmoral, aber auch über das Strafrecht.
sich selbst, an die anderen und von anderen, die kaum erfüllt werden
Das berühmteste Beispiel ist wohl die Frankfurter Gastwirts-
können. Eine Schwangerschaft zu Unzeiten entwickelt vor diesem
gehilfin Susanna Margaretha Brandt, die 1771 nach einer verheim-
Hintergrund ein enormes Bedrohungspotenzial für den Lebensweg
lichten Schwangerschaft ihr Neugeborenes umbrachte und dafür
– und schon erscheint die Situation einer Jenufa gar nicht mehr so
hingerichtet wurde. Sie wurde Vorbild für das Gretchen in Goethes
weit weg von den eigenen möglichen Erfahrungswelten, wenngleich
Faust. Der Philosoph Immanuel Kant plädierte damals sogar dafür,
die Motivlagen andere sind.
unverheiratete Kindsmörderinnen straffrei ausgehen zu lassen.
Interessanterweise spielt auch die moralische Dimension der
verlorenen Ehre und des herrschenden Tugendkanons zumindest in
eheliche Kinder und ledige Mütter ächtete, behielt die ungewollte
einigen Teilen der Gesellschaft wieder verstärkt eine Rolle: bei den
Schwangerschaft ihr Schreckenspotenzial bis weit ins 20. Jahrhun-
Jugendlichen, die aus streng muslimisch geprägten Elternhäusern
dert, weil sie in kleinbürgerlichen, proletarischen Schichten poten-
stammen. Diese schärferen Verhaltensmaßstäbe setzen nicht erst
ziell materielle Not bedeuten konnte. Davon erzählt auch Heinrich
beim Worst Case »Schwangerschaft« an, sondern gerade für jüngere
Überlegungen, die auch heute vielen nicht unbekannt sein dürften.
Mit der Erfindung der Pille und der damit möglichen Vermeidung
unfreiwilligen Nachwuchses war plötzlich – theoretisch – eine große
Fotos: picture alliance / dpa
Selbst ohne das strenge gesellschaftliche Moralkorsett, das un-
Böll in seinen Ansichten eines Clowns. Und das sind Ängste und
40
Aber warum berühren dann mehr als 100 Jahre alte Stoffe wie
Die extreme Figur der mordenden Mutter hat die Menschen immer
TEXT: RAINER SCHMIDT
Wenn Mütter ihre Babys töten, sind wir geschockt. Früher bedeutete jedes
uneheliche Kind das gesellschaftliche Aus. Heute gibt es diese Zwänge nicht mehr.
Wirklich nicht? Über die Aktualität eines dramatischen Stoffes
Ganz andere Umstände
licht, aus Angst, er würde sie bei einem weiteren Kind verlassen.
Mädchen schon bei einfachen, normalen Beziehungen zum anderen
OPER STUTTGART
JENUFA
VON LEOŠ JANÁČEK
Wiederaufnahme am 6. Januar 2016
im Opernhaus
Geschlecht, die oft verheimlicht werden müssen. Auch so bekommen
Stücke plötzlich eine ungeahnte Alltagsrelevanz.
Kein Stoff mehr für Tragödien? Von wegen.
41
BACKSTAGE
CHRISTINA BECKER, 39, ist
seit 2001 Fagottistin im Staatsorchester Stuttgart. Sie ist Mitglied
des Littmann-Quintetts und
musizierte unter anderem mit dem
Radio-Sinfonieorchester des SWR
ANNA OSADCENKO, 31, wuchs in
Kasachstan auf. Sie lernte unter
anderem an der John Cranko Schule
in Stuttgart. 2002 kam sie zum
Stuttgarter Ballett. Seit 2008 ist
sie Erste Solistin
Was ist damals passiert?
