Kein anderes großes Industrieland weist für die vergangenen zehn

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YourPhotoToday/PM
Wie lange
noch?
Kein anderes großes Industrieland weist für die
vergangenen zehn Jahre eine bessere ökonomische
Bilanz aus als Deutschland. Doch die Warnsignale,
die auf ein Ende der bisherigen
Erfolgsgeschichte hindeuten, nehmen zu.
Eine Analyse von Dirk Heilmann und Bert Rürup.
Afrika und Boom? Das
passt zusammen,
schreiben zwei Experten.
Seite 62
D
eutschland im Jahr 2015:
Während der halbe europäische Kontinent sich
mühsam aus der Rezession
kämpft, während die einstigen Wachstumsgiganten China und Indien sich zuletzt an mäßige Expansionsraten gewöhnen mussten und auch die
größte Volkswirtschaft USA Rückschläge
hinnehmen musste, scheinen die Deutschen auf einer Insel der Glückseligen zu
leben. Vollbeschäftigung scheint in greifbarer Nähe, die Staatsfinanzen gesunden mit erstaunlicher Dynamik, und
auch die Unternehmen des Landes strotzen geradezu vor Kraft.
Weder die Euro-Krise noch die neue
Konfrontation mit Russland und auch
nicht der Vormarsch der IS-Krieger im
Nahen Osten konnten der Wirtschaftskraft des Landes wirklich etwas
anhaben.
Kein anderes Land aus der G7-Gruppe
der führenden Industriestaaten hat in
den vergangenen zehn Jahren die Zahl
der Erwerbstätigen um zwölf Prozent
gesteigert. Keines konnte den Anteil der
Industrie am Bruttoinlandsprodukt
oberhalb von 30 Prozent halten. Und
keinem anderen G7-Land ist es gelungen, den jährlichen Saldo des Staatshaushaltes um vier Prozentpunkte in Relation zum BIP zu verbessern. Stärker gewachsen sind in der G7 in der
vergangenen Dekade nur Kanada und
die USA – in US-Dollar gerechnet. Dabei
Interview
Frank Beer für Handelsblatt
Literatur
Illustration: Miriam Migliazzi & Mart Klein
WOCHENENDE
► Deutschlands Chancen und Risiken Seiten 50 bis 53
► Die zehn größten Herausforderungen Seiten 56 bis 59
gelang es Deutschland sogar, den Primärenergieverbrauch um zehn Prozent
zu senken und damit deutlich vom Wirtschaftswachstum zu entkoppeln.
Das industriebasierte deutsche Geschäftsmodell, das noch Anfang des
Jahrhunderts als überholt und angreifbar galt, findet weltweit Anerkennung,
oft sogar Bewunderung. Die angelsächsische Alternative einer vom Finanzsektor und von einem oft schuldenfinanzierten privaten Konsum dominierten
Wirtschaft hat sich in der globalen Finanzkrise als Sackgasse erwiesen. Um
zu einem nachhaltigen Wachstum zurückzufinden, haben sich sogar die USA
und Großbritannien einer Re-Industrialisierung verschrieben – unter explizitem Verweis auf das deutsche Vorbild.
Auch die Europäische Union hat sich
zum Ziel gesetzt, den Industrieanteil
am BIP wenigstens wieder auf 20 Prozent zu erhöhen.
Kein Zweifel: Deutschland ist derzeit
der Primus unter den führenden Industriestaaten – zuletzt symbolisiert durch
den G7-Gipfel in Elmau, als Bundeskanzlerin Angela Merkel sich als stolze
Gastgeberin in der bayerischen Alpenidylle in Szene setzte. Doch wie lange
wird dieses Leben in der scheinbar besten aller Welten noch anhalten? Unternimmt die Politik genug, um diese Erfolgsgeschichte fortzuschreiben? Und:
Welches sind die größten Risiken, die
diesen Erfolg gefährden.
Kay One spricht über die
drei wichtigsten Dinge
im Leben eines Rappers:
Geld, Geld, Geld. Seite 68
Ja, es gibt sie, die ersten Risse, die
sich im neuen Deutschland-Bild zeigen.
Noch sind sie kaum erkennbar. Aber jeder, der nach ihnen sucht, wird sie finden. Auf internationalen Ranglisten der
Wettbewerbsfähigkeit fiel Deutschland
in letzter Zeit zurück. Im viel beachteten Ranking der Schweizer Hochschule
IMD rutschte es vom sechsten auf
den zehnten Platz ab und
liegt nun hinter Norwegen, Dänemark und Kanada. Die OECD beklagte jüngst eine Reformmüdigkeit der
betrug hierzulande
deutschen Politik
der Anstieg der
und sieht in der
Erwerbstätigenzahl
in
wachsenden Ungleichheit der Verden vergangenen
mögensverteilung eizehn Jahren.
ne Wachstumsbremse.
Bundesagentur
Der IWF forderte die
für Arbeit
Bundesregierung zu mehr
Investitionen in die Infrastruktur auf, zu einer Deregulierung des
Dienstleistungssektors und zu einer
besseren Ausschöpfung des weiblichen
Arbeitskräftepotenzials.
Nicht nur internationale Beobachter
blicken wieder kritischer auf Deutschland, auch heimische Wirtschaftsvertreter warnen vor allzu großer Selbstzufriedenheit. „Im Moment ist das ein geliehener oder gedopter Aufschwung“,
warnt Martin Wansleben, der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie-
12 %
Primus Deutschland
und Handelskammertags (DIHK). Zu
Recht weist er darauf hin, dass die aktuell guten Konjunkturdaten in einem
Umfeld zu sehen sind, das günstiger
kaum sein könnte.
Die Zinsen liegen dank der extrem
lockeren Geldpolitik der Europäischen
Zentralbank (EZB) seit Jahren bei nahe
null, der Euro liegt gegenüber dem Dollar um fast 20 Prozent niedriger als vor
Jahresfrist und der Ölpreis sogar um
mehr als 40 Prozent. Vor diesem Hintergrund sehen die aktuellen wirtschaftlichen Erfolge Deutschlands nicht mehr
ganz so glänzend aus. Eine Wachstumsrate von knapp zwei Prozent in diesem
Jahr ist für eine Volkswirtschaft unter
solchen geradezu idealen Voraussetzungen sogar eher mager.
Das musste auch Wirtschaftsminister
Sigmar Gabriel neulich eingestehen:
„Wir dürfen uns nicht darauf verlassen,
dass die Lage so gut bleibt, wie sie ist“,
sagte er im März vor Unternehmern in
Berlin. Das gute wirtschaftliche Umfeld
werde derzeit nicht nur von der Binnennachfrage getragen, sondern auch vom
Ölpreis und dem Euro-Wechselkurs.
„Mindestens zwei davon sind nicht auf
Dauer sicher“, warnte der Minister.
Wie also sehen die Perspektiven der
größten Volkswirtschaft Europas wirklich aus? Das Handelsblatt Research Institute (HRI) hat die jüngsten Warnungen
Fortsetzung auf Seite 52
+12 %
Wie sich wichtige Kennzahlen von 2005 bis 2014 verändert haben
+ 3,93 Haushaltssaldo
in Prozent des BIP
PP
Veränderung
Erwerbstätige
Reales Bruttoinlandsprodukt
Zuwachs
in Prozent
Zuwachs
in Prozent
in Prozentpunkten
+12 %
+5 %
+13 %
Deutschland
-1,42
PP
USA
Japan
-3,65
PP
51
-0,79
PP
+2 %
+5
+
5%
+4 %
+7
+
7%
Frankreich
Handelsblatt | Quellen: Eigene Berechnungen, EU-Kommission
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an [email protected].
52 PROGNOSE 2025
WOCHENENDE 19./20./21. JUNI 2015, NR. 115
WOCHENENDE 19./20./21. JUNI 2015, NR. 115
PROGNOSE 2025 53
2
2
Fortsetzung von Seite 51
7%
Günstige Rahmenbedingungen
Volkswirtschaften im Vergleich
4 000
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W
Frank Beer für Handelsblatt
D
as Ergebnis der Berechnungen:
Bei einer baldigen Rückkehr
von Zinsen und Ölpreis auf die
Niveaus vor der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise würde die
durchschnittliche jährliche BIP-Wachstumsrate in den kommenden zehn Jahren auf 1,1 Prozent fallen, gegenüber 1,5
Prozent in der Basis-Projektion. Blieben
Zinsen und Ölpreis allerdings noch für
zehn Jahre so niedrig, wie sie derzeit
sind, könnte Deutschland mit einer
durchschnittlichen Wachstumsrate von
2,3 Prozent rechnen. Zwischen der positiven und der negativen Projektion würde damit bis zum Jahr 2025 eine Lücke
von inflationsbereinigt 340 Milliarden
Euro entstehen. Mehr als 4 000 Euro
mehr oder weniger Wohlstand pro Bürger stehen also auf dem Spiel.
