Deutschland/Österreich 4 Euro, Schweiz 5 CHF inprekorr September/Oktober 5/2013 Foto: Kozuch, flickr.com / Robert Scoble, commons.wikimedia.org Inter nationa le Pr essekor r espondenz Weltmacht China Ausgabe 5/2013 Griechenland Wohin geht die Türkei NACH DER REVOLTE Dossier 4. Internationale Dossier Breite Parteien 9+1 Bemerkungen zu Syriza nach ihrem Gründungskongres Der letzte Militärputsch in der Türkei, hat offensichtlich „ganze Arbeit“ geleistet: Die Linke tut sich immer noch schwer damit, ihre Rolle im Protest auf dem Taksim-Platz zu finden. Der Aufstieg des chinesischen Kapitalismus beruht auf seinem großen Wettbewerbsvorteil – dem unerschöpflichen Reservoir rechtloser, prekärer und schlecht bezahlter Arbeitskräfte. Einleitungsbericht zur Debatte über die internationale Situation, der auf der Sitzung des Exekutivbüros der Vierten Internationale im Juni 2013 vorgestellt wurde. Das Ziel bleibt: Am Ende wollen alle die sozialistische Massenpartei der ArbeiterInnenklasse. Aber der Weg dahin ist heiß umstritten. Drei Zwischenbilanzen mit den Aufbauprojekten. Eine breite Partei sollte es werden, eine Einheitspartei scheint dabei herausgekommen zu sein. Was das für die linke Plattform bedeutet, bleibt die spannende Frage. Dossier mit 4 Beiträgen Dossier mit5 Beiträgen Von François Sabado Dossier mit 3 Beiträgen Von Stathis Kouvelakis Dossier 4 Weltmacht China 14 Internationale Lage 30 35 48 I n h a lt Brasilien „ICH WILL KEINEN BALL, ICH WILL EINE SCHULE“ Mit „Brot und Spielen“ lässt sich die Bevölkerung nicht mehr über die sozialen Schwierigkeiten hinwegtäuschen. Über den Charakter der Protestbewegung spricht Juan Tortosa mit 53 João Machado Lateinamerika Lateinamerika – vor einem neuen Erwachen? Nach den Militärdiktaturen in den 70er und den neoliberalen Regimes in den 80er und 90er Jahren sind seit 2000 linke Regierungen gewählt worden. 64 von Franck Gaudichaud und Pedro Huarcaya Dossier Türkei Wohin geht die Türkei NACH DER REVOLTE? On iki Eylül – der 12. September 1980, der bisher letzte der sonst in aller Regelmäßigkeit im Zehnjahresrhythmus stattfindende Militärputsch in der Türkei, hat vor mehr als dreißig Jahren offensichtlich „ganze Arbeit“ geleistet: Die Linke, besonders ihr sozialistischer Teil, tut sich immer noch schwer damit, ihre Rolle im Protest auf dem Taksim-Platz zu finden. Ein Dossier mit 4 Beiträgen Wie weiter in der Türkei nach der Revolte vom Taksim ? Seite 5 4 Inprekorr 5/2013 Und noch ein Platz Seite 5 Der Weg der „islamistischen Bewegung“ Die Kurden, Kurdistan und die Türkei Seite 8 Seite 11 Dossier Türkei Wie weiter in der Türkei nach der Revolte ? Einleitung zum Dossier durch den Autor Masis Kürkçügil Der Ausbruch des Zorns vom 31. Mai 2013, der bis Ende Juni andauerte, ist für die Türkei eine ganz neuartige Bewegung gewesen. In deren Verlauf sind gemäß den Zahlen des Innenministeriums 2,5 Millionen Personen auf die Straße gegangen. Es gab vier Tote und 4600 Verletzte, darunter 600 Polizisten. Tausende Personen wurden verhaftet. Diejenigen, die zu Hause an den Kundgebungen teilgenommen haben, indem sie auf Töpfe und Pfannen klopften, sind in diesen Zahlen nicht eingeschlossen. Diese Explosion, die in der Türkei ausbrach, dem im Nahen Osten und anderen Entwicklungsländern oft herangezogenen Beispiel eines neoliberalen Paradieses, war nicht das Resultat einer präzisen sozialen Forderung, wie dies auf andere zurückliegende Volkserhebungen oder auf die aktuelle Revolte in Brasilien zutrifft, die durch die Widerstandsbewegung vom Taksim-Platz inspiriert wurde. Bis jetzt ist es zu keinen Plünderungen gekommen. Die Leute sind auf die Straße gegangen, als sie durch FreundInnen oder soziale Netzwerke davon erfahren haben, was die Polizei denjenigen angetan hat, die sich gegen die Entfernung von Bäumen in einem Park mitten im Zentrum Istanbuls widersetzt haben; und in kurzer Zeit wuchs ihre Zahl ins Millionenfache. Und dies in einer Atmosphäre, wo der Präsident glaubt, in jeder Hinsicht auf dem Höhepunkt seiner Macht zu stehen und wo er in manche Bereiche des Alltagslebens eingreift, etwa vom Flirt bis zur Bekleidung oder den Alkoholkonsum, und selbst die Anzahl Kinder vorschreiben will. Diese Bewegung ist in einem eher durch Optimismus geprägten Klima ausgebrochen; so hat die Regierung Verhandlungen mit der nationalistischen kurdischen Bewegung aufgenommen. Jetzt, wo die Regierung sich unerwartet dieser Bewegung gegenüber sah, ging sie äußerst hart gegen die Protestierenden vor. Sie schüttete so Öl ins Feuer und die Anzahl der Demonstrierenden wuchs nach jeder Ansprache des Präsidenten und nach jeder polizeilichen Gewalttat an. Die Regierung hat es somit geschafft, alle ihre Gegner in einer Einheitsfront zusammenzuführen, sowohl diejenigen, die bereits bekannt waren, als auch diejenigen, die zum ersten Mal an einer politischen Aktion teilnahmen. Von daher wird nun alles in Frage gestellt in einer Türkei, die mit Neuwahlen und den Debatten über eine neue Verfassung in eine kritische Phase tritt. Istanbul, 25. Juni 2013 Masis Kürkçügil ist ein marxistischer Theoretiker und einer der Gründer der türkischen Neuen Linken in den sechziger Jahren. Er ist Mitglied der Führung von Sosyalist demokrasi için Yeni Yol (Neuer Weg für die sozialistische Demokratie, der türkischen Sektion der IV. Internationale). Und noch ein Platz Plaza de Mayo – Tian An Men – Tahrir – Syntagma … und jetzt Taksim. Die Plätze der Welt haben es wohl in sich! Masis Kürkçügil Es besteht ein breiter Graben zwischen der Masse der Unzufriedenen und der sozialistischen Bewegung. Der Beweis dafür ist, dass ein großer Teil der TeilnehmerInnen am Widerstand vom Taksim keiner politischen Partei angehören. Für einen großen Teil von ihnen war dies das erste Mal, dass sie an einer politischen Aktion teilnahmen; viele von ihnen haben sogar das Bedürfnis nach einer neuen politischen Partei ausgedrückt. Vielfalt, Solidarität und Toleranz Obwohl kein sozialer Inhalt während des Taksim-Widerstands offen zum Ausdruck gekommen ist, konzentriert sich eine der diversen Fragestellungen in den durch die Jungen in den verschiedenen Parks Istanbuls organiInprekorr 5/2013 5 Dossier Türkei sierten Foren auf die möglichen politischen Ergebnisse dieser Widerstandsbewegung. So möchte man wissen, ob dieser Ausbruch des Zorns gegen die Regierung und vor allem gegen den Premierminister sich darauf beschränken wird, die Regierung ein wenig zu schwächen, indem die wichtigste Oppositionspartei CHP (Cumhuriyet Halk Partisi, Republikanische Volkspartei) ein wenig gestärkt wird, oder ob sich für die Opposition ein neuer Kanal öffnen wird. Es ist schwierig, die Zusammensetzung dieser sich über mehrere türkische Städte erstreckenden Bewegung genau einzuschätzen. Aber immerhin kann festgestellt werden, dass die nationalistische Linke und die Mitglieder der CHP breit an den Demonstrationen in Ankara teilgenommen haben; dort ist die Polizei sehr viel härter aufgetreten als anderswo. Zu Beginn wurde eine wenn auch begrenzte Teilnahme der extremen Rechten, das heißt der Grauen Wölfe, an den Demonstrationen festgestellt. Sie haben sich jedoch nach Warnungen der Führung der MHP (Milliyetçi Hareket Partisi, Partei der Nationalistischen Bewegung, eine rechtsradikale, nationalistisch-türkische Partei, die Partei der Grauen Wölfe) schnell aus den Kundgebungen zurückgezogen. Seltsamerweise haben damit die MHP und die BDP (Barı ş ve Demokrasi Partisi, Partei des Friedens und der Demokratie, eine kurdische Partei) zum ersten Mal in ihrer Geschichte in einer bestimmten Situation eine gemeinsame Position eingenommen. Was die kurdische Bewegung anbelangt, so hat sie sich angesichts der türkischen Flaggen und der AktivistInnen der nationalistischen Linken zu Beginn der Mobilisierungen ferngehalten – aus Angst, dies könnte dem Verhandlungsprozess schaden. Erst die Unterstützungsbotschaft von Abdullah Öcalan aus seinem Gefängnis hat dies geändert, wenn auch etwas verspätet. Die jungen KurdInnen haben über diese Tage, wenn auch wenig zahlreich, mit ihren Tänzen [halays] eine ständige Präsenz auf den Straßen markiert. Sie und die nationalistische Linke waren wahrscheinlich zum ersten Mal in der Geschichte an solchen Festlichkeiten nahe beieinander. Es ist aber eine Masse, die weit über die gewohnten Kreise (wie etwa die Sozialisten, die nationalistische Linke, die nationalistische kurdische Bewegung und sogar die AnhängerInnen der CHP) hinausgeht, die an dieser Bewegung teilgenommen hat. Gerade dank neuer TeilnehmerInnen an diesem Kampf ist es also einer der6 Inprekorr 5/2013 art heterogenen Masse gelungen, zusammenzukommen. Sogar die Barrikaden wurden nicht nur von der militanten Linken gebaut: Auch hier handelte es sich um ein breites Spektrum von AktivistInnen aus LGBT-Gruppen bis zu Leuten, die zum ersten Mal an politischen Aktionen teilnahmen. Einzelne Gruppen sind an vorderster Front dabei gewesen, wovon die bekannteste der Fanclub des Fußballclubs Beşikta ş aus Istanbul ist, bekannt unter dem Namen ÇAR ŞI (dabei wird der Buchstabe A wie das Symbol der AnarchistInnen geschrieben). Diese Gruppe, die sich bereits mehrere Male zu einer Reihe von sozialen Fragen geäußert hat, ist zur Legende des Widerstands vom Taksim geworden. Die von der Gruppe verfassten Lieder gegen die Polizei wurden während der Mobilisierungen von allen gesungen; sie stammen aus der Erfahrung von Zusammenstößen mit der Polizei anlässlich von Fußballspielen. Übrigens sind die antikapitalistischen Moslems während dieses Widerstandes zu einem Zentrum des Interesses geworden; sie haben durch ihre seit Jahren erfolgte Teilnahme an den Kundgebungen zum 1. Mai in den linken Zeitungen und Zeitschriften wie auch in den Fernsehketten einen festen Platz gewonnen. Anlässlich eines religiösen Festes in der Zeit der Taksim-Revolte haben die jungen Leute vom Gezi-Park von sich aus kleine Sesam-Kekse – ein religiöses, sakrales Symbol – an andere TeilnehmerInnen verteilt; sie wollten damit aufzeigen, dass ihre religiösen Praktiken von allen respektiert werden. Die FeministInnen und die LGBT-Bewegung haben die Gelegenheit genutzt, um sich bekannt zu machen. Da zu Beginn die gemeinsamen Leitmotive, die von der breiten Masse hätten geteilt werden könnten, fehlten, traten Beleidigungen an ihre Stelle. Die FeministInnen haben die sexistischen und zotigen Graffiti gelöscht, um den jungen Leuten zu zeigen, wie sie ihre Sprache korrigieren könnten. Der wichtigste Mangel der Bewegung ist die fehlende Bildung von Basiskomitees gewesen, die dann über die Bildung einer Koordination eine starke Interessenvertretung hätten hervorbringen können. Nun versucht man, diesen Mangel durch die Foren in den Parks der Umgebung auszugleichen. Der Auf bau einer solchen Koordination durch eine derart große Menge ist ohne Zweifel schwierig; ein solches Instrument wäre trotzdem wichtig gewesen, um die Angriffe der Polizei abzuwehren und die Dynamik der Bewegung aufrechtzuerhalten. Dossier Türkei Die Schaffung einer Küche, einer Krankenstation, einer Kinderkrippe und einer Bibliothek für die Bedürfnisse des gemeinsamen Alltags (alles kostenlos) hat zur Herausbildung einer interessanten „moralischen“ Ökonomie geführt. Obwohl das tagelange gemeinsame Leben im Gezi-Park zwischen den sehr verschiedenen Sektoren verschiedene Praktiken der Solidarität entwickelt hat, teilweise mit Bezügen zu Formen direkter Demokratie, sind keinerlei „linke“ Forderungen oder Debatten entstanden. Der Platz der Sozialisten Erdoğan hat mit dem Zeigefinger auf die radikale Linke als Sündenbock gezeigt; dies entspricht aber nicht der Wirklichkeit. Die Kundgebungen vom 1. Mai sind über die vergangenen Jahre für die sozialistische Bewegung zu einem Moment geworden, ihre Kräfte zu messen. Die Kundgebungen, die gelegentlich mit Beteiligung der rechten Gewerkschaften und von Schaulustigen abliefen, und die deshalb zu den TeilnehmerInnen gezählt wurden, endeten jeweils nur mehr in Szenen von Zusammenstößen mit der Polizei. Sie wurden deshalb lediglich als eine Machtdemonstration wahrgenommen. Erdoğan hat den Taksim-Platz dieses Jahr geschlossen, der im vergangenen Jahr für die Kundgebungen noch offen war. Die Polizei hat die Zufahrten zur Stadt besetzt und den Zugang zum Taksim abgeschnitten. Die DemonstrantInnen konnten ihre Position in der Umgebung von Beşikta ş, gleich neben dem Taksim, nur mit Mühe halten; dabei wurden sogar die Abgeordneten der CHP dem Tränengas ausgesetzt. Einen Monat danach konnte die Taksim-Bewegung dieses Verbot in der Tat auf heben und den Taksim-Platz in eine befreite Zone, umgeben von Barrikaden, verwandeln. Während zweier Wochen konnte kein Sicherheitsbeamter und kein Stadtpolizist diese Zone betreten! Das hätte die sozialistische Bewegung nie zustande gebracht. Obwohl sie sich landesweit stark am Taksim Widerstand beteiligten, so betrug die Anzahl der sozialistischen AktivistInnen nie mehr als 10 % aller TeilnehmerInnen. Seit dem Beginn der Ereignisse nehmen verschiedene sozialistische Parteien und Gruppen auf dem Taksim-Platz mit ihren Fahnen teil. Einigen dieser mehr oder weniger kleinen Gruppen, die hauptsächlich am Rand des Taksim-Platzes und des Gezi-Parkes kampierten, gelang es, sich vollständig in die Bewegung zu integrieren. Aber ein großer Teil dieser Gruppen war nicht in der Lage, dort mehr als lediglich „Besucher“ zu sein; einige andere Gruppen haben sich dort nur anlässlich von handfesten Zusammenstößen mit der Polizei hervorgetan. Die an Universitäten durchgeführten Untersuchungen über die Zusammensetzung der Mobilisierungen haben gezeigt, dass die jungen Leute sich weniger aufgrund sozialer oder politischer Fragen mobilisierten, sondern sich den Einmischungen der politischen Macht in beinahe alle Bereiche ihres Alltagslebens widersetzten. Diese Einmischungen werden durch die paternalistische und autoritäre Persönlichkeit Erdoğan verkörpert. Die wichtigste Forderung war die Freiheit. Selbst wenn sie die sozialistischen Parteien nicht als Teil des von ihnen bekämpften politischen Systems ansahen, so sahen sie in ihnen dennoch überhaupt keine Instrumente, die zur Lösung ihrer Probleme beizutragen in der Lage wären. Der größte Gewinn der sozialistischen Linken hat in ihrer Teilnahme an dieser Bewegung als ihr legitimer Teil bestanden. Aber man kann trotzdem nicht sagen, dass die Fahnen und Slogans, die sie den Leuten aufdrängen wollten, die sich aus anderen Beweggründen dort befanden, sehr geschätzt wurden! Von den drei wichtigsten sozialistischen Gruppen konnte nur die kommunistische Partei der Türkei, die TKP, an den Parlamentswahlen von 2011 teilnehmen; sie erreichte nur 0,14 %, d. h. 60 000 Stimmen, ein Rückgang von 25 000 Stimmen gegenüber den vorhergehenden Wahlen. Wenn sie sich an den Wahlen hätte beteiligen können, so hätte die Freiheits- und Solidaritätspartei (ÖDP) ein ähnliches Resultat erreicht. Was die Volkshäuser (halk evleri) betrifft, die eher als eine Bewegung denn als eine Partei auftreten, so würde ihr soziales Gewicht zweifelsohne einem gleichen Wähleranteil entsprechen. Unter diesen Umständen verfügt keine dieser Bewegungen über die Mittel, einen Sprung nach vorn zu machen. Übrigens, selbst wenn sie sich zu einer gemeinsamen Partei zusammenschließen könnten, würden sie trotzdem keinen Anziehungspunkt bilden. Die Wahl eines unabhängigen sozialistischen Kandidaten zum Abgeordneten als Resultat einer in einem einzigen Istanbuler