Haben jetzt wieder gut lachen:
Fagottistin Christina Becker
und Tänzerin Anna Osadcenko
KANTINENGESPRÄCH
Der Knacks
Unfälle sind die ständige Bedrohung jedes Künstlers. Ein gebrochener Fuß,
eine verletzte Hand – und die Karriere ist beendet. Eine Musikerin und eine Tänzerin
erzählen von der großen Krise. Und wie sie wieder auf die Beine kamen
Osadcenko: Wenn ich morgens aus dem
Bett steige und mir nichts wehtut, dann
stimmt etwas nicht. Wenn ich aber vor
Muskelkater nicht weiß, wie ich es ins Bad
schaffen soll, dann ist alles gut. Besonders
muss ich auf meine Füße achtgeben. Ich
massiere sie, schneide die Hornhaut ab.
Jeden Tag kriegt jeder Zeh ein Pflaster, damit ich keine Blasen bekomme. So stehe
ich den Tag durch.
42
Ihre Füße sind legendär. Was ist an
denen so außergewöhnlich?
Osadcenko: Bei den meisten Menschen ist
der Spann flach. Bei mir ist er stark gewölbt
und dazu sehr flexibel. Das ist ein bisschen
eklig und extrem, aber für Ballett ist es das
Schönste, was man haben kann. Als Kind
machte ich zu Hause die Ballettübungen
meiner Cousine nach. Meine Tante fand,
dass es bei mir besser aussah. Sie verstand nichts von Ballett, stellte mich aber
der Lehrerin meiner Cousine vor. Die Frau
sagte: »Mein Gott, wo haben Sie dieses
Mädchen gefunden? Sie hat einfach alles.
Sie muss Ballerina werden.« Ich war sechs
Jahre alt und wollte vor allem sehr gern ein
Tutu tragen.
Frau Becker, wie viel Körpereinsatz
braucht Ihr Beruf als Fagottistin?
Becker: Ich muss das ganze System fit halten, Sport machen. Man entwickelt auch
eine Art Körpergefühl für das Instrument.
Wenn ich einen schlechten Tag habe, dann
fühlt es sich an, als ob mit ihm etwas nicht
stimmt. Nach meinem Unfall vor acht Jahren war das besonders extrem. Ich hatte
jahrzehntelang gespielt – und plötzlich lag
das Fagott ganz anders in der Hand.
Foto: Martin Sigmund; Christoph Kolossa
Frau Osadcenko, als Erste Solistin des
Stuttgarter Balletts verbringen Sie viel
Zeit auf Zehenspitzen. Gehören Schmerzen zu Ihrem Beruf?
Jahresende alle guten Ärzte im Urlaub. Der
Notfallchirurg meinte, sie würden meinen
Fuß zu 80 Prozent wieder herstellen. Ich sagte: »80 Prozent reichen mir nicht. Ich bin
Tänzerin. Der Körper ist mein Brot, mein
Wasser, mein Leben.«
Becker: Man kann das nicht akzeptieren.
Schließlich haben wir so lange gearbeitet,
um dort zu sein, wo wir heute sind.
Osadcenko: Ich habe erstmal alle möglichen Ärzte angerufen, die mich jemals betreut hatten. Einer war in Argentinien, einer
in Spanien ... dann bekam ich den richtigen
Kontakt zu einem Chirurgen, der schon viele solcher Verletzungen operiert hatte. Am
Telefon sagte er: »Wir machen dich zu 99,9
Prozent wieder fit.« Auch er hatte eigentlich
frei. Vor der OP hat er noch einen Schneemann mit seinen Kindern gebaut. Drei Monate später stand ich schon im Ballettsaal.
Ich musste wieder laufen lernen.
