Veröffentlichung Zusammenhang der Texte - E

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ChristineM.Graebsch
„EvidencebasedCrimePrevention“(EBCP):
Bedeutung,MöglichkeitenundGrenzeneineraufexperimentelleForschung
gestütztenKriminalpräventionspolitik
ZumForschungszusammenhangderzurDissertationverbundenenTexte
DieGesamtheitdervorgelegtenArbeitensetztsichmitdenMöglichkeitenundGren
zenexperimentellerForschunginderKriminologieauseinander.DerBlickrichtetsich
dabei auf kriminalpräventive Feldexperimente, besonders auf experimentelle For
schung im Bereich strafrechtlicher Sanktionen. Zentral ist dabei die Frage nach der
Eigenart experimenteller Forschungsdesigns und den Auswirkungen ihrer Vor und
Nachteile auf die Evaluationsforschung sowie die Frage nach ihrer Zulässigkeit im
Kontext kriminalpräventiv motivierter Rechtsentscheidungen. Als Schwerpunkt er
weisen sich dabei Probleme der praktischen Umsetzung und Umsetzbarkeit der Er
gebnisseexperimentellerEvaluationen.
Die mit diesem Band als kumulative Dissertation eingereichten Texte sind sämtlich
bereits veröffentlicht bzw. ein Text ist zur Veröffentlichung eingereicht. Es handelt
sich um Zeitschriftenaufsätze oder Buchbeiträge, in einem Fall um eine Online
Publikation.DieTextestehenimobengenanntenundimFolgendennähererläuter
tenForschungszusammenhangzueinander.SieberuhenzumgroßenTeilaufErkenn
tnissen,dieanlässlicheinesvonderVWStiftungfinanziertenForschungsprojektszum
Thema „Experimente mit Kriminalprävention“ unter der Leitung von Karl F. Schu
mann gewonnen und dann weiter entwickelt wurden. Zu mehreren thematischen
Teilbereichen (insbesondere: Experimente mit Kriminalprävention: Einführung an
hand von Beispielen; Normative Grundlagen experimenteller Wirkungsforschung in
den USA: Auseinandersetzung mit dem Bericht des FJCKomitees1; Experimente mit
polizeilichen Verhaftungen bei Notrufen wegen häuslicher Gewalt; Experimente mit
Gefängniskonfrontationsprogrammen für Jugendliche) existieren auch ausführliche
Manuskripte. Diese referieren systematisch viele der in den als Dissertation einge
reichten Publikationen punktuell angeführten Ergebnisse, bilden den Forschungszu
sammenhangdieserPublikationenabundstellenderenHintergrundmaterialdar.
1
FederalJudicialCenter(1981):ExperimentationintheLaw,WashingtonD.C::Gov.Print.Press.
1
Die den Publikationen gemeinsam zugrunde liegende Fragestellung lässt sich dabei
alsdienach„Bedeutung,MöglichkeitenundGrenzeneineraufExperimentegestütz
tenKriminalpolitik“charakterisieren.DerTitelderDissertationistallerdingsaufden
BereichderKriminalpolitikbegrenzt,dersichmitderVerhütungzukünftigerStrafta
tenbeschäftigt(Kriminalpräventionspolitik).DashatseinenGrundzumeinenindem
„EvidencebasedCrimePrevention“lautendenTiteldes2002inBuchformveröffent
lichtensog.ShermanReports„CrimePrevention:Whatworks?Whatdoesn't?What's
Promising?“ausdemJahre1997.DieserauchimInternet2veröffentlichteBerichtan
denUSKongressmachtekriminologischeForschungmitexperimentellemDesignund
den Anspruch Politikentscheidungen auf die daraus gewonnene Erkenntnis zu stüt
zen,weltweitberühmt.ZumanderenistesgeradederkriminalpräventiveAnspruch
kriminalpolitischer Maßnahmen, der eine empirische Überprüfung regelmäßig he
rausfordert. Retributive Rechtfertigungslehren für staaliches Strafen werden dage
gen, wenn sie überhaupt Anerkennung finden, vielfach für einer empirischen Über
prüfungunzugänglichgehaltenoderjedenfallsbeidiesernichtfokussiert.Esgehtin
derkriminologischenexperimentellenEvaluationsforschungvielmehrumdieEffekti
vitätderRückfallvermeidungoderderVerhinderungvonStraftatenganzallgemein.
Dieser interdisziplinären Fragestellung wird vor dem Hintergrund kriminologischer
und rechtswissenschaftlicher Literatur, von Literatur der empirischen Sozialfor
schung, der (medizinischen) Forschungsethik und Wissenschaftstheorie nachgegan
gen. Eine interdisziplinäre Betrachtungsweise darf sich dabei nicht – wie es häufig
dennochgeschieht–miteinemNebeneinandervonErkenntnissenunterschiedlicher
Disziplinenbegnügen.EntscheidendistvielmehrgeradedieFrage,obundwiediedi
vergierenden disziplinären Sichtweisen aufeinander bezogen werden können. Dafür
bedarfeseinerArtDolmetscherzwischendeneinzelnenwissenschaftlichenDiskurs
systemen.DerenDivergenzwirdbezogenaufdasvorliegendeThemabereitsanden
unterschiedlichenBedeutungendesBegriffs„Experiment“deutlich.
WennvonExperimenteninderKriminalpolitikdieRedeist,musszunächsteinmalhe
rausgearbeitet werden, welches Begriffsverständnis jeweils zugrunde gelegt wird,
wobei sich wenigstens drei vorliegend bedeutsame Herangehensweisen unterschei
den lassen. Eine wichtige (rechtspolitische) Konnotation des Begriffs Experiment
klingtinderVorstellungvon„experimentellerPolitik“3und„experimentellerGesetz
2
http://www.ncjrs.gov/works(Stand:08.06.2009)
3
Hellstern/Wollmann(1983):ExperimentellePolitik:ReformstrohfeueroderLernstrategie,Opladen.
2
gebung“4an.UnterdiesenStichwortenwurdeinsbesondereinden1980erJahrenin
der Bundesrepublik das Politikkonzept diskutiert, hoheitliche Entscheidungen stetig
an die Ergebnisse einer kontinuierlich und systematisch stattfindenden Evaluations
forschung anzupassen. Dies entspricht weitgehend den heute in Anlehnung an die
„evidencebased medicine“ diskutierten politischen Forderungen der EBCP
Bewegung. Es bedarf dazu der Einführung regional oder zeitlich begrenzter Innova
tionen (Modellversuche) zum empirischen Vergleich mit dem Stauts quo, der mit
möglichstweitgehendandasechteExperimentangenähertenForschungsmethoden
evaluiertwerdensoll.
Dieses „echte Experiment“ stellt dann auch gleich die zweite vorliegend wichtige
Konnotation des Begriffs Experiment dar, die aus der Methodologie quantitativer
empirischerSozialforschungundursprünglichausdermitBlickaufdieNaturwissen
schaftenentwickeltenWissenschaftstheoriestammt5.DabeigehtesumdieFalsifizie
rungtheoretischerAnnahmendurchExperimente,umdieErforschungdesKausalzu
sammenhangsunddessenAbgrenzungzubloßerKorrelation,indemeineVergleichs
gruppediezutestendeMaßnahme(unabhängigeVariable)erhält,dieanderedage
gennicht.WenndiebeidenGruppenvergleichbarsind,gilteinfestgestellterUnter
schiedzwischenbeidenGruppennachEinsatzderMaßnahmealskausaldurchdiese
hervorgerufen. Die Vergleichbarkeit der Gruppen wird bei Zuweisung der Untersu
chungseinheiten zu Experimental und Kontrollgruppen nach dem Zufallsprinzip als
amhöchsteneingeschätzt.ImerwähntenShermanReportwirdeine„MarylandScale
ofScientificMethods“vorgestellt,diedieQualitätvonStudienaufsteigendmit1bis5
bewertet,wobeiabStufe3Kontrollgruppenvergleichedurchgeführtwerdenunddie
„5“demrandomisiertenForschungsdesignvorbehaltenist.
Um eine solche Experimentalanordnung zu erreichen, muss für randomisierte For
schungsdesignsaberaktivundintendiertindaszuuntersuchendesozialeGeschehen
eingegriffenwerden,andersalsesbeireinenBeobachtungsstudienderFallist.Solche
Interventionen sind auch für bestimmte quasiexperimentelle Designs erforderlich,
insbesondere bei Anwendung eines MatchingVerfahrens, wenn nicht lediglich im
Sinneeinessog.natürlichenExperimentsbereitsvorhandeneUnterschiedemiteinan
derverglichenwerden.
4
Horn(1989):ExperimentelleGesetzgebungunterdemGrundgesetz,Berlin.
5
GrundlegendPopper(1994):LogikderForschung,Tübingen.
3
GeradeaufgrunddiesesEingriffscharaktersexperimentellerForschungwirftdiesebe
sondere rechtliche und ethische Probleme auf. Diese lassen sich unter der alltags
sprachlichenKonnotation„Menschenexperiment“fassen,diewissenschaftsdisziplinär
inderphilosophischen(Medizin)Ethikverhandeltwird.DieseDimensionerinnertan
historisch vielfache Übergriffe im Namen der zumeist medizinischen Forschung.
Schonweilsichdie„evidencebasedcrimeprevention“fürdieKriminologieanmedi
zinischen Studien als Ideal orientiert, sollte daraus folgen, dass auch für rechtliche
undethischeFragenaufdiedorterkanntenProblemerekurriertwerdenmuss.
Im Folgenden sollen nun die 13 als zur Dissertation verbundenen Publikationen mit
ihrem zusammengefassten Inhalt und dem ihnen sämtlich zugrundeliegenden For
schungszusammenhangnähervorgestelltwerden.
1. „ExperimenteimStrafrecht–BerichtüberdasSymposium“2000(a)–
in:ExperimenteimStrafrecht:WiegenaukönnenErfolgskontrollenkriminal
präventiverMaßnahmensein?,Hrsg.:BremerInstitutfürKriminalpolitik,
Bremen,S.833.
