„Im Bereich der Heeresgruppe Mitte wurde die Verwendung geschlossener Waggons erst am 22. November 1941 erlaubt, [vorher erlaubte das OKW lediglich offene Güterwagen] nachdem schon mehr als drei Wochen strenger Frost herrschte. Unmittelbarer Anlass für die Änderung war, dass bei einem relativ kurzen Transport von 5000 Gefangenen 1000 erfroren waren. Nach einem Bericht aus dem Reichskommissariat Ostland starben damals bei Bahntransporten zwischen 25 und 70 Prozent der Gefangenen“1 Die sowjetischen Kriegsgefangenen, welche 1941 und 1942 den Transport überlebt hatten, wurden unter anderem in der Senne ohne jeden Schutz und ohne jegliche sanitäre oder medizinische noch ernährungsspezifische Vorbereitung auf freiem Feld eingezäunt. Sie lebten, solange es ging, von Blättern und Würmern - ´überlebten` in Erdhöhlen, die witterungsbedingt erwartungsgemäß nur relative Sicherheit boten, solange sie hielten. Oft erstickten die Schutzsuchenden durch einstürzende Sandmassen. Erst später wurden Baracken errichtet, um die Erhaltung von Arbeitskraft zu gewährleisten.2 “Die Slawen sollen für uns arbeiten. Soweit wir sie nicht brauchen, mögen sie sterben. Impfzwang und deutsche Gesundheitsfürsorge sind überflüssig. Die slawische Fruchtbarkeit ist unerwünscht.”3 Im Stadtarchiv Delbrück werden sowjetische Kriegsgefangene zahlenmäßig lediglich in einem einzigen Dokument in einem Nebensatz erwähnt. Neben den polnischen ExKriegsgefangenen, den so genannten ´Fremdarbeitern` werden 80 namentlich dokumentierte Hofstellen im Raum Westenholz benannt, welche ´russische Kriegsgefangene` haben. Die Namen der sowjetischen Kriegsgefangenen sind nicht aufgeführt. Im ganzen Gebiet der heutigen Stadt Delbrück haben über 400 sowjetische Kriegsgefangene gelebt, haben sie überlebt? Laut Überlieferung wurde in den letzten Tagen des militärischen Krieges in Delbrück von führenden Anhängern der nationalsozialistischen Ideologie tageund nächtelang belastendes Material verbrannt, das Stadtarchiv wurde in der Nachkriegszeit mehrfach ´bereinigt`. Die formale Kontrolle über die sowjetischen Kriegsgefangenen lag bei der Wehrmacht. Die Delbrücker Chronik aus dem Jahr 1944 gibt Hinweise auf den Bestand eines überregionalen Registrierkommandos der Wehrmacht für Kriegsgefangene in Delbrück: „Im September [1944] wird das Kreisgefangenenkommando, das ca. 2 Jahre hier bestanden [hat,] nach Paderborn verlegt: das Büro war bei Menneken - Hotel zur Post. An der Spitze stand ein Hauptmann, später Feldwebel.“4 Lagerkarte Delbrück S. 37 / 38 : Karte, Entwurf Martin Kolek, mit freundlicher Genehmigung von Media print, Graphisches Institut Eckmann GmbH, Eggerstraße 30, 33100 Paderborn Paderborn 1 2 Christian Streit, a.a.O., 1997, S.166 Zeitzeuge Herr Buschmeier, damals 11 Jahre alt, im Gespräch 11.04.2012/18.04.2012; Vergl. auch Christian Streit, a.a.O., 1997, S.172 ff. 3 aus: Meijer, Oudesluijs in: Spanjer, 2000, S.121. R-36, US-699, aus: Das Urteil von Nürnberg 1946, dtv dokumente, München, 1996. 