Becker: Zu Hause beim Abwaschen ist
mir eine Glasschüssel zersprungen. Die
Sehnen der drei mittleren Finger und ein
Handnerv waren durchtrennt. Im Marienhospital arbeitete damals zum Glück der
beste Handspezialist, den man sich denken
kann. Der Professor hatte schon öfter Musi- Sie sind nun beide wieder voll da. Wie hat
ker behandelt und ließ mein Fagott ins Kran- die Verletzung Sie verändert?
kenhaus bringen. Er wollte wissen, welche Osadcenko: Man lernt daraus, sich zu moBewegungen ich machen muss. Dann sagte tivieren, immer das Licht am Ende des Tuner: »Wir kriegen das hin.« Der Nerv hat sich nels zu sehen. Nicht wahr?
gut regeneriert. Trotzdem habe ich in zwei Becker: Ich hätte vorher nicht gedacht, dass
Fingern kein Gefühl, und einige Muskeln in ich so etwas bewältigen könnte. Mich hat
meiner Hand sind gelähmt. Als ich zum ers- auch mein Umfeld überrascht. Plötzlich unten Mal wieder spielen wollte, hat gar nichts terstützen einen Leute, von denen man es
nicht erwartet hätte.
funktioniert. Das war schlimm.
Osadcenko: Und wie geht das heute?
Passen Sie jetzt besonders auf sich auf?
Becker: Ich habe mit dem Professor über- Osadcenko: Man vergisst das eher. Neulich fragte mich eine
legt, was wir tun können. Er kam auf
Zuschauerin, wie es
die Idee, das Instrument umbauen
zu lassen. Ich habe alle Fagottisten,
meinem Fuß gehe.
Damit im Theater alle
wissen, was auf den Bühnen
Ich sagte: »Welchem
die ich kenne, um Rat gefragt. Es ging
passiert, gibt es DurchFuß?« Dabei ist es
um zwei Klappen, die ich nicht mehr
sagen im ganzen Haus.
erst zwei Jahre her.
gleichzeitig drücken konnte. Ein beDie schönsten drucken wir
Becker: Der Unfall
freundeter Tüftler hat mir einen Plan
ab jetzt in Reihe 5
hat mir gezeigt,
gemacht, mit dem ich dann zum Indass man sich nicht
strumentenbauer gegangen bin. Der
vollkommen schüthat die Klappen neu verlötet. Heute
zen kann. Beim
fühlt es sich ganz anders an, aber das
Klettern am Felsen
Ergebnis klingt wie vorher.
ist meiner Hand
Frau Osadcenko, auch Sie haben
DURCHSAGE
14. Okt, 17:35 Uhr
nie etwas passiert.
sich einmal schwer verletzt. Wie
Dann verletze ich
haben Sie das erlebt?
Vorsicht
mich ausgerechnet
Osadcenko: Es ist bei einer Vorstelbeim Betreten
beim Abwaschen.
lung am 30. Dezember 2013 passiert.
der Bühne!
Heute weiß ich viel
Bei einer Rutschbewegung bin ich
Es finden
mehr zu schätzen,
irgendwie hängengeblieben. Ein GeSchussproben
wenn alles funktioräusch, wie wenn ein Ast bricht. Die
statt.
Tänzer trugen mich von der Bühne.
niert. So ein kleiner
Ab und an wird auf der
Dann ging der Vorhang zu und der
Moment kann dein
Bühne geschossen,
Direktor musste es dem Publikum
Leben verändern.
so auch im Theaterstück Tschewengur.
erklären. Mein Mittelfuß und zwei
Damit sich niemand
Interview:
Knochen waren gebrochen, die Bänerschreckt, der sich in
Martin Theis
der gerissen. Anscheinend waren zum
der Nähe der Bühne
befindet, wird die
Schussprobe vorher
durchgesagt.
IN DER PROBE
HEIDI MICHALKE, 66,
Hildrizhausen
Mich haben diese Sprünge und
Hebefiguren fasziniert. Obwohl
das ziemlich anstrengend sein
muss, sah alles sehr leicht aus.
STUTTGARTER BALLETT
ROMEO UND JULIA
VON JOHN CRANKO
Probe am 30. Oktober 2015
MARTE KRÄHER, 35,
Stuttgart:
Mich hat überrascht, dass
vier Wochen vor der Premiere
noch nichts richtig fertig ist.
Wahnsinn, dass man das in der
kurzen Zeit alles schafft.