Diese Publikation stellt eine Einführung in das Thema „Experimente im Strafrecht“
und gleichzeitig den Bericht über ein internationales Symposium dar, das im April
1998anderUniversitätBremenstattfand.DergesamteTagungsband(vonderVer
fasserin redigiert und mit von ihr teilweise transkribierten und aus dem Englischen
übersetztenVorträgen),stelltdiewohlersteAuseinandersetzungmitdenMöglichkei
ten und Grenzen randomisierterForschungsdesigns inder deutschsprachigen Krimi
nologiedar.6
DieInitiativefürdasVWForschungsprojektunddasSymposiumgründetesichseiner
zeitzentralaufdiefürdieKriminologieentdeckteHoffnung,mitrandomisiertenDe
signs könne die Evaluationsforschung und die Kriminalpolitik auf eine rationale
Grundlagegestelltund dort liberalisiert werden, wo sich eingriffsintensiveMaßnah
men im experimentellen Vergleich als wirkungslos oder kontraproduktiv erwiesen.
EinsolcherNachweiswirdvonrandomisiertenEvaluationsstudienstärkeralsvonan
deren erwartet, weil selbst quasiexperimentelle Kontrollgruppenstudien die er
6
Vgl.dazuetwadieBesprechungenvonVolckart(R&P2001,117);KarazmanMorawetz(NK2001,S.
41f.);Groß(Soz.Revue2002,205)undBurkhardt(KrimJ2002,59ff.).
4
wünschten Effekte von Sozialprogrammen häufig überschätzen dürften. Inwieweit
sichdiesetheoretischeÜberlegenheitauchinderalltäglichenForschungspraxisbeo
bachten lässt und ob sie, insbesondere gegenüber quasiexperimentellen Designs,
auch tatsächlich gegeben ist, ist allerdings eine andere Frage. Sie war neben ersten
Fragen nach ethischen Bedenken gegenüber Experimenten und deren Wechselwir
kungmitmethodologischenAnforderungenGegenstandderTagungsowiedervorlie
gendenPublikation7.
2. „KurzeDarstellungdesMinneapolisDomesticViolenceExperimentsunddes
ReplikationsexperimentsSARPalsVorbemerkungzudenfolgendenTexten“
2000(b)
in:ExperimenteimStrafrecht:WiegenaukönnenErfolgskontrollenkriminal
präventiverMaßnahmensein?,Hrsg.:BremerInstitutfürKriminalpolitik,Bre
men,S.5660.
DerBand„ExperimenteimStrafrecht“umfassteinenweiterenkurzenTextderVer
fasserin,indemdas„MinneapolisDomesticViolenceExperiment“(MDVE)unddes
sensystematischeWiederholungenim„SpouseAssaultReplicationProgram“(SARP)
dargestelltwerden,StudiendiesichmitpolizeilichenReaktionsformenbeiNotrufein
sätzenwegenhäuslicherGewaltbeschäftigen.SiesindfürdieDiskussionumExperi
mentemitKriminalpräventionsowichtig,dasssiedortalsweitereEinführungindas
Themavorgestelltwurden.BeidemMDVEhandeltessichumdiewohlersteStudie
weltweit,inderpolizeilicheVerhaftungennachdemZufallsprinzipzugewiesenundso
in einem randomisierten Experiment mit Alternativen verglichen werden konnten.
DieStudieerreichtezudemeinefürkriminologischeForschungäußerstungewöhnli
che Berühmtheit in den USA. MDVE und SARP stellten zudem das Anwendungsbei
spieldar,andemLawrenceW.Shermanbereits1992mitseinemBuch„PolicingDo
mesticViolence“8seinModellvonPolizeiarbeitpräsentierte,wonachkriminalpräven
7
DievorliegendePublikationzitierenfürdieProblematikderWechselwirkungenzwischenethischen
undmethodologischenAnforderungendannauchLüdemann/Ohlemacher(2002):Soziologieder
Kriminalität:TheoretischeundempirischePerspektiven,Weinheim,S.178ff.wenngleichsie
unterdieserBezugnahmeganzandereSchlussfolgerungenziehenalsdieVerfasserinselbst,näm
lichsolcheeindeutigzugunstenderMethodologieuntergleichzeitigerInkaufnahmeethischer
Nachteile.
8
Sherman/Schmidt/Rogan(1992):PolicingDomesticViolence.ExperimentsandDilemmas,New
York.
5
tiveMaßnahmenwieArzneimittelinrandomisiertenStudiengetestetwerdensollen.
DiePolizeitätigkeitsollsichdannsystematischandenhervorgegangenenErkenntnis
senorientieren.ShermanführtdafürComputersoftwarealsVorbildan,dieihreeige
ne Programmstruktur dynamisch dem stets aktuellen Stand der Entwicklung anpas
senkann(„smartpolicing“).
3. „LegalIssuesofRandomizedExperimentsonSanctioning“2000(c)
in:CrimeandDelinquency,Volume46,No.2,April2000,S.271282.
AuseinemVortragderVerfasserinaufeinerweitereninternationalenTagungimJah
re1998,dieunterdemTitel„ExperimentsintheFieldofCriminalPolicy.Doweneed
touseexperimentaldesignsfortheevaluationoffeaturesofthecriminaljusticesys
tem?“amZentrumfürInterdisziplinäreForschungderUniversitätBielefeldstattfand,
ging der vorliegende, in der USamerikanischen Zeitschrift „Crime & Delinquency“
veröffentlichte Aufsatz hervor. Der Text setzt sich mit ethischen Problemen experi
menteller Sanktionsforschung auseinander, die aber als (auch) rechtliche diskutiert
werden,umzuverdeutlichen,dassessichdabeinichtnurumeinnormativesProg
ramm handelt, dessen Verbindlichkeit unterhalb des Gesetzes anzusiedeln wäre,
sondern um die Einhaltung menschenrechtlicher und rechtsstaatlicher Grundprinzi
pien.DerTextentstandvordemHintergrundeiner(rechts)wissenschaftlichenSoziali
sationderVerfasserininderBundesrepublik,wodieZufallszuweisungvonSanktionen
– wo sie überhaupt punktuell in der juristischen Debatte auftaucht – allgemein für
verboten gehalten wurde, ebenso bereits strafrechtliche Experimentiergesetze. So
leiteteetwaMarxen1985ausArt.103IIGGeinenAllgemeinheitsgrundsatzmitstraf
rechtlichem Experimentierverbot für die Gesetzgebung ab.9 Der weitgehende Kon
sens,ZufallszuweisungenbeiSanktionenseienverboten10,schließtandererseitsaber
offensichtlichnichtaus,dasssiegelegentlich(Sozialtherapieexperimente)dochprak
tiziertwerden,undzwarohnedenWiderspruchzuderallgemeinenAnnahmeeines
Verbotszuthematisieren11.
FürdieinDeutschlandvorherrschendeRechtsauffassungzuexperimentellerEvalua
tion von Sanktionen wurde in der vorliegenden Publikation im Überschneidungsbe
9
StrafgesetzgebungalsExperiment?ZStW132(12),S.533584.
10
Vgl.etwaMeier(2001):StrafrechtlicheSanktionen,Berlinu.a.,S.30.
11
Ortmann(2002):SozialtherapieimStrafvollzug,Freiburgi.Br.
6
reichzumArzneimittelgesetzderBegriff„Cannabisparadox“geprägt:DasBundesver
fassungsgerichthieltandemVerbotvonCannabisfest,auchhinsichtlicheinesmedi
zinischen Gebrauchs der Substanz, weil es nicht ausreichend klinische Studien (d.h.
randomisierte Vergleichsforschung) gebe, die die therapeutische Wirksamkeit im
Verhältnis zu möglichen Schädigungen eindeutig belegen könnten. Zum Schutz vor
dem vom Gesetzgeber als verbleibend gesehenen Risiko bei Verwendung der Subs
tanzwerdennunfürdenFallderZuwiderhandlunggegendasCannabisverbotSank
tionenverhängt,dereneigeneWirksamkeitinRelationzuihrenRisikenundNeben
wirkungenimExperimentzuüberprüfenabervomVerfassungsgerichtnichtverlangt
wird,unddiegemeinhinsogarfürunzulässiggehaltenwird.DermangelndeNachweis
desNutzensalltäglicher,staatlicherseitsnichtnurtolerierter,sondernineigenerVer
antwortungbetriebenerAnwendungstrafrechtlicherMittelbeeinträchtigtderenver
fassungsgerichtlicheBewertungoffenbarnicht.WegenderEntscheidungsprärogative
desGesetzgeberssollenvonVerfassungwegennursolcheMaßnahmennichthinzu
nehmen sein, deren Wirkungslosigkeit oder Kontraproduktivität empirisch ohne je
den Zweifel nachgewiesen ist (was in der Forschungspraxis nahezu ausgeschlossen
seindürfte).WährenddienichtausreichendempirischexperimentellgeprüfteDroge
freiwilligkonsumiertwerdensollte,wirddieüberhauptnichtsystematischempirisch
überprüfte Sanktion sogar gegen den Willen verhängt und es ist unbestritten, dass
ihreWirkungdieBetroffenennegativbeeinträchtigt.
In den USA hatten sich dagegen zum Zeitpunkt der Publikation experimentelle Eva
luationeninderSanktionsforschungbereitsetabliert,wennauchmitniedrigemAnteil
am Evaluationsaufkommen insgesamt. Eine Diskussion rechtlicher und ethischer
ProblemeimjeweiligenEinzelfallistdabeiinderLiteraturnichtdokumentiertunddie
Studien finden ohne die informierte Zustimmung der Betroffenen statt. Man stützt
sichallenfallspauschalaufdenBerichteinesbeim„FederalJudicialCenter“(FJC)ein
gesetzten Expertenkomitees aus dem Jahre 1981 mit dem Titel „Experimentation in
theLaw“.MitdiesemallgemeinFragenexperimentellerForschungimRechtbehan
delndenBericht,deraberauchausdrücklichrandomisierteStudiensowieSanktions
experimente einbezieht, wird eine reine Abwägungsethik ohne jede klare Grenzzie
hungvorgestellt,diezudemvonderBehauptungausgeht,ethischesNeulandbetre
ten zu müssen und damit alle existierenden ethischen Codice außer acht lässt. Mit
der Behauptung, normative Grenzen noch unterhalb der rechtlichen etablieren zu
wollen, wird dann auch gleich noch auf die Auseinandersetzung mit einschlägigen
Rechtsprinzipienverzichtet.