Wahlkreis geführten Kampagne, unter Teilnahme breiter sozialistischer Kreise und anderer, aber vor allem der Stimmen der Kurden, bleibt für uns weiterhin eine wichtige aber wenig erfolgreiche Erfahrung; am Ursprung dieses Projekts stand übrigens die kurdische Bewegung. Es ist nicht möglich, in der Türkei so etwas wie auch nur einen Hauch von Syriza zu finden, das getragen Inprekorr 5/2013 7 Dossier Türkei würde durch den Schwung der Kämpfe gegen die Krise. Man muss wissen, dass jede der größten sozialistischen Organisationen nur wenige Tausend Personen umfasst und höchstens eine Wählerbasis von einem halben Prozent hat. Deshalb kann man leicht verstehen, weshalb sie selbst zusammengenommen keinen Anziehungspol für die DemonstrantInnen sein können. Die Unfähigkeit der sozialistischen Bewegung, zumindest einen einheitlichen Kampf zu führen, hat sich beim Taksim-Widerstand als eine ihrer Schwächen herausgestellt. Wenn es nicht gelingt, eine glaubwürdige Alternative zu schaffen, in die die neuen aus der Bewegung hervorgegangenen Elemente ebenfalls integriert werden, wird es immer schwieriger werden, einem Regime standzuhalten, das sich in der kommenden Periode noch mehr verhärten wird. Die soziale Opposition, die seit Jahren ausschließlich aus Kämpfen gegen Wasserkraftwerke (HES), erfolglosen Streiks und den gewohnten Mobilisierungen zum 1. Mai bestand, hat durch den Taksim-Widerstand wieder Selbstvertrauen gewonnen. Die sozialistische Bewegung wird das Problem des Auf baus einer Alternative, die imstande ist, die Chancen der kommenden und folggenden Wahlen nicht zu verpassen, unbedingt lösen müssen. Dies aber erfordert eine Neustrukturierung, um neue Kampffelder zu finden, und sie darf nicht auf die aktuellen Kräfte beschränkt bleiben. Der Widerstand vom Taksim hat gezeigt, dass man gewinnen kann, wenn man kämpft. Die Bewegung hat sich von der Bleikappe befreit, die auf ihr lastete. Um diese neue Position zu stärken, braucht es nun neue Kämpfe; Kämpfe, die soziale Forderungen stellen, einheitliche Kämpfe, die sich nicht ausschließlich auf die Problematik der Freiheit beschränken und die mit sozialen Forderungen auftreten. Übersetzung: W. Eberle 8 Inprekorr 5/2013 Der Weg der „islamistischen Bewegung“ Der Islam auf dem Weg der Versöhnung mit dem Neoliberalismus? Ein türkischer Sonderweg. Masis Kürkçügil Die „islamistische Bewegung“ hatte sich in der Nachkriegszeit, als die Republik zum Mehrparteiensystem überging, in den Mitte-Rechts-Parteien versteckt – zunächst in der Demokratischen Partei (DP) und nach dem Staatstreich des Militärs von 1960 in der Gerechtigkeitspartei (AP). Ende der 1960er Jahre entstand sie als eigenständige politische Partei, denn 1969 war ihr Führer, Necmettin Erbakan, aus der AP ausgeschlossen worden, als man die Wahlen zur Leitung der Vereinigung der Handels- und Industriekammern und der türkischen Börse (TOBB) annullierte. Der wichtigste Grund, die Partei der Nationalen Ordnung (MNP) zu gründen, war die unzulängliche Repräsentation der Interessen der anatolischen Bourgeoisie, also des kleinen und mittleren Industrie- und Handelskapitals der Städte Anatoliens (im Vergleich zur Bourgeoisie der Großstädte, [d. Ü.]), durch die regierende Mitte-Rechts-Partei von Demirel. Allem Anschein zum Trotz waren es also nicht vorwiegend religiöse oder kulturelle Überlegungen, die für die Verwandlung der „islamistischen Bewegung“ in eine politische Partei gesorgt haben, sondern Klasseninteressen. Im Übrigen spielte und spielt die religiöse Hierarchie weder in der Vergangenheit noch heute eine Rolle in dieser politischen Bewegung, deren Führung immer „säkular“ war. Diese Bewegung tauchte nach dem Staatsstreich vom 12. März (1971) machtvoll auf – die Wählerbasis der neuen „islamistischen“ Partei Nationale Heilspartei (MSP) belief sich auf etwa 10 Prozent; aber sie profitierte auch von der Fragmentierung der politischen Landschaft und konnte somit auf der politischen Bühne des Landes eine Schlüsselrolle spielen, als sie sich an Koalitionsregierungen beteiligte, 1973 zunächst noch in einer Regierung der linken Mitte, ab 1975 in einer Mitte-Rechts-Regierung neben der radikalen Rechten (den Grauen Wölfen), die „Nationale Front“ genannt wurde. Die MSP vertrat – im Ver- Dossier Türkei gleich zu den Mitte-Rechts-Parteien sogar „fortschrittlichere“ Positionen; so sah sie die Lösung der Kurdenfrage im Rahmen der „islamischen Brüderlichkeit“ vor, und ihr sozio-ökonomisches Programm (Vorrang für nationale Entwicklung), das sie im Slogan der „gerechten Ordnung“ zusammenfasste, bestand aus einer Art Keynesianismus, der großen Wert auf eine gerechtere Verteilung der Einkommen legte. Türkei Ankara EinwohnerInnen: 75 Mio. (2012) Nationale Minderheiten: Der Völkermord an den ArmenierInnen Die Wiedergeburt des Islamismus unter der Diktatur (Mord und Vertreibung 1915-17) reduzierte ihre Zahl von damals 1,3 Mio. Obwohl die „islamistische“ Bewegung ihre Wählerbasis nach dem Staatsstreich vom 12. September 1980 verloren hatte, waren die 1980er Jahre eine Periode der Wiedergeburt des „islamistischen“ Denkens und seiner Aufnahme durch diverse soziale Schichten. Man muss allerdings bemerken, dass einigen politischen Kadern der (aufgelösten) MSP aus der zweiten Reihe politische Aktivitäten nicht verboten waren und sie damit ihre politische Karriere in der Mutterlandspartei (ANAP), die kurz vor den Wahlen 1983 von Turgut Özal gegründet worden war, der bei den Parlamentswahlen vom 5. Juni 1977 als Kandidat der MSP aufgetreten war, fortsetzen konnten. Özal, der Architekt der berüchtigten Maßnahmen des 24. Januar 1980, die auch die Basis für die neoliberale Wirtschaftspolitik der Junta abgaben, war unter anderem in den 1960er Jahren Direktor der Organisation der staatlichen Planung (DPT), Vorsitzender des Verbandes der Unternehmer in der Metallindustrie und geschäftsführender Direktor der Sabanci Holding, der zweitgrößten industriellen Gruppe der Türkei nach der Koç Holding gewesen. Man muss auch betonen, dass die Bourgeoisie Anatoliens dank der neoliberalen Wirtschaftspolitik der Junta einen massiven Aufschwung genommen und in der Hierarchie nach oben gewandert war; man sprach bereits von den „anatolischen Tigern“. Die neoliberale Politik hatte ein neues Akkumulationsregime errichtet, das die Ausfuhren auf der Grundlage von Subventionen für Investitionen und der Senkung der Löhne begünstigte. Diese Politik war von den Regierungen der ANAP fortgesetzt worden, die sich bis 1991 an der Macht halten konnte. Özal war im Übrigen von der Junta nach dem Staatsstreich zum Wirtschaftsminister ernannt worden, bevor er dann 1983 Ministerpräsident und 1989 Staatspräsident wurde. Danach gründete die Bewegung eine neue politische Partei unter Leitung ihres historischen Führers Erbakan. Diese neue Wohlfahrtspartei (RP) beteiligte sich 1991 in einem Bündnis mit der Nationalen Arbeitspartei (MÇP), auf heute etwa 40 000. Die größte Minderheit heute sind die KurdInnen, die ein knappes Fünftel der Gesamtbevölkerung ausmachen. OECD-Mitglied: Die Türkei gehört eigentlich nicht zu den traditionellen Industriestaaten, ist aber aus bündnispolitischen Gründen seit Anfang an OECD-Mitglied. Die letzten drei Jahre hatte es für OECD- Verhälntisse außergewöhnlich hohe Wachstumsraten (zwischen 8 und 9,5%). Wirtschaftszweige: V. a. Textilindustrie, Bauindustrie, Tourismus, Automobilindustrie eine Weiterführung der rechtsradikalen MHP, sowie mit einer kleinen nationalistischen Partei an den Parlamentswahlen. Man fürchtete, an der 10-Prozent-Hürde zu scheitern, die übrigens noch immer gilt. Die Politik von unten In den 1990er Jahren erfolgte ein bedeutender Wechsel in der Geschichte der Bewegung: Sofort nach der Gründung entschied sich die neue „islamistische“ Partei, Politik von unten zu betreiben und die benachteiligten Klassen der armen Stadtviertel zu organisieren, auch auf gewerkschaftlicher Ebene. Sie bezog daher anlässlich der Kommunalwahlen von 1994 gegen die neoliberale Politik Stellung. Sie wandte sich auch gegen die US-amerikanische Politik in der Region (der gegenwärtige Staatspräsident Abdullah Gül verurteilte im Verlauf des ersten Golfkrieges die Koalition (der „Willigen“) gegen den Irak im Parlament (Hafiz Assad hingegen bot ihr Unterstützung an). Sie profitierte von der Verwirrung und Zersplitterung der Mitte-LinksParteien und sie mobilisierte die Unzufriedenen in den armen Stadtvierteln, die die Korruption der Mitte-LinksParteien in den Stadtverwaltungen satt hatten; dadurch Inprekorr 5/2013 9 Dossier Türkei gelangen ihr Wahlsiege in den beiden größten Städten des Landes, Istanbul und Ankara. Die Stimmenanteile der drei Mitte-Links-Parteien beliefen sich zusammen auf 36 %, doch der gegenwärtige Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan wurde zum Bürgermeister von Istanbul gewählt, weil er mit 25 Prozent vorn lag (es zählte die relative Mehrheit). Da sich die Bewegung der Kurden nicht an den Wahlen beteiligt hatte, gewann die RP sogar das Bürgermeisteramt von Diyarbakır und konnte ihren Stimmanteil landesweit auf 19 % steigern. So lieferte die neue Kommunalpolitik der „Islamisten“, in der es auch Elemente der Solidarität im tagtäglichen Leben der BürgerInnen gab, als Treffen in den Häusern einfacher Menschen abgehalten wurden, einen fruchtbaren Boden für die Herausbildung einer organischen Bewegung, die bis heute besteht. Sie bildet die soziale Basis der gegenwärtigen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), deren Organisation und Propaganda auf diesen Erfahrungen beruhen. Die erste Regierung Die RP sah ursprünglich in ihrem Programm ein besonderes Wirtschaftssystem vor, das weder sozialistisch noch kapitalistisch sein sollte und „nationale Vision“ (Millî Görüş) genannt wurde. Ab 1994 hatte sie sich aber für eine (wenn auch kontrollierte) Marktwirtschaft ausgesprochen. Diese Wende sollte dann mit der AKP in eine offensichtlich neoliberale Ausrichtung münden. Die RP beteiligte sich an den Parlamentswahlen von 1995, ohne ein Bündnis einzugehen, und wurde mit 21 % der Stimmen stärkste Partei, wobei sie von der Zersplitterung der Mitte-Links- und der Mitte-Rechts-Parteien profitierte. Dadurch wurde sie zum Zünglein an der Waage. Die RP hatte im Hinblick auf die anderen Parteien der Ordnung, die ihre Glaubwürdigkeit vor allem wegen des Krieges gegen die Kurden verloren hatten, eine vorteilhafte Stellung erreicht. Sie suchte nun eine Koalition mit den beiden anderen Mitte-Rechts-Parteien einzugehen, mit der ANAP und der DYP, die jeweils 19 % bekommen hatten. Nach langen, etwa sechs Monate dauernden Verhandlungen wurde der historische Führer der Bewegung, Prof. Dr. Necmettin Erbakan, endlich Ministerpräsident. Obwohl die Parteien der linken Mitte auch 25 % der Stimmen erhalten hatten, hatten sie im Parlament nichts zu sagen. Nachdem sie – wenn auch in einer Koalition – an die Regierung gelangt war, vertrat die RP die verschiedenen islamistischen Schichten. Da ihr Führer zum Ministerpräsidenten ernannt worden war, begannen auch die neuen Eliten an der Macht von deren Segnungen zu 10 Inprekorr 5/2013 profitieren, was zu Unzufriedenheit und Spannungen in den Reihen des traditionellen Kemalismus führte, die sich rasch zuspitzten. Als der Ministerpräsident in seinem Amtssitz auch noch religiöse Führer empfing, auch solche von religiösen Sekten und als er auf seinem Libyen-Besuch unfähig war, auf die „wenig diplomatischen“ Aussagen von Gaddafi über die Regierungsform in der Türkei adäquat zu reagieren, kam es zu heftiger Kritik. Hinzu kamen die Probleme mit den Kurden und mit der NATO. Im November 1996 starben bei einem Verkehrsunfall ein hoher Polizeibeamter und ein faschistischer Mafioso, die vor dem Staatsstreich vom 12. September 1980 in eine Reihe von mörderischen Attentaten verwickelt gewesen waren (sie gehörten wahrscheinlich zum nationalen Geheimdienst MIT). Ein Abgeordneter der Partei des rechten Weges (DYP) – der Chef einer regierungstreuen kurdischen Miliz – befand sich ebenfalls im Auto, doch er kam mit schweren Verletzungen davon. Dieser Fall führte zu öffentlicher Empörung und Protesten. Erbakan unterschätzte diese Zwischenfälle, und die Proteste dehnten sich auf das ganze Land aus. Erbakan setzte sich nicht für eine konsequente Untersuchung des Unfalls ein und verbreiterte dadurch die Gegnerschaft zu seiner Regierung. Ein „postmoderner“ Staatsstreich Am 28. Februar 1997 traf der nationale Sicherheitsrat (MGK1) einige Entscheidungen, die direkt auf den Ministerpräsidenten abzielten. Nach diesen Entscheidungen spaltete sich die DYP und trat aus Erbakans Koalition aus. Der damalige Staatspräsident Süleyman Demirel, aber auch die Armee und die Justiz zwangen die bereits geschwächte Regierung zum Rücktritt. Der Verfassungsgerichtshof löste am 16. Januar 1998 die RP auf, weil sie „gegen das Prinzip der laizistischen Republik verstoßen“ habe. In den folgenden Wahlen zum Parlament bzw. den Gemeinderäten erhielt die „Tugendpartei“ (FP), die anstelle der RP gegründet worden war, 15 bzw. 18 Prozent. Das Verbot für die historische Parteiführung, sich an den Wahlen zu beteiligen, hatte in der Partei ein Vakuum geschaffen. Die FP wurde im Juni 2001 ihrerseits aufgelöst, weil sie während ihres Parteitages „Treuebekundungen auf ihren Führer, dem politische Betätigung untersagt war“ veranstaltet hatte. Auch wenn die Bewegung sofort eine Nachfolgepartei für die FP, die „Partei des Glücks“ (SP) ins Leben rief, profitierte die junge Garde, die gegen die alte Oligarchie Dossier Türkei um Erbakan rebellierte, von der Gelegenheit und trat der neuen Partei nicht bei. Neoliberale Erneuerung Diese junge Gruppe gründete ihre eigene Partei, die AKP (Partei der Gerechtigkeit und der Entwicklung). Sie verzichtete zunächst auf die „nationale Vision“ (Millî Görüş). Wie die RP, so stieß auch die AKP in einen politisch unbesetzten Raum. Die 1999 aus dem stark zersplitterten Parlament hervorgegangene Regierung bestand vor allem aus zwei nationalistischen Parteien der Linken und der Rechten, der Partei der demokratischen Linken (DSP) und der Partei der nationalistischen Bewegung (MHP), die sich dank einer nationalistischen Welle im Gefolge der Verhaftung und Verbringung in die Türkei von Abdullah Öcalan, dem Führer der kurdischen PKK, neu formiert hatten. Der dritte Partner in der Regierung war die Partei von Özal, die inzwischen in der rechten Mitte angesiedelt war. Die Wirtschaftskrise von 2001 traf die Regierung hart und die Krankheit von Ministerpräsident Ecevit beeinträchtigte die Zukunft der Koalition. Im Mai 2002 begannen sich Spekulationen über den Nachfolger von Ecevit auszubreiten. Schließlich kamen die Regierungsparteien überein, vorgezogene Neuwahlen anzusetzen, in deren Gefolge es keiner von ihnen gelang, die 10%-Hürde zu überwinden und im Parlament vertreten zu sein. Das galt auch für die DYP, die sich in der Opposition befand. Die WählerInnen straften somit wegen der Krise die gesamte politische Klasse ab und warfen alle Altparteien und ihre Führungen aus dem Parlament. Bei den ersten Wahlen, an denen sie teilnahm, wurde die AKP Siegerin, ohne dass sie irgendwelche Versprechungen gemacht oder ein eigenes Programm verkündet hätte. Sie präsentierte sich einfach als neue Partei angesichts eines Systems politischer Parteien, das bereits zusammengebrochen war. Sie beendete somit auch einen zehnjährigen Zeitraum von Koalitionen. Eine erhebliche