Doch es ist ja nicht so, dass Deutschland hilflos den Veränderungen der Rahmenbedingungen ausgesetzt wäre. Es
kann sein Schicksal selbst in die Hand
nehmen. In den vergangenen Jahren hat
das Land zwar in beträchtlichem Ausmaß davon profitiert, dass die Zinsen und
der Euro-Kurs für seine starke Wirtschaft
viel zu niedrig waren. Aber noch mehr
hat es von klugen politischen Entscheidungen der Vergangenheit profitiert.
Die rot-grüne Bundesregierung unter
Gerhard Schröder hat mit den Arbeitsmarkt- und Sozialreformen der Agenda
2010 und auch mit der Förderung der
erneuerbaren Energien die Grundlage
dafür gelegt, dass Deutschland heute
vielen als Vorbild gilt. Nicht zu vergessen ist der Beitrag zur Erhöhung der
preislichen Wettbewerbsfähigkeit, den
die Gewerkschaften mit der Lohnzurückhaltung der Jahre 1997 bis 2007 geleistet haben. Die von Angela Merkel geführte Große Koalition der Jahre 2005
bis 2009 hat diese Reformerfolge mit einem zupackenden Krisenmanagement
in der Finanzkrise abgesichert.
Seither allerdings gewinnt die Kanzlerin ihre Wahlen damit, dass sie die Deutschen in einen Wohlfühlmodus versetzt,
in dem die Krisen der Welt allenfalls als
Hintergrundrauschen wahrnehmbar
sind. Das Wort „Reform“ kommt im
Sprachschatz der Regierung kaum noch
vor, und wenn doch, dann als Verbrämung klientelspezifischer sozialer
Wohltaten, um die eine Mehrheit der
Bevölkerung gar nicht gebeten hat.
So die abschlagsfreie Rente ab 63 für
Menschen, die 45 Versicherungsjahre
aufweisen. So das Betreuungsgeld, auch
„Herdprämie“ genannt, für jene, die ihre Kinder zu Hause hüten, statt sie in
die Kita zu schicken.
Gleichzeitig fehlt das Geld für Investitionen in die Infrastruktur, die die Regierung mit dem vordergründigen Hinweis
auf die Schuldenbremse auf Verschleiß
fährt. Diese Politik unterminiert eine traditionelle Stärke des Standorts Deutsch-
Arbeitskosten. Auf den Kapitaleinsatz
und Investitionsentscheidungen der Unternehmen wirkt unmittelbar die Zinspolitik ein. Auch die Energiekosten sind
wichtig – sowohl die Weltmarktpreise für
Öl als auch die nationalen Strompreise,
die durch die Energiewende in die Höhe
getrieben werden.
Erhebliche Auswirkungen auf die
Produktivität als dritten Wachstumstreiber hat das Bildungssystem. Auch die
Digitalisierung könnte sich hier
zu einem wichtigen Treiber
entwickeln. Nicht zu vernachlässigen ist zudem
die GründungstätigKanzlerin Merkel auf dem G7-Gipfel in Elmau: Deutschland ist derzeit der Primus unter den führenden Industriestaaten. Doch wird die Erfolgsgeschichte fortgeschrieben?
keit, die in Deutschist die
land immer noch
recht schwach ist. NeArbeitsproduktivität
gativ auf das Wachsin der vergangenen
tum wirken sich auch
S&P-GSCI-Rohstoffindex
Brentöl
Potenzielle Arbeitnehmer
Steigende Produktivität
232
Dekade gestiegen.
die zunehmende Unin Punkten
Preis in US-Dollar je Barrel
Bevölkerung im Alter von 15 bis 64 Jahren in Millionen
Veränderung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) pro Arbeitsstunde seit 2005
210
gleichheit der VermöHRI
200
1 000
436,43 Pkt.
140
63,31 US$
+12 %
gensverteilung und die
mangelhafte soziale Mobilität
120
USA
2040
2010
+10
800
aus. Schließlich werden mit der ge+10,5 %
150
100
wachsenen Rolle Deutschlands in der
Japan
+8
+7,6 %
internationalen Politik höhere Ausga600
80
Deutschland
ben für die Sicherheitspolitik einherge100
+6
+6,7 %
hen, die das volkswirtschaftliche Ge60
81
Frankreich
400
samtbild beeinflussen.
+5,8
%
+4
61
55
40
All diese Entwicklungen zeigen, dass
50
43
41 41
200
großer
Handlungsbedarf besteht, um
+2
20
Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit abzusichern. Eine große Volkswirtschaft
0
0
+0
0
wie Deutschland ist wie ein SupertanJuni 2015
Jan. 2000
Jan. 2000
Juni 2015
2005
2014
Frankreich
Deutschland
Japan
USA
ker, der auf einen Kurswechsel des Kapitäns erst nach mehreren Kilometern
Euro-Kurs
Bundesanleihe
Mehr Schulden
Weniger Investitionen
Verschiebung im Welthandel
reagiert. Darum hat es auch mehrere
in US-Dollar je Euro
Laufzeit 10 Jahre, Rendite in Prozent
Staatsverschuldung in Prozent des BIP
Bruttoinvestitionen in Prozent des BIP
Anteil am weltweiten Exportvolumen in Prozent
Jahre gedauert, bis die Erfolge der Agen118
1,7
Wie viel ein Euro wert ist: 1,1389 US$
120
6,0
0,75 %
24
50
da 2010 auf dem Arbeitsmarkt oder die
22,3
45,7
22,2
Konsolidierungsbemühungen bei der
20,0
5,0
Rente sichtbar wurden.
1,5
18,5
Das heißt aber, dass es auch einige
4,0
Zeit dauern wird, bis die falschen politi76
31,3
1,3
69
schen Weichenstellungen der aktuellen
3,0
58
Regierung ihre volle Wirkung entfalten.
1,1
Diese Wirkungen fallen dann in die Zeit,
2,0
in der sich die Rahmenbedingungen
12,7
verschlechtern und zugleich die demo9,3
0,9
7,7
1,0
grafische Schönwetterperiode ausläuft
4,4
und das Land mit einem deutlichen Al2001
2015
2015
2015
2015
5
2001
2015
2015
5
2001
2015
2015
2001
2014
2014
4
2001
2014
2014
4
2014
2
014
4
2001
2001
0,7
0
terungsschub konfrontiert wird.
Jan. 2000
11.6.2015
G7
Jan. 2000
Juni 2015
G7
G7
China
Deutschland
Deutschland
Deutschland
Noch ist für die Bundeskanzlerin die
Welt in Ordnung. „Wir können stolz auf
Handelsblatt
2015 und 2040 = Prognose | Quellen: Bloomberg, IWF, OECD, UN
das sein, was wir erreicht haben“, sagte
Angela Merkel Anfang Juni nach dem
„6. Zukunftsgespräch mit Sozialpartnern“ auf Schloss Meseberg und zählte
auf: „Wir haben eine starke industrielle
Basis. Wir haben eine starke Unternehmerschaft. Wir haben mit den Gewerkland. Die Reformen jedoch, die die VolksDann wird es in Deutschland 11,3 Milliogeht nicht mit Demografiegipfeln, sonIn Zukunft werden verstärkt alle drei
Dirk Heilmann (l.) und
schaften und den Betriebsräten starke
wirtschaft an die sich erkennbar verännen weniger 20- bis 64-Jährige geben und
dern nur mit weiteren Reformen. Doch Wachstumstreiber dazu beitragen müsEuro mehr oder weniger
Tarifpartner. Diese Vorzüge wollen wir
dernden Rahmenbedingungen anpassen
2,7 Millionen weniger unter 20-Jährige.
diese müssen weit über das Sozialsys- sen, die deutsche Wirtschaft voranzuWohlstand pro Bürger
Bert Rürup: Die Autoren leiten
ausnutzen, um in der Welt des 21. Jahrund die globale Wettbewerbsfähigkeit abDafür werden 6,3 Millionen Menschen
tem hinausgehen und sich zum Ziel set- bringen. Das schrumpfende Arbeitskräfstehen bei der Ölpreishunderts dann auch weiter vorne mit
sichern, hat die Große Koalition aus dem
mehr im Alter ab 65 Jahren zu zählen
zen, neue wirtschaftliche Dynamik zu tepotenzial muss mit einem verstärkten
gemeinsam das Handelsblatt
dabei zu sein.“ Ein Plan zur Bewahrung
Werkzeugkasten der Politik aussortiert.
sein. Und das ist der günstigere Fall: Bei eierzeugen und Antworten auf das rück- Kapitaleinsatz und höheren Produktiviund Zinsentwicklung auf
Research Institute. Rürup war
der Wettbewerbsfähigkeit klingt anders.