7
Die informierte Zustimmung der Betroffenen einzuholen etwa, ist nach dem FJC
Bericht möglich, sei aber nur zu empfehlen, wenn der Forschungsprozess dadurch
nichtbeeinträchtigtwerde.InsgesamtlässtsichderBerichtsozusammenfassen,dass
er methodologischen Erfordernissen experimenteller Forschung keine rechtlichen
und ethischen Grenzen im Interesse der betroffenen Versuchspersonen entgegen
hält, sondern eine methodologisch anspruchsvolle Forschung selbst zum ethischen
WertundMenschenrechterhebt.MitdiesemKunstgriffgelingtesdemFJCKomitee,
rechtlichen und ethischen Einwänden gegen experimentelle Forschung, die sich aus
MenschenrechtenderBetroffenenableiten,diesesneukreierteRechtsoentgegenzu
halten,dassamEndealsSchrankefürExperimentenichtsalsdasVertrauenaufden
AppellandengewissenhaftenForscherbleibt,derdannschondaseineangemessen
gegendasandereabwägenwerde.
Dem wurde in der vorliegenden Publikation eine Auseinandersetzung mit verfas
sungsrechtlichenPrinzipiengegenübergestellt,dieexemplarischaufdasGrundgesetz
gestütztwurde.DieForschungsfreiheitistalsAbwehrrechtgegendenStaatkonzipiert
undbedarfgeradeimBereichkriminologischerForschungweitererUmsetzung,was
insbesonderedenfreienZugangzuInformationenundtotalenInstitutionenbetrifft.
Staatliche Eingriffe gegen Dritte im Namen der Forschung können auf Art. 5 III GG
aber nicht gestützt werden. Zufallsexperimente verstoßen insbesondere gegen das
allgemeine Gleichbehandlungsgebot aus Art. 3 I GG. Erfordert dieses vergleichbare
Sachverhaltevergleichbarzubehandeln,soverlangenZufallsexperimenteundQuasi
Experimentemit„matchedpairs“geradedasGegenteil,nämlichmöglichstvergleich
barePersonenunterschiedlichenBehandlungsgruppenzuzuweisen.
Es bestehtzweifellosdie Notwendigkeit, kriminalpräventiveWirkungsbehauptungen
einer möglichst genauen und systematischen Kontrolle zu unterziehen, wobei eine
solcheÜberprüfungumsowichtigerist,jeeingriffsintensiverdieseMaßnahmensind.
AlswichtigesArgumentfürKontrollgruppenstudienkanndabeiohneweiteresderal
lesanderealszufriedenstellendeStatusquodergesamten,überwiegendreinintuitiv
begründeten, Kriminalpolitik dienen. Zudem bestehen im regionalen Vergleich und
bereits bei unterschiedlichen Personen als Entscheidungsträger faktisch so viele
höchst zufällig und keineswegs gerecht wirkende Unterschiede, dass der Gedanke
naheliegt,dannauchintendierteZufallszuweisungenzuerlauben,umdiezukünftige
EntscheidungspraxismitdendadurchgewonnenenErkenntnissenzuverbessern.Weil
aberbestehendeUngerechtigkeitennichtperseweiterebegründenkönnen,beruht
diesePosition–wiebislangwohlausnahmslosallefürexperimentelleForschungmit
Rechtsentscheidungen vorgebrachten Argumente – auf der ausdrücklichen oder
8
unausgesprochenen Grundannahme, dass die Ergebnisse der experimentellen For
schung diese unerwünschten Zustände in der Zukunft graduell verbessern werden.
NurdannnämlichkannForschungdieRechtspositionderBetroffenenstärken,wenn
ausihrderAnsprucherwächst,aufEingriffezuverzichten.DiewissenschaftlicheEr
kenntnisselbstdagegenmaggesellschaftlicherwünschtsein,einethischerWertoder
ein Recht der Betroffenen ist sie aber nicht – es mag den Betroffenen gelegentlich
sogarliebersein,wennstaatlicheEntscheidungsträgernichtsogenauwissen,wiesie
einihnenunerwünschtes,fürdieBetroffenenabereventuellfunktionalesVerhalten
eindämmen können. Es muss daher also zumindest vorausgesetzt werden, dass die
ErgebnisseexperimentellerStudienspäterauchtatsächlichinRechtsentscheidungen
umgesetzt werden, zumindest aber, dass die Umsetzungschance höher ist als bei
sonstigerempirischerErkenntnisderenIgnoranzdurchdiePolitikschließlichgera
de seitens der EBCPBewegung stark beklagt wird. Die explizite oder implizierte Be
hauptung,eineUmsetzungwerdeschongeschehen,ziehtsichdurchdiegesamteLi
teratur zu experimenteller Forschung, experimenteller Politik und Gesetzgebung.
DamitwirdfürdieexperimentelleForschungeinWirkungszusammenhangungeprüft
unterstellt, ganz ähnlich wie er für die Wirkungsbehauptung kriminalpräventiver
MaßnahmenundinsbesonderestrafrechtlicherSanktionenbekanntist–undvonden
ProtagonistenderEBCPdochgeradekritisiertwird,waserstdieNotwendigkeitexpe
rimentellerForschungbegründensoll.EserweistsichdahereineÜberprüfungalser
forderlich,inwieweitmitexperimentellerForschungüberKriminalpräventiondasZiel,
gegenEmpirieresistenzvorzugehen,tatsächlich(besseralsmitanderenEvaluations
studien) erreicht werden kann. Diese Überprüfung müsste im besten Fall selbst in
systematischempirischer(experimenteller?)Weiseerfolgen.BereitseineAuswertung
schriftlicherQuellenanhandprominenterBeispieleergibtallerdingsrechteindeutige
Ergebnisse (vgl. dazu dann Graebsch 2004, 2005, 2006 a, 2006 b , 2007, 2008 a,
2009).
SoweitsicheingenerellesExperimentierverbotmitkriminalpräventivenMaßnahmen
rechtlich nicht halten lässt – und angesichts der bereits vorhandenen faktischen
Durchbrechung in der Bundesrepublik insbesondere durch die Sozialtherapieexperi
mente, aber auch kriminalpräventive Zusatzelemente der Heroinstudie – muss die
FragenachMöglichkeitenundGrenzeninformierterZustimmungdervonstrafrechtli
chen Sanktionen Betroffenen zu Experimenten beantwortet werden (vgl. dazu
Graebsch 2002). Dabei wird vorliegend davon ausgegangen, dass die Unerreichbar
keiteinerinformiertenZustimmungdafürspricht,dasForschungsvorhabenzuunter
lassen–nichtdasEinholenderZustimmung.BereitsindervorliegendenPublikation
wurde darauf hingewiesen, dass jedenfalls eine rein formelle Herangehensweise an
9
das, was „informed consent“ bedeuten muss, zu kurz greift, wie ein Blick auf die
Menschenversuche in den Konzentrationslagern zeigt, an deren Grausamkeit die –
unterdendortvorherrschendenBedingungenmutmaßlichleichtzuerlangende–Un
terschriftderGefangenenuntereinFormularnichtsgeänderthätte.Eineweiterevöl
lig offene Frage im Hinblick auf die informierte Zustimmung zu kriminalpräventiven
Feldexperimentenistdie,vonwemsieüberhaupteingeholtwerdenmüsste:Nurvon
denunmittelbareinerkriminalpräventivenMaßnahmeUnterworfenenoderauchvon
denjenigen,dieindirektvonderenEinsatzoderUnterlassenbetroffensind.
Den Stand der USamerikanischen Debatte sollte die Publikation in Crime & Delin
quencykritischbeleuchten–angesichtsderTatsache,dasssieineinemZeitschriften
band erschien, der insgesamt dem verstärkten Einsatz experimenteller Forschung
gewidmet war, ein schwieriges Unterfangen. Eine typische Reaktion aus der US
amerikanischen„Evidencebased“BewegungistdievonIainChalmers,Präsidentder
Cochrane Collaboration, die für die Medizin systematische Übersichten zu randomi
siertenStudiensammeltundderdannimJahre2000gegründetenfürdieSozialwis
senschaften gegründeten Schwesterorganisation „Campbell Collaboration“ als Vor
bild diente. Chalmers12 setzt sich bedingungslos für randomisierte Studien ein und
kritisiert(letzteressehrzurecht)dieethischeDoppelzüngigkeit(„doublestandard“),
mitdereinerseitsexperimentelleForschunganeinemstrengenMaßstabgemessen,
andererseits aber das alltägliche Herumexperimentieren ohne wissenschaftliche
Kontrolleallgemeinakzeptiertwerde.ErspitztseinePositiondahingehendzu,dasser
(als Arzt) eine Erlaubnis benötige, um ein Medikament von vielleicht zweifelhafter
WirksamkeitandieHälfteseinerPatientenzugeben,eraberkeinerleiGenehmigung
bedürfe,umdiesesMedikamentanalleseinePatientenzuverteilen.DieseKritiklässt
sichohneweiteresaufdieKriminologieübertragenundwurdeauchindervorliegen
den Publikation hervorgehoben, etwa unter dem Stichwort CannabisParadox. Den
nochführtChalmersgeradeunterBezugnahmeaufdiesePublikationweiteraus13:
„Thisdoublestandard(ChalmersandLindley2000)resultsinsomebizarre
ethicalanalyses(see,forexample,Graebsch2000).Professionalswhoare
uncertainaboutwhetheraparticularintervention(apolicyorpractice)will
domoregoodthanharm,andsowishtoofferitonlywithinthecontextof
12
Chalmers(2003):TryingtodomoreGoodthanHarminPolicyandPractice:TheRoleofRigorous,
Transparent,UptoDateEvaluations,in:TheANNALSoftheAmericanAcademyofPoliticalandSocial
Science589,Sept.,S.2240.
13
A.a.O.,S.30f.
10
acontrolledtrialsothattheyprotectpeopleinthefaceofcurrentuncer
tainty and learn about its effects, are expected to observe elaborate in
formedconsentrituals.Ifexactlythesameinterventionisofferedbyother
professionals – because it was recommended during their professional
training three decades previously, or because there is a plausible theory
thatsuggestsitwillbehelpful,orbecauseitisanacceptedroutine,orbe
causetheyortheinstitutionsforwhichtheyworkhaveavestedfinancial
orpoliticalinterestinpromulgatingit(Oxman,Chalmers,andSackett2001)
–thestandardofconsentisrelaxed.“
SorichtigjedochdieKritikanderAusgangssituationdoppelterStandardsist,sofalsch
ist die Konsequenz, aufgrund dieses kritikwürdigen Zustands müssten nun weitere
EingriffeindieRechtederBetroffenenhingenommenwerden14.Dieseunzutreffende
Schlussfolgerung speist sich aus zwei grundlegenden Missverständnissen: Der Ver
wechslung von Wunsch und Wirklichkeit betreffend die politischen Konsequenzen
aus experimenteller Erkenntnis sowie der falschen Gleichsetzung von Medizin mit
Kriminalprävention. Das erste Missverständnis kann an der Formulierung „protect
people in the face of current uncertainty and learn about its effects“ verdeutlicht
werden–denninihristalsungeprüfteSelbstverständlichkeitenthalten,dasseinsol
cher Lernprozess dem Rechtssystem immanent sei. Das zweite Missverständnis
spricht aus Formulierungen wie „wish to offer it“ oder „suggests it will be helpful“,
dennsieenthaltendieGrundannahme,esgingeumvondenBetroffenenprinzipiell
erwünschte Interventionen mit Angebotscharakter, wie regelmäßig in der Medizin,
währendesbeiKriminalpräventioninallerRegelumMaßnahmenmitZwangscharak
tergeht,dievondenBetroffenenallenfallsinRelationzueineransonstendrohenden
nocheingriffsintensiverenInterventionerwünschtsind(wasdanndieethischeProb
lematikauchoderaberzumindestbeiderKontrollgruppeaufwirft).