Anzahl von Menschen, die jahrelang behauptet hatten, Gegner des Westens, der EU oder sogar des Kapitalismus zu sein, zog nun das alte Hemd der „nationalen Vision“ aus und vertrat eine neoliberale Politik. Sie verwandelten sich aus einer dissidenten Bewegung in eine neue Mitte-Rechts-Partei, wobei sie von der Verwirrung und der Zersplitterung der rechten Mitte profitierten. Das ab 2002 von der AKP entwickelte Profil hat zahlreiche Zweifel aufkommen lassen. Zunächst besuchten einige Parteiführer die USA, um die dortige Regierung zu beruhigen. Andererseits fanden Vertreter des Kapitals im In- und Ausland diese Leute ein bisschen eigenartig, weil sie ja in der Vergangenheit ziemlich radikale Reden gehalten hatten. Die staatlichen Institutionen, vor allem die Armee und die Justiz, begegneten ihnen mit äußerstem Misstrauen. Sie hatten noch nicht begriffen, dass die AKP, obwohl sie aus der RP hervorgegangen war, die alte Tradition verraten und sich ins System integriert hatte. Übersetzung: Paul B. Kleiser 1 MGK (Millî Güvenlik Kurulu) = Institution der Verfassung, die sichtbare Seite der „militärischen Aufsicht“, die die Spitze des Militärs, den Ministerpräsidenten und einige Kabinettsmitglieder unter der Leitung des Staatspräsidenten zusammenführte. Inzwischen wurde die Zusammensetzung geändert. Der Generalsekretär und die Mehrheit der Mitglieder müssen nun Zivilisten sein. Die Kurden, Kurdistan und die Türkei Das politische Machtvakuum im Irak, der unentschiedene Krieg in Syrien und eine partielle Neoliberalisierung der islamischen Bewegung in der Türkei verändern die Perspektiven für ein Kurdistan, das an allen drei Ländern Anteil hat. Masis Kürkçügil Mit der Widerstandsbewegung auf dem Taksim-Platz in Istanbul wurden unter anderem neue Fragen zum Schicksal des bereits 30 Jahre dauernden kurdischen Widerstandes aufgeworfen, der ungefähr 35 000 Menschen das Leben gekostet hat. Es fragt sich, inwieweit ein Regime, das sich immer autoritärer gebärdet, den Erwartungen der Kurden gerecht werden kann. In den letzten fünf Jahren hat sich zwischen der KurdenFrage und der Türkei eine seltsame Beziehung herausgebildet. Einerseits ist die autonome Region Kurdistan im Inprekorr 5/2013 11 Dossier Türkei Nordirak so gut wie unabhängig geworden und hat sich wirtschaftlich praktisch der Türkei angeschlossen. Andererseits hat Westkurdistan als Folge der Kämpfe gegen das Assad-Regime in Syrien de facto einen autonomen Status erlangt. Und schließlich widerspricht der Status quo im türkischen Kurdistan – der andauernde Konflikt auf kleiner Flamme – mehr und mehr regionalen Interessen des türkischen Kapitalismus. All dies hat die AKP dazu gezwungen, für die kurdische Frage nach einer Lösung zu suchen. Die Kurden haben folglich nicht militärisch gesiegt, sondern das Kräftegleichgewicht, das über Jahrhunderte zu ihren Ungunsten war, beginnt sich nun zu ihren Gunsten zu verändern. 2009 hat die AKP mittels Staatsagenten geheime Verhandlungen mit den PKK-VertreterInnen in Oslo aufgenommen, um nach einer Lösung der Kurden-Frage zu suchen. Nach dieser unerwarteten Entwicklung hat eine kleine unbewaffnete Guerilla-Gruppe symbolisch die Grenze überschritten und sich den Behörden gestellt. Die Ankömmlinge wurden zum Schein vor Gerichte gestellt, die in aller Eile an der Grenze eingerichtet wurden und dann freigelassen. Doch die von einer Riesenmenge am Zoll begeistert empfangene Guerilla hat die nationalistischen Kreise der Türkei und ein Großteil der AKP-Wählerbasis aufgeschreckt. Die AKP hat sofort zum Rückzug geblasen. Darauf folgte eine riesige Verhaftungswelle gegen den unbewaffneten zivilen Arm der nationalistischen Kurden-Bewegung, die KCK (Vereinigte Gemeinden Kurdistans): tausende von KCK-Mitgliedern, unter ihnen Gemeindepräsidenten, wurden inhaftiert. Die Lage verschlechterte sich wieder auf einen Schlag und alles musste zurück auf START, d. h. zum Konflikt. Erdoğan erklärte, seine Partei verfüge über die Mehrheit der kurdischen ParlamentarierInnen und über die Stimmenmehrheit in der Kurdenregion (deren Grenzen er nach eigenem Gutdünken festlegt). Deshalb anerkenne er bei Verhandlungen über das Kurden-Problem keinen anderen Gesprächspartner außer sich selbst (seine Partei wird vom Parteichef vertreten). Die Partei für Frieden und Demokratie (BDP) hat bei den Parlamentswahlen 2011 einen großen Sieg errungen: Dank unabhängiger KandidatInnen konnte sie die 10%-Hürde überwinden. Aus ihrer Kandidatenliste wurden 36 gewählt, darunter drei Sozialisten aus Istanbul (Nicht-Mitglieder der BDP), ein Islamist sowie ein Konservativer aus Diyarbakır. Damit ist der Partei in ihrer Region mit Islamisten, Konservativen und Sozialisten aus der Westtürkei die Bildung einer Art nationale Front gelungen. Trotz dieses Erfolges lehnt die AKP die BDP als Gesprächspartnerin ab. Die BDP ihrerseits 12 Inprekorr 5/2013 hat stets die Anerkennung des gefangenen PKK-Führers Abdullah Öcalan als Gesprächspartner gefordert. 2012, nach dem Abzug der syrischen Truppen aus Syrisch-Kurdistan hat die PYD (eine erweiterte PKK) in der Region enorm an Einfluss gewonnen. Plötzlich wurde aus der autonomen Region irakisch Kurdistan eine autonome kurdische Region, die sich bis nach Syrien erstreckt. Die PKK hat den revolutionären Volkskrieg erklärt, um in Hakkari eine befreite Zone zu schaffen, dabei hat sie jedoch tausend Guerillakämpfer verloren. Anschließend hat die türkische Regierung erneut versucht, mit der kurdischen Bewegung zu verhandeln. Diesmal hat sie sich direkt an Öcalan gewandt. Die türkische Regierung wusste genau, dass Öcalan bei der PKK eine Feuereinstellung durchsetzen konnte. Dies zeigte sich auch an den Gesprächen, die er seit seiner Verhaftung 1999 immer wieder mit der Regierung und anlässlich der Konferenz von Oslo geführt hatte. Schließlich wurde eine von Erdoğan persönlich abgesegnete BDP-Delegation bestehend aus drei Parlamentariern auf die Insel Imrali gesandt, wo Öcalan inhaftiert ist, und die Verhandlungen wurden wieder aufgenommen. Gemäß einer vorausgegangenen Abmachung unter den Parteien musste zuerst die PKK über eine Feuereinstellung entscheiden und ihre bewaffneten Kämpfer aus der Türkei abziehen. Danach würde es Verfassungs- und Gesetzesänderungen geben, insbesondere einen Sonderstatus für die Kurden. Anschließend würde die PKK den bewaffneten Kampf einstellen. Danach würde die Lage Öcalans neu beurteilt und verbessert. Es würden auch die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sich die PKK-Mitglieder als BürgerInnen in das normale Leben integrieren könnten. Dieses Abkommen ist von der Regierung nie veröffentlicht worden. Sie hat zudem darauf geachtet, nicht als aktive Verhandlungsteilnehmerin in Erscheinung zu treten. Es wurde nur gesagt: „Der Terror muss beendet und das Blutvergießen gestoppt werden“, und der Nationale Geheimdienst (MIT) habe die Verhandlungen wiederaufgenommen und führe sie weiter. Die Kurden ihrerseits sprachen offen davon, dass Verhandlungen im Gange seien und dass es die „Führung“ war, d. h. Abdullah Öcalan, der dafür die Initiative ergriffen habe. Doch abgesehen von einigen Artikeln in den Medien gibt es immer noch keinen schriftlichen Text, in dem der Rahmen und die Bedingungen für ein Abkommen offen aufgelistet werden. Die Tatsache, dass die von Öcalan verfassten Texte von den türkischen Staatsbeamten an die Leitungsmitglieder der PKK in Europa und in Kandil weitergegeben wurden – die sich bezüglich Wiederaufnahme der Dossier Türkei Verhandlungen mit ihrem Führer voll solidarisierten – zeigt, dass es einen detaillierten Plan geben muss. Gemäß den Äußerungen der BDP-Sprecher sollte die zweite Stufe des Plans – für die zweifellos einige rechtliche Reglementierungen notwendig sind – nach dem Rückzug der PKK-Kämpfer hinter die Grenzen beginnen. Dies scheint bis jetzt ohne größere Probleme der Fall zu sein. Wer von diesen Verhandlungen ausgeschlossen ist – an denen auch die USA und Barzani beteiligt sind – äußert zu deren Ausgang ernsthafte Bedenken. Teile der sozialistischen Bewegung lehnen jegliches Abkommen mit der AKP klar ab oder verhalten sich zumindest neutral. Andere äußern ernsthafte Bedenken wegen möglicher Zugeständnisse von Seiten der Kurden (oder vielmehr von Öcalan) an die AKP als Gegenleistung für einen Sonderstatus. Den Prozess an sich halten sie jedoch für eine positive Entwicklung und finden daran nichts Ungewöhnliches. Sie sind der Meinung, dass die Kurden dem Erdoğan-Plan zustimmen könnten, der ein Präsidialsystem „nach türkischer Art“ anstrebt als Gegenleistung für eine Art Autonomie, bei welcher den lokalen Gemeinschaften mehr Kompetenzen zugesprochen würden. Es gibt auch Stimmen, die fordern, dass der Krieg unbedingt beendet und den Kurden das Recht zugesprochen werden muss, den Konflikt mit einem selbstbestimmten Kompromiss zu lösen. Andererseits tauchen Themen wie „Einheit von Kurden und Türken“ oder „islamische Bruderschaft“ wieder vermehrt auf, die Öcalan manchmal in seinen Reden erwähnt. Der bekannte türkische Soziologe Ismail Beşikçi, der sein Leben lang die Rechte des kurdischen Volkes verteidigt und wegen seiner soziologischen Studien über das Leben der Kurden insgesamt 17 Jahre im Gefängnis saß, verurteilt diese Reden bei jeder Gelegenheit. Am 28. Februar ist in den Medien ein Bericht über ein Gespräch Öcalans mit BDP-Parlamentariern sowie seine Botschaft an die Völker der Türkei erschienen (in welcher er von der „islamischen Bruderschaft“, „der tausendjährigen Einheit von Kurden und Türken“ und „vom Wachstum der Türkei“ spricht, also alles Formulierungen, die nicht unbedingt der ideologischen und politischen Linie der AKP entsprechen). Diese Botschaft wurde am Newroz (Neujahrsfest) von BDP-Parlamentariern einer in Diyarbakır versammelten Menge vorgelesen, was all jene irritiert hat, die sich damit nicht identifizieren können, insbesondere die Aleviten. In den 1990er Jahren, zu einer Zeit, als die PKK als radikaler galt als heute, hat Öcalan übrigens in einem Interview mit dem Journalisten Cengiz Çandar einen ähnlichen Diskurs gehalten. Çandar hatte ihn auf Anweisung des damaligen Präsidenten der Republik, Turgut Özal, dessen Berater er war , aufgesucht,. Die Initiative der AKP, mit den Kurden Verhandlungen aufzunehmen, um die nationale Frage zu lösen, was bis dahin niemand oder fast niemand gewagt hatte, hat in breiten Schichten der Bevölkerung im Westen wie im Osten der Türkei Erleichterung ausgelöst. Seit dem de-factoWaffenstillstand werden keine Leichen junger Soldaten und Guerillakämpfer mehr gebracht. In Städten der Westtürkei und vor allem in den Städten des Ostens herrscht ein Klima großer Hoffnung. Aber mit dieser Hoffnung allein ist noch kein erfolgreicher Friedensprozess garantiert. Die Kurden wurden nicht besiegt. Es ist ihnen im Gegenteil in den letzten 30 Jahren gelungen, ihre Identität zu entwickeln. Politisch verfügen sie nun über genug Kraft, um in der Nationalversammlung während zwei aufeinander folgender Legislaturperioden eine parlamentarische Fraktion (mindestens 20 Parlamentsabgeordnete) zu stellen. Die Kurdenbewegung, die seit drei fünf Jahresperioden in den meisten Gemeinden der Region und insbesondere in Diyarbakır an der Macht ist, besteht nicht nur aus Guerillakämpfern in den Bergen. Sie kann sich heute auf eine riesige, solide zivile Basis stützen und ist im täglichen Leben der Leute verankert. Es muss aber auch gesagt werden, dass die PKK beim Streben nach überzeugenden Resultaten an die Grenzen des bewaffneten Kampfes gestoßen war. Abdullah Öcalan hat erklärt, dass der umfassende militärische Sieg nicht möglich sei. Er sagte dies nicht erst nach seiner Verhaftung, sondern bereits vor 20 Jahren. Jene, die an die Urne gehen, der Bewegung helfen und sie unterstützen, sind mehr für die Zulassung ihrer Muttersprache im Schulunterricht, für die Freilassung der Gefangenen, für die Normalisierung der Lage jener, die in den Bergen leben, und vor allem für bessere Lebensbedingungen als für den bewaffneten Kampf „bis zum bitteren Ende“. Von daher gesehen soll man ohne Zögern lautstark kundtun, dass „der Friede willkommen ist, woher er auch kommen möge!“. Doch es besteht ein tiefer Graben zwischen den Forderungen der Kurden und dem, was die AKP zu geben bereit ist. Dieser Graben wird momentan nur vom persönlichen Prestige überbrückt, das Öcalan beim kurdischen Volk genießt. Übersetzung: Ursi Urech Inprekorr 5/2013 13 Dossier China Weltmacht China Der spektakuläre Aufstieg des chinesischen Kapitalismus beruht auf seinem großen Wettbewerbsvorteil – dem unerschöpflichen Reservoir rechtloser, prekärer und schlecht bezahlter Arbeitskräfte. Wird diese Rechnung auch weiter aufgehen? Ein Dossier mit 5 Beiträgen Klassenfrage Seite 15 Chinesische Wandlungen China im weltweiten Kräfteringen Arbeiterklasse im Wandel Seite 17 Seite 20 Seite 23 Gewerkschaftsbewegung und Arbeiterkämpfe in China Seite 26 14 Inprekorr 5/2013 Dossier China KLASSENFRAGE „Unser Leben ist süßer als Honig“ (Titel eines chinesischen Lieds) Yann Cézard Die westliche Welt wird seit langem von der Vorstellung getrieben, China könne zu alter Größe erwachen und die (alte) Welt aus den Fugen heben. Inzwischen ist das Land wieder zur Großmacht geworden und sorgt mit seiner industriellen Größe für tiefgreifende globale Veränderungen. Durch den Umbruch mit über einer Milliarde neuer „Marktteilnehmer“ geraten nicht nur die alten Kräfteverhältnisse ins Wanken, sondern wird auch die weltweite Konkurrenz befördert, was zulasten der Löhne geht, die Rohstoffpreise treibt und die Umweltkrise verschärft. Insofern ist die weitere Entwicklung des Landes von globaler Bedeutung. Die „fünfte Führungsgeneration“, die gerade an die Macht gelangt ist, wiegt sich nach außen hin nicht in Illusionen über die äußeren und inneren Widersprüche des gegenwärtigen Wachstums. Treibende Kraft dabei sind die massiven Exporte und Investitionen auf der Basis niedriger Löhne, prekärer Verhältnisse und einer Kasernenhofdisziplin, die der Arbeiterklasse aufgezwungen werden, sowie einer gnadenlosen Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts und der natürlichen Ressourcen. Offen ist nur, wie lange dies gut gehen wird, da die globalen Märkte nicht unbegrenzt immer mehr chinesische Waren abnehmen werden und durch die niedrigen Löhne sowohl die Binnennachfrage beschränkt bleibt als auch eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung blockiert wird. Und es wird der Import der für die chinesische Industrie benötigten Rohstoffe immer teurer. Zudem wird auch die Ausbeutung der Arbeiterklasse dort an ihre Grenzen stoßen, wo sich der Widerstand der Arbeiter selbst erhebt. Geschichte verläuft nicht geradlinig. Insofern wäre es unsinnig, die wirtschaftlichen Entwicklungsdaten Chinas der vergangenen 30 Jahre für die Zukunft fortzuschreiben. Das weiß auch die politische Elite des Landes, die ein wenig von „Dialektik“, aber viel vom Kapitalismus versteht. Das Wirtschaftswachstum ist auf den gegenwärtigen Grundlagen nicht aufrecht zu erhalten, was weniger an der fehlenden sozialen Gerechtigkeit und menschlichen Würde liegt, als an der Gesetzmäßigkeit des kapitalistischen Profits. Daher verspricht die Regierung in Peking auch ein „neues Wachstumsmodell“. Nach dem „sozialistischen Aufbau“ unter Mao und der „sozialistischen Marktwirtschaft“ unter Deng Xiaoping und seinen Nachfolgern Jang Zemin und Hu Jintao soll nunmehr „die harmonische