Noch sind die Folgen dieser gegenner geringeren Nettozuwanderung von
läufige Produktivitätswachstum finden. tätsfortschritten einhergehen.
dem Spiel.
Sollte etwa auch das deutsche Wachswartsorientierten Wohlfühlpolitik nicht
Das ist die Voraussetzung für eine zudurchschnittlich 130 000 Personen im
viele Jahre Vorsitzender des
an den Konjunkturdaten ablesbar – auirtschaftswachstum ist auch sätzliche Wachstumsdynamik, die die in
tumsmodell gerade dann seinen Glanz
Jahr wird die Bevölkerung schneller altern
HRI
in einer alternden und der Bevölkerungsalterung angelegte
verlieren, wenn es den Höhepunkt an
ßer eben daran, dass das Wirtschaftsund auf unter 68 Millionen schrumpfen.
Sachverständigenrats und
internationalem Ansehen erreicht hat?
schrumpfenden Gesell- Wachstumsbremse lockert und auch unwachstum vor dem Hintergrund der auDas schrumpfende ErwerbspersoBerater mehrerer Regierungen.
Das war so im Japan der späten 1980erschaft notwendig, um die ter weniger günstigen Rahmenbedingunßerordentlich günstigen Rahmenbedinnenpotenzial droht nicht nur einen
Jahre, als der unaufhaltsame Aufstieg
mit der Bevölkerungsalterung eher zu- gen ansehnliche BIP-Steigerungen ergungen hätte höher ausfallen können.
Fachkräftemangel zu erzeugen, sondes Landes zur globalen Wirtschaftsnehmenden Verteilungsprobleme zu lö- möglicht. Das ist eine enorme HerausforDoch sie werden bald sichtbar werden. Nachkriegsjahrgänge, die aus dem Erdern nimmt der deutschen Wirtschaft
macht Nummer eins ausgemacht war –
sen. Wachstum kann auf drei Wegen ent- derung in einem Umfeld, in dem alle
Spätestens dann, wenn sich günstige werbsleben ausscheiden. Das führt zu
auch die Option, noch einmal durch
bis 1990 die Immobilienblase platzte.
stehen: durch einen vermehrten Einsatz etablierten Industriestaaten unter einer
Rahmenbedingungen wie der niedrige Überschüssen in den Sozialkassen.
Lohnmäßigung die preisliche WettbeDas war auch so in den USA und GroßDie Bevölkerungszahl ist entgegen früder Produktionsfaktoren Arbeit und Ka- nachlassenden Wachstumsdynamik leiZins und das billige Öl normalisieren.
werbsfähigkeit im Exportgeschäft zu
britannien, als sich ab 2007 herausstellpital oder durch einen effektiveren Ein- den und auch aufstrebende WirtschaftsDieses Ende wird mit dem Auslaufen heren amtlichen Schätzungen dank eiverbessern. Die immer konfrontativeder demografischen Schönwetterperi- ner verstärkten Zuwanderung seit 2011
te, dass eine entfesselte Finanzindustrie
satz dieser Faktoren, also durch eine Er- mächte wie China und Brasilien an
ren Tarifkonflikte und die steigende
ode zusammenfallen, in der sich nicht zurückgegangen, sondern gestiehöhung der Produktivität. In den letzten Schwung verloren haben.
kein Wachstumsmotor war, sondern ein
Zahl von Streiktagen zeigen, wohin die
zehn Jahren hat der Faktor Kapital die
Produzent finanzieller „MassenvernichDeutschland seit einiger Zeit befindet. gen. Dieser Trend wird nach der aktuelDas Handelsblatt Research Institute hat
Reise geht: Arbeitnehmer, die sich nicht
tungswaffen“, wie die Investorenlegengrößte Dynamik erzeugt: Die Bruttoinves- zehn Faktoren identifiziert, die Einfluss
Aktuell kommen zwei Faktoren zusam- len Prognose des Statistischen Bundeszuletzt aus demografischen Gründen
de Warren Buffett es ausdrückte.
titionen stiegen um 28 Prozent. Die Zahl darauf haben, welchen Weg die deutsche
men: Es gibt mit knapp 43 Millionen so amts noch etwa fünf Jahre anhalten.
kaum noch Sorgen um ihre Stellen mader geleisteten Arbeitsstunden stieg um Wirtschaft in den kommenden zehn JahDeutschland hat mit seinem nachhalviele Erwerbstätige wie noch nie. Ent- Doch danach wird die Bevölkerung bis
chen, werden in Zukunft höhere Lohngut fünf Prozent, deutlich langsamer als ren einschlagen wird. Da sind zunächst
tigen, auf industrieller Kompetenz besprechend sinkt die Anzahl der Arbeitslo- zum Jahr 2060 selbst bei der optimististeigerungen als in den vergangenen
ruhenden Wachstumsmodell gute
die Zahl der Erwerbstätigen. Die Arbeits- Themen, die auf Verfügbarkeit und Einsen. Zugleich steigt die Zahl der Renten- scheren Variante mit einer jährlichen
beiden Jahrzehnten durchkämpfen.
Chancen, dauerhaft erfolgreich zu sein.
produktivität, also das BIP je bezahlter satz des Faktors Arbeit einwirken: die deempfänger von aktuell gut 25 Millionen Nettozuwanderung von durchschnittlich
Auf den unausweichlichen demograEs darf nur nicht kollektiv in SelbstzuArbeitsstunde, ist in der letzten Dekade mografische Entwicklung und, eng damit
kaum an. Denn es sind derzeit noch die 230 000 Menschen um acht Millionen
fischen Wandel müsste die Regierung
friedenheit verfallen.
Angehörigen der geburtenschwachen auf 73 Millionen schrumpfen.
die Gesellschaft jetzt vorbereiten. Das
nur um knapp sieben Prozent gestiegen. zusammenhängend, die Entwicklung der
Xinhua / Polaris /Studio X
zum Anlass genommen, um die Auswirkungen einer zu erwartenden Verschlechterung der äußerst günstigen Rahmenbedingungen auf die deutsche Wirtschaft durchzurechnen.
Auf Grundlage eines Prognosemodells
des Londoner Wirtschaftsforschungsinstituts NIESR hat das HRI drei Projektionen
aufgestellt: eine Positiv-Projektion, die davon ausgeht, dass die Leitzinsen der EZB
und der Ölpreis auf den aktuellen Niveaus
bleiben und die Staatsausgaben sich aus
sicherheitspolitischen Gründen erhöhen.
Eine Negativ-Projektion, die mit einem
deutlichen Anstieg beider Werte rechnet,
sowie eine Basis-Projektion. Zusätzlich
enthält die positive Variante noch höhere
Zuwandererzahlen als die negative.
54 PROGNOSE 2025
WOCHENENDE 19./20./21. JUNI 2015, NR. 115
1
PROGNOSE 2025 55
WOCHENENDE 19./20./21. JUNI 2015, NR. 115
1
Chancen und Risiken für die deutsche Wirtschaft
Drei exklusive Projektionen des Handelsblatt Research Institute zeigen:
Im besten Fall sind 2,3 Prozent Wachstum jährlich in den kommenden zehn Jahren möglich, im ungünstigsten Fall aber nur 1,1 Prozent.
Drei Projektionen für Deutschland
Annahmen für die Projektionen:
Basis
UN-Data
Reales Bruttoinlandsprodukt Deutschland
Durchschnittliches Wachstum
Durchschnittliche Inflation
(Index 2015 = 100)
pro Jahr 2015 bis 2025 in Prozent
pro Jahr 2015 bis 2025 in Prozent
130
5,4
+2,3 %
500 000 Zuwanderung +
Abschmelzen auf 200 000 (2021)
Negativ
500 000 Zuwanderung +
Abschmelzen auf 100 000 (2021)
nach ILO-Standard in Prozent
+2,4 %
Positiv
Demografie
Arbeitslosenquote
Negativ: 5,19 %
Positiv: 125,5
5,2
+2,0 %
125
Basis: 5,14 %
Basis
5,0
Endogen im Modell bestimmt
Positiv
120
+1,5 %
Linearer Anstieg der Staatsausgaben
Staatsausgaben um 1 % des BIP bis Ende 2020
4,8
(Aufteilung in Investition und Konsum)
Keine Änderung zur Basis
+1,3 %
Basis: 115,7
Negativ
115
+1,1 %
Basis
Positiv
Konstanter Ölpreis von 60 US$ bis 2025
Öl
4,6
Negativ: 111,9
Anstieg auf 96 US$ bis 2025
110
Positiv: 4,39 %
4,4
Negativ
Kontinuierlicher Anstieg des Ölpreises
auf 150 US$ bis 2025
105
4,2
Basis
Anstieg bis 3,7 % bis 2025
Positiv
Zinsen
0,05 % bis 2025
Negativ
Schneller Anstieg auf 4,25 % bis 2021
4,0
100
2015
2025
Negativ
Basis
Positiv
Negativ
Basis
2015
Positiv
2025
Quellen: NIESR, Handelsblatt Research Institute
Handelsblatt
BASIS-PROJEKTION
NEGATIV-PROJEKTION
POSITIV-PROJEKTION
Solides Wachstum
Normalisierung mit Folgen
Krisengewinner Deutschland
D
D
I
as Nationale Institut für Wirtschaftsund Sozialforschung (NIESR) in London
hat das Weltwirtschaftsmodell NiGEM
entwickelt. Dieses Modell kombiniert historische Wirtschaftsdaten mit Erkenntnissen der
modernen Wachstumstheorie – und ermöglicht so Berechnungen der künftigen ökonomischen Entwicklung bei einer Variation von Annahmen. Auf der Basis dieses Modells hat das
Handelsblatt Research Institute (HRI) Projektionen der wirtschaftlichen Entwicklung
Deutschlands erarbeitet.