14
DieseunreflektierteSchlussfolgerungziehenauchetwaAsscheretal.(2007):ImplementingRan
domizedExperimentsinCriminalJusticeSettings:AnEvaluationofMultiSystemicTherapyinthe
Netherlands,in:JournalofExperimentalCriminology3,113129(120)trotzvorherigerBezug
nahmeaufdievorliegende PublikationmitdemHinweis,eshandlesichbeiExperimentalund
KontrollinterventionumeinandersehrähnlicheMaßnahmeundeswerdeauchsonstinderAll
tagspraxisviel„experimentiert“;vgl.dendiesemähnlichenUmgangmitdenArgumentendervor
liegendenPublikationauchetwavonMarloweetal.(2001):AreJudicialStatusHearingsaKey
ComponentofDrugCourt?DuringTreatmentDatafromaRandomizedTrial,in:CriminalJustice
andBehaviour,30,141162(144)undWeisburd(2003):EthicalPracticeandEvaluationsofInter
ventionsinCrimeandJustice:TheMoralImperativeforRandomizedTrials,in:EvaluationRevue
27, 336354(336).
11
An anderer Stelle in der USamerikanischen Literatur findet sich immerhin eine an
satzweiseEhrenrettungdervorliegendenPublikation,undzwarineinemAufsatzvon
Hammersley mit dem Titel „Is the evidencebased practice movement doing more
goodthanharm?ReflectionsonIainChalmers'caseforresearchbasedpolicymaking
andpractice“15:
„Graebsch's (2000) argument is about a proposal legally to allow RCTs
withoutproperlyinformedconsentonthepartofthosesubjectedtothe
treatments. She argues that this is against the principle of equal treat
mentandagainsttheethicalprinciplenevertouseanotherpersonsolely
asameans,aprinciplethatwasenshrinedintheGermanlegalsystemas
aresultofscientificabusesundertheThirdReich.Whateverone'sjudge
mentaboutherargument,whichisinlargepartaboutthelegalityofRCTs
inrelationtocriminaljusticeinGermany,thereisnothing'bizarre'about
it.“
Dabei fällt auf, dass ohne eine Begründung vermutet wird, in Deutschland sollten
aufgrund der NSVergangenheit strengere Reglementierungen experimenteller For
schung gelten oder zumindest akzeptiert werden als in den USA, obwohl doch der
Nürnberger Kodex – als das wesentlichste der dabei in Bezug genommenen Regel
werke – aus den USA stammt, im Nürnberger Ärzteprozess mit universellem Ge
ltungsanspruchpräsentiertunddasdarinenthalteneNormenprogramm,insbesonde
re die Notwendigkeit freiwilliger Zustimmung der Versuchspersonen, als Grundlage
für die strafrechtliche Verurteilung ebenso wie als zukünftiger Maßstab herangezo
gen wurde (vgl. zu diesem Problem Graebsch 2008 b). Mit dem Nürnberger Kodex
sowieanderennormativenGrundlagenmedizinischerForschungsetztsichunterdem
Gesichtspunkt, Schlussfolgerungen zu Gefangenenversuchen und Experimenten mit
(anderen) Unfreiwilligen zu ziehen, insbesondere die folgende Publikation aus dem
Jahre2002auseinander.
4.„MedizinischeVersuchemitGefangenenundanderenUnfreiwilligen.Anmer
kungenfüreinekontextorientierteEthikdebatteundeinigeFragenauskrimi
nologischerSicht.“2002–
in:StudienzurEthikinOstmitteleuropa:Medizinethik3:EthicsandScientific
15
in:Evidence&Policy(2005),85100(93,97).
12
TheoryofMedicine,Hrsg.:JanC.Joerden/JosefN.Neumann,Frankfurtam
Main,S.153199.
Weil die Behauptung des FJCKomitees falsch ist, für Fragen experimenteller For
schungimRechtssystemmüsseethischesNeulandbetretenwerden,bedarfeseiner
genauenAuseinandersetzungmitdemForschungsstandinderMedizinethik.Wennin
der EBCPBewegung gefordert wird, Forschungsmethoden anzuwenden, wie sie in
der Medizin, insbesondere der Arzneimittelforschung etabliert sind, dann muss
selbstverständlich auch für die damit einhergehenden ethischen und rechtlichen
Probleme auf die dort gesammelten Erfahrungen zurückgegriffen werden. Von be
sonderemInteresseistdabeidasin§40INr.3AMGgeregelteabsoluteVerbotvon
ArzneimittelstudienanGefangenen,woraufessichstütztund,obdieihmzugrunde
liegenden Annahmen aus strafvollzugsrechtlicher und kriminologischer Sicht haltbar
sind.DasbildetdieGrundlagefüreine(indervorliegenden–aufmedizinischeExpe
rimentebezogenen–Publikationabernichtvorgenommene)Einschätzung,inwieweit
die dortige Argumentation auf sozialwissenschaftliche Experimente übertragbar ist.
Die Gelegenheit, den medizinethischen Fragestellungen grundlegend nachzugehen,
wurde der Verfasserin durch ein Forschungsstipendium im „College for Advanced
Central European Studies: Ethics and Scientific Theory of Medicine“ an der Europa
UniversitätViadrinainFrankfurt(Oder)eröffnet.
DasgesetzlicheVerbotmedizinischerGefangenenversucheberuhtaufdemGrundge
danken, eine bei Anstaltsunterbringung abgegebene Einverständniserklärung wäre
mithoherWahrscheinlichkeitkeinefreiwillige.AnknüpfungspunktderEinwilligungs
unfähigkeitistdabeiabernichtdiePerson,sonderndie(totale)Institution,inderdas
Angebot zur Teilnahme an einem Medikamentenversuch für die Gefangenen regel
mäßig ein Angebot darstellt, das gewissermaßen zu gut ist, um es abzulehnen. Das
liegtallerdingsnichtanderQualitätdesAngebotsalssolchem,sondernandenein
schneidendnegativenBedingungenunterdenenesunterbreitetwird–washistorisch
zudenunterschiedlichstenZeitenstetsundteilweiseinextensodazugenutztwurde,
gefährlicheForschungimKontextstrafrechtlicherSanktionenbzw.inVerbindungmit
Freiheitsentzugdurchzuführen.Wichtigzubedenkenistdabei,dassessichbeidiesen
negativen Ausgangsbedingungen eben nicht um eine unheilbare Krankheit, sondern
um aktiv von außengesetztes Leid (Übelszufügung durch dieStaatsgewalt) handelt.
WennmithinVerbesserungenversprochenwerden,gibtes–andersebenalsbeider
bislangunheilbarenKrankheit–keinerleiNotwendigkeit,diesesVersprechenmitder
TeilnahmeaneinemExperimentzuverbinden.Demgegenüberspeistsichdiehistori
scheKontinuitätdespräsentiertengutenGewissensvonauchangrausamstenExpe
13
rimenten beteiligtenÄrzten aus derGleichsetzung der Schicksalshaftigkeit einer un
heilbaren Krankheit mit der auf Strafe bzw. Freiheitsentzug beruhenden Notlage
(„GestorbenwärenSieinAuschwitzpraktischsowieso“16).DerMissbrauchdesNothil
fearguments,dersichauchindermedizinethischenDogmatikunterBehauptungei
nesübergesetzlichenNotstands17findet,erhältindertotalenInstitutiondurchderen
Privilegiensystem eine noch besondere Brisanz, weil selbst alltägliche Kleinigkeiten
dort nicht anderweitig verfügbar sind, mangels eines Rechts auf freie Arztwahl ein
besonderesAbhängigkeitsverhältniszumAnstaltsarztundnatürlichzumAnstaltsper
sonal insgesamt und ein nur ausgesprochen wenig wirksames Rechtsschutzsystem
besteht18. Letzteres begründet auch die Notwendigkeit einer klaren Regelung ohne
ErmessensundBeurteilungsspielräume,weilandernfallsdieindermedizinethischen
Debatte bekannte „slippery slope“19, einer schrittweisen Entgrenzung des Verbots
von Gefangenenversuchen, betreten würde. Andererseits besteht dringender Ver
besserungsbedarfindermedizinischenVersorgungvonGefangenen,auchdurchMo
dellprojekteetwaimBereichSubstitutionoderSpritzentausch.Hierstelltsichmithin
wieder genau die eingangs bezogen auf kriminalpräventive Experimente aufgewor
fene Frage, wie der eingriffsintensive Status quo durch innovative Experimente ver
bessertwerdenunddabeigleichzeitigdasRisikoabgewendetwerdenkann,Gefange
ne bzw. Strafrechtsunterworfene gegen ihren Willen zum Objekt von Forschung zu
machen. Wichtig ist dabei aber, dass diese Frage nicht (wie vom FJCKomitee) auf
vermeintlichethischemNeulandbeantwortetunddabei–imbehauptetenInteresse
derBetroffenen–aufSicherungsmechanismenjederArtebensowieaufdereninfor
mierte Zustimmung einfach verzichtet wird. Allenfalls vor dem Hintergrund eines
fundiertenWissensüberdiehistorischvielfachenundsystematischenÜbergriffege
genGefangeneimNamenderForschung,derenUrsachenundeinerAuseinanderset
zung mit den Grenzen angestrebter Gegenwirkung kann sinnvoll über Experimente
mit Gefangenen in der Gegenwart geredet werden, wie etwa die aktuelle Betrach
16
KZArztHansMünchgegenübereinemÜberlebendenseinerExperimentemehrals50Jahrespäter
(in:DerSpiegel(1999),Heft14,S.116123).