Gesellschaft“ kommen. Eine Konsumgesellschaft für die Massen, in der das Wirtschaftswachstum von der Binnennachfrage getrieben wird, die Wirtschaft weniger natürliche Ressourcen aufzehren wird und die Ungleichheiten abnehmen werden. Dies alles soll sich unter der aufgeklärten Federführung der KPCh vollziehen. Denn die Partei stellt sich natürlich so dar, als sei sie die Wiedergeburt der ehemaligen Reichsverwalter-Bürokratie der Mandarine, die das Reich der Mitte zu historischer Größe führte, und als sei sie die Vertreterin des ganzen Volkes, die über den sozialen Klassen steht und die Marktkräfte freisetzt und zugleich beherrscht. Bloß dass Geschichte nicht so gemacht wird. Dass der Kapitalismus in einigen Ländern – für eine bestimmte Zeit seiner langen Geschichte und beileibe nicht für immer – eine Konsumgesellschaft für die Massen zugleich mit politischen Freiheiten und sozialen Rechten hervorgebracht hat, dies lag nicht an der genialen Weitsicht der herrschenden Klassen, sondern am Klassenkampf und ging auch nicht ohne tragische Episoden einher. Der Staat als Teil des Problems oder der Lösung? Für die Unternehmen in China ist der chinesische Nationalstaat als Vermächtnis der maoistischen Revolution ein wichtiger Trumpf. Damit lassen sich noch immer die Kämpfe der Arbeiterklasse und der Bauern erfolgreich unterdrücken und die Metropolen und multinationalen Konzerne hinhalten. Er dient als Türöffner zu den Rohstoffmärkten und gewährt zugleich den Zugang zum eigenen Binnenmarkt nur im Austausch gegen Technologietransfer und Kompensationsgeschäfte. Als Herrscher über seine Grenzen – einschließlich der Finanzströme – kann er in gewisser Weise die wirtschaftlichen Aktivitäten steuern, bestimmte Sektoren gezielt befördern und Investitionsströme lenken. Außerdem ist der chinesische Staat nicht der „aufgeklärte Despot“, der er zu sein vorgibt. Wie lassen sich der chinesische Kapitalismus und der Staat, der ihm so machtvoll unter die Arme greift, charakterisieren? Au Loong Yu bezeichnet ihn in seinem Buch China‘s Rise: Strength and Fragility als „bürokratischen Kapitalismus“, also nicht als „Staatskapitalismus“, in dem der Staat die Privatkapitalisten und die Märkte an den Rand gedrängt hätte, um selbst die Funktionen der Kapitalakkumulation zu übernehmen, und auch nicht als bloßen „autoritären Kapitalismus“. Im Rahmen eines ungezügelten Kapitalismus existiert Inprekorr 5/2013 15 Dossier China eine Bourgeoisie, die Privateigentümer ihrer Unternehmen ist, neben einer Bürokratie, die ihrerseits integraler Bestandteil der Bourgeoisie und zugleich deren Herz und Kopf ist. Zunächst einmal sind die größten chinesischen Unternehmen – angefangen beim Bankenwesen als Kontrollinstanz der Wirtschaft – staatlich, sei es, dass sie dem Staat gehören oder dass sie von den Provinzen, Kommunen etc. kontrolliert werden. Aber dies ist nicht ausschlaggebend. So wie die Klasse der Privateigentümer an den Produktionsmitteln stetig wächst – ebenso wie der Anteil des Privatsektors an der Gesamtproduktion (nach OECD-Angaben ist dessen Anteil an der Wertschöpfung im Industriesektor zwischen 1998 und 2005 von 29 % auf 71 % gestiegen) – so ist die chinesische Bürokratie selbst immer mehr Teil der Bourgeoisie geworden. Die Kontrolle über ein Ministerium oder eine Ortsverwaltung ermöglicht es einem Klan, Schmiergelder abzuzweigen, Gelder zu veruntreuen und auch unmittelbar Privatgeschäfte zu steuern. Armeebataillone werden plötzlich zu „Eigentümern“ von Fabriken; die Stadtverwaltung bestellt die Ausrüstung für die Feuerwehr bei einem Unternehmen … das den Stadtverordneten gehört, oder sie enteignet Bauern und verkauft die Ländereien gegen Kommission an die Industrie; die Familien der Lokalhonoratioren re-investieren in die Immobilienspekulation. Bei den massiven Privatisierungen der 90er Jahre landete ein Großteil der billig verkauften Unternehmen in den Händen „kommunistischer“ Manager eben dieser Unternehmen, die dadurch ins „Business“ einstiegen. Daran beteiligt sind alle Ebenen des Staatsapparats. In den zehn Regierungsjahren des ehemaligen Premier Wen Jiabao häufte dessen Familie ein Vermögen von 2,7 Milliarden Dollar an. Und Li Xiaolin, die Tochter des Schlächters des Tian‘anmen-Platzes 1989 und damaligen Premierministers Li Peng, ist Chefin von China Power International, eines der fünf größten staatlichen Unternehmen, die sich den chinesischen Elektrizitätsmarkt teilen. Die Firma von Hu Haifeng, Sohn des ehemaligen Präsidenten Hu Jintao, beliefert exklusiv die chinesischen Flughäfen mit ihren Sicherheitsscannern … und auch die Flughäfen in den afrikanischen Ländern, die der Herr Papa seinerzeit bereist hatte. Bürokratischer Kapitalismus, kapitalistische Bürokraten Dieser Kapitalismus, wo die Grenzen zwischen privat und öffentlich zerfließen, existiert nicht am Rande des Systems, sondern ist dessen tragender Bestandteil. Die Zentralre16 Inprekorr 5/2013 gierung deckt dies, schlichtet und steuert dies, auch wenn gelegentlich einige Ausgerastete oder im Fraktionskampf Unterlegene auf dem Hochaltar des Kampfes gegen die Korruption geopfert werden. In ihrem neuesten Buch Chine, Le nouveau capitalisme d’État beschreibt Marie-Claire Bergère die chinesische Bourgeoisie als „eine disparate Welt von Unternehmern. Diese entstehen entweder im Privat- oder im öffentlichen Sektor, meist jedoch irgendwo dazwischen, und sie beherrschen die Marktstrategien, bleiben aber unter der Kontrolle der Behörden. Die Machthaber umsorgen oder unterdrücken sie, manche werden ausgeschaltet und die anderen eher mit den Spitzen aus Politik und Verwaltung verschmolzen. Dadurch soll ihre Transformation in eine autonome soziale Schicht vermieden werden, die sich zu einer oppositionellen Kraft auswachsen könnte. Dass diese Unternehmer der privilegierten Minderheit von Kindern oder Verwandten hoher Funktionäre entstammen, zeigt die Korruption und Vetternwirtschaft, die die Funktionsweise eines Staatskapitalismus untergraben, der zum Kapitalismus der Spießgesellen verkommen ist. Die größten Unternehmer – Bürokraten, die die großen staatlichen Unternehmen als Geschäftsmänner leiten – sind eng mit dem Regime verflochten.“ In der Tat lassen sich Bourgeoisie und Staatsbürokratie nicht säuberlich trennen, da beide eng miteinander verflochten sind. Wie also sollte die Entstehung einer unabhängigen chinesischen Bourgeoisie der Diktatur ein Ende bereiten können, wie die Ordoliberalen behaupten? Und umgekehrt, wie soll eine aufgeklärte KP-Spitze den chinesischen Kapitalismus menschlich und rational gestalten können, wie deren Kritiker meinen? Warum sollten diese Ausbeuterklassen von sich aus ein Wachstumsmodell aufgeben, das ihnen so viele Vorteile verschafft? Weil die Arbeiter dabei kaserniert werden? Oder die Natur zerstört wird? Oder etwa wegen der Immobilienspekulation? Wie sollte die Zentralregierung ihre eigene soziale Basis zum Verzicht auf die Quellen ihrer ungezügelten Bereicherung bewegen? Das chinesische Wachstum wird – allen offiziellen Verlautbarungen zum Trotz – weiterhin dem Abgrund entgegen taumeln. Wie schon andernorts schwillt als Sinnbild dieser Missverhältnisse die Kreditblase immer weiter an. Seit Beginn der Weltwirtschaftskrise 2007 sind die Kredite von 9000 auf 23 000 Milliarden Dollar gestiegen. Die (private und öffentliche) Schuldenquote des Landes ist, nach Angaben von Fitch, von 75 auf 200 % des BIP gestiegen, wobei ein Teil dieser Kredite von Schattenbanken gewährt wurde. Damit droht das chinesi- Dossier China sche Bankensystem an den Rand des Zusammenbruchs zu geraten. Wenn sich die Demokratie durchsetzen soll und damit dieser zerstörerische Kapitalismus infrage gestellt wird, dann wird dies von Seiten der Arbeiterbewegung erfolgen. Kommt diese auf die Beine, dann würde sich zwangsläufig für ganz China die Frage nach Freiheit, politischer Macht und sozialem Fortschritt stellen. Aus diesem Grund liegt in diesem Dossier der Schwerpunkt auf deren Erwachen und den damit verbundenen Problemen und Hoffnungen. Aus: TOUT est à nous! La Revue Nr. 45 Übersetzung MiWe Chinesische Wandlungen „Unsere rote Nation wird nie die Farbe wechseln“ (Xi Jinping, Generalsekretär der KPCh und Staatspräsident der VRCh). Jean-François Cabral Zu Beginn des 18. Jahrhunderts trug China fast ein Viertel zur Weltwirtschaft bei. Heute liegt der Wert bei 10 % nach gerade mal 3–4 % in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts.1 Wiedergewonnen wurde diese Dominanz durch den von Mao so genannten „Kommunismus“ und nachfolgend den „roten Kapitalismus“.Bei dieser einzigartigen Entwicklung spielte die Kommunistische Partei eine erstaunliche Rolle, in der ihr die tiefgreifende Revolutionierung der gesamten Gesellschaft gelang, um am Ende einen Kapitalismus hervorzubringen, der so erfolgreich zu sein scheint, dass China nunmehr zu den „aufstrebenden“ Großmächten gehört. 1911 – 1949: drei Revolutionen Anfang des vorigen Jahrhunderts war die Situation noch ganz anders – China war nicht mehr das „Reich der Mitte“ und der Nabel der Welt, der es glaubte zu sein. Sondern vielmehr ein traumatisiertes Land, von fremden Invasoren unterworfen und erniedrigt. Die industrielle Revolution war an dem Land vorbei gegangen und es litt unter all den Folgen der „ungleichen Verträge“, die ihm die Westmächte nach 1839 auferlegt hatten. Diese wiederum profitierten von der „zugestandenen“ regelrechten Exterritorialität und der erzwungenen Öffnung einer ganzen Reihe von Städten gegenüber dem Welthandel. Im Jahr 1911 wurde der junge Kaiser Puyi durch eine Revolution abgesetzt und 1912 die Republik ausgerufen. Sun Yat-sen, Gründer der Guomindang – einer nationalistischen Partei, mit der China auf Betreiben der Bourgeoisie befreit und modernisiert werden sollte – wurde von den Militärs gestürzt. Das Land geriet noch tiefer ins Chaos und wurde von den „Warlords“ gepeinigt, die die Beute unter der mehr oder weniger wohlwollenden Aufsicht der ausländischen Mächte unter sich aufteilten. Ein Hoffnungsschimmer am Horizont kam aus Russland, wo die Revolution von 1917 auf Betreiben der Bolschewiki das „Recht der Völker auf Selbstbestimmung“ proklamierte. Gleichzeitig entstand eine regelrechte kulturelle Renaissancebewegung, die von dem herausragenden Intellektuellen Chen Duxiu und Studenten der Pekinger Universität vorangetrieben wurde. Ihr Anliegen war einerseits, China wieder zu Würde und Unabhängigkeit zu verhelfen, andererseits schreckte sie nicht vor heftiger Kritik an der traditionellen Kultur, dem Konfuzianismus, den ganzen veralteten sozialen Verhältnissen und der Familie zurück. Ihre Forderungen schienen paradox: China muss vom Westen lernen können, um sich zu emanzipieren, und die nationale Befreiung muss mit der sozialen Hand in Hand gehen und die armen Gesellschaftsklassen zum Motor der Revolution machen. Aus dieser Bewegung heraus entstand der Aufstand vom 4. Mai 1919, dessen Auslöser die Versailler Verträge waren, nach denen Japan neue Territorien zugesprochen bekam. Die Revolte breitete sich im ganzen Land aus. Später sollten zwei Parteien sich darauf berufen: einerseits die Guomindang, die sich unter der Führung von Chiang Kai-shek zu einer militärisch organisierten Partei gewandelt hatte und für eine Revolution von oben unter der Kontrolle der Bourgeoisie eintrat; andererseits die von Chen Duxiu 1921 gegründete Kommunistische Partei China, die damals noch in den Kinderschuhen steckte. Auf die Ratschläge Moskaus hin löste sich die KPCh in der Guomindang auf, die wiederum Waffen und Militärberater dafür erhielt. Ausschlaggebend dafür waren nicht nur taktische Gründe, sondern auch die Theorie einer „Zwei-Etappen- Revolution“ (zuerst bürgerlich, Inprekorr 5/2013 17 Dossier China dann proletarisch), die unter der Führung von Stalin und Sinowjew gegen Trotzki durchgesetzt wurde. Die Lage änderte sich rasch. Die KPCh erlangte einen gewissen Einfluss auf den Wogen einer regelrechten Revolte, die die städtische Bevölkerung ab 1924/25 erreichte. Ihre Kader wurden von den Truppen der Guomindang, die die drohende Gefahr erkannte, massakriert. Das Fehlen einer unabhängigen politischen Führung mündete 1927 in eine Katastrophe, für die Stalin unmittelbar verantwortlich war. Somit endete die „zweite chinesische Revolution“ und es begann eine neue Etappe. Die Überlebenden flüchteten aufs Land und gründeten dann eine „Rote Armee“, an deren Spitze sich nach und nach mit Mao Zedong ein neuer Führer durchsetzte, der 1934 einen „langen Marsch“ unternahm, um einem neuen Ausrottungsversuch zu entgehen. Chen Duxiu schloss sich der trotzkistischen Opposition an. Damals gab Mao der KPCh ein neues Gesicht, das durch seine bürokratische und autoritäre Funktionsweise alle Züge einer stalinistischen Partei trug. Aber Mao widersetzte sich immer offener der Fraktion von Wang Ming, der Stalin unmittelbar ergeben war und später von Mao ausgeschaltet wurde. Mao verteidigte sein „strategisches Hinterland“ und vertrat eine an die chinesischen Verhältnisse „angepasste“ Version des Marxismus, in deren Mittelpunkt die Erlangung der nationalen Unabhängigkeit stand. Deren zentraler Bestandteil waren die über Jahre hinweg erarbeitete Strategie des „verlängerten Volkskriegs“ und eine Armee, die sich auf die Bauernschaft stützte und von den wenigen Studenten aus den Städten, die den Massakern entkommen waren, eingerahmt wurde. Die befreiten Gebiete hielten sich, so sie konnten, wie etwa die „Räterepublik“ – allerdings ohne Räte! – von Shaanxi im Norden des Landes, die Mao jahrelang führte. Die Lage kippte, als die zuvor schon durch Korruption geschwächte Guomindang mit einem neuen Rivalen konfrontiert wurde: Japan, das 1931 in die Mandschurei und 1937 in das übrige Land einmarschierte. Die Massaker in Nanking forderten über 150 000 Opfer. Infolge der Zerstörungen und aller anderen begangenen Gräueltaten, der Hungersnöte und der Umsiedlung der Bevölkerung kostete der Krieg über 15 Millionen Menschenleben. Im Jahr 1937 schlossen sich die Guomindang und die KPCh gegen die japanischen Invasoren zusammen. Dies war eine spezielle Form von Volksfront, wie sie Stalin und seine Emissäre fortan überall propagierten. Das Bündnis mit der Guomindang war freilich eher formal 18 Inprekorr 5/2013 als real und die Gegnerschaft zwischen den Parteien hielt während des Krieges an. In der Auseinandersetzung mit Japan verkörperte die zur „Volksbefreiungsarmee“ gewandelte Rote Armee mehr als die Guomindang den Willen, für die Unabhängigkeit des Landes zu kämpfen, was in ihrer Fahne und der „Einheit der vier Klassen“, nach KP-Lesart aus den Arbeitern, der Bauernschaft, den Intellektuellen und der „patriotischen Bourgeoisie“ bestehend, zum Ausdruck kam. 1949 – 1976: der Maoismus Am 1. Oktober 1949 proklamierte Mao offiziell die Entstehung der „Volksrepublik China“. Für die Bourgeoisie und den Imperialismus war sie eine explosive und völlig neue Mischung. Während des II. Weltkriegs hatten die USA Chiang Kai-shek zum privilegierten Bündnispartner in der Region erhoben und China hatte einen Platz im Ständigen UNSicherheitsrat erhalten. Diese Erwartungen zerstieben allerdings schnell: Gegen alle Erwartungen und die Position Stalins, der den brüchigen Status quo der Verträge von Jalta so lange als möglich aufrecht erhalten wollte, ergriff die KPCh sehr schnell wieder die Offensive. Rasch gewann sie die Oberhand, indem sie sich auf die Bauernaufstände stützte, und errang den