4 KrArch. PB, Chronik der Gemeinde Delbrück, 1944, handschriftlich, S. 208 StArch Delbrück, C 100/16 Das Hotel Menneken stand auf dem Gelände der heutigen Stadtsparkasse in der ehemaligen Adolf-Hitler-Straße (ab 1937), heute Langestraße in der Delbrücker Innenstadt. Der jeweilige Arbeitseinsatz wurde je nach angemeldetem ´Bedarf` zugeteilt. Personalien, Name, Geburtstag und Geburtsort, Beruf wurden auf der Registrierkarte der Wehrmacht angegeben. Diese wurden nach 1945 von der amerikanischen Armee übernommen und vollständig an die Sowjetunion abgegeben. Nachforschungen bleiben weiterhin schwierig. Die Personaldaten von sowjetischen Kriegsgefangenen lagern in unterschiedlichen Militärarchiven.5 Die Belegung der Arbeitskommandos im Raum Delbrück 1945 schwankt zwischen 20 und 50 Menschen, bis auf das Lager der Westfälischen Möbelfabrik, in der auch Familien untergebracht waren. In den anderen 11 Lagern lebten/überlebten vor allem sowjetische Kriegsgefangene. Die Kriegsgefangenenlager im Raum Delbrück 1.: Das Kriegsgefangenenlager Boke I: „Steinbau bei der Gastwirtschaft Kiffe in Boke, 150qm , belegt mit 30 – 40 Kriegsgefangenen“ 6 2.: Boke II: Winkhausen, Steinbau gegenüber der Gaststätte ´Zum Hedertal` 3.: Lager Westenholz I.: Arbeitskommando 377 Mühlenheide 4.: Westenholz II. mitten im Dorf Westenholz in einer Schmiede und hinter der früheren Gaststätte „Zur Alten Schmiede, Drei Linden“. Die Gaststätte ist nicht mehr vorhanden, aber die drei Linden. 5.: Westenholz III. : „Heuerhaus des Bauern Lummer“7 6.: Arbeitskommandos in Ostenland: 7.: Arbeitskommando 358 Kannevord, Heuerlinghaus, 8.: Arbeitskommando 357 Mühlensenne, 9.: Arbeitskommando 355 Espeln Aus der Chronik Ostenland, 1943: „Im Kriegsgefangenenlager Kanneword sind zur Zeit 24 Russen, in Espeln 40 Russen, in Mühlensenne 3 Franzosen. Im Dezember [1942] wurden die meisten Franzosen als Zivilarbeiter den Leuten gelassen, das Lager aber mit jungen Russen (16 Jahre) belegt.“8 10.: Arbeitskommando Lippling: im Dorf, Lippoldshof 5 6 Siehe Kapitel 7. StArch. Salzkotten, D 264 KrArch. PB, Ortschronik Westenholz, o.S., 1941 / 1943 8 KrArch. PB., Volksbank Delbrück (Hrsg.), Chronik Ostenland, S.124 7 11.: Arbeitskommando 359 Delbrück: alte Kriegerhalle, Rietbergerstraße, heute Gelände des SB Center 12.: Arbeitskommando Nordhagen: an der B64, Gelände um die historische Mühle 13.: Arbeitskommando 370: Westfälische Möbelfabrik Nolte, Westenholzer - Straße 2.3.5 Kinder: nach Delbrück verschleppt oder in Delbrück als Kind einer Zwangsarbeiterin / eines Paares geboren Als Kind gemeinsam mit den Eltern verschleppt zu werden oder aber in Delbrück geboren zu sein, war eine weitere Möglichkeit, zum Zwangsarbeiter / Zwangsarbeiterin zu werden. In den auf Anforderung der Alliierten erstellten Listen der ´zivilen` sowjetischen Arbeiter / Arbeiterinnen, die im Delbrücker Lager der ´Westfälischen Möbelfabrik` 1945 erstellt wurden, sind lediglich Menschen ab 16 Jahre aufgeführt. Kinder, die bei der Verschleppung 1942 bereits 13 Jahre alt waren, wurden 1945 mit Namen aufgeführt. Kinder, die bei der Verschleppung jünger als 13 Jahre alt waren, wurden in den Listen nicht erwähnt, wohl aber von Zeitzeugen. Auch die in landwirtschaftlichen Betrieben eingesetzten verschleppten sowjetischen Kinder und Jugendliche wurden in den Listen nicht erfasst. Mehrere Zeitzeugen erwähnen Jungen und Mädchen, die auf den Höfen als Magd oder Gehilfe eingesetzt waren. Da im Lager der Westfälischen Möbelfabrik Nolte auch 13 Paare lebten, ist auch die Geburt von Kindern vor Ort wahrscheinlich. Im Stadtarchiv Delbrück befindet sich eine Abschrift der Anordnung zur Handhabung von Schwangerschaften von Ostarbeiterinnen aus dem Jahr 1943: Abbildung: Umgang mit schwangeren