In das Modell gehen detaillierte Daten von gut
60 Staaten und Regionen sowie zum Welthandel und den Kapitalmärkten ein. Dazu gehören Daten der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, Preise und Preiserwartungen, Einnahmen und Ausgaben der privaten
Haushalte, zum Außenhandel und Kapitalverkehr, zum Staatshaushalt und dem Sozialsystem, zu Arbeitsmarkt und Bevölkerung, zu
Wechselkursen und Geldmengen, zum Kapitalstock, zu Steuern und zu Rohstoffpreisen.
Allein für Deutschland werden 189 Variablen
einbezogen.
Damit erlaubt das Modell die Modellierung
der gesamten Weltwirtschaft, aber auch der
Auswirkungen politischer Entscheidungen
oder wirtschaftlicher Veränderungen. Aus
diesem Grund wird es von vielen Wirtschaftsforschern und Finanzinstituten wie der EZB,
der OECD und dem IWF für Simulationsrechnungen und Projektionen eingesetzt.
Die in dieser Analyse verwendete Basis-Pro-
jektion entspricht der Prognose, die NiGEM
aktuell für die Entwicklung der deutschen
Wirtschaft stellt. Das Modell sagt für das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) bis 2025 eine
durchschnittliche jährliche Wachstumsrate
von 1,5 Prozent voraus. Damit würde das mittelfristige Wachstumstempo geringfügig unter
dem der Jahre 2014 und 2015 liegen.
Die Inflationsrate erhöht sich in der Basis-Projektion von gegenwärtig unter einem Prozent
auf einen durchschnittlichen Wert von zwei
Prozent über die kommenden zehn Jahre hinweg. Das entspricht fast punktgenau dem Inflationsziel der Europäischen Zentralbank.
Für die Positiv- und die Negativ-Projektion hat
das Handelsblatt Research Institute einige
wichtige Einflussfaktoren variiert: die Entwicklung der Bevölkerungszahl, der Staatsausgaben, des Ölpreises und der EZB-Leitzinsen.
Die Annahmen, die der Basis-Projektion zugrunde liegen, sind eine Bevölkerungsentwicklung gemäß der aktuellen Vorausberechnung der
Vereinten Nationen, ein Anstieg des Ölpreises von gegenwärtig etwa 60 Dollar je
Wachstum sagt die
Barrel auf 96 Dollar bis
zum Jahr 2025 sowie ein
Basis-Projektion der
Anstieg des EZB-Leitzinses
deutschen Wirtschaft
von aktuell 0,05 Prozent
bis 2025 im Jahres
auf 3,7 Prozent. Das würde
schnitt voraus.
einer relativ langsamen Normalisierung der Zinspolitik entsprechen. Dirk Heilmann, Bert Rürup
1,5 %
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an [email protected].
eutschland befindet sich derzeit in einer paradoxen Situation: Die Krise in
der Euro-Zone hat ein Zinsumfeld geschaffen, das für die deutsche Wirtschaft seit
Jahren deutlich zu expansiv ist. Und gemessen an der Stärke der deutschen Wirtschaft,
ist der Euro unterbewertet. Deutschland ist
also ein Gewinner der Euro-Krise. Das gilt
nicht nur für den Staat, sondern auch für
die Unternehmen und privaten Haushalte.
Hinzu kommt der Verfall des Ölpreises, der
ein zusätzliches Konjunkturprogramm darstellt.
Auf der anderen Seite gehen diese Rahmenbedingungen zwar mit einer schwachen
Konjunktur auf vielen Absatzmärkten der
deutschen Industrie und mit Einbußen für
Anleger einher. Aber die positiven Effekte
auf das deutsche Wirtschaftswachstum überwiegen. Deutsche Produkte sind zumeist Investitions- und hochwerte Konsumgüter.
Diese Produkte sind wenig preisabhängig
und werden auch in ökonomisch schwächeren Zeiten gekauft. Die Ausfuhrrekorde der
vergangenen Jahre vor dem Hintergrund einer relativ schwachen Weltwirtschaft haben
dies eindrucksvoll belegt.
In der Negativ-Projektion wird die deutsche
Wirtschaft nun aber aus dem äußerst günstigen Umfeld niedriger Zinsen und Ölpreise
vertrieben. In dieser Projektion erhöht sich
der Ölpreis von gegenwärtig rund 60 Dollar
je Barrel in den kommenden zehn Jahren
auf 150 Dollar – einem Niveau, das er im
Sommer 2008 schon einmal fast erreicht hatte.
Der Leitzins der EZB
steigt in dieser Projektion von derzeit 0,05 Prozent
Wachstum sagt die
bis 2021 auf 4,25
Negativprojektion der
Prozent. Das ist
ein realistischer
deutschen Wirtschaft
Wert für Aufbis 2025 im Jahres schwungsphasen,
schnitt voraus.
der zuletzt im
Herbst 2008 erreicht
wurde.
Zur Bevölkerungsentwicklung
wird angenommen, dass die Nettozuwanderung nach Deutschland von aktuell 500 000
Personen im Jahr bis 2021 auf 100 000 Personen zurückgeht. Dies entspricht der pessimistischeren Hauptvariante der jüngsten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamts vom April dieses Jahres.
Die Staatsausgaben bleiben im Vergleich zur
Basis-Projektion unverändert.
Insgesamt ergibt die Negativ-Projektion eine
durchschnittliche jährliche Wachstumsrate
von 1,1 Prozent im Vergleich zu 1,5 Prozent in
der Basis-Variante. Zu dem schwächeren Ergebnis tragen in erster Linie die höheren Zinsen und an zweiter Stelle die steigenden Ölpreise bei. Die Zuwanderung hat nur einen
sehr geringen positiven Effekt auf das Wachstum im Vergleich zur Basis-Variante.
1,1 %
Dirk Heilmann, Bert Rürup
n der Positiv-Projektion bleibt die Dynamik
der Weltwirtschaft ebenso moderat wie die
Probleme in einer Reihe von Euro-Ländern.
Deshalb ist es plausibel, dass, wie in dieser Simulation angenommen, uns die extrem lockere Geldpolitik und der relativ niedrige Ölpreis
zehn weitere Jahre erhalten bleiben. Das damit
verbundene Doping der deutschen Wirtschaft
hält an.
In der Positiv-Projektion wird davon ausgegangen, dass das derzeit niedrige Niveau der
Leitzinsen und des Ölpreises bis zum Jahr
2025 bestehen bleibt. Dies bedeutet: Der Ölpreis wird in den kommenden zehn Jahren
auf dem gegenwärtigen Niveau von rund 60
Dollar je Barrel verharren. Das ist plausibel,
wenn Iran nach dem Ende der Sanktionen
seine Ölexporte massiv erhöht, sich die Lage
im Irak beruhigt, die Investitionen in Öl-Fracking in den USA wieder anziehen – und bei
alldem Saudi-Arabien seine Produktion weiterhin nicht drosselt.
Mit Blick auf die Zinspolitik der EZB wird in
dieser Projektion davon ausgegangen, dass der
Leitzins noch zehn Jahre lang auf dem historischen Tief von 0,05 Prozent bleibt. Das erscheint aus wirtschaftlicher Sicht eine etwas
vermessene Annahme, aber es gibt gewichtige
politische Gründe dafür. Die EZB wird vor einer
Zinserhöhung unter massiven Druck geraten,
weil die hochverschuldeten Staaten der EuroZone bei einem in früheren Zyklen üblichen
Anstieg des Leitzinses bis auf rund vier Prozent
sofort in größere Haushaltsprobleme geraten
würden. Ein Wiederaufflammen der EuroSchuldenkrise kann die EZB nicht zulassen.