Sieg gegen das nationalistische Regime, das sich nach Formosa, dem heutigen Taiwan, flüchtete. Nach 1946 hatten große Teile der chinesischen Bourgeoisie damit begonnen, ihr Kapital ins Ausland abzuziehen. Dies geschah jedoch –zunächst – weniger aus Furcht vor einem möglichen Sieg von Mao, sondern weil Gewalt und Korruption unter dem nationalistischen Regime Chiang Kai-sheks ein unerträgliches Ausmaß angenommen hatten. Dadurch waren auch 1949 bestimmte Sektoren der Bourgeoisie und ganze Armeeeinheiten der Guomindang mit ganzer Ausrüstung zu Mao übergelaufen. Bis 1952 versuchte das neue Regime unverhüllt, das Bündnis mit dem Privatsektor im vorgeblichen Interesse der ganzen Nation zu festigen. Zur gleichen Zeit durchliefen die ländlichen Regionen Chinas eine tiefgreifende soziale Umwälzung, die in eine gewaltige Agrarreform einmündete, die sozialen Verhältnisse tiefgreifend veränderte und die Grundlagen für eine neue Gesellschaft legte. Dies stieß freilich auf gewisse Grenzen: Auf Versammlungen legten Millionen von Bauern ihre Verbitterung über die Großgrundbesitzer dar und stellten deren Macht infrage – so wie auch Frauen gegenüber ihren gewalttätigen Ehemännern – ohne allerdings in der Lage zu sein, eigenen Machtstrukturen Dossier China entgegen zu setzen, da weiterhin die Armee bestimmend war. Die Städte wurden buchstäblich wie ein Fremdkörper besetzt: In Shanghai bestand die erste Maßnahme der neuen Machthaber darin, die Arbeiter zu bitten, „normal zu arbeiten“. Agrarreform, nationale Unabhängigkeit, Vereinigung Chinas und Errichtung einer Volkswirtschaft, die den Bedürfnissen des Landes entspricht: Diese Zielsetzungen entsprachen eher denen einer radikal geführten „bürgerlich-demokratischen Revolution“, um einen marxistischen Terminus aufzugreifen. Die Annäherung an die UdSSR, der beginnende Kalte Krieg und seine nachfolgende Zuspitzung mit dem Koreakrieg änderten die Gegebenheiten. Ab 1953 verstaatlichte das maoistische Regime die gesamte Volkswirtschaft, ohne dabei andere Unterstützung als die der UdSSR zu haben. China schien damals das sowjetische Entwicklungsmodell zu kopieren mit der Erstellung eines Fünf-JahresPlans, dem bevorzugten Ausbau der Schwerindustrie und sogar dem Personenkult. Aber auch wenn sich beide auf den „Kommunismus“ berufen, so hat doch jeder von ihnen seine eigenen und mitunter auch entgegengesetzten nationalen Interessen. Die UdSSR wird von China beschuldigt, es in einem abhängigen Status halten zu wollen. Die Spannungen entladen sich schließlich 1960 in einem Bruch zwischen den beiden Staaten. Stalin war der „Erfinder“ des „Sozialismus in einem einzelnen Land“ gewesen. Nunmehr sollte jedes Land seinen eigenen „Sozialismus“ haben. Aber von welchem „Sozialismus“ sprechen wir eigentlich? Das zugrunde liegende Problem entsprach dem der UdSSR unter Stalin: Abgeschnitten vom Rest der Welt litt das Land unter seiner wirtschaftlichen Rückständigkeit und konnte sich nur weiter entwickeln und industrialisieren, indem die ursprüngliche Kapitalakkumulation auf dem Rücken der Bauern durchgeführt wurde. Der „Große Sprung nach vorn“ ab 1958 hatte zur Besonderheit, dass er sich nicht damit begnügte, den Druck auf die Bauern im Rahmen der „Volkskommunen“, die zugleich Produktions- und Verwaltungseinheiten mit bis zu mehreren Zehntausend Menschen waren, zu erhöhen. Sondern die Bauern mussten zugleich auch noch den fehlenden Stahl produzieren. Dies mündete in eine Katastrophe: Der Stahl war kaum verwertbar, aber zwischen 20 und 30 Millionen Menschen starben an Hunger aufgrund der Desorganisation der landwirtschaftlichen Produktion. Als „Flucht nach vorn“ lancierte Mao 1966 die „große Kulturrevolution“ – ein scheinbarer Aufruf an die Massen zur Mobilisierung gegen die Bürokratie, in Wahrheit China Peking Einwohner: 1,35 Mrd. BIP 2010: 4,5 Bio. € BIP 2011: 5,5 Bio. € BIP 2012: 6,2 Bio. € Wirtschaftswachstum: Es lag fast 15 Jahre lang im zweistelligen Bereich, weil die Investitionsrate sehr hoch lag (meist bei 40%). Inzwischen gehen die Wachstumraten deutlich zurück. Armut: Mehr als ein Drittel der Bevölkerung (nicht nur auf dem Land) gilt als extrem arm. Laut Menschenrechtsbericht der UN leben 34% der ChinesInnen mit weniger als 2 US $ am Tag. jedoch ein Machtkampf gegen Führungskonkurrenten, die immer offenere Kritik äußerten. Damit begann erneut eine Ära des Chaos, die auf eine Gleichschaltung der gesamten Bevölkerung hinauslief. Eine wichtige Rolle kam dabei der Armee zu. Die Ära des Maoismus lässt sich jedoch nicht auf diese Desaster reduzieren. Wenn auch um den Preis enormer Opfer, wurden in dieser Zeit – viel besser als bspw. in Indien – die Grundlagen für eine moderne Volkswirtschaft gelegt, ohne die die folgende Entwicklung gar nicht möglich geworden wäre. Insofern wurde das Ziel – eine unabhängige Volkswirtschaft – nach über 100 Jahren Fremdherrschaft erreicht. Die Unterentwicklung konnte damit allerdings nicht überwunden werden. Die „sozialistische Marktwirtschaft“ Der Wendepunkt lag noch zu Lebzeiten von Mao. Die USA litten damals unter dem verlorenen Vietnam-Krieg, auch wenn sie weiterhin in der Region einen gewissen Einfluss ausübten. So entschieden sie, China aus der Isolierung herauszuholen. Sinnbildlich für diesen ersten entscheidenden Schritt war die Reise Nixons nach Peking 1972. Dieser Strategiewechsel brachte bspw. die WestInprekorr 5/2013 19 Dossier China mächte dazu, das von der UdSSR unterstützte Vietnam wegen seiner Invasion in Kambodscha 1979 zu verurteilen und jahrelang die mit den Chinesen verbündeten Roten Khmer zu unterstützen. China ist seither offiziell wieder im Reigen der … kapitalistischen Nationen vertreten. Offen blieb lediglich noch der wirtschaftliche Wandel. Zwei Jahre nach Maos Tod setzte sich 1978 Deng Xiaoping als neuer starker Mann des Regimes durch. Nach der Ausschaltung der „Viererbande“ um Maos Witwe begann er mit Unterstützung der Partei eine Reformpolitik – die „vier Modernisierungen“ – die die Funktionsweise der Volkswirtschaft grundlegend änderte. Die Kollektivierung der Landwirtschaft wurde rückgängig gemacht, die Preise freigegeben, die Planwirtschaft verlassen, Privatunternehmen gefördert und v. a. Auslandskapital mit der Gründung der Sonderwirtschaftszonen zugelassen. Diese Öffnung galt ab 1992 für die gesamte Küstenregion Chinas, nachdem Deng ein neues Konzept propagiert hatte – den „Marktsozialismus“, der Sozialismus und Kapitalismus angeblich versöhnen würde. Das Ergebnis war spektakulär und das jährliche Wirtschaftswachstum lag bei über 10 %, wodurch China (am BIP gemessen) zur zweitstärksten Weltwirtschaftsmacht wurde. Zugleich blühte eine neue Bourgeoisie auf, in der verschiedene Elemente der Elite zusammenfanden: nämlich die Staatsbürokratie, die ins Ausland geflohenen vormals herrschenden Familien, die erheblich für die nach China fließenden Direktinvestitionen verantwortlich zeichne(te)n, und verschiedentlich auch ihre im Land verbliebenen „Vettern“, zu denen der Kontakt selbst in den härtesten Zeiten der Mao-Ära nie ganz abgerissen war. Nach dem Beitritt zum IWF, zur Weltbank und zur WTO zu Beginn des Jahrtausends ist China inzwischen wieder in die Führungsinstanzen der kapitalistischen Welt integriert. Manches bleibt freilich widersprüchlich, etwa dass der Index für menschliche Entwicklung (HDI) weiterhin auf dem Niveau eines Entwicklungslandes ist und zugleich die Ungleichheiten in der Fläche und der Gesellschaft erheblich zugenommen haben. Ein Teil der Bauernschaft wurde von den Ortsgewaltigen buchstäblich enteignet und mehrt seither das Heer der rechtlosen inneren Emigranten in den Großstädten der Küste. Während der letzten 20 Jahre sind 30 bis 40 Millionen Arbeiter aus den großen Staatsbetrieben entlassen worden. Zugleich sind durch die rasante Entwicklung der Gesellschaft neue Ansprüche entstanden, besonders unter den Mittelschichten. Im Frühjahr 1989 besetzten StudentInnen wochenlang den Platz vor dem Tian’anmen in Peking, um 20 Inprekorr 5/2013 Demokratie zu fordern, bevor sie gewaltsam unterdrückt wurden. Seitdem bemüht sich das Regime um ein Gleichgewicht: Zuckerbrot und („moderate“) Peitschenhiebe für die Armen; erkauftes Wohlwollen der Mittelschichten durch Konsum; Moderation der schlimmsten Exzesse, die durch die Habgier der reichsten Schichten entfacht werden. Bis heute scheint dieser Übergang (bei ganz anderen geschichtlichen Voraussetzungen als in der UdSSR) zu gelingen. Allerdings lasten noch gewaltige Widersprüche auf dem Land. Übersetzung MiWe 1 Maddison, Angus: Weltwirtschaft: Eine Millenniumsperspektive, OCDE, 2003 China im weltweiten Kräfteringen „Wir stehen auf hoffnungsvollen Feldern“ (Titel eines Revolutionsliedes aus der Mao-Ära). Jean Sanouk China gilt gemeinhin als neue Großmacht, das die internationalen Verhältnisse mittlerweile nachhaltig beeinflusst. Problematisch ist allerdings, die tatsächliche Stärke des Landes zu beziffern, da die undurchsichtigen politischen Verhältnisse und die nur bedingte Glaubwürdigkeit offizieller chinesischer Statistiken zur Zurückhaltung mahnen. Nichtsdestotrotz gibt es eine Reihe harter Fakten, die uns veranlassen, unsere Einschätzung der Weltlage zu überdenken. Ein beispielloses Wachstum … China ist weltweit zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht aufgestiegen, wenn man das BIP als Gradmesser der wirtschaftlichen Aktivität zugrunde legt. Darin hat Dossier China China Japan 2010 überflügelt und 2012 fast die Hälfte des US-amerikanischen BIP erreicht. Es ist zweieinhalb Mal so stark wie die deutsche Wirtschaft und dreimal so wie die französische. Das Wachstum der letzten 20 Jahre verlief so rasend schnell, wie es für ein Land dieser Größenordnung noch nie gesehen wurde. Auf der anderen Seite relativiert sich dieser Fortschritt, wenn man das BIP pro Kopf zugrunde legt, das näherungsweise, aber zutreffend den Lebensstandard der Bevölkerung widerspiegelt. Noch im Jahr 2000 wurde damit argumentiert, dass das BIP pro Kopf in China halb bis dreiviertel so hoch sei wie in Algerien, Marokko oder Tunesien, um China damit als Dritte-Welt-Land abzutun und das Ausmaß seiner Entwicklung zu schmälern. Inzwischen (2012) hat China Algerien darin eingeholt und Marokko und Tunesien um das zwei- bzw. eineinhalbfache überflügelt und damit erneut durch seine Dynamik die Auguren verblüfft. Zwar liegt der Lebensstandard noch immer nur bei 12 % des US-amerikanischen und bei 15 % des französischen Niveaus, aber diese verallgemeinernde Sichtweise lässt einen wesentlichen Umstand außer Acht, nämlich die zunehmende Ungleichheit bei der Einkommensverteilung. Ein Ergebnis davon ist auch, dass eine – vereinfacht gesprochen – Mittelklasse mit etwa 370 Millionen Menschen entstanden ist.1 Die Mehrheit von ihnen lebt in den Küstenprovinzen, wo das Wirtschaftswachstum schneller verläuft. Die Entwicklung dieser „Mittelklasse“ erweist sich als Trumpf in der Hand des bürokratischen Kapitalismus in China, zumal die wachsende Ungleichheit Unzufriedenheit erzeugt, worauf wir weiter unten eingehen.2 China wird allgemein als „die Werkstatt der Welt“ angesehen, ist aber zugleich auch deren Handelszentrum.3 China ist zum Hauptabnehmer sehr vieler Rohstoffe, Zwischenprodukte, dauerhafter Konsumgüter und v. a. Luxusgüter geworden. Die multinationalen Konzerne reißen sich darum, in China zu produzieren aber auch zu verkaufen. Die chinesische Wachstumsdynamik hängt teilweise von den Exporten, die diese Multis tätigen, ab. Zugleich wächst aber auch der chinesische Binnenmarkt und dies birgt, auch wenn der Binnenkonsum noch relativ wenig zum BIP beiträgt, für China erhebliches Potenzial. …mit weltweitem Einfluss Seit Ausbruch der internationalen Wirtschaftskrise 2007/08 hat China alle Prognosen durchkreuzt, indem das Wachstum dort auf hohem Niveau verblieben ist. Aus der ganzen Welt wurden enorme Mengen an Rohstoffen und Vorprodukten importiert, was zu einem wahren Boom in diesen Sektoren geführt und viele Länder in Lateinamerika, Afrika und der Pazifikregion dazu veranlasst hat, sich noch stärker und mitunter mit all den Kehrseiten auf Rohstoffe zu spezialisieren. Darüber hinaus ist China zum größten oder einem der größten Abnehmer oder Lieferanten für sehr viele Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika geworden. Hiervon hat auch der chinesische Kapitalismus profitiert. Chinas Regierung hat auf dem Verhandlungsweg die Märkte dieser Länder für den Export chinesischer Industriegüter erschlossen. Viele Kaftane, die in Afrika verkauft werden, sind inzwischen „made in China“. Zugleich wurden Verträge ausgehandelt, die den chinesischen Unternehmen Direktinvestitionen im großen Stil in den Ländern des Südens ermöglichten, um Rohstoffe, aber auch Industriegüter zu erzeugen und gewaltige Infrastrukturprojekte (Häfen, Straßen, Schienenwege, Elektrizitätsnetze, Öl- und Gasleitungen) zu errichten. Diese Investitionen waren nicht nur spektakulär, weil völlig ungewohnt, sondern auch weil die chinesischen Unternehmen vorwiegend chinesische statt einheimische ArbeiterInnen beschäftigten und damit Unfrieden stifteten. In den kapitalistischen Metropolen versuchen die chinesischen Unternehmen bei jeder Gelegenheit technologisch hochentwickelte Unternehmen zu kaufen, um somit den „Großen Sprung nach vorn“ zu machen, aber diesmal in Wirklichkeit und auf der wissenschaftlichen und technischen Ebene. Damit wiederholen sie das, was die japanischen Firmen in den 70er und 80er Jahren vorgemacht haben und die koreanischen in den beiden Folgejahrzehnten. All dies trägt dazu bei, chinesische multinationale Konzerne zu schaffen, was den Aufschwung des bürokratischen Kapitalismus weiter befördert und die Grundlagen für einen chinesischen Imperialismus als Konkurrenten zu den bestehenden legt. Ein unaufhaltsamer Aufstieg? Chinas Aufstieg in die Reihen der entwickelten kapitalistischen Länder scheint mittelfristig unaufhaltsam, zumindest solange es immer mehr Fortschritte gibt. Insofern ist der Ausbau der Armee und der Polizei nur folgerichtig. Dabei trachtet China nicht danach, den USA als neuer Weltgendarm Konkurrenz machen zu wollen. Lieber soll der US-Imperialismus sich in teuren Kriegen fernab der Heimat verausgaben, während sich China auf seine strategischen Interessen konzentriert: die militärische Kontrolle des Südchinesischen Meers, das für die Versorgung auf dem Seeweg unerlässlich Inprekorr 5/2013 21 Dossier China ist; die Einflussnahme auf die Straße von Malakka als wichtigen Handelsweg und die Ausdehnung der Einflussnahme im Indischen Ozean mit der Errichtung von Handels- und Militärhäfen in Birma. Insofern muss China unter Beweis stellen, dass es der Vormachtstellung der US-Kriegsflotte trotzen kann. Dies erklärt die massiven Investitionen in die immer ausgefeiltere Ausrüstung seiner Armeen. Anscheinend hat die aktuelle US-Regierung diese Gefahr erkannt und versucht, sich aus Afghanistan und Irak zurückzuziehen, um sich wieder verstärkt im asiatischpazifischen Raum zu engagieren, was unter der Regierung Bush in ihrem wahnhaften „Krieg gegen den Terrorismus“ vernachlässigt worden war. Dies erklärt den Ausbau der US-amerikanischen Militärpräsenz und die Eile, einen Transpazifischen Pakt abzuschließen, der als ausgedehnte Freihandelszone der Länder im asiatisch-pazifischen Raum China außen vor lassen würde. Eine solche Entwicklung steckt voller Spannungen, wie die wiederholten Konflikte um die Souveränität bestimmter