Ostarbeiterinnen, Stadtarchiv Delbrück C 207 / 4 9 Ein Zeitzeuge erinnert sich: „Der große Mann, - wir sagten ´der doppelte Mann` kam immer morgens und abends bei uns Milch holen für die Kinder. Und da waren auch ganz kleine Kinder… Wir sahen die durch den 9 In einer Akte des Bundesarchivs Düsseldorf zur Entnazifizierung ist bei einer Delbrücker Person in einem („Persilschein“/ Entlastungs-) Schreiben erwähnt, dass es in Delbrück auch für ´Polinnen und Russinnen` grundsätzlich möglich gewesen sein soll, im Krankenhaus zu gebären. Es werden aber keine konkreten Angaben gemacht, ob und in welchem Umfang davon Gebrauch gemacht wurde. Im Delbrücker Standesamt sind keine Geburten von Kindern von Zwangsarbeiterinnen / Zwangsarbeitern erwähnt. Zaun. Unser Schulweg zur Oberheideschule ging direkt am Lager [Westfälische Möbelfabrik Nolte] vorbei. Außerhalb des Geländes von Nolte haben wir die Kinder nie gesehen – die waren immer im Lager“10 Wie viele Kinder von Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen sind in Delbrück geboren worden? In Westenholz lebte eine mit 16 Jahren verschleppte sowjetische junge Frau, die, als sie 18 Jahre alt war, mit einem Kriegsgefangenen des Westenholzer Gefangenenlagers ein Kind bekam. Da sie als ´Kindermädchen` eingesetzt war, konnte die sie nutzende Familie sie aber auch soweit schützen, dass das Kind geboren wurde. Ein Zeitzeuge erinnert sich 2012: „Meine Mutter forderte aus Mastholte einen Arzt an wegen einer Geburt, - der dachte, dass meine Mutter schwanger sei. Aber stattdessen traf er auf ´Rosa`, so nannten wir sie, weil der russische Name so kompliziert war. Der Arzt wollte das Kind melden, - es wäre samt Mutter weggekommen, aber meine Mutter brachte es fertig, dass er es nicht tat, sonst würde sie sagen, dass er bei der Geburt geholfen habe. Das war im März 1945, - alle wussten, dass es vorbei war, aber wenn das 1943 gewesen wäre, das wäre übel ausgegangen. Ich habe zusammen mit meinem Bruder die Mutter und den Vater, - der war russischer Gefangener in einem Lager in Westenholz - und den kleinen Jungen, - der war erst wenige Monate alt im Mai 1945 nach Mastholte zur Sammelstelle gebracht. Die wurden dann weggebracht. Niemand hat sich mehr gemeldet. Ich glaube nicht, dass er überlebt hat. Es interessiert mich sehr, ob er noch lebt.“11 Illegaler weise wurde das Kind in Westenholz getauft!12 Wäre dieses Kind nicht in Kirchenbüchern registriert, es würde es formal nicht geben. Der Zeitzeuge 35 erinnert sich: “Die Maria von nebenan, so nannten wir sie als Kinder, das war eine stattliche Frau, sie war vielleicht 30 Jahre alt, die wurde schwanger. Und dann, bevor das Kind geboren wurde, - da war sie dann plötzlich verschwunden, - wahrscheinlich abgeholt, - mit uns Kindern wurde darüber nicht geredet.“13 10 Zeitzeuge 6 im Gespräch am 24.02.2011 und 09.10.2012 Zeitzeuge 17 im Gespräch am 12.09.2011 und 15.05.2012 12 Eine internationale Suche nach dem 1945 geborenen ist 2012 im Zuge dieser Forschung angestrebt. Aus archivrechtlichen Gründen ist aber eine Nutzung der Personaldaten zwecks Suche nicht legitim. Wenn die hier erwähnte Person nachweislich 10 Jahre verstorben ist, darf aus archivrechtlicher Sicht der Name genannt werden und eine Suche stattfinden. Der sowjetische kleine Junge ist in Delbrück geboren, kirchlich dokumentiert, aber juristisch korrekt erst als Toter zu kontaktieren. 