Die Nettozuwanderung nach Deutschland
sinkt in dieser Projektion langsamer: von
500 000 Personen im Jahr auf 200 000 im
Jahr 2021. Das entspricht der optimistischeren Hauptvariante der Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamts.
Außerdem wird ein Anstieg der Staatsausgaben um ein Prozent des BIP bis Ende 2020
angenommen, weil mit bisher nicht vorgesehenen Ausgaben für militärische Einsätze gerechnet wird, die sich aus wachsenden Anforderungen an eine Führungsrolle Deutschlands ergeben. So führt die Positiv-Projektion
zu einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 2,3 Prozent im Vergleich zu 1,5
Prozent in der Basis-Variante. Mehr als die
Hälfte der Differenz tragen die
niedrigen Zinsen bei. Auf
rund 0,2 Prozentpunkte
beläuft sich der Beitrag
der niedrigen Ölpreise
und auf gut 0,1 Prozentpunkte der der
Wachstum sagt die
Zuwanderung. Dirk
2,3 %
Positiv-Projektion der
deutschen Wirtschaft bis
2025 im Jahres schnitt
voraus.
Heilmann, Bert Rürup
Dennis Huchzermeier
und Bernhard Köster
vom HRI haben
die drei Szenarien
berechnet.
56 PROGNOSE 2025
WOCHENENDE 19./20./21. JUNI 2015, NR. 115
2
PROGNOSE 2025 57
WOCHENENDE 19./20./21. JUNI 2015, NR. 115
2
Deutschlands wirtschaftliche Zukunft
Es sind zehn Faktoren, die über mehr oder weniger Wohlstand in der Bundesrepublik entscheiden. Dazu gehören die demografische Entwicklung, die
Arbeitskosten und die langfristigen Kapitalmarktzinsen. Auch die Bildungspolitik und die Herausforderungen durch die Digitalisierung sind enorm wichtig.
1. DEMOGRAFIE
2. ZINSEN
Bevölkerung
Leitzinsen in der Euro-Zone
Lohnstückkosten
nach Altersgruppen in Millionen
in Prozent
Prozentuale Veränderung seit 2000
Deutschland
G7
4. ARBEITSKOSTEN
3. ÖLPREIS
5,0
+30
0,05 %
Frankreich
+29,6 %
USA
+26,2 %
820,3
742,6
65+ Jahre
209,8
125,3
+20
4,0
Millionen
15 bis 64 J.
477,6
490,6
5. DIGITALISIERUNG
Deutschland
+16,6 %
3,0
+10
2,0
+0
1,0
-10
83,0
2010
76,4
2040
0 bis 14 J.
132,9
126,6
Millionen
2010
Quelle: UN
Handelsblatt
0
Jan. 2000
2040
Juni 2015
Quelle: Bloomberg
Handelsblatt
Japan
-14,8 %
-20
2000
2015
Quelle: OECD
Handelsblatt
dpa
17,3
54,6
11,1
65+ Jahre
24,3 Millionen
15 bis 64 J.
42,5 Millionen
0 bis 14 J.
9,5 Millionen
picture-alliance / dpa
Millionen
Enormer Bedarf
Hohe Einsparungen
Entscheidender Faktor
Steigende Löhne
Verpasste Chancen
S
F
D
D
A
chon jetzt klagt die Wirtschaft massiv über Fachkräftemangel. Zuletzt lag
die Zahl der unbesetzten Stellen auf Rekordniveau. Ab
2020 könnte diese Situation
endgültig zum Dauerzustand
werden: Dann nämlich setzt
der demografische Wandel
voll ein – die Zahl der Deutschen wird sinken, sagt das
Statistische Bundesamt voraus. Außerdem werden die
Deutschen im Schnitt auch
immer älter: Bis 2060 dürfte
nicht mehr jeder fünfte Deutsche im Rentenalter sein, sondern jeder dritte. Das Potenzial an Arbeitskräften sinkt also
noch schneller.
Gelindert werden könnte der
Fachkräftemangel durch eine
höhere und stetige Zuwanderung. Doch der Bundesrepublik fällt es schwer, sich als
Einwanderungsland zu sehen. Dabei gibt es einen enormen Bedarf: Selbst wenn die
Nettozuwanderung nur von
500 000 auf 200 000 Menschen im Jahr abnähme, würde die Bevölkerung bis zum
Jahr 2060 von heute 81 auf 73
Millionen sinken, schätzen
Fazit
die Statistiker. Um trotzdem
ein nennenswertes Wohlstandswachstum zu sichern,
braucht das Land dringend einen Produktivitätsschub. Der
aber ist derzeit nicht abzusehen: Seit vier Jahren stockt
der technische Fortschritt
mehr oder weniger. Besserung ist kaum in Sicht –
schließlich investieren
Deutschlands Firmen relativ
wenig in neue Projekte.
Eine Studie der KfW-Bankengruppe zeigte kürzlich, dass
gerade ältere Unternehmer
weniger Geld in ihre Firmen
investieren als jüngere. Angesichts der Alterung der Bevölkerung könnte daraus ein regelrechter Teufelskreis werden. Hans-Christian Müller
73 Mio.
Deutsche wird es
im Jahr 2060 nur noch
geben, wenn
die Zuwanderung
deutlich zurückgeht.
Statistisches
Bundesamt
Wenn immer weniger Menschen im Erwerbsalter immer mehr
Menschen im Rentenalter unterstützen müssen, stellt das eine
Volkswirtschaft vor große Herausforderungen. Zwar kann man
einen Teil der Renten erwirtschaften, indem Ersparnisse im
Ausland angelegt werden. Der Löwenanteil aber muss aus dem
Inland kommen. Wenn die Zahl der Arbeitskräfte sinkt,
braucht die Ökonomie besonders dringend einen Produktivitätsboom. Der Grundstein dafür muss jetzt gelegt werden.
inanzminister Wolfgang
Schäuble inszeniert sich
gerne als eiserner Sparkommissar. Und tatsächlich
war er der erste Bundesfinanzminister seit Alex Möller im
Jahr 1970, der mit seinen Einnahmen auskam. Wesentlichen Anteil daran hatte freilich das Zinstief – vor allem eine Folge der expansiven
Geldpolitik der EZB. Zeitweise
warfen Anleihen mit einer
Laufzeit von bis zu sieben Jahren negative Renditen ab;
Schäuble bekam von den Finanzmärkten also Geld fürs
Schuldenmachen.
Das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) schätzt, dass
allein dieses Jahr die Einsparungen beim Bund rund 20
Milliarden Euro betragen. Als
Vergleichsmaßstab wählten
die Ökonomen das durchschnittliche Zinsniveau der
Jahre 1999 bis 2008 für Bundesanleihen unterschiedlicher
Laufzeit; es lag zwischen gut
drei und fast 4,5 Prozent. „Vergleicht man die Zinslast der
Neuemissionen, die in den
Jahren 2009 bis 2014 getätigt
wurden, mit der hypotheti-
schen Zinslast, die bei historischen Mittelwerten fällig gewesen wäre, liegen die kumulierten Einsparungen bis 2030
bei insgesamt 160 Milliarden
Euro“, rechnet IfW-Finanzexperte Jens Boysen-Hogrefe vor.
Das heißt aber umgekehrt:
Wenn die Euro-Zone die Krise
hinter sich lässt und die Zinsen in den kommenden zehn
Jahren wieder in Richtung der
historischen Mittelwerte steigen, dann wächst auch die
Zinslast wieder entsprechend.
Der fiskalpolitische Spielraum
wird schrumpfen und den
dann amtierenden Finanzminister vor schmerzliche Entscheidungen stellen – schon
wegen der in der Verfassung
verankerten Schuldenbremse.
Auch für Unternehmen und
Bürger wird die Kreditaufnahme für Investitionen oder den
Kauf von Immobilien wieder
teurer. Freuen werden sich allerdings Anleger, die nach langer Durststrecke wieder vernünftige Zinsen bekommen.
Auch für die Pensionskassen
und Versicherungen wären höhere Zinsen eine willkommene
Entlastung. Axel Schrinner
Fazit
Es scheint wahrscheinlich, dass die Zinsen in Europa ab etwa
2017 wieder steigen und in den 2020er-Jahren wieder historisches Durchschnittsniveau erreichen. Bis sich das spürbar auf
die Zinszahlungen der Wirtschaft und öffentlichen wie privaten
Haushalte durchschlägt, wird es wegen der üblichen Zinsbindung weitere Jahre dauern. Damit wird die Zinslast gerade dann
spürbar steigen, wenn die Demografieprobleme immer größer
werden, also zum Ende des kommenden Jahrzehnts.
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er Sturz des Ölpreises von
120 auf gut 60 Dollar innerhalb nur eines Jahres
ist das beste Konjunkturprogramm, das man sich für
Deutschland vorstellen kann.