Inselgruppen und der dort vermuteten Vorkommen zeigen oder auch der Starrsinn führender japanischer Politiker, ihre Kriegsverbrecher in Ehren zu halten. Aber eher als ein – wenig wahrscheinlicher – äußerer Konflikt stehen dem weiteren Aufstieg Chinas v. a. interne Widrigkeiten im Wege. Die kapitalistische Restauration in China infolge der politischen Konterrevolution um Deng Xiaoping nach 1978 mit ihrem Gipfelpunkt im Tian’anmenMassaker 1989 hat zu enormen wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen geführt. Infolgedessen sind die Ungleichheiten massiv gewachsen und mit ihnen die mitunter sehr heftigen sozialen Auseinandersetzungen: Aufstände der Bauern und manchmal ganzer Dörfer und Städte gegen die Landenteignung durch die lokalen Behörden und skrupellose Unternehmen sowie Arbeiterstreiks gegen die verschärfte Ausbeutung und für höhere Löhne. Diese Kämpfe von unten zeigen, dass die chinesischen ArbeiterInnen nicht bereit sind, die einseitig von den Bürokraten und Bossen getroffenen Entscheidungen widerstandslos hinzunehmen. Bisher allerdings sind die Kämpfe zu zersplittert und nicht landesweit organisiert. Dies liegt u. a. an dem enormen Polizeiapparat, der mitunter größere Mittel schluckt als der Militäretat und der die chinesische Bevölkerung mundtot macht und oppositionelle Regungen brutal unterdrückt. Darüber hinaus aber genießt das bürokratische Regime tatsächliche Legitimität aufgrund des soliden Wirtschaftswachstums, das wiederum den Nationalismus nährt, der nach der als Erniedrigung erlebten Kolonialbesatzung von der Wiederkehr Chinas auf der interna22 Inprekorr 5/2013 tionalen Bühne in einstiger Größe träumt. Die Regierung versteht es, diesen Nationalismus zu unterhalten, um ihn so besser zu steuern und für sich zu instrumentalisieren. Auf ökonomischer und sozialer Ebene werden durch das starke Wachstum die Gegensätze durch die zunehmende Ungleichheit gemildert. Wenn eben die Einkommen der großen Mehrheit durch die Konjunktur steigen, fällt es weniger ins Gewicht, dass die einen mehr davon profitieren als die anderen, als wenn sich eine Minderheit bereichert, während die Mehrheit verarmt. Voraussetzung ist, dass auch künftig die Wachstumsrate bei etwa 7 – 8 % liegt, ansonsten würden Ungleichheit und Korruption der Eliten kaum mehr toleriert. Aus diesem Grund auch hat die Regierung sofort ein gewaltiges Konjunkturprogramm aufgelegt, mit dem 2008 und 2009 sowie (begrenzt) 2012 die Wirtschaft erfolgreich angekurbelt werden konnte. Seit dem Ausbruch der internationalen Krise 2008 hat die Wachstumsquote des BIP immer über 9 % gelegen, was zwar unter den Ausnahmewerten des ersten Jahrzehnts (10,3 %) lag, aber angesichts der nachlassenden Nachfrage aus Europa und den USA nach chinesischen Produkten noch immer beachtlich war. Im Jahr 2012 hat sich das Wachstum mit 7,8 % ein wenig abgeschwächt und dürfte 2013 dank Konjunkturmaßnahmen bei 8 % liegen. Diese Maßnahmen haben jedoch auch ihre Kehrseite, die schwer in den Griff zu kriegen ist, nämlich eine zunehmende Verschuldung der öffentlichen Stellen und der Unternehmen, die sich in abenteuerliche und kaum profitable Investitionsprojekte stürzen. Eine Gratwanderung Es ist schwierig, das tatsächliche Ausmaß dieses Verschuldungsproblems zu ermessen, auch wenn sich die Fälle abenteuerlicher Finanzmanöver von Kommunen häufen und die Presse von Fällen berichtet, wo Überinvestitionen an den Rand des Ruins geführt haben, wie etwa in der Eisenbahnindustrie. Nach den letzten offiziellen Statistiken liegt die öffentliche Verschuldung weiterhin im Rahmen: die der Zentralregierung bei 15 % des BIP (Ende 2012) und die der Kommunen bei 23 % (Ende 2011), woraus sich eine Gesamtverschuldung von 38 % ergibt. Damit liegt China weit unterhalb der USA (103 %) oder Japans (213 %) und ist weit von katastrophalen Zuständen entfernt, zumal weniger als 1 % der öffentlichen Verschuldung vom Ausland getragen wird – gegenüber 9 % in Japan, 41,8 % in den USA und 63,8 % in Frankreich. Problematischer hingegen sind die von der Niedrigzinspolitik der Zentralbank getragenen Spekulationsblasen, na- Dossier China mentlich im Immobiliensektor, wobei andererseits natürlich ein immenser Wohnraumbedarf im Land besteht. Gerade hierüber bereichern sich viele Mitglieder der Bürokratie, weswegen sie naturgemäß wenig Interesse am Gegensteuern seitens der Regierung haben. Und auch die Haushalte, die sich über beide Ohren beim Wohnungskauf verschuldet haben, wären wenig begeistert, wenn der Wert ihrer jeweiligen Immobilie durch inflationshemmende Maßnahmen einbräche. Auch die Inflation der Nahrungsmittelpreise ist ein heikles Problem, zumal dadurch die Unzufriedenheit der ärmsten Haushalte geschürt wird. Bis dato sind die Gegenmaßnahmen der Regierung zur Eindämmung dieser „Kollateraleffekte“ relativ erfolgreich. Aber in einem Land, das an Korruption krankt und kein demokratisches Korrektiv kennt, ist die Macht der Zentralregierung begrenzt: die Provinzfürsten sind mächtig und innerhalb der Bürokratie gehen die politischen und materiellen Interessen auseinander. Wenn die internationale Krise andauert, wird jedoch ein neues Konjunkturprogramm kaum zu umgehen sein. Langfristig kann das Problem nur gelöst werden, indem das Wirtschaftswachstum durch den Binnenmarkt induziert wird, die Priorität also den sozialen Bedürfnissen und der Umwelt eingeräumt wird. Damit würde zugleich die Abhängigkeit von den Exporten sinken. Gegenwärtig beträgt der Verbrauch der chinesischen Haushalte trotz des maßlosen Verbrauchs der privilegierten Schichten nur 32 % des BIP – zum Vergleich: 60 % und mehr in den OECD-Ländern. Die Konsequenz wäre, die Löhne kräftig zu erhöhen, die Ungleichheit zu reduzieren und das mit der kapitalistischen Restauration abgeschaffte soziale Sicherungssystem wieder herzustellen. Wie in den anderen kapitalistischen Ländern kollidieren solche Maßnahmen mit den Interessen der herrschenden Klasse. Erschwerend kommt hier hinzu, dass es keine demokratischen Freiheiten gibt und keinen politischen Gestaltungsspielraum für graduelle Reformen, wie ihn die europäische Sozialdemokratie vor ihrer Hinwendung zum Neoliberalismus hatte. Die Zukunft wird weisen, wie lange China seine Wachstumsraten beibehalten kann, ohne die Einkommen radikal umzuverteilen und dadurch den Binnenmarkt zu stärken. Und wie lange die polizeiliche Repression der Gesellschaft verhindern kann, dass sich die Unzufriedenheit kollektiven Ausdruck und Gegenwehr verschafft. Übersetzung MiWe 1 Der Begriff der Mittelklasse ist wegen seiner Definition, seiner Kriterien und der politischen Schlussfolgerungen umstrit- ten. In dem Bericht der Asiatischen Entwicklungsbank von 2010 wird bei der Zählung einzig das absolute Einkommen zugrunde gelegt. Nach den dortigen Angaben lagen 2005 die Einkommen von 442,82 Millionen ArbeiterInnen zwischen 2 und 4 Dollar pro Tag, für 328,18 Millionen zwischen 4 und 10 Dollar, für 46,16 Millionen zwischen 10 und 20 Dollar und für 8,86 Millionen darüber. Definiert man als Mittelklasse diejenigen, die zwischen 4 und 20 Dollar am Tag verdienen, so kommt man auf 374 Millionen und damit auf 6 % der erwerbstätigen Bevölkerung, die damals 817,16 Millionen betrug. 2 Vergleiche hierzu Au Loong Yu: China‘s Rise: Strength and Fragility Merlin Press 2012 3 Vgl. hierzu das Kapitel China: unavoidable rise or possible decline? In Au Loong Yu, op. cit. Arbeiterklasse im Wandel „Die Kommunistische Partei ist gut. Das Volk ist glücklich.“ (Liedtitel aus vergangenen Tagen) Pierre Rousset Seit der Ära des Maoismus hat sich die Struktur des chinesischen Proletariats (Zusammensetzung, Sozialstatus, Lebensstandard, Bewusstsein etc.) so tiefgreifend gewandelt, dass wir inzwischen sogar von einer komplett verschiedenen Arbeiterklasse sprechen können. China hat nach 1911 ein Jahrhundert der Revolutionen und Konterrevolutionen mit sukzessiven „Modernisierungen“ erlebt.1 Dabei wurde die Klassenstruktur des Landes zweimal umgewälzt, nämlich nach der Machtergreifung der KPCh 1949 und später im Gefolge der prokapitalistischen Reformen in den 1980er und 90er Jahren. Sämtliche soziale Schichten waren davon betroffen. Die einen haben sich zersetzt und andere sind emigriert – wie bspw. der einstmals auf dem Lande allmächtige Landadel oder das Handels- und Industriekapital in den Städten. Dafür sind andere neu entstanden, etwa die Bürokratie als „Kaste“, die von der ausschließlichen Kontrolle über den Staat profitiert, oder aber in neuer Gestalt „wiederauferstanden“ wie die chinesische Bourgeoisie, die im Vergleich zu früher völlig verändert erscheint und deren Verhältnis zum Imperialismus nicht mehr subaltern, sondern geradezu eroberungslustig ist. Sie trägt die typischen Merkmale einer Inprekorr 5/2013 23 Dossier China „bürokratischen Bourgeoisie“, wie Au Loong-Yu sie nennt. Von diesen Umwälzungen wurden weder die Arbeiterklasse noch die Bauernschaft ausgenommen. Durch die Revolutionen und Konterrevolutionen wurden Status, Zusammensetzung und Selbstbewusstsein des Proletariats radikal geändert (was übrigens für die Bauernschaft genau so gilt, aber wovon hier nicht die Rede sein wird). Diese Umwälzungen haben ganz besondere Charakteristika, die auf die Besonderheiten des maoistischen Regimes zurückzuführen sind. Vom beneidenswerten Status nach 1949 … Vor etwa 100 Jahren erlebte China die ersten Industrialisierungswellen, wobei die industrielle Arbeiterklasse (mit schätzungsweise 1,5 Millionen Anfang der 1920er Jahre) weiterhin marginal im Vergleich zu den mindestens 250 Millionen Bauern blieb. Nur in einzelnen Regionen wie den großen Küstenstädten des Südens, dem Gebiet um den mittleren Jangtsekiang oder der nördlichen Mandschurei war sie in richtig großen Fabriken konzentriert. In der Textilbranche hingegen dominierte weiterhin die handwerkliche Produktion und das städtische Halbproletariat bestand überwiegend aus prekär Beschäftigten, Plebejern und Kulis (Handlanger, Tagelöhner, Lastenträger). Die junge Arbeiterbewegung spielte während der Revolution von 1925 eine bedeutende Rolle, wurde aber von der Konterrevolution 1927 überrollt und dann bei der japanischen Invasion unterjocht. Mit der Dezimierung in den Städten verlor die Kommunistische Partei i. W. ihre ursprüngliche Basis. Nach der Kapitulation Japans führte die Arbeiterklasse eine Reihe großer Abwehrstreiks gegen die Hyperinflation, verfügte aber nicht mehr über eigene politische Organisationen und Traditionen. Grob gesprochen ist gemeinsam mit der Volksrepublik China eine neue Arbeiterklasse entstanden. Von vormals 3 Millionen 1949 wuchs sie auf 15 Millionen 1952 und auf 70 Millionen 1978. Die politisch gewollte Schaffung eines Riesenheeres von Lohnabhängigen („Niedrige Löhne, aber viele Arbeitsplätze“) schuf ein Arbeiterheer in den neu entstandenen städtischen Staatsbetrieben, das einen exklusiven und begehrten Status als „Arbeiter und Angestellter“ mit allerhand sozialen Vorzügen genoss, nämlich Wohnraum, Lebensmittelgutscheine, kostenlose Bildung, Gesundheitsversorgung, Einkaufsläden, lebenslang garantierter Arbeitsplatz, Rente etc. – den sog. „eisernen Reistopf “. Alle ArbeiterInnen waren jeweiligen Unternehmen und Arbeitsstätten zugeordnet, so wie bspw. in Frankreich die Beamten einem bestimmten Posten. Mit Erreichen 24 Inprekorr 5/2013 des Rentenalters konnten die ArbeiterInnen diesen Status häufig auf ein anderes Familienmitglied übertragen. Aufgrund ihrer vergleichsweise großen Privilegien gegenüber – abgesehen von den Staats- und Parteifunktionären – dem Rest der Bevölkerung bildete die Arbeiterklasse lange eine solide Basis für das maoistische Regime und konnte bei Bedarf gegen Intellektuelle und aufrührerische Studenten mobilisiert werden. Sie verfügte über ein hohes soziales Selbstbewusstsein, aber über keine politische Autonomie, sondern blieb der KPCh mangels unabhängiger Gewerkschaften oder wegen des nicht existenten politischen Pluralismus untergeordnet. …zur politischen Niederlage Die Arbeiterklasse des staatlichen Sektors wurde als letzte von der Krise des maoistischen Regimes getroffen, auch wenn sie den Unruhen der „Kulturrevolution“ (1966–1968) nicht entgehen konnte, wo die – noch immer existenten – Vertragsarbeiter gegen die Festangestellten vorgingen. Während der damaligen großen Krise wurden auch grundlegende soziale und demokratische Forderungen erhoben, aber nur wenige der radikalen Bewegungen verstanden es, sich dem inneren Machtkampf der Staatspartei zu entziehen. Mangels eigener Perspektiven versank die soziale Revolte in den blutigen Fraktionskämpfen, bis mit Hilfe der Armee eine besonders autoritäre bürokratische Diktatur dem Chaos ein Ende bereitete. Deng Xiaopings Rückkehr an die Macht 1978 wurde als Wiederkehr der politischen Vernunft empfunden: kulturelle Liberalisierung, expliziter Pragmatismus, teilweise Entkollektivierung auf dem Land, Arbeiterkooperativen etc. Ursprünglich erschienen die sozialen und ökonomischen Reformen gar nicht als prokapitalistisch, obwohl mit ihnen die kapitalistische Restauration in China binnen 20 Jahren eingeläutet wurde. Zunächst wurden durch die Lockerungen des Regimes die sozialen Spannungen freigesetzt: Arbeiterstreiks (1976/77), Protestmärsche der Bauern, Demokratiebewegung (1978/79) etc. Die Proteste erreichten ihren Höhepunkt 1989 und stellten die äußerst gespaltene KP-Führung vor eine entscheidende Wahl, nämlich die Demokratisierung weiter voranzutreiben oder sie brutal zu unterdrücken. Schließlich schlug die Armee die Proteste auf dem Tian’anmen-Platz in Peking blutig nieder und auf die Provinzen prasselte die Repression nieder. Der sozialen Protestbewegung wurde damit eine tiefe Niederlage zugefügt. Die kapitalistische Restauration in China führte zwangsläufig zum Untergang der Arbeiterklasse, wie sie Dossier China unter dem maoistischen Regime entstanden war. Nicht mehr der Arbeit, sondern der Bereicherung (Einzelner) gebührte fortan die Ehre. Zahlreiche Staatsunternehmen wurden auf die Privatisierung vorbereitet, der Arbeitsrhythmus in der Produktion verschärft und die sozialen Sicherungen abgebaut. Die Arbeiterklasse des staatlichen Sektors wehrte sich massiv gegen dieses Reformprogramm, was punktuell zu Erschütterungen führte. Viele Unternehmensführungen handelten lieber Kompromisse mit den Beschäftigten aus, statt zu ihnen auf Konfrontation zu gehen. Das chinesische Proletariat war außerstande, dem Regime eine politische Alternative entgegen zu setzen, wie umgekehrt das Regime außerstande war, den Lohnabhängigen gegenüber seine Politik durchzusetzen. Daher entschloss es sich, diese widerspenstige Arbeiterklasse en bloc aus der Produktion zu entfernen und versetzte etwa 40 Millionen festangestellte Arbeiter in den Ruhestand, um somit tabula rasa zu machen. Die WanderarbeiterInnen als neues Proletariat Auch in Frankreich werden Beamte durch „freie“ Lohnabhängige ersetzt, mit dem Unterschied, dass ein Privatsektor bereits vorhanden ist. In China wurde eine Schicht qualifizierter Arbeiter, Techniker und Ingenieure aus dem vormals staatlichen Sektor weiterbeschäftigt, aus dem Gros der Lohnabhängigen hingegen wurde eine neue Arbeiterklasse geformt, wobei einmal mehr die Bauernschaft das Personal dafür lieferte. Dafür bediente sich das Regime derjenigen Arbeitskräfte, die der Willkür schutzlos ausgeliefert waren, der Einheimischen ohne feste Aufenthaltsgenehmigung. Denn die Bauern haben in der Tat nicht