11 Vielleicht ist es für die kollektive Erinnerungskultur erträglicher, einen schönen Gedenkstein zu errichten, als sich mit der lebendigen Form menschlicher Realität und den damit verbundenen Gefühlen von Trauer, Scham, Schmerz und Wut zu konfrontieren. Vergl. Radebold, Hartmut; Bohleber, Werner; Zinnecker, Jürgen: Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten, Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen, Weinheim, 2009. Eine Deportation in Europa 1945 in die weitgehend zerstörte Sowjetunion im Alter von wenigen Monaten lässt die Frage entstehen, ob ein Überleben überhaupt zu erwarten gewesen ist. Die zahlreichen Todesfälle besonders von Kindern während der Deportation und Fluchtbewegungen sind amtlich vermutlich nicht beurkundet. 13 Zeitzeuge 35 im Gespräch am 20.02.2012 Der Zeitzeuge 2 erinnert: „Da wurde ein Kind geboren von einer Zwangsarbeiterin, auf dem Hof, und wenige Tage später, da war die Frau weg. – Wir haben nie erfahren, was da los war.“14 Am 19 Januar 1945 wurde in der Landesfrauenklinik in Paderborn ein Sohn der in Ostenland eingesetzten Zwangsarbeiterin Eugenie Szcudluk geboren. Bis August 1945 blieb Frau Szcudluk in Ostenland, später wurde sie in Sennelager, Höxter und in einem großen russischen Lager in der der Nähe von Detmold gesehen. Von dem Sohn fehlt eine weiterführende Spur. 15 Zeitzeuge 18, damals 7 Jahre alt erinnert sich: „Da waren ja keine Kerle mehr hier, - da haben sich auch deutsche Frauen an die Polen rangemacht. Ein Kind wurde hier von einer Deutschen geboren, mit Arzt, - und dann später war es einfach weg.“16 Für die organisierte Abtreibung von rassenideologisch unerwünschten polnischen und sowjetischen Kindern wurden spezielle Abtreibungslager eingerichtet. Ab 1943 wurden Lager zur Entbindung eingerichtet, - die langfristige Versorgung mit Zwangsarbeitern über mehrere Generationen sollte gesichert sein.17 Im Raum Delbrück wurden aber auch Kinder von Zwangsarbeiterinnen auf Höfen geboren. Zwei davon sind schriftlich dokumentiert, da sie als verstorben in den Standesamtakten notiert sind: Lena Ochrinenko, geboren 31.01.1944, gestorben 18.01.1945 in Westerloh, und Maria Imbalick, geboren 27.10.44 in Werl, gestorben am 30.12.1944 in Ostenland. Ob und wie viele Kinder im Waisenhaus in Delbrück überlebten ist nicht mehr recherchierbar. Die Geburt eines Kindes einer polnischen oder sowjetischen Frau wurde standesamtlich oft nicht eingetragen. Daher ist unklar, wie viele Kinder geboren wurden und wie viele umkamen. In Delbrück ist die Einwohnerkartei aus den Jahren 1933 bis 1945 ´entsorgt` worden. In den Kriegsgräberlisten der Regierungspräsidenten Detmold, Münster und Arnsberg „sind die umgekommenen russischen, ukrainischen und polnischen Kinder […] meist nicht enthalten, sie hatte man deutscherseits schon 1956 aus den Listen gestrichen und vergessen gemacht.