17
Deutsch (1999): Medizinrecht: Arztrecht, Arzneimittelrecht und Medizinprodukterecht, 4. Aufl.
Berlinu.a.,Rn.783.
18
Vgl.zuletzteremFeest/Lesting/Selling(1997):TotaleInstitutionundRechtsschutz,Opladen.
19
Vgl.dazuetwaAch/Gaidt(2000):WehretdenAnfängen?ZumArgumentderschiefenEbene,in:
Frewer/Eickhoff(Hrsg.),»Euthanasie«unddieaktuelleSterbehilfeDebatte:DiehistorischenHin
tergründemedizinischerEthik,FrankfurtamMain,S.424447.
14
tung von Pont20 für die er sich auch auf die vorliegende Publikation stützt – zeigt,
derwieselbstverständlichsozialwissenschaftlicheForschungmitdemArgumentein
bezieht, diese sei keineswegs notwendigerweise weniger eingriffsintensiv oder risi
kobehaftetalsmedizinische.
Weiterhin beschäftigt sich der Beitrag mit der (mangelnden) kriminologischen Er
kenntnis zu den Ursachen und Zusammenhängen von Menschenrechtsverletzungen
imNamenderForschung,insbesonderegegenübersog.„captivepopulations“.Wäh
rendderNürnbergerÄrzteprozessdieMenschenexperimenteindennationalsozialis
tischen Konzentrationslagern einerseits im öffentlichen Bewusstsein verankerte,
standdieAusgrenzungeinzelnerForscherInnenalskriminelleIndividuenandererseits
über mehrere Jahrzehnte einer eingehenden Auseinandersetzung über inhaltliche,
methodischeundorganisatorischeStrukturendesForschungsbetriebs,dieÜbergriffe
gegenüberdenForschungsobjekten(sic!)begünstigen,entgegen.Beidenindervor
liegenden Publikation herausgearbeiteten Strukturbedingungen geht es etwa um
Mängel in der medizinischen und sozialen Versorgung von Gefangenen, Rechts
schutzdefiziteindertotalenInstitution,aufFremdnützigkeitangelegteStudiensowie
Dehumanisierungstendenzen durch Betrachtung des Gefangenen als Forschungsma
terial (fruchtbare Hautfelder21), Unfreiwilligkeit der Zustimmung unter (Ausnutzung
der) Haftbedingungen, Publikation von Forschungsergebnissen ohne Rücksicht auf
deren Zustandekommen und resultierender Karriereerfolg. Diese Zusammenhänge
betreffen sozialwissenschaftliche Forschung ähnlich wie die medizinische. Sie sind
daher bei einer – bislang noch nicht geleisteten – systematischen verfassungs und
strafrechtlichen sowie forschungsethischenBetrachtung der Zulässigkeit experimen
tellerForschungimKontextkriminalpräventiverMaßnahmenzuberücksichtigen.
5. „EvidenceBasedCrimePrevention“.AnspruchundPraxisbeispieleeinerKrimi
nalpolitiknachmedizinischemModell–2004–
in:KriminologischesJournal,Heft4,S.266283.
Da sich praktisch sämtliche Argumente für die Durchführung randomisiert
experimenteller Evaluationen kriminalpräventiver Maßnahmen letztlich auf die
Grundannahme zurückführen lassen, deren Ergebnisse würden spätere Politikent
20
Pont(2008):EthicsinResearchInvolvingPrisoners,in:InternationalJournalofPrisonerHealth,4
(4),184197.
21
Hornblum(1998):AcresofSkin:HumanExperimentationatHolmesburgPrison,NewYorku.a.
15
scheidungenverbessern,findetindieserPublikationeinezusammenfassendeAusei
nandersetzungmitdemRealitätsgehaltdieserAnnahmeanhandwichtigerPraxisbei
spielestatt.
Dafür wurde zunächst das Beispiel experimenteller und quasiexperimenteller Stu
dien zu Gefängniskonfrontationsprogrammen herangezogen, die Gefangene für Ju
gendlicheinderAbsichtanbieten,dieJugendlichenvonStraftatenabzuhalten,indem
sieihnendieeigeneSituationzurAbschreckungvorAugenführen.DieseProgramme
eignen sich als Beispiel besonders, weil sie sich dadurch auszeichnen, dass sie mit
einhellignegativemErgebnisevaluiertwurden,unddieAbschaffungderProgramme
nursehrwenigAufwandbereitenwürde.DennochexistierendieProgrammevoral
lemindenUSAnichtnurweiter,sonderneskommenimmerwiederneuehinzu.Ex
perimentelleEvaluationenkonntenderbeiPolitikern,MedienundBevölkerungver
breiteten Haltung, diese Programme als Allheilmittel zu betrachten („Panacea
Phänomen“), nichts entgegensetzen. Das lässt sich darauf zurückführen, dass die
ProgrammejenseitseinerkriminalpräventivenWirksamkeitpolitischfunktionalsind,
insbesondere indem dort Gefangene selbst einen rigiden Strafvollzug propagieren,
nachdemsiezuvordiealleinigeVerantwortungfürsozialeProblemeaufsichgenom
menhaben.Schumann22folgert–auchunterBezugnahmeaufdievorliegendePubli
kation – dass es für Politiker schwer einzusehen sei, wenn die Individualabschre
ckung, als ein tragender theoretischer Grundpfeiler des Strafrechts, keine Wirkung
zeigeodersichsogarhinsichtlicheinesRückfallskontraproduktiveEffekteergäben.
InZusammenhangmitdenbereitserwähnten(Graebsch2000b)Arreststudienwird
demMDVEalsersterundmethodischwenigausgereifterStudiesehrstarkerEinfluss
aufdieKriminalpolitikzugeschrieben23.NichtwenigeralsbeiderEvaluationkriminal
präventiver Maßnahmen besteht aber auch hier ein Problem der Kausalität, weil
ebensodenkbarist,dassdieBerühmtheitdesMDVEunddieVeränderungvielerUS
amerikanischer Polizeigesetze in Richtung auf eine Verhaftungspflicht gemeinsame
drittepolitischeUrsachenhatten.Feststehtjedenfalls,dassdiemethodischüberle
genenFolgestudien(SARP),derenErgebnissemiteinerVerhaftungspflichtnichtver
einbar sind, keinen erkennbaren Einfluss auf die politische Entwicklung hatten. Zu
demwurdebeiderpolitischenVerwendungderMDVEErgebnisseeinsog.„Woozle
22
Schumann(2006):Bringt'swas?StandundErkenntnissederWirkungsforschung,in:DVJJ(Hrsg.),
VerantwortungfürJugend,Godesberg,S.320342(331).
23
Vgl.etwaSherman/Cohn(1989):TheImpactofResearchonLegalPolicy:TheMinneapolisDomes
ticViolenceExperiment,in:Law&SocietyReview,Band23,Heft1,S.117ff.
16
Effekt“beobachtet,wonachdieErgebnisseimmerindirekterzitiertundschließlichin
derRezeptionsogarinihrGegenteilverkehrtwerdenkönnen.
Selbst wenn die Beispiele so ausgewählt werden, dass eine Umsetzung ihrer Ergeb
nisse besonders wahrscheinlich erscheint, zeigt sich demnach keine Plausibilität der
Annahme, experimentelle Erkenntnis werde politisch eher umgesetzt als Ergebnisse
anderer empirischer Studien, möglicherweise hat sogar umgekehrt „junk science“24
mit politisch erwünschtem Ergebnis die besten Umsetzungschancen. Es ergibt sich
also die an sich wenig überraschende, aber den Grundannahmen der „evidence
based“BewegungzuwiderlaufendeSchlussfolgerung,dassintuitiveundempirieresis
tentePolitiknichtdurchVerwendungrigidererForschungsmethodeninrationaleund
empirischfundiertePolitikverwandeltwerdenkann,weildiemangelndeUmsetzung
wissenschaftlicher Erkenntnis nicht an deren Qualität, sondern daran liegt, dass sie
vonderPolitikzugunstenstärkerfunktionalerVorgehensweisenignoriertwird.
Zudem widerspricht bereits die Eigenpräsentation etwa der für die EBCPBewegung
zentralenCampbellCollaborationderenAnspruch,Politikerneineeinfachverständli
che, aber wissenschaftlich konsentierte und transparent präsentierte Empfehlung
auszusprechen.DieskonntegezeigtwerdenanhandeinerGegenüberstellungdermit
GrafikenbelegtenBehauptung,dieZahlexperimentellerStudienindenUSAhabein
den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen im Vergleich zu einer eigenen Aus
wertungderCampbellDatenbank.DanachlassensichdiegezeigtenSteigerungsten
denzen lediglich mit einer kumulativen Zählweise belegen. Diese ist ebenso wenig
falschwieeseineKriminalstatistikwäre,diestetigsteigendeTötungsdeliktemitZah
lenbelegenwollte,diedieschonTotenderVorjahreimaktuellenJahrjeweilshinzu
rechnete und so – solange es überhaupt Tötungsdelikte gibt – unschwer zu einer
Steigerungstendenz käme. Eine solche Darstellung ist aber unredlich und damit das
Gegenteildessen,wasdieCampbellCollaborationanTransparenzundmethodischer
Neutralitätfürsichbeansprucht25.
FürdieBundesrepublikmitihrenextremwenigenexperimentellenStudienlässtsich
hinsichtlich der Umsetzungschancen experimenteller Erkenntnis in Rechtsentschei
24
SoKrisberg(2000):AdvisingCriminalPolicy–AreExperimentalEvaluationsImportant?,in:Bremer
InstitutfürKriminalpolitik(Hrsg.),ExperimenteimStrafrecht–WiegenaukönnenErfolgskontrol
lenvonkriminalpräventivenMaßnahmensein?,Bremen,S.162178.
25
Vgl.dazudasausführlichewörtlicheZitatausdervorliegendenPublikationinderkriminologischen
DissertationvonArfire(2007):WissenschaftstheoretischeProblemederKriminologie,Dissertati
on,UniversitätHamburg,S.178.
17
dungenebenfallsnichtsandereshoffen.ZwarwurdesoebenimBundestagbeschlos
sen, die Ergebnisse der Heroinstudie26 in ein entsprechendes Gesetz umzusetzen.