Bleibt der Preis auf jetzigem Niveau, entsteht hierzulande bei
konstantem Euro-Kurs zusätzliche Kaufkraft in Höhe von rund
30 Milliarden Euro jährlich. Besonders angenehm: Die Verschuldung erhöht sich nicht;
denn die Rechnung zahlen ölproduzierende Staaten wie
Russland oder Saudi-Arabien.
Das rohstoffarme Deutschland
importiert jährlich Rohöl im
Wert von fast 90 Milliarden Euro. Berechnungen des Handelsblatt Research Institute zeigen,
welchen Effekt der Ölpreis auf
das BIP-Wachstum hat.
In seiner Negativ-Projektion hat
das Institut einen Anstieg des Ölpreises bis auf 150 Dollar im Jahr
2025 unterstellt. Das würde zu
einer Senkung der jährlichen
Wachstumsrate um 0,2 Prozentpunkte im Vergleich zur Basisprojektion führen. Umgekehrt
würde es das BIP-Wachstum Jahr
für Jahr um 0,2 Prozentpunkte
anheben, wenn der Ölpreis bis
Fazit
Der Ölpreis ist ein großer Unsicherheitsfaktor für die deutsche Konjunktur. Vor allem
deshalb, weil die Wechselwirkungen groß sind. Steigt der
Ölpreis infolge einer boomenden Weltwirtschaft, werden
die negativen Effekte des Öl-
0,2
Prozentpunkte würde
das Wachstum jährlich
steigen, wenn der
Ölpreis bis 2025 bei
60 Dollar bliebe.
HRI
2025 bei 60 Dollar bliebe, wie in
der Positiv-Projektion unterstellt.
In welche Richtung sich der
Preis künftig bewegen wird – darüber sind sich die Experten
uneins. Kurzfristig rechnet etwa
Goldman Sachs mit einem Rückgang des Preises unter 45 Dollar
je Barrel. Andere Energieexperten schließen dagegen nicht aus,
dass der Ölpreis bei einer kräftigen Erholung der Weltwirtschaft
mittelfristig bis auf 150 Dollar
steigen könnte. Dass der Preis
noch höher steigen könnte, davon gehen die sogenannten Peak-Oil-Theoretiker aus. Sie glauben, dass die Erdölvorräte das
Maximum ihrer möglichen Fördermenge erreicht haben.
Jens Münchrath
preisanstiegs durch positive
Wirkungen auf die Exportindustrie überkompensiert.
Steigt der Preis aufgrund eines Fördermengenausfalls
wegen eines Krieges im Nahen Osten, schlagen die negativen Wirkungen voll durch.
eutsche Arbeitnehmer
können sich derzeit über
ordentliche Lohnerhöhungen freuen. Im ersten
Quartal 2015 lagen die Tarifverdienste im Schnitt um 2,7 Prozent höher als ein Jahr zuvor.
Und weil die Verbraucherpreise fast stagnierten, ist das nominelle Plus auch ein reales.
Daher spricht viel dafür, dass
der Reallohnindex in diesem
Jahr erneut einen kräftigen
Sprung macht. Bereits 2014
hatte der Index um 1,7 Prozent
zugelegt – das war der höchste
Anstieg seit Beginn der Zeitreihe im Jahr 2008. Die insgesamt sehr gute Verfassung der
deutschen Wirtschaft und der
vor allem in einigen Regionen
und bestimmten Berufen deutlich spürbare Fachkräftemangel deuten darauf hin: Auch in
den kommenden Jahren dürften die Löhne spürbar steigen.
„Höhere Löhne können aus
gesamtwirtschaftlicher Perspektive unterschiedliche Wirkungen haben“, sagt Michael
Holstein von der DZ Bank: Sie
können kurzfristig die Kaufkraft und damit den privaten
Konsum stärken, sie könnten
Fazit
aber auch mittel- und langfristig zu einem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit führen.
Im Jahr 2014 zahlten Arbeitgeber in der Privatwirtschaft
durchschnittlich 31,80 Euro
pro Arbeitsstunde. Damit war
Deutschland das achtteuerste
Land in der EU. Dänemark
hatte mit 42 Euro die höchsten
Arbeitskosten je Stunde, Bulgarien mit 3,80 Euro die niedrigsten. Im verarbeitenden Gewerbe, das sich starkem internationalem Konkurrenzdruck
ausgesetzt sieht, kostete eine
Arbeitsstunde in Deutschland
2014 im Schnitt 37 Euro. Hier
lag Deutschland im EU-weiten
Vergleich auf Rang vier.
Blickt man aber über den Tellerrand der Euro-Zone hinaus,
spielt ein anderer Faktor eine
entscheidende Rolle: der
Wechselkurs. So hat der Euro
nicht nur gegenüber dem Dollar, sondern etwa auch gegenüber der indischen Rupie binnen eines Jahres rund elf Prozent an Wert verloren. Arbeit
in Deutschland ist also im Vergleich zu Arbeit in Indien
deutlich billiger geworden.
Axel Schrinner
Deutschland war nach dem Ende des New-Economy-Booms EUweites Schlusslicht bei der Entwicklung der Arbeitskosten. Sie
stiegen in Deutschland in den Jahren 2001 bis 2007 im Schnitt
um 1,7 Prozent pro Jahr, gut einen Punkt langsamer als im gesamten Euro-Raum. Die späteren Krisenländer Irland, Spanien
und Griechenland boomten damals; ihre Arbeitskosten stiegen
rasant – bis die Party endete. Nun kehrt sich der Trend um –
noch ist das keine Gefahr für Deutschland.
uf den ersten Blick
scheint Deutschland auf
das digitale Zeitalter bestens vorbereitet zu sein. Das
Bundeswirtschaftsministerium
hat eigens eine eigene „digitale
Agenda“ erstellt. Auf der entsprechenden Webseite findet
man nicht nur das Versprechen, dass Berlin „den digitalen Wandel aktiv fördern und
gestalten will“. Dort ist auch
von „nationalen IT-Gipfeln“, einer Plattform für die „Industrie
4.0“ und einer „Internet-Botschafterin“ die Rede. Der Aktionismus ist verständlich, bietet
doch die Digitalisierung die
Chance, die zuletzt niedrigen
Produktivitätszuwächse in der
Wirtschaft zu steigern.
Die positive Botschaft fürs Volk
steht jedoch im krassen Gegensatz zu Warnungen von Wirtschaftsstaatssekretär Matthias
Machnig: Nach seiner Meinung
droht der deutsche Mittelstand
die Digitalisierung zu verpassen, weil er Angst um seine Daten hat. Die fehlende Datensicherheit ist jedoch nur eine Lücke in der digitalen Agenda.
Obwohl Deutschland dank seiner guten Infrastruktur wie nur
Fazit
wenig andere Länder von den
neuen Technologien profitieren
könnte, hört man von Politikern vor allem defensive Töne.
Von einem „deutschen Internet“ ist da die Rede und von
der Zerschlagung des US-Konzerns Google. Hier mischt sich
kleinstaatliches Denken mit
technologischer Naivität. Hinderlich ist auch, dass mit den
Wirtschafts-, Innen- und Verkehrsministerien gleich drei Behörden für die Digitalisierung
zuständig sind. Der Branchenverband Bitkom bemängelt
auch, dass die Bundesregierung zu wenig für Innovationen
tue, und fordert eine gezielte
Forschungsförderung und Zuwanderung von IT-Spezialisten.
Klar ist: Im digitalen Leistungsvergleich liegt Deutschland nur
auf Platz zehn in Europa. Aber
auch auf europäischer Ebene
liegen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander. Die EUKommission hat jüngst eine
Strategie für einen „digitalen
Binnenmarkt“ vorgestellt. Dabei gleicht Europa auf Feldern
wie Datenschutz und Urheberrecht immer noch einem Flickenteppich. Torsten Riecke
Anspruch und Wirklichkeit der Politik liegen bei der Digitalisierung weit auseinander. Deutschland gilt zwar als das weltweit
am besten vernetzte Land. Diese Pole-Position droht in den
nächsten Jahren aber verloren zu gehen, wenn die Bundesregierung aus ihrer allgemeinen digitalen Agenda nicht endlich eine
konkrete Strategie entwickelt. Die Haltung in Berlin gleicht bislang einem Abwehrreflex. Dabei haben deutsche Firmen beim
Zukunftsthema Datensicherheit große Marktchancen.