“18 Bis 1943 wurden Kinder von Zwangsarbeiterinnen in speziellen Kinderheimen organisiert unterversorgt.19 14 Zeitzeuge 2 im Gespräch vom 26.10.2010 ZNK Hinweiskarte, Doc.ID: 42985688; Geburtsurkunden (Kindersuchdienst), Doc.ID: 77053277, ITS Digitales Archiv, Arolsen 16 Zeitzeuge 18 im Gespräch vom 12.09 2011 17 Gisela Schwarze, Kinder, die nicht zählten, Ostarbeiterinnen und ihre Kinder im Zweiten Weltkrieg, Essen, 1997, S.158 ff. 18 Gisela Schwarze, 1997, a.a.O. S.302 19 Vergl. auch: Stiftung für Polnisch - Deutsche Aussöhnung: http://www.fpnp.pl/wystawa/de5.php 15 Viele Kinder von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern sind in den nächsten Monaten im Jahr 1945 verstorben, teilweise wurden sie auf dem ´Ausländer-Friedhof` innerhalb des Truppenübungsgeländes Senne begraben. Kriegsgräberstätte „Ausländer-Friedhof“ im Truppenübungsgebiet in der Senne 20 „Im Juni 1944 lebten schätzungsweise 85 000 polnische Kinder im Deutschen Reich. Neugeborene wurden nach rassischen Kriterien selektiert. Als ´gutrassig` eingestufte Säuglinge wurden von ihren Eltern getrennt und in gesonderten Pflegeheimen zu Deutschen erzogen. Als ´schlechtrassig` eingestufte wurden direkt getötet oder kamen in ´Ausländerpflegestätten`. Hierbei handelte es sich de facto um Sterbelager für Säuglinge. Bis zu 90 Prozent der Neugeborenen kamen durch Unterernährung und mangelnde Hygiene ums Leben.“21 Exkurs: Conditio inhumana, Eine sozialpsychologische Annäherung an die innere Welt der Opfer - Ein Versuch, das Fühlen und Denken der nach Delbrück Verschleppten zu verstehen „Zugedeckt vom Himmel wusste niemand, wo ich bin. Nicht einmal das Heimweh.“ 20 22 http://www.weltkriegsopfer.de/Information-Anzeige-Sennelager--Ausl%C3%A4nderfriedhof-PaderbornSchlo%C3%9F-Neuhaus_Friedhofdetails_0_7442.html [21.07.2013, 19:52] 21 Stiftung Polnisch - Deutsche Aussöhnung, Ausstellung Erinnerung bewahren, Kinder von Zwangsarbeiterinnen. http://www.fpnp.pl/wystawa/index_wystawa_de.php, [05.11.2012, 22:38] 22 Müller, Herta, Atemschaukel, Frankfurt, 2009, 129 Seit 1933 wurde gezielt eine ´Bildungspolitik` gepflegt, die Menschen und deren Haltungen generierte, welche Vorstellungen von einem besonders wertvollen Deutschen gegenüber den niederen Anderen als ´natürlich` erleben ließen. Die Organisation von ästhetischen, emotionalen und kognitiven Schemata umfasste möglichst den biographisch ganzen Menschen, von Geburt an bis zum Tod. So waren staatliche Institutionen wie zum Beispiel die ´Pimpfe` und der ´Bund deutscher Mädel`, die ´Hitlerjugend` - die Wegbereiter zukünftiger zur Unterordnung bereiter Menschen, welche die eigene Verflechtung selbst nicht registrieren konnten, da sie ein Teil des kollektiven Fühlund Denk-Habitus waren. Ein Zeitzeuge: „Ich konnte nicht richtig entscheiden, - ich war in dieser Zeit erzogen worden, ich lebte in diesem Zusammenhang und was sollte ich tun, so oder so? - Es war nicht so offensichtlich für mich als Kind, als Jugendlicher.“23 Hier reflektiert ein Zeitzeuge rückblickend die eigene Befangenheit, in die er als Kind und Jugendlicher sozialisiert wurde. Seine Aussage zeigt auf, wie tiefgreifend Hitlers angestrebte Dressur sein sollte. Hitler: „Da kommt eine neue deutsche Jugend und die dressieren wir schon von ganz klein an für diesen neuen Staat[…] und sie werden nicht mehr frei für ihr ganzes Leben.