Dies geschah aber erst nach jahrelangen politischen Kämpfen und Überwindung
enormerWiderständesowiegegendieStimmendermeistenAbgeordnetenvonCDU
und CSU, obwohl eine Umsetzung wegen der rechtlichen Ausgestaltung des Experi
ments als Arzneimittelstudie nach der betäubungsmittelrechtlichen Experimentier
klausel mit sehr viel höherer Wahrscheinlichkeit zu erwarten war als bei anderen
(nur)kriminalpräventivenExperimenten(soschonGraebschindervorliegendenPub
likation).DieErgebnissedesSozialtherapieexperimentsvonOrtmann27werdendage
gen trotz dessen – neben der Zufallszuweisung – außergewöhnlich anspruchsvoller
theoretischer Fundierung ganz überwiegend nicht nur seitens der Politik, sondern
auchseitensderWissenschaftignoriert.
WeildieUmsetzungexperimentellerErkenntnisinRechtsentscheidungenregelmäßig
anpolitischemWiderstandscheitert,stelltsichinderPraxiskaumdasProblem,wie
einesolcheUmsetzungüberhauptaussehenmüsste.UntereinerVielzahldiesbezüg
lichoffenerFragenstelltsichdabeiunteranderemdie,wieausstatistischenWerten
eineAnwendungfürdenEinzelfallabgeleitetwerdensoll.Shermanfordertmitseiner
Visionvom„smartpolicing“amBeispielderArreststudienUntergruppenvonPerso
nennachMerkmalenzubilden,beidenendieeineoderandereMaßnahmebesseren
Erfolggezeigthatte.Abgesehendavon,dassdieseGruppenbildungkeineswegsmehr
dem hohen methodologischen Anspruch des randomisierten Designs gerecht wird,
führt sie zu so absurden politischen Vorschlägen wie dem, Personen mit „weißer“
Hautfarbe und in einem bestehenden Arbeitsverhältnis zu inhaftieren, erwerbslose
„Schwarze“ hingegen nicht. Sherman kritisiert Bedenken gegen eine solche Vorge
hensweise unter Hinweis auf seinen Vergleich mit einem Medikament („Imagine a
drug...“). Man solle sich vorstellen, dass eine Pille nicht für alle gleich wirksam sei,
dassÄrztewüssten,werkrankwerdeundwernicht,esihnenaberverbotensei,et
was dagegen zu unternehmen. Fraglich bleibt dabei unter anderem, ob es ein ent
sprechendes Wissentatsächlichgibt.Davon handelt,bezogen auf häusliche Gewalt,
diefolgendePublikation.
26
Vgl.dazuhttp://www.heroinstudie.demitweiterenNachweisenundLinks(Stand:08.06.2009).
27
Ortmann(2002):SozialtherapieimStrafvollzug,Freiburgi.Br..
18
6. „»EvidencebasedCrimePrevention«?Auseinandersetzungmiteineraufexpe
rimentelleForschungsdesignsgestütztenKriminalpolitikbeiPolizeieinsätzen
wegenhäuslicherGewalt“
2005
OnlineveröffentlichungbeimHamburgerInstitutfürkriminologischeSozialfor
schung:http://www.sozialwiss.uni
ham
burg.de/publish/IKS/KriminologischeWeiterbildung/texte/materialien/haeusliche/graebsch.p
df(Stand:08.06.2009).
Die im Rahmen eines Lehrauftrags am Kontaktstudium Kriminologie der Universität
HamburgzuhäuslicherGewaltentstandeneOnlinePublikationsetztsichamBeispiel
der dazu vorhandenen Forschung mit Vor und Nachteilen experimenteller For
schungsdesignsundSchlussfolgerungenausdemForschungsstandfürdiePolitikaus
einander. Es geht dabei also auch um die soeben angesprochene Frage, welche Er
kenntnisse es aufgrund der experimentellen Studien nun tatsächlich gibt, exempla
rischanhanddesThemenbereichshäuslicherGewalt.
EinbezogenwurdendabeinebendenbereitsinanderenPublikationenthematisierten
Arreststudien,diesichmitPolizeieinsätzennachNotrufenbefassen,auchStudienzu
Täterbehandlungsprogrammen (Batterer Intervention Programs). An deren Beispiel
werden zunächst die möglichen Trugschlüsse der unterschiedlichen Forschungsde
signs in aufsteigender Annäherung an das randomisierte Kontrolldesign ausführlich
erklärt.DiejüngerenexperimentellenStudienerweisensichalsgegenüberderfrühe
ren Evaluationsforschung zu solchen Programmen insofern als überlegen, als sie ei
nem„Selbstbeweihräucherungseffekt“derProgrammverantwortlichenentgegenwir
ken können, indem der Einflussintervenierender Variablen, insbesondere derMoti
vationzurProgrammteilnahme,minimiertwird.Allerdingskannauchgezeigtwerden,
dassdietheoretischbestehendenVorteileexperimentellerDesignssichinderPraxis
der sozialwissenschaftlichen Forschung wegen des Faktors „Mensch“ keineswegs
immerrealisierenlassenunddasssiezudemandereNachteileaufweisen,bishinzu
denmitihnenverbundenenrechtlichenundethischenProblemen.
HinsichtlichderexperimentellenErkenntnisüberadäquatePolizeireaktionbeiNotru
fen wegen häuslicher Gewalt lässt sich nach etwa zwanzigjähriger (experimenteller)
19
Forschung28 aber nichts anderes resümieren, als dass die Fragen und Probleme im
Grunde noch dieselben sind wie zum Zeitpunkt der Durchführung des MDVE und
deshalbweitere(experimentelle)Forschungempfohlenwird.
7. „GefangenehelfenJugendlichennicht–wemdann?Zuminternationalen
StandderEvaluationvonGefängniskonfrontationsprogrammennachdem
Mustervon„ScaredStraight“–undderdenErkenntnissenzuwiderlaufenden
Kriminalpolitik“2006(a)
in:NeueKriminalpolitik,Heft2,S.4652.
MitdieserPublikationwurdederinderBundesrepublikbislangnichtausführlichrezi
pierte internationale Forschungsstand zu Gefängniskonfrontationsprogrammen und
der kriminalpolitische Umgang mit diesem ausführlich analysiert. Dafür wurden ne
ben den vorhandenen experimentellen Studien auch solche mit quasi
experimentellemundmitqualitativemForschungsdesignausgewertet.Währendsich
insbesondere in den USA kein Einfluss der negativen Ergebnisse vielfacher Experi
menteerkennenlässt,wurdeeinentsprechendesProgramminNorwegengestoppt,
nachdemesunterBezugnahmeaufeinequalitativeStudieindieKritikgeratenwar.
Es ist denkbar, dass der Umsetzungserfolg in Norwegen neben kulturellen Unter
schiedenauchdaraufzurückzuführenist,dassmiteinerqualitativenStudie–anders
alsmitdenüblichenexperimentellenStudien–nichtbloßfestgestelltwerdenkann,
wenneinProgrammnichtwirkt,sondernaucherklärtwerdenkann,weshalbdemso
ist.
8. „IstKnastnichtcool?ZurzweifelhaftenWirksamkeitvonGefängnisbesuchs
programmen“
2006(b)
in:ZeitschriftfürStrafvollzugundStraffälligenhilfe,S.161164.
Auch diese Veröffentlichung handelt von Gefängniskonfronationsprogrammen und
den diese betreffenden negativen Evaluationsergebnissen. Ein Schwerpunkt liegt
diesmal aber auf der Auseinandersetzung mit den entsprechenden Programmen in
28
Vgl.dieZusammenstellungvonMaxwell/Garner/Fagan(2001):TheEffectsofArrestonIntimate
PartnerViolence:NewEvidencefromtheSpouseAssaultReplicationProgram,NationalInstitute
ofJustice,ResearchinBrief.
20
Deutschland, insbesondere „Gefangene helfen Jugendlichen“ in Hamburg und das
seinerzeitneuetablierteProgramm„Knastistnichtcool“inBremen.
9. „KompatibilitätsproblemezwischenexperimentellerErkenntnisgewinnungund
rechtlichemEntscheidungsprogramm“2007
in:Lösel/Bender/Jehle(Hrsg.):KriminologieundwissensbasierteKriminalpoli
tik:EntwicklungsundEvaluationsforschung,SchriftenreihederNeuenKrimi
nologischenGesellschaft,Band110,Mönchengladbach,S.193204.
DiesePublikationwidmetsicherneut(vgl.schonGraebsch2004)undvertiefendder
Frage,inwieweitbei(kontrafaktisch)unterstelltemgutenWillenderverantwortlichen
EntscheidungsträgerüberhauptdurchexperimentelleErkenntnisinformierteRechts
entscheidungen aussehen könnten. Es handelt sich um einen Beitrag zum Sammel
band der von der Neuen Kriminologischen Gesellschaft veranstalteten Tagung über
„Kriminologie und wissensbasierte Kriminalpolitik: Entwicklungs und Evaluationsfor
schung“. In einem von Lawrence W. Sherman gehaltenen Einleitungsreferat vertrat
diesererneutundwiederumamBeispielderArreststudiendieMeinung,experimen
telle Erkenntnis sei auch dann konsequent in Rechtsentscheidungen umzusetzen,
wenndabeiandieZugehörigkeitzueinerethnischenGruppealsDifferenzierungskri
teriumangeknüpftwerdenmüsse.Diesgelteselbstdann,wennesjuristischenVor
stellungen von Fairness und Gleichbehandlung widerspräche. Selbst Sherman sieht
alsooffenbarKompatibilitätsprobleme.
DerHinweisShermans,inderKriminologiemüsse,ebensowiebeiderArzneimittel
forschung, eindeutig das jeweils aktuelle Forschungsergebnis ausschlaggebend sein,
ist unzutreffend, wie ein Vergleich beider Bereiche in rechtlicher sowie forschungs
praktischer Hinsicht ergibt. Die hohe wissenschaftliche Akzeptanz von Arzneimittel
studienfolgtnämlichkeineswegsnurausderenRandomisierung,hinzukommenmuss
ein Doppelblindverfahren, das sich im sozialwissenschaftlichen Experiment nahezu
ausnahmslosnichtwirdrealisierenlassen.NurwennkeinerderBeteiligtenweiß,wer
welcheMaßnahmeerhält,kanndieRandomisierungabererstihreWirkungentfalten.
ZudemistinderArzneimittelforschungderVergleichgegenPlaceboetabliert,wenn
erauchinderPraxisselbstdortzuseltenerfolgt.DermethodischsinnvolleVergleich
kriminalpräventiver Maßnahmen mit einer NonInterventionsgruppe wirft noch
schwerwiegendere ethische und rechtliche Probleme auf als es bereits beim Ver
gleichvonMaßnahmenderFallist,dieeineähnlicheEingriffsintensitätaufweisen–
undderdaherauchkriminalpolitischwenigerinteressantist.