OPER STUTTGART
SALOME
VON RICHARD STRAUSS
Szenische Probe
am 27. Oktober 2015
PAUL KUHL, 16,
Stuttgart
Ich hätte nicht gedacht, dass
bei einer Probe so viele
Menschen mitarbeiten, z. B.
auch Licht- und Tontechniker.
SCHAUSPIEL STUTTGART
DER STURM
VON WILLIAM SHAKESPEARE
Szenische Probe
am 2. November 2015
Möchten auch Sie eine Probe
besuchen? Dann schreiben
Sie uns eine E-Mail an
[email protected]
43
BACKSTAGE
ABGESCHMINKT
Noch 3 Wochen
Erste Bühnenproben
mit Tänzern
Die Verwandlung
Der Vorhang fällt. Die Bühne leert sich.
Wie kommen Schauspieler danach runter? Manuel Harder
über Applaus, Alkohol und Adrenalinabbau
Noch 10 Tage
Beleuchtungsproben
mit Statisten
Noch 3 Monate
Der Choreograph
beginnt mit den
Tänzern zu arbeiten.
MEIN ARBEITSPLATZ
JÜRGEN SIEGERT, 58,
stellvertretender Leiter der Maske
Noch 1 Monat
Das Orchester beginnt
unter Anleitung des
Dirigenten zu proben.
Oper/Ballett, arbeitet im Gipsraum
Was passiert im Gipsraum?
Wichtig ist, dass die Teile haften
und die Tonbildung nicht verfälschen. Das ist gerade bei
Sängern entscheidend. Außerdem sollen die Plastiken die
Künstler auf der Bühne nicht
ablenken. Da sie aber individuell angepasst werden, spürt
man sie fast nicht.
zur Garderobe. Vor allem nach längeren Rollen brauche ich Zeit, bis
ich wieder auf Menschen treffen kann. Wenn ich doch jemandem
begegne, bin ich entweder mundfaul, aggressiv oder besonders komisch. Bei intensiven Rollen kann Schauspielern wie ein Trip sein.
Manchmal dauert es bis zu zwei Tage, bis ich wieder ganz zu mir
gefunden habe. Dafür ist auch der Applaus wichtig. Er beflügelt nicht
nur, er hilft uns Schauspielern auch, wieder aus unseren Rollen herauszufinden. Prospero sagt in Shakespeares Der Sturm deshalb zum
Schluss: »Release me from my bands. With the help of your hands.«
Sobald ich in der Garderobe angekommen bin, halte ich zehn
Minuten einfach nur inne. Gedanken schwirren durch meinen Kopf:
Was ist eben passiert? Wie war es mit Kollegen und Zuschauern?
Geht denn auch mal
etwas schief?
Glücklicherweise
nicht, obwohl das
Material sehr empfindlich ist. Manchmal muss es schnell
gehen, dann wird
improvisiert. Da ich
seit 1979 hier arbeite,
bringt mich aber
nichts so schnell aus
der Ruhe. Wenn
ich dann doch in
einer Sackgasse
lande, haben meine
Kollegen immer
eine gute Idee.
44
Noch 3,5 Wochen
Die Bühne
wird technisch
eingerichtet.
In Gedanken durchwandere ich meinen Körper: Wo sitzt die
Spannung? Ich beobachte, wie sich der Atem beruhigt. Mit
dem Kostüm streife ich dann die Rolle endgültig ab. Dennoch
DURCHSAGE
30. Sep, 11:05 Uhr
hallt der Auftritt nach. Lief es gut, bin ich völlig euphorisiert.
Niederlagen knabbern eine Weile an mir. So oder so – zum
Die Requisite
bitte mit einem
Schmierpapierstapel auf
die Bühne!
Adrenalinabbau und Revuepassieren gehört immer noch ein
In vielen Stücken
schreiben und lesen die
Schauspieler – auch
in Die Möwe. Die
Requisite, die sich um
kleinere Teile des
Bühnenbilds kümmert,
hat daher immer
Schmierpapier vorrätig.