“24 Den Nationalsozialistischen Bildungsmachern und Kulturkonstrukteuren war es zur eigenen Selbstwertstabilisierung wichtig, die Menschen anderer Kultur ihrer Menschlichkeit zu entledigen. Das Zwischenmenschliche in Form gemeinsamer Kultur, und besonders gemeinsamer Erlebnisse und damit automatischer intersubjektiver Nähe, musste kontrolliert werden. Dies war nicht möglich, ohne die Menschen emotional, autobiographisch und kulturell zu brechen. Zum Einen bestand die logistische Herausforderung darin, Tausenden und später Millionen Menschen einen ´neuen Ort` zu geben – eine Rückkehr in das Ursprungsland wurde ausgeschlossen. Zum Anderen bestand das Problem, die Menschen in ihrer Würde, Autonomie und gewachsenen Lebenskultur zu brechen, aber ihre Arbeitskraft und physiologische Existenz zu erhalten, um sie möglichst effektiv zu nutzen. Der Weg eines Gefangenen, eines verschleppten Zwangsarbeiters, einer Familie bis zum ´neuen Ort`, - wie Delbrück - war psychodynamisch geprägt durch Etappen des ´scheinbar beiläufigen Brechens des eigenen Selbst`. Die Gefangenen stießen auch in Delbrück auf eine ´innere Front`, eine Bevölkerung, die weitgehend die Anweisung befolgte, sich ihnen gegenüber feindlich und distanziert zu verhalten. Eine Trennung vom Wohnort, ein Umzug - zumal eine unter Gewalt erzwungene Trennung stellt nach heutigen psychomedizinischen Gesichtspunkten einen Risikofaktor für eine Depression und Traumafolgestörung dar. Besonders zusammen mit einem Verlust der Arbeit, also auch des alltäglichen Erlebnisses von sinnhafter Tätigkeit, war eine Trennung von 23 Zeitzeuge 36 im Gespräch am 27.03.2012 Rede Hitlers in Reichenberg am 02. 12.1938, In: Völkischer Beobachter vom 04.12.1938 Vgl. auch Hermann, U. (Hrsg.), Die Formung des Volksgenossen. Der Erziehungsstaat des Dritten Reiches, Weinheim, 1984, S.9. Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht im März 1935. 24 emotional wichtigen Bezugspersonen - dem Partner, den Kindern, den Eltern, Freunden und einer permanenten Unwissenheit über eine eigene Zukunft und die Auslieferung an eine fremde und gleichzeitig aversive, - selbstverständlich überhebliche und abwertende Umgebung - eine außerordentliche psychodynamische Belastung, auf welche ein gesunder Mensch mit einer schweren reaktiven Störung im Selbsterleben reagiert.25 Neue emotionsbiologische Befunde legen dar, „dass emotionale Erniedrigung hormonal praktisch gleich wirkt wie körperlicher Schmerz und Körper wie Geist auch entsprechend beeinflusst.“26 Darüber hinaus belegen neueste Untersuchungen, dass Traumatisierungen eine Veränderung des Erbmaterials bewirken. Die Weitergabe der zugefügten Gewalterfahrung an die Kinder der Betroffenen ist offensichtlich und stellt eine Herausforderung eben auch an die Kinder derjenigen dar, welche diese Traumatisierungen auch als Mitläufer mit vollzogen haben.27 Ein Pole/Polin, vielleicht katholisch sozialisiert, ein Mensch aus einer anderen Sowjetrepublik, aus Asien, ob städtisch oder ländlich sozialisiert, wurde in eine aus seiner Sicht kulturell feindselige und zutiefst befremdliche Welt geworfen. Sprachlich war eine Interaktion mit der Umgebung nicht möglich und darüber hinaus verboten. Das Brechen der eigenen individuellen Kultur und Wertschätzung als auch die Vernichtung von Wissen um Zukunft fand in kleinen Schritten statt: - Oft wochenlanger Transport mit fremden Menschen in einem Güterzug - Desaströse hygienische Bedingungen als Ausdruck des ´Neuen Umgangs` - Beiläufige Vermeidung von Schlaf und Erholung28 - Massenhafte Unterbringung in Baracken oder völlig schutzlos - Entledigung des ´letzten physikalischen Schutzes` – der eigenen Kleidung - kollektive Nacktheit und Begutachtung durch Fremde, teilweise Aussortierung - zwangsweise Tätowierung - Teilweise Verlust letzter individueller Gegenstände, Fotos - Verlust letzter Symbole der Erinnerung an Familie und an das eigene Selbst - Uniformierung, Etikettierung - Alltägliche Kontrolle über alle Lebensvollzüge - Demütigung, folterähnliche Unmenschlichkeit29 25 Allein eine Deportation ist eine Straftat, sie gilt aber landläufig oftmals als ´normal` für Menschen anderer Länder innerhalb des militärischen Krieges 1939 -1945. 