58 PROGNOSE 2025
WOCHENENDE 19./20./21. JUNI 2015, NR. 115
2
2
6. ENERGIEPOLITIK
7. SICHERHEITSPOLITIK
8. GRÜNDUNGEN
Strompreise für die Industrie
Zahl der gewerblichen Unter
Prozentuale Veränderung seit 2005 in Deutschland
pro Jahr in Deutschland
+57,5 %
+60
+50
PROGNOSE 2025 59
WOCHENENDE 19./20./21. JUNI 2015, NR. 115
9. BILDUNG
10. SOZIALE MOBILITÄT
nehmensgründungen
Gesamtvermögen in Deutschland
Wie viel Prozent besitzen die oberen 10 Prozent
500 000
2005: 9,73 Cent/kWh
kWh
2015: 15,32 Cent/kWh
421 364
2000
63,9 %
400 000
+40
300 000
275
27
75 769
+30
200 000
+20
100 000
0
±0
2005
2000
Quelle: BDEW
dpa
2015
Handelsblatt | inkl. Stromsteuer
Handelsblatt | ohne Automatenaufsteller, freie Berufe
2014
und Reisegewerbe
Quelle: IfM Bonn
Erhebliche Risiken
Mehr Verantwortung
Mangelnde Risikokultur
W
M
W
er die Kosten der
Energiewende summiert, landet schnell
bei dreistelligen Milliardenbeträgen. Allein die Förderung
der Stromgewinnung aus Sonne, Wind, Wasser und Biomasse schlägt Jahr für Jahr mit
mehr als 20 Milliarden Euro
zu Buche. Hinzu kommen die
Kosten für den Ausbau der
Netze und die Anpassung des
konventionellen Kraftwerksparks. Dass gleichzeitig in der
Erneuerbare-Energien-Branche viele Jobs entstanden
sind, vermag die hohen Kosten nicht annähernd aufzuwiegen. Ist und bleibt die
Energiewende somit ein Verlustgeschäft für die gesamte
Volkswirtschaft? Zunächst ja,
aber sie bleibt es hoffentlich
nicht.
Derzeit machen sich die Vorteile der Energiewende nur
begrenzt bemerkbar. Hauptgrund sind die niedrigen Preise für Energierohstoffe wie
Kohle und Öl.
Doch alle langfristigen Prognosen gehen angesichts des
weltweit rasant wachsenden
Energiebedarfs davon aus,
dass die niedrigen Notierungen für Energierohstoffe nur
ein vorübergehendes Phänomen sind. Auf mittlere Sicht
wird man sich an höhere Preise gewöhnen müssen.
Dann werden die positiven Effekte der Energiewende stärker zum Tragen kommen
– und können sich zum Wettbewerbsvorteil für die deut-
Fazit
sche Wirtschaft entwickeln.
Doch die sinkende Abhängigkeit von importierten Energierohstoffen ist nur ein Aspekt.
Wenn die Umstellung auf erneuerbare Energien in einem
Industrieland wie Deutschland ohne allzu große Kollateralschäden gelingt, wird
Deutschland zum Vorbild für
andere Länder. In Deutschland sitzen dann die Unternehmen mit weit entwickelter
Technik und Systemkompetenz. Die derzeitige Belastung
durch die Energiewende hätte
sich zu einer großen Chance
entwickelt.
Allerdings sind die Unwägbarkeiten erheblich. Skeptiker
mutmaßen, dass auf dem Weg
in die schöne neue Energiewelt klassische Industriebranchen auf der Strecke bleiben –
und Deutschland sich seiner
industriellen Basis beraubt.
Die Politik betont immer wieder, sie habe diese Gefahr erkannt. Sie gelobt, es so weit
nicht kommen zu lassen. Hoffentlich gelingt ihr das.
Klaus Stratmann
23 Mrd.
Euro kostet jedes
Jahr die Förderung
der „grünen“
Stromgewinnung.
Netzbetreiber
Die Energiewende ist ein gewagtes Experiment. Sie verschlingt
Milliarden und bürdet gerade den großen Stromverbrauchern
aus der Industrie hohe Belastungen auf, die Wettbewerber aus
anderen Ländern so nicht haben. Kompensationszahlungen an
besonders Betroffene sind daher unumgänglich. Die Politik
muss dafür sorgen, dass die Energiewende die Industrie nicht
aus dem Land treibt und die Versorgungssicherheit nicht gefährdet. Gelingt das, birgt die Wende große Chancen – nicht zuletzt deshalb, weil sie ein Exportschlager werden kann.
ehr als 2 000 Soldaten,
Kampf- und Schützenpanzer, Helikopter, Artillerie: Die Nato übt im polnischen Zagan derzeit, unter
den Augen von Verteidigungsministerin Ursula von der
Leyen und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, in der
Übung „Noble Jump“ die Verlegung ihrer schnellen Eingreiftruppe. Aufgestellt im Zuge des Ukraine-Konflikts, um
Russland abzuschrecken.
Die Manöver kosten Millionen
und sind eine Herausforderung für die Bundeswehr –
die nötige Ausrüstung der
Einheiten musste im ganzen
Land mühsam zusammengesucht werden. Die Mängelverwaltung ist Ergebnis des Sparkurses des vergangenen Vierteljahrhunderts, in dem die
Truppenstärke stark verringert wurde.
Die Friedensdividende nach
dem Ende des Kalten Krieges
ist inzwischen komplett ausgeschüttet. Die vielen Konflikte in der Nachbarschaft, in
der Ukraine, im Irak, in Syrien oder Libyen, haben ein
neues Bedrohungsbewusstsein in Politik wie Bevölkerung entstehen lassen. Zugleich wachsen die Erwartungen der Verbündeten an
Deutschland: Die Zeiten, in
denen sich die Bundesregierung auf Scheckheft-Diplomatie zurückziehen konnte,
scheinen vorbei.
Die Bundesregierung ist sich
der neuen Verantwortung be-
2 Mrd.
Euro zusätzlich pro
Jahr bekommt
die Bundeswehr
ab 2016.
Bundesregierung
wusst, die der größten Wirtschaftsmacht des Kontinents
zukommt. „Gleichgültigkeit
ist für ein Land wie Deutschland keine Option“, kündigte
von der Leyen Anfang 2014
auf der Münchener Sicherheitskonferenz an. Bis Mitte
nächsten Jahres will die Regierung unter ihrer Federführung ein neues Weißbuch erarbeiten, in dem die neue Sicherheitspolitik formuliert
werden soll.
Die Große Koalition hat angekündigt, den Verteidigungsetat
deutlich anzuheben: In den
kommenden vier Jahren soll
die Bundeswehr jeweils rund
zwei Milliarden Euro mehr bekommen. Mit dem Geld sollen
unter anderem 100 bereits ausgemusterte Leopard-II-Panzer
wieder flottgemacht werden.
Das Heer bekommt außerdem
160 neue Transportpanzer, von
der Leyen brachte gerade Milliardenaufträge für ein neues
Luftverteidigungssystem und
neue Kriegsschiffe auf den
Weg. Till Hoppe
Fazit
Aus geschichtlichen Gründen hat sich Deutschland jahrzehntelang in der internationalen Sicherheitspolitik zurückgehalten.
Das wachsende wirtschaftliche und politische Gewicht der Bundesrepublik in Europa führt aber dazu, dass die Partner mehr
Engagement fordern – wenn nötig auch militärisch. Die Großmacht USA will nicht länger weitgehend allein für das Krisenmanagement etwa im Nahen Osten verantwortlich sein. Mehr Verantwortung zu übernehmen aber heißt: höhere Ausgaben für
die Bundeswehr und wohl auch für die Geheimdienste.
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ahrscheinlich liegt es
auch daran, dass es in
Deutschland erstaunlich umständlich ist, eine neue
Firma anzumelden: Mehr als
14 Tage ist man vorher mit
dem Papierkram beschäftigt,
haben die Experten vom Weltwirtschaftsforum in Davos ausgerechnet. In 73 Ländern auf
der Welt geht es schneller.
Nein, Deutschland ist wahrlich
kein klassisches Gründerland:
Gerade einmal sechs Prozent
der Deutschen planen, in den
nächsten drei Jahren eine Firma an den Start zu bringen,
zeigen Umfragedaten des Global Entrepreneurship Monitors. Mit Ausnahme von Japan
ist dieser Wert in allen G7-Staaten doppelt so hoch.
Für die Volkswirtschaft kann
es mittelfristig zum Problem
werden, wenn es kaum jemand wagt, das Risiko der
Selbstständigkeit der Sicherheit des Arbeitnehmerstatus
vorzuziehen. Das gilt heute
mehr als früher: Während es
in der Industrie lange darum
ging, mit der Großproduktion
Mengenvorteile zu erzielen,
kommt es inzwischen immer
mehr auf passgenaue, technologisch ausgefeilte Produkte
an. Doch dafür ist es notwendig, dass möglichst viele Ideen
am Markt getestet werden.
Natürlich müht man sich:
Gründerzentren bieten günstige Büroräume, die Unis helfen
ihren Absolventen, außerdem
gibt es Ideen-Wettbewerbe um
Fördermittel.