Die Menge wird in
Stapelhöhe angegeben.
tern? Was kommt heute? Dann bin ich bereit für den nächsten
Bier mit den Kollegen. Mit dem Alkohol spüle ich Herz, Seele
und Muskeln durch. Den Rest erledigt der Schlaf. Wenn ich
morgens aufwache, gehe ich noch mal durch: Was war gesAuftritt.« Protokoll: Xenia von Polier
MANUEL HARDER ist u. a. zu sehen als Schriftsteller Trigorin in Die Möwe, als
Prospero in Der Sturm (Premiere: 11. Dezember 2015 im Schauspielhaus) und als Manuel
Harder im Monolog in Die Anmaßung (Premiere: 21. Januar 2016 im Nord)
Abgabe Kostümentwürfe. Die Kostümproduktion wird
besprochen: Stoffe,
Farben, Frisuren;
Stellen, an denen die
Darsteller sich rasch
umziehen müssen.
Noch 2 Jahre
Ballettintendant Reid
Anderson beauftragt
Hauschoreograph
Demis Volpi, ein
neues Handlungsballett zu kreieren.
Noch 7 Monate
Abgabe Bühnenbildmodell: Seine Sicherheit, die Auf- und
Abbauzeiten sowie
die Herstellungszeiten
werden überprüft.
Kurz danach findet die
erste Bauprobe mit
Ersatzkulissen statt.
Premiere!
vor 1400 Zuschauern
im Opernhaus
Noch 7 Tage
Bühnenorchesterprobe: Die Tänzer
tanzen erstmals mit
Orchester.
»Wenn der Vorhang gefallen ist, laufe ich meist etwas blöde im Kopf
Illustrationen: Adrijan Steczek; Aubrey Beardsley (aus der Ausgabe von Oscar Wildes Salome von 1894)
Welche Bedingungen müssen
diese Plastiken erfüllen?
Die Lichtdesignerin
erhält das Libretto
und legt mit ihrer
Konzeption los.
Foto: Martin Sigmund
Neben Schminken und Perücken gehören Gesichtsplastiken
zu den wichtigsten Aufgaben
der Maske. Die stellen wir im
Gipsraum her. Wenn wir z. B.
Hakennasen oder Tiermasken
benötigen, nehmen wir vom
Kopf des Darstellers einen
Gipsabdruck. Darauf wird ein
Modell aus Knetmasse gefertigt
und davon wieder ein Abdruck
gemacht. Diesen füllen wir
mit Silikon. Am Schluss
wird diese Plastik bemalt.
Noch 9 Tage
Klavierhauptprobe:
erster Durchlauf mit
Bühnenbild, Kostümen, Maske, Licht
Noch 1 Tag
Generalprobe
Noch 1,5 Jahre
Start der Konzeptionsphase; die
Dramaturgin erstellt
das Libretto. In
den folgenden acht
Monaten entwickelt
die Ausstatterin
ein Bühnenbildmodell und Entwürfe
für Kostüme.
Noch 1 Jahr
Choreograph Volpi
und Musikdirektor
James Tuggle starten
die Musikauswahl.
Volpi hört dafür
Hunderte von Stunden
Musik. In sechs Monaten muss Volpi seine
Musikliste abgeben.
Volpi schlägt einige
Monate später das
Stück Salome nach
Oscar Wilde vor.
Produktionsleiter
Krzysztof Nowogrodzki
sucht mit seinen
Kollegen einen Zeitraum
für die Uraufführung.
Der Choreograph
stellt sein Produktionsteam zusammen:
Bühnen- und Kostümbildnerin Katharina
Schlipf, Dramaturgin
Vivien Arnold und
Lichtdesigner Bonnie
Beecher. Die dramaturgische Recherche
beginnt.
Idee
Die Entstehung von Salome. Viele Schritte sind notwendig, um eine Uraufführung auf die Bühne zu bringen – und viele Profis, die nicht nur choreographieren und tanzen, sondern konzipieren, entwerfen, bauen, schneidern,
musizieren und beleuchten. Wir zeigen am Beispiel des Handlungsballetts
Salome, was überlegt werden muss, wer wann in Aktion tritt und wie viele
Menschen beteiligt sind, damit es am Ende eines gibt: begeisterten Applaus.