das Recht, sich im eigenen Land frei zu bewegen, sondern brauchen eine Genehmigung, wenn sie sich außerhalb ihres Geburtsorts niederlassen wollen. Zwar gibt es diese Verwaltungsmaßnahme schon seit ewiger Zeit, aber unter der KPCh wurde sie dazu genutzt, die Landflucht hin zu den Städten und Küstenregionen zu begrenzen und die politische Kontrolle zu stärken. Trotzdem konnte die Landflucht nicht unterbunden werden und schuf ein Heer von Illegalen, das umso leichter auszubeuten ist, als es aus entwurzelten Landbewohnern ohne kollektive Kampferfahrung und ohne Kenntnis der sozialen Rechte besteht und die perspektivisch in ihr Heimatdorf zurückkehren wollen. Darin liegt der Nährboden für einen ungezügelten Kapitalismus mit seinen rechtsfreien Zonen. Der Gewerkschaftsverband Chinas als einzige legale Gewerkschaftsorganisation hat nichts zum Schutze dieser „WanderarbeiterInnen“ unternommen. Dafür entstanden zahllose Bürgerinitiativen, die sich oftmals am Rande der Legalität halten und den Rechtlosen Hilfe leisten. So wurden Schulen gegründet, um ansonsten nicht einschulbare Kinder aufzunehmen. Oder „Barfußanwälte“ (in Anlehnung an die „Barfußärzte“ zu Zeiten der Revolution) stellten ihre Dienste kostenlos zur Verfügung, um die WanderarbeiterInnen über ihre Rechte zu belehren. Oder es wurden Erhebungen und Kampagnen gestartet, um gegen die schweren Gesundheitsgefährdungen (durch den Umgang mit giftigen Substanzen etc.) dieser Menschen zu protestieren. Dabei ist ein regelrechtes solidarisches Netzwerk entstanden. Inzwischen drängt die zweite Generation von WanderarbeiterInnen auf den Arbeitsmarkt. Im Unterschied zu ihren Vorgängern wollen sie nicht wieder auf das Land zurückkehren und kennen ihre soziale Umgebung, in die sie hineingeboren worden sind. Wie in Frankreich auch erscheint mitunter der Selbstmord als einziger Ausweg aus nicht hinnehmbaren Arbeitsbedingungen. Aber insgesamt ist diese Generation besser für den Kampf gewappnet als die vorhergehende, zumal sich ein Arbeitskräftemangel bemerkbar macht. Daher sind die Behörden gezwungen, die Aufenthaltsbeschränkungen für die (ehemaligen) Landbewohner zu lockern. Es kommt zu Kämpfen und auch zu siegreichen. Von dieser Generation handelt das nachfolgende Interview mit Au Loong-Yu und Bai Ruixue. Die Achillesferse auch dieser zweiten Generation bleibt die Organisationsfrage. Die offiziellen Gewerkschaften sind seit jeher bloße Transmissionsriemen der Behörden oder der Unternehmer und kommen kaum als potentielle Kampforgane des politischen oder sozialen Protests infrage. Die Staatspartei erlaubt noch immer nicht die Gründung unabhängiger Organisationen und setzt dieses Verbot auch durch. Insofern besteht eine doppelte Hürde, von der man nicht weiß, wie sie überwunden werden kann. Sicher ist nur, dass sie überwunden werden wird. Übersetzung: MiWe 1 Vgl. auf ESSF die Artikel 11137 ff. Pierre Rousset, La Chine du XX siècle en révolutions, www.europe-solidaire.org/spip. php?article11137 Inprekorr 5/2013 25 Dossier China Gewerkschaftsbewegung und Arbeiterkämpfe in China Interview mit Au Loong-Yu und Bai Ruixue, geführt von Pierre Rousset Die taiwanesische Firma Foxconn beschäftigt in China über 1,5 Millionen Lohnabhängige, die elektronische Bauteile für Firmen wie Apple herstellen. Sie hat angekündigt, die Wahl von Gewerkschaftsvertretern im Juli 2013 zuzulassen. Sind Eurer Meinung nach demokratische Gewerkschaftsvertretungen auf Unternehmensebene in einem autoritären Staat möglich? Laut westlichen Medienberichten handelt es sich angeblich um den ersten Versuch, eine gewerkschaftliche Organisierung bei Foxconn herzustellen. Dies ist so nicht richtig. Bereits 2007 hat der Dachverband der Gewerkschaften in China (ACFTU) öffentlich verkündet, eine betriebliche Gewerkschaftsgliederung in einem Foxconn-Werk gegründet zu haben, wo kurz zuvor ein Betriebskampf stattgefunden hatte. Die Tageszeitung Southern Metropolitan Daily hat ein Interview mit Arbeitern dieses Unternehmens geführt. Diese meinten, nicht zu wissen, was eine Gewerkschaft ist oder dass sie nur im äußersten Notfall Kontakt mit der Gewerkschaftsgliederung aufnehmen würden. Insofern gibt es zumindest in Shenzhen bereits eine Gewerkschaft bei Foxconn, aber niemand weiß, ob diese irgendwas für die Beschäftigten unternommen hat. Vor nicht einmal zwei Wochen sind zwei Arbeiter von Foxconn Zhengzhou in den Tod gesprungen, nachdem die Unternehmensleitung unangekündigt ihren Beschäftigten Redeverbot während des mehr als 10-stündigen Arbeitstages erteilt hat. Dies hat etliche zur Verzweiflung gebracht. Foxconn ist bekannt dafür, seinen Beschäftigten eine militärische Disziplin aufzuerlegen. Allein 2010 haben sich 14 Arbeiter das Leben genommen. Da fragt man sich, was die ACFTU jemals unternommen hat, Foxconn daran zu hindern, die Beschäftigten wie Sklaven zu behandeln. Wenn es 26 Inprekorr 5/2013 eine tatsächliche Gewerkschaftsvertretung in einem Betrieb gibt, wie kann dann die Direktion ein Redeverbot ohne vorherige Rücksprache erlassen? Unseres Erachtens kann es keine demokratische gewerkschaftliche Vertretung in den Betrieben geben, solange es keine bürgerlichen Freiheiten im Land gibt. Dies zeigt die Erfahrung bei den Neuwahlen zum Betriebsrat bei Honda Foshan. Die Beschäftigten dort haben 2010 einen heroischen und siegreichen Kampf geführt und die Unternehmensleitung und den ACFTU-Ortsverband nicht nur dazu gezwungen, einer Lohnerhöhung zuzustimmen, sondern auch eine Neuwahl des Betriebsrats zu gewährleisten. Eine NRO hat 2012 Nachforschungen über diese Neuwahlen angestellt und herausgefunden, dass trotz der Beteuerungen der KP- und der Gewerkschaftsführung von Guangdong über die angebliche Beachtung des demokratischen Wahlrechts der Beschäftigten nur eine Teilwahl stattgefunden hat, bei der nur ein Teil der Gewerkschaftsführung neu bestimmt wurde. Insbesondere hat der alte Betriebsratsvorsitzende, gegen den sich die Streikenden besonders gewandt haben, seinen Sitz behalten. Im Jahr 2011 hat dann endlich eine vollständige Wahl unter der Aufsicht des Ortsverbandes stattgefunden. Nach den geltenden Statuten der ACFTU hat jedoch die scheidende Führung die Nominierung der Kandidaten für den neuen Betriebsrat für sich alleine beansprucht. Dadurch konnten leitende Angestellte nicht nur als Delegierte auf dem Gewerkschaftskongress fungieren sondern genossen auch ein überproportionales Vertretungsrecht im Vergleich zu den einfachen Arbeitern. Folglich wurden Angehörige des Managements in die Gewerkschaftsführung gewählt, während die Aktivisten, die 2010 den Streik geführt hatten, abgewählt wurden. Nach den vollständigen Betriebsratswahlen wurden Wahlen auf Abteilungsebene und unter den Basisgliederungen durchgeführt. Deren Ablauf wurde absichtlich so umständlich und langwierig organisiert, dass Manipulationen von oben Tür und Tor geöffnet waren. Kürzlich erst, am 18. März 2013 sind die Beschäftigten bei Honda Foshan erneut in Streik getreten, um gegen ein Lohnanpassungsprogramm zu protestieren, das vom Management und dem Betriebsrat vorgelegt worden war. Danach würden nach Ansicht der Beschäftigten nur die höchsten Lohngruppen profitieren, während die untersten benachteiligt wären. Die Streikenden erreichten, dass den beiden untersten Lohngruppen die kräftigsten Lohnerhöhungen zugestanden wurden. Dossier China Dieser Streik zeigt, wie begrenzt die Fähigkeit der Gewerkschaft ist, die Interessen der Beschäftigten zu vertreten, und wie gering die Rückkopplung mit der Basis ist, wenn diese die Gewerkschaftsführung wiederholt umgehen und selbst einen Streik auf die Beine stellen muss, um ihre Rechte zu verteidigen. Und in Wirklichkeit waren die Beschäftigten der Ansicht, dass die Gewerkschaft und die Unternehmensleitung identische Positionen vertreten würden. Zwei Wochen später wurde in einem anderen Betrieb, der Elektronikfirma Ohms in Shenzhen der Betriebsratvorsitzende Zhao Shaobo von den Beschäftigten zum Rücktritt aufgefordert. Zhao war im Vorjahr in diese Position gewählt worden, nachdem die Beschäftigten für das Recht in Streik getreten waren, ihre eigenen Vertreter selbst wählen zu dürfen. Indessen beschuldigten nunmehr einige Beschäftigte Zhao und die Gewerkschaft, nicht für ihre Interessen eingetreten zu sein, was besonders daran festgemacht wurde, dass 22 Arbeitern deren Vertrag Anfang des Jahres von der Unternehmensleitung nicht mehr verlängert worden war. Und Zhao habe sogar versucht, für die Position des Unternehmens Stimmung zu machen. Wie ein Arbeiter meinte: „Wir wollen nicht, dass unser Gewerkschaftsvorsitzender auf Seiten des Managements steht. Wir wollen jemanden wählen, der für uns spricht.“ Wie steht es um die Gewerkschaften im staatlichen Sektor? Darüber gibt es viel weniger Informationen, was die Gewerkschaften in den staatseigenen Unternehmen angeht. Die Massenmedien beschäftigen sich viel lieber mit den Streiks und Betriebsratswahlen im Privatsektor und ganz besonders bei ausländischen Unternehmen, auf die sie dann mit dem Finger zeigen können, weil diese nicht die Gesetze beachten würden. Wenn das gleiche in einem Staatsbetrieb passiert, dann sind zwangsläufig offizielle Vertreter des Staates direkt involviert. Das bedeutet, dass für die Presse ein hohes Zensurrisiko besteht, zumindest solange die Proteste nicht an Breite und Dauer gewinnen. Generell gilt, dass im Privatsektor die Gewerkschaften hochwahrscheinlich zu einer leeren Hülle unter der Kuratel der Unternehmer verkommen und die Staatspartei nur geringe Eingriffsmöglichkeiten hat. Umgekehrt sind im Staatssektor, auch wenn das Management der Staatsunternehmen mittlerweile unabhängiger ist als früher, die traditionelle Rolle der Partei und ihre Einmischung am Arbeitsplatz nicht vollständig vor der Macht der Unternehmensführung gewichen. Natürlich können die Kräfteverhältnisse von einer Region zur anderen und je nach Industriezweig variieren. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass die Arbeiter in einem staatlichen Betrieb sich nicht nur mit der Unternehmensleitung messen müssen, sondern auch mit einem feindlich gesonnenen Parteiapparat im Unternehmen selbst, wenn sie eine gewerkschaftliche Vertretung am Arbeitsplatz unter Kontrolle der Beschäftigten fordern. Wie wenig die offiziellen Gewerkschaften unternehmen, um die Beschäftigten der Staatsbetriebe zu schützen zeigt folgender Umstand. Nach dem Arbeitsrecht können Staatsbetriebe nur zusätzlich zum regulären Arbeitsplatzkontingent auf Zeitarbeiter zurückgreifen, und dies auch nur, wenn die regulär Beschäftigten eine bestimmte Aufgabe nicht erfüllen können. Trotzdem machen sie inzwischen davon massiven Gebrauch, ohne dass die ACFTU gegen diese gängig gewordene Praxis angeht. Kurzum gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass der offizielle Gewerkschaftsverband nicht auch in Zukunft als Transmissionsriemen der herrschenden Partei und ihrer kapitalistischen Ausrichtung fungieren wird. Mag sie gelegentlich auch etwas Nützliches für die Lohnabhängigen leisten, würde dies nichts an ihren Prioritäten ändern. Im Jahr 2010 wurde auf Druck der Unternehmerlobby der Provinz Guangdong und der Investoren aus Hongkong eine Klausel aus dem Entwurf für ein „Reglement über demokratische Unternehmensführung“ gestrichen, die zur Wahl von Arbeitervertretern für „Tarifverhandlungen“ hätte führen können. Diese Klausel barg keineswegs Revolutionäres, da die ACFTU weiterhin die Kandidatenaufstellung kontrolliert hätte und der als allzu „antagonistisch“ geltende Begriff „Verhandlung“ nicht auftauchte; durch die nachfolgenden Änderungen hingegen geriet die schlussendliche Version dieses Gesetzesentwurfs vollends zur Farce für die Lohnabhängigen. Huang Qiaoyan, Juraprofessor an der Sun-Yat-SenUniversität in Guangzhou (chin. für Kanton), beschreibt diese revidierte Fassung wie folgt: sie „gibt das Bestreben der Verfasser wieder, vermittels der gewerkschaftlichen Instanzen die zunehmenden Forderungen der Lohnabhängigen nach tariflich verhandelten Löhnen weiter in Zaum zu halten. Damit wollen sie eine Situation vermeiden, in der es zu spontanen Aktionen der Lohnabhängigen kommt, die sich der Intervention und Kontrolle seitens der Gewerkschaften entziehen könnten.“ Nichtsdestotrotz wird die Zusammenarbeit der internationalen Arbeiterbewegung mit der ACFTU zunehmend enger, was deren Legitimität wiederum stärkt. Bereits im Inprekorr 5/2013 27 Dossier China Juni 2011 wurde die ACFTU auf diese Weise aufgewertet, indem ihr ein Sitz im Leitungsorgan der Internationalen Arbeitsorganisation ILO zuerkannt wurde. Wie seht Ihr den gegenwärtigen Stand der Mobilisierungen unter den Lohnabhängigen in China? In den letzten gut zehn Jahren haben die Lohnabhängigen in China fast nur für Lohnerhöhungen gekämpft. Der Widerstand gegen die Privatisierung der Staatsbetriebe hätte die Proteste mehr auf eine politische Ebene heben können, aber aufgrund der Kräfteverhältnisse ist dies ausgeblieben: einerseits waren die Lohnabhängigen in diesen Betrieben demoralisiert und hatten Niederlagen einstecken müssen, andererseits hätte dies ihnen enorme Repressalien beschert. Trotzdem können auch die auf wirtschaftliche Forderungen beschränkten Kämpfe im privaten und staatlichen Sektor in begrenztem Umfang positive Veränderungen bewirken. Dies ist insofern wichtig, als erstens bestimmte Forderungen unmittelbar durchgesetzt werden können, wie die Verhinderung von Privatisierungen, bessere Arbeitsbedingungen oder Umweltschutzmaßnahmen, und zweitens – und dies ist wesentlicher – solche siegreichen Auseinandersetzungen weitere Aktionen in der Zukunft induzieren können. Und sie können dazu beitragen, die Erfolgschancen solcher Aktionen zu erhöhen, wie die Beispiele der Stahlarbeiter bei Tonghua und der Automobilarbeiter bei Honda gezeigt haben. Diese Beispiele zeigen auch, dass die neue Generation der Lohnabhängigen offensiver Widerstand leistet. In diesem Zusammenhang ist auch das Beispiel der Beschäftigten bei Pepsi erwähnenswert, auch wenn dies vorerst nur in bescheidenem Umfang erfolgt ist: die Aktionen wurden über Internet in mehreren Provinzen koordiniert, was in der Vergangenheit wohl theoretisch auch möglich gewesen wäre, aber aus Angst vor den Konsequenzen unterlassen wurde. Dass die jungen ArbeiterInnen bei Honda erklärt haben, im Interesse der gesamten chinesischen Arbeiterklasse zu handeln, lässt darauf hoffen, dass diese neue Generation, frei von den Lasten der schrecklichen Niederlage von 1989, in der Lage sein könnte, über den Tellerrand hinaus zu blicken und für Belange einzutreten, die nicht nur mit dem eigenen Betrieb zu tun haben. Dazu kommt, dass mittlerweile die Repression weniger scharf ist als in den vergangenen Jahren. Dies nicht nur, weil die Proteste entschlossener sind, sondern auch, weil sich die Wahrnehmung sowohl unter der Bevölkerung als auch bei 28 Inprekorr 5/2013 der herrschenden Klasse grundlegend zu ändern beginnt. Die Angst weicht und die Bürokratie spürt, dass ihre Legitimationsbasis schwindet. Bei den Privatisierungen, die die herrschenden Bürokraten während der letzten mehr als 20 Jahre zu ihrem Wohl vorgenommen haben, haben diese sich dermaßen bereichert, dass sich der Zorn darüber inzwischen nicht nur unter den Lohnabhängigen, sondern auch unter den Privatkapitalisten und der oberen Mittelschicht angestaut hat. Eine wichtige Rolle spielen dabei die „Netzbürger“, die schon seit Jahren eine