21
BeimedizinischerForschungfindetzudemregelmäßigeineUmsetzungderErgebnis
sejedenfallsinsofernstatt,alserfolgreichgetesteteMittelüberdasstaatlicheZulas
sungsverfahren zur Produktion und späteren Anwendung frei gegeben werden (ge
gebenenfalls nach Sicherungsmaßnahmen wie ärztlicher Verschreibung) sich als
überwiegendschädlicherweisendewerdendiesdagegennicht.DieProduktionwird
entsprechenddenGesetzendesMarktesdannmeistauchtatsächlicherfolgen(weil
ohne ein entsprechendes Vorhaben regelmäßig auch die Forschung nicht finanziert
würde).DagegenistdieUmsetzungderErkenntnisseimBereichKriminalprävention
sehrvielwenigerselbstverständlich.WährendnämlichimFalleetwavonArzneimit
telnderStaatdieZulassungvonProduktenderPharmaindustriekontrolliert,müsste
er im Bereich Kriminalprävention sich selbst kontrollieren, was deutlich niedrigere
Kontrolleffektivitätverspricht.
Ein zentraler Unterschied zwischen beiden Bereichen besteht außerdem darin, dass
inderMedizinderGrundsatzgilt,demPatientenzuallererstkeinenSchadenzuzufü
gen, allenfalls Risiken und Nebenwirkungen im eigenen Interesse an einer Behand
lung in Kauf zu nehmen, wohingegen Kriminalprävention zuvörderst im Interesse
Dritter erfolgt, die vor Straftaten geschützt werden sollen, wofür man durchaus in
Kaufnimmt,womöglichsogarintendiert,mitderEinwirkungdervonihrbetroffenen
PersonSchaden(Strafe)zuzufügen.
WennalsoschoneineParallelezurMedizin(ethik)gezogenwird,somüsstesichdiese
daher zumindest auf medizinethische Standards für fremdnützige Forschung bezie
hen. Der von Sherman für die EBCPBewegung ausformulierte Vergleich „Imagine a
drug...“nimmtjedocheinvermeintlichesHeilmittelinBezug,dasdieBetroffenenim
eigenenGesundungsinteresseeinnehmen.FremdnützigeForschungistdagegenauch
inderArzneimittelforschungweitgehendenEinschränkungenunterworfen,wasetwa
potentiell einwilligungsunfähige Personen („vulnerable populations“) betrifft. Eine
diesbezüglich relevante Vulnerabilität kann bereits durch den Einsatz oder die Dro
hung mit einer kriminalpräventiven Maßnahme selbst entstehen, in besonderem
Maßedann,wennsiemiteinerAnstaltsunterbringungoderderDrohungmit(härte
ren)Sanktionenverbundenist(vgl.dazuGraebsch2002).
Um eine systematische Umsetzung experimenteller Ergebnisse in Rechtsentschei
dungen zu erreichen, bedürfte es einer dogmatischen Verankerung empirischer Er
kenntnis im strafrechtlichen Entscheidungsprogramm, insbesondere einer erhebli
chen Umformung des bislang nicht empirisch ausgerichteten Verhältnismäßigkeits
prinzips.EinesolcheVerankerungdürftebislangnochnichteinmalalstheoretisches
Konzept in der Strafrechtswissenschaft vorhanden sein, von einer entsprechenden
22
Praxisganzzuschweigen.ZwarhatsichjüngstHoffmannHollandinseinerHabilitati
onsschriftdemThemastrafrechtlicherModellversuchezugewandtundauchmiteini
genArgumentenausdenobengenanntenPublikationenbeschäftigt29.Dabeiwurde
jedocherneutdieUmsetzungempirischerErkenntnisumstandslosalsselbstverständ
lich bzw. wünschenswert vorausgesetzt, ohne einen dogmatischen Weg für diese
Umsetzungaufzuzeigen.Insofernkannnichtdavonausgegangenwerden,erhabedie
„zum Modellgedanken im Strafrecht [..] gelegentlich erhobene[n] rechtstheoreti
sche[n] grundsätzliche[n] Einwände entkräftet“, die von Graebsch 2000 a, Marxen
1985 (s.o.) sowie Staechlin 199830 erhoben worden seien, wie Kreuzer31 annimmt.
Noch schwieriger als bei Modellversuchen (im Allgemeinen) ist dies aufgrund der
dargestellten Kompatibilitätsprobleme sowie der Notwendigkeit erst einmal eine
rechtlicheundethischeRechtsfertigungfürdieZufallszuweisunganführenzukönnen,
beirandomisiertenForschungsdesigns.
Wenn dann allerdings die Schlussfolgerung gezogen werden muss, dass eine an Zu
fallsexperimentenorientierteVeränderungderKriminalpolitikvorerstnichtrealisier
bar ist, so soll damit keineswegs dem Staus quo intuitiver Kriminalprävention das
Wortgeredetwerden.Vielmehrgiltes,füreinemöglichstweitgehendeUmsetzung
bereitsvorhandenerempirischerErkenntnisunddafürzusorgen,dassderStanddes
Wissensmittheoretischfundierter,nichtintervenierenderForschungständigerwei
tertwird.DabeiistinsbesondereanquasiexperimentelleEvaluationsstudienzuden
ken,diemethodischgeschicktdierealvorhandenenUnterschiedeinderKriminalpoli
tik zu Forschungszwecken ausnutzen. Wegen des anhaltend hohen Eingriffsniveaus
derKriminalpräventionspolitikundwegendesVerhältnismäßigkeitsgrundsatzesistes
weiterhinebensoerforderlichwiebislangunrealisiert,aufMaßnahmenvonzweifel
hafter Effektivität möglichst weitgehend zu verzichten und unter mehreren ver
gleichbarwirksamenMaßnahmendiejenigeauszuwählen,dieamwenigsteneingriffs
intensivist.
29
Vgl.HoffmannHolland2007,S.3,9,30,114,163f.,181ff.,202ff.,270jeweilsunterBezugnahme
aufGraebsch2000a,boderc.sowiezuvorbereitsHoffmann(2003):FortentwicklungvonKriminolo
gieinModellprojekten,in:Dittmann/Jehle/Beier(Hrsg.),KriminologiezwischenGrundlagenwissen
schaftenundPraxis,Godesberg,S.363ff.(372).
30
Staechelin(1998):StrafgesetzgebungimVerfassungsstaat,Berlin,S.156ff.
31
Kreuzer(2007):EvaluationdrogenpolitischerModelleeiner»harmreduction«,in:Lösel/Bender/
Jehle(Hrsg.),KriminologieundwissensbasierteKriminalpolitik,Godesberg,S.115ff.(119).
23
10. „EvidencebasedCrimePrevention?ÜbertragbarkeitsproblemezwischenMe
dizinundKriminologie“2008(a)
in:ippinfo(InstitutfürPublicHealthundPflegeforschung,UniversitätBremen,
Fachbereich11,Ausgabe06,S.6.
DieserTextwidmetsichwiedervorangegangenedenKompatibilitätsproblemen,al
lerdings in sehr kurzer Zusammenfassung und geschrieben für eine gesundheitswis
senschaftliche, von der „Evidencebased Medicine“ kommende Perspektive. An die
serStelleseinochangemerkt,dassdieUmsetzungempirischerbzw.experimenteller
ErkenntnisinalltäglicheEntscheidungspraxisauchinderMedizinallesanderealseine
Selbstverständlichkeit ist, weshalb die „evidencebased“Bewegung dort auch über
haupterstentstehenkonnte(undZeitschriftenbändeherausgegebenwerden,dieihr
zumDurchbruchverhelfensollen).
11. „VölkerstrafrechtlicherUmgangmitMakrokriminalität.WidersprücheundAl
ternativenanhandausgewählterBeispiele“2008(b)
(VeröffentlichunggemeinsammitSvenU.Burkhardt;indieDissertationwurde
lediglicheinerderausschließlichvonderVerfasserinstammendenTeileeinbe
zogen)
in:KriminalitätderMächtigen,Hrsg.:CorneliusPrittwitzu.a.,S.212235(hier:
219225).
Dieser Publikationsauszug fragt aus kriminologischer Sicht nach den Folgen völker
strafrechtlicherKriminalisierungvonForschungsübergriffenunddenWechselwirkun
genzwischenderKodifizierungmedizinethischerNormenundderenBeachtung.Ge
radeindenUSAwurdederNürnbergerKodexstetsalseinandieDeutschengerichte
tes Dokument verstanden, das auf Forschung in den USA nicht anwendbar zu sein
schien. Schon während der Nürnberger Prozesse und noch in den 1970er Jahren
fandenindenUSAallerdingssystematischundingroßemUmfangmedizinischeExpe
rimentemitGefangenenstatt,dieinkrassemGegensatzzudenindemKodexnieder
gelegten Anforderungen an eine informierte und freiwillige Zustimmung standen.
Auchheutewird,vonAusnahmenabgesehen(Annas/Grodin32,Hornblum33),vonden
32
(1992):TheNaziDoctorsandtheNurembergCode:HumanRightsinHumanExperimentation,Ox
ford.
33
a.a.O.(s.o.Fn.19)
24
USA aus vermutet, dass für Deutschland eine andere Forschungsethik gelte und zu
gelten habe als für die USA selbst. In diese Richtung gehen auch die oben zitierten
AusführungenvonHammersley,dertrotzEhrenrettungfürdieVerfasserin,eineGe
ltungderu.a.ausdemNürnbergerKodex–undkeineswegsnurderdeutschenVer
fassung – abgeleiteten Einschränkungen experimenteller Forschung wie selbstver
ständlichfürdieVereinigtenStaatenverneint.
12. „DerGesetzgeberalsgefährlicherWiederholungstäter.EmpirischeErkenntnis
überKriminalpräventionundKriminalprognoseimRechtderSicherungsver
wahrungsowiebeiderausländerrechtlichenAusweisung“2009
in:FestschriftfürUlrichEisenbergzum70.Geburtstag,Hrsg.:HenningErnst
Müller/GüntherM.Sander/HelenaVálkova,München,S.725740.
Diese Publikation widmet sich der Umsetzung empirischer Erkenntnis und speziell
vonErkenntnissen,dieausOrtmannsexperimentellerSozialtherapiestudieabzuleiten
sind,amBeispieldesstrafrechtsnahenPräventionsrechts.Sieisthervorgegangenaus
einer Sachverständigenstellungnahme der Verfasserin im Rahmen einer Anhörung
vordemRechtsausschussdesBundestageszurnachträglichenSicherungsverwahrung
beinachJugendstrafrechtVerurteilten34,.