Realisationsphasen
Beteiligte Personen
Planung
Künstlerische Leitung
Konzeption
Produktion
Proben
Tänzer
Premiere
Musiker
STUTTGARTER
BALLETT
SALOME
Uraufführung
am 10. Juni 2016
im Opernhaus
45
Reihe 5 im Abo!
BACKSTAGE
Kostenlos und viermal im Jahr
bieten wir Ihnen noch mehr
Geschichten vor, auf und hinter
der Bühne.
DURCHSAGE
17. Okt, 20:55 Uhr
Alle Beteiligten
zum Aufwachen
bitte!
Foto: Ute Raeder
Am Ende des 2. Akts
von Dornröschen findet
der berühmte Kuss
statt: Prinz Desiré erlöst
die schlafende Aurora,
die daraufhin mit ihrem
gesamten Hofstaat
aus dem 100-jährigen
Schlaf erwacht.
Die Durchsage holt
alle Aufwachenden
auf die Bühne.
WAS WAR DA LOS?
Marina Bressan, Garderobiere und Schneiderin:
»Außergewöhnliche Theaterkostüme müssen manchmal mit ungewöhnlichen Methoden hergestellt werden – das kann man auf
diesem Foto gut erkennen. Vor ein paar Jahren habe ich das alte
Fischkostüm aus dem Fundus geholt und für eine Publikumsaktion
umgeschneidert. Ursprünglich gehörte der Fisch zu den GoldbergVariationen von George Tabori, einer Schauspielproduktion von
2004. Als wir am Theater rund sechs Jahre später einen Tag der
offenen Tür hatten, bei dem unsere Besucher in Verkleidungen
schlüpfen durften, musste das Kostüm leicht bearbeitet werden.
Im Inneren wollte ich eine Haube einnähen, damit der Kopf nicht
herausschaut. Der Stoff war allerdings zum Umstülpen zu steif,
deshalb musste ich wohl oder übel hineinschlüpfen und im Dunkeln nähen. Die Haube hat am Ende trotzdem gut gehalten.«
Lösung Seite 19: Krokodil
IMPRESSUM
Herausgeber
Die Staatstheater Stuttgart
Geschäftsführender Intendant
Marc-Oliver Hendriks
Intendant Oper Stuttgart
Jossi Wieler
Intendant Stuttgarter Ballett
Reid Anderson
Intendant Schauspiel Stuttgart
Armin Petras
46
Konzept ErlerSkibbeTönsmann &
Grauel Publishing GmbH
Beratung der Herausgeber
Johannes Erler, Ralf Grauel
Redaktion Kai Schächtele (CvD),
Isabelle Erler, Xenia von Polier,
Saphir Robert; Christoph Kolossa
Redaktion für Die Staatstheater
Stuttgart Thomas Koch, Claudia
Eich-Parkin (Oper); Vivien Arnold,
Ronja Ruppert (Ballett); Rebecca
Rasem, Jan Hein (Schauspiel)
Gestaltung Anja Haas; Inga Albers
Anzeigen Simone Ulmer
[email protected]
Druck Bechtle Druck&Service GmbH,
Esslingen
Erscheinungsweise 4 × pro Spielzeit
Hausanschrift
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Oberer Schlossgarten 6
70173 Stuttgart
www.staatstheater-stuttgart.de
Hauptsponsor des
Stuttgarter Balletts
Förderer des
Stuttgarter Balletts
Partner der
Oper Stuttgart
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Per Post an:
Die Staatstheater Stuttgart – Publikationen
Postfach 10 43 45, 70173 Stuttgart
Online unter:
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DIE SONNE.
Offizieller Partner Baden-Württembergs.
ICH. BEIM WOCHENEND-TRIP
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Die Sonne ist so begeistert vom Süden, dass sie sich täglich hier blicken lässt. Und gerne länger
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