Fazit
In der Vergangenheit hatte
Deutschlands industriell geprägte Wirtschaftsstruktur viele Vorteile: Um globale Märkte
dominieren zu können, brauchen Firmen eine bestimmte
Größe. Doch für den Übergang
zur Ökonomie von morgen täte
es dem Land gut, mehr Mut zu
Und es gibt auch Lichtblicke:
Zumindest im High-Tech-Bereich ist die Zahl der Gründungen zuletzt gestiegen. Gleichzeitig gibt es unter den Entrepreneuren inzwischen deutlich
mehr, die sich selbstständig
machen, weil sie eine Chance
wahrnehmen wollen – und
nicht, weil fehlende Jobchancen sie dazu zwingen, wie eine
Umfrage der KfW-Bankengruppe zeigt. Und in Berlin gibt es
sogar eine regelrechte Start-upSzene, manche sprechen gar
von Europas Digitalhauptstadt.
Doch insgesamt gelingt es
noch immer nicht, erfolgversprechende Start-ups von der
Garage bis zur Börsenreife zu
führen: Manche werden von
großen US-Konzernen wie
Apple und Microsoft weggekauft. Manche überleben die
Wachstumsphase nicht: Im europäischen Vergleich ist der
Anteil der neuen Firmen, die
nach zwei Jahren noch aktiv
sind, sehr klein. Ein Grund dafür dürfte das eher geringe Angebot an Risikokapital sein.
Hans-Christian Müller
6%
der Deutschen wollen
in den nächsten drei
Jahren eine Firma
gründen.
Global Entrepreneurship
Monitor
zeigen. Sonst mangelt es bald
an innovativen Ideen. Die Politik sollte es Firmengründern
einfacher machen, indem sie
den Zugang zu Kapital erleichtert und Bürokratie abbaut.
Und die Menschen müssen umdenken: Mit einer Idee zu scheitern darf kein Makel sein.
2014
ddp images/Martin Oeser
+10
61,7 %
Handelsblatt
Quelle: Credit Suisse Global Wealth Report
Zu viele Abbrecher
Fehlende Perspektive
D
D
ie Bildungsrepublik
Deutschland birgt weit
mehr Risiken als Chancen für die Wirtschaft. Das gilt
vor allem für die Quantität
des Nachwuchses, also das Arbeitskräftepotenzial: 2015
werden 850 000 junge Menschen die Schulen verlassen,
im Jahr 2025 sind es nur noch
rund 730 000. Damit sinkt
das Potenzial für junge Fachkräfte weit stärker als die Gesamtbevölkerung.
Das ist selbst dann ein enormes Problem für Unternehmen, wenn die Konjunktur
sich abkühlt. Verschärfend
hinzu kommt die Struktur des
Nachwuchses: Bei den Akademikern wird es auf Sicht zwar
Engpässe bei technischen Berufen geben. Insgesamt aber
ist das Nachwuchsproblem
hier überschaubar, weil mittlerweile mehr als jeder Zweite
an eine Hochschule strebt. Ein
Massenproblem steht hingegen der dualen Berufsausbildung ins Haus: Spätestens
2024 sinkt die Gesamtzahl der
beruflich Qualifizierten unter
den Bedarf. 2030 fehlen nach
Prognosen des Bundesinstituts
für Berufsbildung dann im
günstigsten Fall eine Million
nichtakademische Fachkräfte
– es könnten auch 1,7 Millionen sein. Als Gegenmaßnahme sollen einerseits Studienabbrecher gewonnen und andere von wenig aussichtsreichen
Studienfächern „umgelenkt“
werden. Das größere Potenzial
birgt jedoch die Gruppe am
unteren Rand: Schulabbre-
Fazit
14 %
weniger junge
Menschen als heute
werden im Jahr 2025
die Schulen verlassen.
Kultusministerkonferenz
cher und solche mit schlechten Abschlüssen. Heute gibt es
1,3 Millionen Menschen zwischen 20 und 29 Jahren ohne
Berufsabschluss.
Qualitativ sieht es etwas besser aus: Die Pisa-Ergebnisse
zeigen über die Jahre einen
positiven Trend. Das heißt:
Der Nachwuchs lernt heute
zumindest in den Kernfächern mehr als vor ein, zwei
Jahrzehnten. Auch die Migranten unter den Schülern
sind dank vieler Reformen im
Schulwesen deutlich besser
geworden, ohne aber zu den
übrigen Schülern aufgeschlossen zu haben. Die größte Herausforderung der nächsten
Jahre besteht daher darin,
den kontinuierlich wachsenden Anteil von Migranten und
auch Asylbewerbern von
mehr als 30 Prozent besser
zu fördern. Die Instrumente
sind bekannt, oftmals fehlt es
an der Umsetzung und an
Geld. Ziemlich am Anfang
steht die Elitenförderung: Der
Anteil der Topschüler ist im
internationalen Vergleich
recht niedrig. Barbara Gillmann
Das Bildungswesen droht einer der entscheidenden Stolpersteine für die deutsche Wirtschaft zu werden, weil es nicht genügend qualifizierten Nachwuchs hervorbringt. Das Problem
wird bislang unterschätzt, weil der massive zahlenmäßige Einbruch erst bevorsteht – wenn sich dieser erst am Arbeitsmarkt
zeigt, ist es viel zu spät. Nur wenn schnell massiv in die Qualität von Kindergärten und vor allem Schulen investiert wird,
kann es gelingen, viel mehr Migrantenkinder und solche aus
bildungsfernen Familien besser als bisher auszubilden.
ie Ungleichheit ist ein
zweischneidiges
Schwert für eine Ökonomie: Ein gewisses Maß ist nötig – denn nur wenn die, die
sich anstrengen, auch ordentlich dafür belohnt werden,
werden sie es überhaupt versuchen. Doch andersherum
gilt: Wenn die Menschen daran zweifeln, dass man überhaupt aufsteigen kann, dann
werden sie sich im Zweifelsfall nicht die Mühe machen
sich anzustrengen. Zu viel Ungleichheit kann also schaden.
Genau das belegte jüngst auch
eine OECD-Studie: Je ungleicher die Einkommen, desto
kleiner ist das Wachstum, so
die Forscher. Denn dann investiere die untere Mittelschicht
nur wenig Zeit und Geld in die
eigene Bildung. Das schade
dann ihnen – und damit der
ganzen Volkswirtschaft.
Vor diesem Hintergrund
droht Deutschland Gefahr:
Die Einkommen sind stark
auseinandergedriftet, zeigen
Berechnungen des DIW Berlin – wenn auch größtenteils
vor 2005. Seither stagniert
die Ungleichheit immerhin.
Heute verdienen die einkommensstärksten zehn Prozent
knapp ein Viertel des Gesamteinkommens – und
damit mehr als die ärmsten 40 Prozent. Im internationalen Vergleich ist
die Ungleichheit damit sogar noch eher gering. Anders bei den Vermögen, da
ist die Unwucht verhältnismäßig groß: Die reichsten zehn
Fazit
Prozent besitzen hierzulande
gut 60 Prozent des Nettovermögens.
Hinzu kommt, dass die soziale
Durchlässigkeit der Gesellschaft in Deutschland nicht gerade groß ist, wie die OECD
immer wieder kritisiert: In wenigen Ländern hängt der berufliche und gesellschaftliche
Status, den jemand erreicht,
so sehr vom Status der Eltern
ab und so wenig von der eigenen Leistung. So gelingt es gerade einmal jedem vierten
Deutschen, einen besseren
Abschluss zu machen als die
Eltern. Die Lösung ist einfach:
mehr Investitionen in die Bildung. Denn die sind in
Deutschland verhältnismäßig
gering. Das Problem ist klar:
Wenn die eigentlich Besten
nicht nach oben kommen und
mit nachrangigen Aufgaben
vorliebnehmen müssen, bedeutet das im Umkehrschluss
auch, dass oft die zweite oder
dritte Wahl an den wichtigen
Positionen sitzt. Das kann einer Volkswirtschaft nicht guttun. Norbert Häring, Hans-Christian Müller
10 %
der einkommensstärksten Bürger verdienen ein Viertel des
Gesamteinkommens.
OECD
Das deutsche Konsensmodell, mit starken Betriebsräten und
Gewerkschaften und ausgeprägten Arbeitnehmerrechten,
funktioniert gut. Aber nur solange die große Mehrzahl das Gefühl hat, mit den Vorgesetzten in einem Boot zu sitzen. Entwickelt sich dagegen eine Haltung des Die-da-oben und Wir-daunten, sinkt der Leistungswille. Und wenn die ganze Gesellschaft zunehmend als unfair wahrgenommen wird – weil die
Reichen reich bleiben, weil Kinder von Arbeitern keine Chance
haben und weil Einsatz nicht zählt – dann droht Gefahr.
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