26 Ciompi, Luc; Endert, Elke, Gefühle machen Geschichte, Die Wirkung kollektiver Emotionen von Hitler bis Obama, Göttingen 2011, S.178; vergl. auch: Bauer, J., Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneuronen, München, 2005 27 Veränderungen im Gen FKPB51, vergl.: Ising, Marcus, Stresshormonregulation und Depressionsrisiko – Perspektiven für die antidepressive Behandlung, Forschungsbericht 2012 des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie, sieh auch: http://www.mpg.de/4752810/Antidepressive [02.05.2013, 20:37] 28 Vergl.: www.wdr.de › ... › Wissen › Quarks & Co › Sendung vom 17. April 2012 – Schlafentzug ist Folter! Dauerhafter Schlafentzug führt unweigerlich zu schweren körperlichen und psychischen Leiden bis hin zum Tod. Zschr. Focus, Ausgabe 15.07.2008, Schlafentzug im US-Lager Guantanamo Bay 29 Aus einem Bericht des Ministerialrats Dorsch, Chefs OT im Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion vom 10.07.1941 über das Gefangenenlager in Minsk: “Das Gefangenenlager Minsk beherbergt auf einem Raum von etwa der Grösse des Wilhelmplatzes ca. 100.000 Kriegsgefangene und 40.000 Zivilgefangene. Die Gefangenen, die auf diesem engen Raum zusammengepfercht sind, können sich kaum rühren und sind dazu gezwungen, ihre Notdurft an dem Platz zu verrichten, wo sie gerade stehen. […] Die Die Lebenssituation der ausländischen Menschen, besonders der Menschen aus dem Osten, wurde oft als gar nichts Besonderes erachtet, da die Ablehnung des ´Bolschewismus` und der ´Russen` auch in Bevölkerungskreisen intensiv war, die sich dem Nationalsozialismus ansonsten nicht verbunden fühlten. Hierin ist eine starke Gemeinsamkeit sowohl der evangelischen, wie der katholischen deutschen Kirchenführung mit dem Nationalsozialismus zu sehen. Quasi in jedem Dorf war der Anblick und Umgang mit den Zwangsarbeitern und den Kriegsgefangenen selbstverständlich. Welches andere Verbrechen war in der Zeit des Nationalsozialismus auf einer so breiten gesellschaftlichen Basis begangen worden? Bild: Polnische Zwangsarbeiter nach ihrer offiziellen Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft in Nordhagen 1940 Ganz links Josef Paul, in der Mitte Wladislaus Pajak rechts daneben vermutlich Anton Matuschewsky. Privatsammlung Jeschek Bewachung des Lagers ist […] nur möglich unter Anwendung brutalster Gewalt. Die Kriegsgefangenen […] sind teilweise sechs bis acht Tage ohne Nahrung und kennen in einer durch den Hunger hervorgerufen tierischen Apathie nur noch eine Sucht: Zu etwas Essbarem zu gelangen. Die Zivilgefangenen bestehen aus den 15 bis 50 jährigen Männern aus Minsk und Umgebung.[…] In der Nacht fallen die hungernden Zivilisten über die Versorgten her und schlagen sich gegenseitig tot, um zu einem Stück Brot zu gelangen.