WährendnachdemkonsentiertenVotumsämtlicherwissenschaftlichfundierterStel
lungnahmenimRechtsausschussdieWirkungendesneuen–mittlerweiledennochin
Kraftgesetzten–Gesetzesnichtlediglichbeidenspäterdirektvondernachträglichen
AnordnungeinerSicherungsverwahrungBetroffenen,sondernvielmehrbeiallenpo
tentielldavonbedrohtenGefangenenunddemVollzugsklimainsgesamtzuerwarten
sind, spielte schon dieser Zusammenhang für die Mitglieder des Rechtsausschusses
keinerleiRolle,vonkonkretenErkenntnissendazu,umwelcheAuswirkungenessich
handelnkönnte,ganzzuschweigen.EmpirischeForschungwurdesomitvollkommen
ausgeblendetunddurchdaspersönlicheStatementeineshöherenVollzugsbeamten
aus Bayern ersetzt, dessen auf einen einzigen Fall gestützte Meinung offensichtlich
besser zu den Erwartungshaltungen der Abgeordneten passte. Daran konnte auch
34
http://www.bundestag.de/ausschuesse/a06/anhoerungen/archiv/37_Jugendstrafrecht
Sichverw/04_Stellungnahmen/Stellungnahme_Graebsch.pdf(Stand:08.06.2009)sowiezusam
menfassendGraebsch(2008):SicherungsverwahrungimJugendstrafrecht,in:ZJJ2008,Heft3,S.
284ff.,zustimmendzitiertetwabeiEisenberg(2009):JGG,13.Aufl.,§7,Rn.29undGoerdeler
(2009):ParadigmenwechselimJugendstrafrecht?VonderWiedereingliederungzurSicherungs
verwahrung,in:MüllerHeidelbergu.a.(Hrsg.),GrundrechteReport,S.231235.
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u.a.dieBezugnahmeaufdieexperimentelleStudievonOrtmannnichtsändern,mit
dersichbelegenlässt,dassdasVollzugsklima,nebenseinerhumanitärenBedeutung,
sogarEinflussaufdieRückfallwahrscheinlichkeithat.Wennsomitempirischer–auch
experimentellerErkenntnis–umgegangenwird,diedenBereichdesJugendvollzugs
betrifft, obwohl das Bundesverfassungsgericht jüngst35 deren Durchführung ange
mahnt hat, zeigt das exemplarisch deren ausnehmend geringe Chancen umgesetzt
oderwenigstensalsDiskussionsgrundlagebeachtetzuwerden,zumalesdafürnicht
einmaleineeindeutiggeregelte(verfassungs)rechtlicheGrundlagegibt.
13. „Whatworks?Nothingworks?WhoCares?»EvidencebasedCriminalPolicy«
unddieRealitätderJugendkriminalpolitik.“
zurVeröffentlichungangenommen
in:HandbuchJugendkriminalität.Kriminologieund(Sozial)PädagogikimDia
log,Hrsg.:BerndDollinger/HenningSchmidtSemisch.
DerjüngstezurVeröffentlichungvorgeseheneTextgehtallgemeineraufChancenund
Probleme einer experimentell fundierten Kriminalpolitik im Bereich Jugenddelin
quenzein.DabeigehteszunächstnebendembekanntenBeispielderGefängniskonf
rontationsprogramme um den Umgang mit experimenteller Erkenntnis zu Boot
Camps,unddamitanhandeinesweiterenBeispielserneutumdieFrage,welcheKon
sequenzeninWissenschaftundPolitikausnegativenEvaluationsergebnissengezogen
werden(sollen).BootCampswerdentrotzbeständignegativerErgebnisseständiger
neut evaluiert, eine Abschaffung nicht erwogen. Neuere Ergebnisse36 zeigen nun,
dasseinBootCampmitNachsorgebesseristalseinesohne.Obesnochbesserwäre,
aufBootCampsganzzuverzichten,bleibtausgeblendet.Insgesamtgibtesinderex
perimentellenForschungderzeiteinenTrendzurBeschäftigungmitdemÜbergangs
management,d.h.derPhasekurzvorundkurznacheinerHaftentlassung,wobeidie
Notwendigkeit der Haft selbst unreflektiert vorausgesetzt wird. In Zusammenhang
mit solchen „Reentry“Studien wurde ein Faktor „Scarlet M“ ausgemacht37, wonach
inderDiskussionüberempirischeErkenntnisvermiedenwird,aufWirkungslosigkeit
35
BVerfGNJW2006,293ff.
36
Kurlycheck/Kempinen(2006):BeyondBootCamp:TheImpactofAftercareonOffenderReentry,in:
Criminology&PublicPolicy5,2,363388.
37
Marlowe(2006):When“whatworks”neverdid:Dodgingthe“ScarletM”incorrectionalrehabilita
tion,in:Criminology&PublicPolicy5,2,339346.
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wohlmeinenderProgrammehinzuweisen,ausAngstdavormitMartinson's„nothing
works“inVerbindunggebrachtunddanngemiedenzuwerden.Eswirdstattdessen
vertreten, dass ein sich als kontraproduktiv erweisendes Programm lediglich in fal
scherDosierungoderDauerangewendetwordensei,umdochnochwirksamzusein,
weshalb weitere Erprobung erforderlich sei. Auch dies ist eine aus der strafrechts
gläubigen Rechtsanwendungspraxis bekannte Argumentationsfigur, die hier von der
EBCPBewegungübernommenwird:WenneineMaßnahmenichtgewirkthat,wares
wohlnochnichtgenugundwirbrauchenvermeintlichmehrdesselben,umdochnoch
einenEffektzuerzielen.
WennpolitischeSchlussfolgerungenausExperimentennichtschonvorderenDurch
führungrechtlichfürdasjezuerwartendeErgebnisimRahmendesMöglichenfestge
legt werden, kann auf Kosten der Versuchspersonen so lange weiter geforscht wer
den,bisirgendwanneinerwünschteresErgebniserzieltwird(wasschonausGründen
desZufallsirgendwannderFallseinwird),stattsichimInteresseeinerAbsenkungdes
Eingriffsniveaus mit der Abschaffung der Maßnahme auseinander zu setzen. Dies
verdeutlichtnochmalswieunzutreffendArgumentemitdemInteressederVersuchs
personenanzukünftigverbesserterKriminalpolitikundderVergleichmitderHeilmit
telforschungsind.EsistkeinGrunderkennbar,weshalbdieForschungüberkriminal
präventiveMaßnahmenunddieausihnenabgeleitetenFolgerungen–andersalsdie
se Maßnahmen selbst – darauf angelegt sein sollten, dem Interesse der von Maß
nahmeundForschungdirektBetroffenenzudienenundnicht(bestenfalls)derVer
besserungdesSchutzesDrittervorKriminalität.ZwarlässtsichjedenfallsfürdieBun
desrepublik ein solches Erfordernis aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip ableiten,
wennschonModellversucheundZufallsexperimenteüberhauptfürzulässigerachtet
werden. Dies muss aber, wie die bisherigen Erfahrungen zeigen, als kontrafaktische
ErwartungausdrücklichgesetzlichoderdurchRechtsprechungvorgegebensein,was
wiederumeineAuseinandersetzungmitderFragevoraussetzt,aufwelcheWeiseeine
UmsetzungderEmpirieeigentlicherfolgensoll.Rechtlichundethischkeinesfallsver
tretbar ist hingegen, die in den USA bezogen auf Boot Camps beobachtbare Praxis,
aufhohemEingriffsniveauimmerweiterzuexperimentieren,bis–ohneRücksichtauf
dieEingriffsintensität–eineInterventiongefundenist,diedasgewünschteZielmög
lichsteffektiverreicht.
ExperimentelleForschungsdesignsmessenbestenfallsEffektivitätunddieihrstruktu
rellähnlicheEffizienz.HumanitätistdagegenkeineihnenimmanenteGröße.Siemuss
daher als eindeutiges normatives Rahmenprogramm hinzugefügt werden, wenn ex
perimentelle Forschung mit Rechtsentscheidungen überhaupt ermöglicht werden
27
unddabeidieVersuchspersonnichtnuralsMittelzumZweckderSozialtechnologie
dienensoll.
Resümierendlässtsichfeststellen,dassdieEBCPBewegungdasberechtigteAnliegen
verfolgt,dieinderKriminalpolitikvorherrschendeneinfachenKausalitätsbehauptun
genüberdieWirksamkeitvonSanktioneninFragezustellenundsichdafürummög
lichst gut durchdachte Forschungsmethoden zu bemühen. Im alltäglichen Business
derEBCPProtagonistenfindensichdannaberganzerstaunlicheParallelenzurstraf
rechtsgläubigen Kriminalpolitik, nur dass für EBCP dann eben randomisierte For
schungsdesignsalsPanaceaherangezogenwerden.
MitdeneinbezogenenVeröffentlichungenwirdanhandausgewählterBeispieledeut
lich, dass schon mangels Umsetzung der Ergebnisse kriminalpräventiver Feldexperi
menteinPolitikentscheidungeneinerechtlicheundethischeRechtfertigungvonEx
perimentenmitstrafrechtlichenSanktionenundähnlichschwerwiegendenEingriffen
überzukünftigverbessertePolitikentscheidungennichtinBetrachtkommt.Normati
veGrenzenfürsolcheStudienmüssenvielmehrausdemStanddermedizinethischen
Debatte abgeleitet werden. Sie sprechen für ein weitgehendes Verbot solcher Stu
dien.IneinerKriminalpolitikderZukunftkönntensieallenfallsvorkommen,wennsie
nichtgewissermaßennebendemSystemrechtlicherEntscheidung,aberunterInter
ventionindieses,durchgeführtwürden,sondernwennsowohldieDurchführungder
Studien als auch die Umsetzung ihrer Ergebnisse sich sinnvoll in das rechtliche Ent
scheidungsprogrammeinbindenließe,wasabernochnachzuweisenwäre.
Im Zusammenhang ergeben die einbezogenen Schriften somit eine kritische Ausei
nandersetzungmitdemindenUSAundinternationalsehrpopulärenKonzepteiner
experimentell gestützten Kriminalpräventionspolitik (EBCP), wobei die zu Tage tre
tendeSkepsissowohlmethodologischealsauchrechtlicheundethischeGründehat.
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