“ aus: Overmans, a.a.O. 2012, S.256 3 Geregelter Umgang - die alltägliche Normalität der Unterdrückung Die in der Rassenideologie favorisierte Trennung von arischen und nicht arischen Menschen wurde konsequent in die Konstruktion einer Verwaltung und Handhabung der nicht arischen Menschen umgesetzt. Entsprechend wurden sowohl den in Deutschland in mitten der Zivilbevölkerung gefangen gehaltenen Menschen, als auch den Deutschen selber Regeln für einen dieser Norm entsprechenden Umgang auferlegt. Durch die Einhaltung der konstruierten Regelhaftigkeit wurde eine emotional als ´normal` erlebte dauerhafte Misshandlung von Menschen, die als nicht arisch eingestuft wurden, erst möglich. Ein Zeitzeuge, der 1944 15 Jahre alt war: „Das war so in unseren Köpfen: ´Das sind die Verbrecher´ - wir hatten keine Probleme mit denen, die waren ganz in Ordnung, die russischen Kriegsgefangenen, wir hatten keine Angst aber es war einfach in unseren Köpfen - wie reingehämmert : ´Das sind die Verbrecher! -Das sind die Verbrecher! `- Reingehämmert .“30 Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass ein ziviles Fühlen und Denken und Wahrnehmen noch ideologisch unabhängig im kindlich konkreten Erleben möglich war. Die Bevölkerung war in der Mehrheit eine Kriegsgesellschaft. Die ökonomische Verwertbarkeit von in ihrer Würde entwerteten Menschen, deren Handlungsspielräume so geregelt wurden, dass sie den möglichst optimalen Zweck erfüllen, ist prinzipiell eine Facette des radikalen Ökonomismus, in dem alles erlaubt ist, was der Erreichung der eigenen wirtschaftlichen Ziele dient. Mit dem Bestreben, aus der aktuellen politischen und militärischen Situation den größtmöglichen Nutzen zu erwirtschaften, waren die ´Arbeitskräfte` aus dem Osten eine wirtschaftliche Möglichkeit, mit der es sich im Krieg überleben und gut leben ließ. „Die Wirtschaft im Nationalsozialismus war die Wirtschaft des Nationalsozialismus. Von einer solchen Grundannahme auszugehen erscheint im Lichte des erreichten Standes der NSForschung mehr als plausibel.“31 Auch in den Beschreibungen von Interviewten, die als Kinder und Jugendliche die Zwangsarbeiter erlebten, fallen Formulierungen auf, in denen deutlich wird, wie ´normal` es war, sich einen Polen, einen Russen oder eine Russin im Haushalt oder im Betrieb zu ´halten`. Zeitzeugin 14: „Die Männer waren ja weg.“32 Zeitzeuge 11: „Ja, klar hatten wir Kriegsgefangene auf dem Hof.“33 Wie sehr die polnischen und sowjetischen Menschen darunter litten, dass ihnen eine menschliche und kulturelle Autonomie wie selbstverständlich abgesprochen wurde, wird selten thematisiert. 30 Zeitzeuge 28 im Gespräch am 21.01.2012 Frei, Norbert; Schanetzky, Tim: Unternehmen im Nationalsozialismus, zur Historisierung einer Forschungskonjunktur, Göttingen, 2010, S.24 32 Zeitzeugin 14 im Gespräch am 12.07.2011 33 Zeitzeuge 11 im Gespräch am 08.07.2011 31 Das Mitfühlen und Mitleiden war durch die gezielte Aktivierung von Gefühlen wie Hass und Angst verhindert worden. Im Erleben einer entgrenzten Kriegsgesellschaft gehörte es zum normalen Alltag, Kriegsgefangene unterschiedlicher Herkunft für die eigenen Bedürfnisse zu nutzen. Kinder konnten die Diskrepanz unbefangen registrieren, wie auch ganz Alte. Erwachsenen, die in der ideologischen Epoche aufgewachsen und mitsozialisiert worden waren, war dies anscheinend eher nicht möglich. Heinrich Buschmeier, aus Hövelhof, im Mai 2012: „Wir Jungs, - wir waren so 11 Jahre alt - gingen dann zum Bahnhof, um uns ´die Bestien` - so wurde über Russen gesprochen - anzugucken, - na was wir sahen waren Menschen, - in einem fürchterlichen Zustand.“