Offenlegung der Ausgaben fordern, die die Vertreter des Staates bei ihren Auslandsreisen tätigen, z. B. für Autokäufe, Staatsempfänge oder Bankette. Als die Zahlen letztlich veröffentlicht wurden, schäumte „das Internet“ über die Maßlosigkeit dieser noch ständig steigenden Ausgaben, die sich allein im vergangenen Jahr auf umgerechnet 1,63 Milliarden Dollar beliefen. Auf Druck der „Netzbürger“ musste die Regierung schließlich eine Aufschlüsselung der Summe auf die Einzelministerien herausgeben. Auch in Suchmaschinen wurden Nachforschungen über die Korruption hoher Funktionäre angestellt und nachfolgend veröffentlicht. Dieses Engagement wirkt über die sozialen Netzwerke des Internet hinaus und beeinflusst das zunehmend negative Image der herrschenden Partei unter der Bevölkerung. Die anhaltende Dekadenz der Bürokratie untergräbt deren Legitimität, auch wenn sich die Lohnabhängigen angesichts der offiziellen Repression noch schwer tun, über ihre bloß ökonomischen Forderungen hinaus politisch initiativ zu werden. Dies kann aber mittelfristig durchaus eintreten, etwa wenn es zu einem großen Skandal kommt, Fraktionskämpfe innerhalb des Parteiapparats auftreten oder eine Wirtschaftskrise auftritt – oder gar mehrere dieser Faktoren auf einmal. Wenn man das stete Anwachsen der Mindestlöhne oder das expansive öffentliche Wohnungsbauprogramm in den vergangenen Jahren betrachtet, lässt sich dann sagen, dass die Staatspartei politisch gewillt und institutionell in der Lage ist, eine Politik zum Wohl der Bevölkerung zu betreiben? In den letzten zehn Jahren sind die Mindestlöhne zwar kontinuierlich gestiegen, aber dabei muss man auch die wachsende Inflation berücksichtigen. Den offiziellen – niedrigen – Zahlen ist dabei nicht zu trauen. In den Interviews, die wir mit Lohnabhängigen geführt haben, werden die steigenden Mieten und Lebensmittelpreise beklagt, die in den offiziellen Statistiken heruntergespielt werden. Dossier China In den vergangenen Jahren hat die KPCh eine Arbeitsrechtsreform vorangetrieben und – nach eigener Lesart – einen Sozialstaat errichtet. Man muss dies allerdings vor dem entsprechenden politischen Hintergrund werten. Die Bürokratie hat sich zu einer bürokratisch-kapitalistischen Klasse gewandelt, was ihr nicht schwerfiel, da sie sich über jedem Recht wähnt – ausgenommen ihr gottgegebenes Recht auf die Diktatur einer Einheitspartei. Folglich besteht ihr Ziel darin, reich zu werden, indem sie ihrer Funktion, nämlich der Verwaltung der Gesellschaft, nachkommt. Also wurden viele gemeinnützige Wohnungen nicht den Bedürftigen zugeteilt sondern den Regierungsfunktionären und ihren Schützlingen. Und wenn die Bürokratie gelegentlich dem Gesetz Geltung verschafft, wonach das Volk von ökonomischen Vergünstigungen profitieren soll, dann rangiert dies immer nachrangig zu ihrem obersten Ziel, nämlich das Land auszuplündern. Und wenn sich das Volk erhebt, um seine legitimen Rechte einzufordern, antwortet die Staatspartei mit Repression. Mögen die sozialen und wirtschaftlichen Reformen in sich als gut erscheinen, solange sie weiterhin exklusiv von den Parteiführern ausgelegt und umgesetzt werden, werden sie früher oder später sauer aufstoßen. So sind ökonomische Verbesserungen zwar dringend vonnöten – dies gilt für die politischen Machthaber genau so wie für die Bevölkerung –, aber die Staatspartei wird sie erst zugestehen, wenn der Druck von unten sie dazu zwingt. Die wachsende Kluft zwischen arm und reich sowie zwischen der Partei und dem Volk ist bekanntlich in erster Linie der Existenz dieser Staatspartei und ihres bürokratischen Kapitalismus’ geschuldet. Demnach kann die Lösung der tiefen Widersprüche Chinas nicht vom Staat ausgehen, er ist vielmehr selbst das Problem, da sich seine schleichende Korrumpierung als immer unerträglichere Last über die Gesellschaft legt und früher oder später einen Zusammenbruch hervorrufen wird. chen, aber bis dato ist das noch von den Erwartungen weit entfernt. In einem Land, in dem das Gesetz des Dschungels herrscht, können die Kapitalisten mit Hilfe der Staatsgewalt immer ein Mittel finden, die Knappheit der Arbeitskräfte und den Anstieg der Lohnkosten zu umgehen. Beispielsweise können sie Berufsschüler, die noch minderjährig sind, für „Praktika“ in Unternehmen rekrutieren, die dann von den Schulen vor Ort und von als Exportunternehmer tätigen Provinz- oder Stadtverwaltungen gemeinsam arrangiert werden. Solche Machenschaften zwischen Kapitalisten und lokalen Behörden sind durchaus gängig und auf diesem Weg kann die Knappheit der Arbeitskräfte bei Honda Foshan wie auch bei vielen anderen Unternehmen überwunden werden. Eine andere Methode ist die Kinderarbeit. Auch wenn sie in den letzten Jahren rückläufig war, hat sich dieser Trend wahrscheinlich wieder umgekehrt. Uns sind Fälle aus Chaozhou in der Provinz Guangdong bekannt, wo Textilunternehmen wieder illegal auf billige Kinderarbeit zurückgreifen. Allerdings sind niedrige Lohnkosten nicht der einzige Vorteil, den China bietet. So waren vor zehn Jahren die Löhne hierzulande keineswegs die niedrigsten innerhalb Asiens. Aber die chinesischen ArbeiterInnen sind produktiver als diejenigen vergleichbarer Länder. Sie sind sehr diszipliniert und geschult, was daran liegt, dass der Staat zwar sehr repressiv, aber auch das Resultat einer Revolution ist. Dies trägt noch immer dazu bei, dass China die Werkbank der Welt ist. Daneben gibt es weitere Faktoren, die wir hier nicht alle anführen können. Wichtig für die Beantwortung der Frage ist, dass zwar Arbeitskräfte nicht mehr in Hülle und Fülle in China zur Verfügung stehen, das Land aber seinen Status als Werkbank der Welt trotzdem nicht so schnell verlieren wird. Nach jüngsten Presseberichten siedeln immer mehr chinesische und ausländische Unternehmen von China nach Bangladesch und Vietnam um, weil hier die Arbeitskräfte knapp und teuer werden. Inwieweit wird dies die Verhandlungsstärke der Lohnabhängigen beeinflussen? Wegen der Aufwertung des Yuan, der knappen Arbeitskräfte und der Nominallohnsteigerungen verlassen schon seit geraumer Zeit immer mehr Firmen das Land. Dies wird auch noch in den kommenden Jahren anhalten. Dies müsste an sich den Lohnabhängigen zum Vorteil gerei- Au Loong-Yu und Bai Ruixue sind Mitglieder des Redaktionskomitees von China Labour Net und seit langem in der Solidaritätsbewegung mit den Arbeiterkämpfen in China und in Hongkong aktiv. Als Gründungsmitglied von Globalization Monitor war Au Loong-Yu auch Führungsmitglied der Volksallianz bei den Demonstrationen gegen die IWF-Tagung in der ehemaligen britischen Kronkolonie 2006. Übersetzung: MiWe Inprekorr 5/2013 29 4 . I n t e r n at i o n a l e Internationale Lage Einleitungsbericht zur Debatte über die internationale Situation, der in der Sitzung des Exekutivbüros der Vierten Internationale im Juni 2013 vorgestellt wurde. François Sabado Wir wollen auf fünf Punkte eingehen; die Wirtschaftskonjunktur, die neuen Spannungen in Europa, die Elemente der politischen Krise in Europa, die jüngsten Informationen über die sozialen Bewegungen und die letzten Nachrichten über die Möglichkeit politischer Zusammenschlüsse. 1. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen Die letzten Wochen waren durch enorme Umwälzungen der türkischen und brasilianischen Jugend geprägt. Dazu kommt auch die Bewegung in Bosnien, die um die Frage der Verteidigung des Rechts von Babys auf eine Identität entstand. Soziale und politische Bewegungen sind Teil einer Bewegung des sozialen Widerstands und politischen Angriffs gegen die Sparpolitik, gegen Ungleichheit und gegen Angriffe auf demokratische Freiheiten. Ob Verteidigung eines Parks, Antwort auf steigende Fahrpreise oder Verteidigung demokratischer Rechte – jede dieser Bewegungen hat ihre Einzigartigkeit. Das sind Bewegungen, die – und das gilt auf jeden Fall für die Türkei und Brasilien – in Schwellenländern entstehen, die bisher nicht von der Krise betroffen waren. Das verleiht diesen Bewegungen ein Erscheinungsbild vergleichbar dem „Mai 68“, mit starker Mobilisierung der Jugend, die durch Mobilisierung von Sektoren der Arbeiterbewegung weitergetragen wird. In Brasilien könnten die Sparmaßnahmen Vorzeichen einer Erschöpfung des „brasilianischen Modells“ sein. Aber die Triebfeder dieser Bewegungen ist genau der Widerspruch zwischen einem gewissen Wachstum – auch wenn es sich in Brasilien verlangsamt – und eklatanten Ungleichheiten. In Brasilien ist es die Spannung zwischen den ausgegebenen Beträgen für die nächste „Mundial“ (WM) und den Budgetkürzungen, die Gesundheit, Bildung und Wohnungswesen treffen. In der Türkei ist es der Gegensatz zwischen einem sozio-ökonomischen Wachstum und dem bleiernen Mantel, den die Regierung Erdoğan der Gesellschaft überstreifen will. Es ist zu früh, um Lehren aus diesen Ereignissen zu ziehen, aber neue politische Generationen setzen sich in Bewegung und dies prägt die Situation in diesen Ländern. 30 Inprekorr 5/2013 a) Die Rezession oder Quasi-Rezession in Europa hat sich bestätigt: –0.2 % im Durchschnitt, +0,1 % in Deutschland, –0,2 % in Frankreich. b) Dies ist das sechste Quartal in Folge mit einem Rückgang der wirtschaftlichen Aktivität in Europa, die längste rezessive Periode in der Geschichte der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Die industriellen Überkapazitäten, insbesondere in Branchen wie der Automobilproduktion, erreichen alarmierende Ausmaße und setzen neue Pläne für die Vernichtung von Fabriken und Arbeitsplätzen auf die Tagesordnung. c) Die Lockerung der Spannungen auf den Finanzmärkten bedeutet nicht, dass die europäischen Volkswirtschaften immun gegen neue Bankenkrisen wären. Einige internationale Großbanken haben sogar die Mechanismen wiederbelebt, die zu den „toxischen“ Finanzprodukten geführt hatten, und die Zypern-Krise zeigt, dass Banken- und Finanzkrisen immer wieder ausbrechen können. d) Aus diesem Grund führt der doppelte Druck der zunehmenden Überproduktion in den wichtigsten Industriesektoren und auf den Finanzmärkten die herrschenden Klassen und die Regierungen dazu, ihre Sparpolitik zu verschärfen; Massenarbeitslosigkeit, Einfrieren oder Kürzen der Löhne, eine weitere Kürzung der Sozialhaushalte, Angriffe auf die soziale Sicherheit und das Arbeitsgesetzbuch (siehe Vereinbarung in Italien zwischen dem Unternehmerverband „Confindustria“ und der CGIL gegen Tarifverträge), die Verschiebung des Renteneintrittsalters und längere Dauer der Beitragszahlungen. Immer stärker 4 . I n t e r n at i o n a l e greifen Pläne zur Zerstörung der Rentensysteme um sich. In den letzten Jahren und Monaten werden die Umrisse einer Neugestaltung der sozialen Beziehungen in Europa erkennbar: Das „soziale Modell“ ist wirklich dabei, liquidiert zu werden. Das ist Sparpolitik ohne Ende. 2. Neue Spannungen in Europa. Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise zusammen mit der Art und Weise der europäischen Integration haben die innereuropäischen Beziehungen in den letzten fünf Jahren stark verändert. Die verschiedenen Regionen Europas – Deutschland mit seinen nördlichen Satellitenstaaten, Südeuropa (Griechenland, Spanien, Portugal) und in einer Zwischenposition Frankreich und Italien – haben sich noch deutlicher herauskristallisiert. Osteuropa und der Balkan, darunter einige EU-Mitglieder – Polen, die baltischen Staaten, Tschechien, Slowakei und Slowenien -, bilden einen „zweiten Gürtel“ deutscher Satelliten (im Sinne von Unterordnung/Integration und nicht, wie im Falle Schwedens und Dänemarks, nur von Integration), aber wahrscheinlich nicht Bulgarien, Rumänien, Kroatien, deren Wirtschaft eher um Frankreich und Italien kreist und die daher dem „Süden“ oder einem „zweiten Gürtel“ des Südens näher sind. Trotz öffentlicher Bekenntnisse zur Notwendigkeit von Einheit und Zusammenarbeit und einer europäischen Wirtschaftsregierung hat sich ein neues, von der deutschen Bourgeoisie dominiertes Kräfteverhältnis herausgebildet. Durch hohe wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, technologische Innovation, Forschung, Entwicklung und das dichte Netz von kleinen und mittleren international erfolgreichen Unternehmen hat Deutschland seinen Platz in diesem Wettbewerb gefestigt. Aber es ist vor allem die neoliberale Umstrukturierung seines Arbeitsmarktes und seiner Produktionsorganisation, die ihm einen Vorsprung verschafft hat. Die HartzSchröder-Reformen haben 20 % bis 25 % der aktiven Bevölkerung verarmen lassen, und durch die Welle von Standortverlagerungen nach Osten zusammen mit einer Politik des Sozialdumpings haben sich die Unterschiede zwischen Deutschland und den anderen Ländern verstärkt. Dies hat Oskar Lafontaine, ehemaliger Vorsitzender der SPD und Gründer der Partei DIE LINKE, ein Verfechter des kapitalistischen Europas, dazu gebracht, am 30. April 2013 zu erklären, dass „die Deutschen noch nicht begriffen haben, dass Südeuropa einschließlich Frankreichs durch die Wirtschaftskrise früher oder später gezwungen sein kann, gegen die deutsche Hegemonie zu revoltieren und den ‚Ausstieg aus dem Euro‘ zu befürworten“. Diese „Sparpolitik ohne Ende“ wird nicht nur vom deutschen Kapitalismus verteidigt – unterstützt von Angela Merkels CDU und der SPD – sie ist auch eine grundsätzliche Antwort auf die Forderungen nach Rentabilität und Profitabilität des von der Finanzialisierung der Weltwirtschaft dominierten Kapitals. Die verschiedenen europäischen Kapitalismen, verschiedenen europäischen herrschenden Klassen, verschiedenen europäischen Regierungen, die dem globalisierten System dienen, können nur der internen Logik des Systems entsprechen: die höchstmögliche Profitrate erzielen. Auch François Hollande, „Chef der Republik“, hat sich völlig dieser Logik verschrieben; sich davon zu lösen, würde eine umfassende Konfrontation mit dem Kapital bedeuten, die den Genen des Sozial-Neoliberalismus gänzlich fremd wäre. Das Problem besteht dabei in den sozialen und politischen Risiken eines solchen historischen Rückschritts und der inneren Spaltung der Europäischen Union, aber die herrschenden Klassen halten an dem eingeschlagenen Weg fest, solange sie Profite und Gewinne ansammeln und den Zuwachs sozialer Spannungen meistern. Wie lange noch? Diese Veränderungen der internen Verhältnisse in Europa veranlassen uns dazu, unsere Haltung gegenüber dem kapitalistischen Europa zu präzisieren, zusammen mit einem Sofortprogramm gegen die Sparpolitik auf nationaler Ebene und der Perspektive eines sozialen und demokratischen Europas, des Bruchs mit der Europäischen Union und dem Beginn des Auf baus neuer Beziehungen in Europa zum Nutzen der Arbeitenden und der Völker. Aber wenn eine Regierung sich für die ernsthafte Umsetzung eines solchen Programms engagieren würde, dann würde sie mit den herrschenden Klassen zusammenstoßen und sähe sich den Forderungen der Finanzmärkte und den Diktaten der Europäischen Union gegenüber. Es gibt eine Verbindung, aber die Rhythmen sind verschieden, die Krisen und Kurswechsel sind nicht gleichzeitig, die Geschichte und die Ereignisse sind in den einzelnen Ländern unterschiedlich. In diesem Fall muss jedes Volk und jede Regierung, die sich vornimmt, mit der europäischen kapitalistischen Logik zu brechen, „ihre Erfahrung schützen“, jeden revolutionären Prozess, jede Errungenschaft. Mit dieser Methodik müssen wir die Frage des Ausstiegs aus dem Euro behandeln, die von einigen Parteien der radikalen Linken aufgeworfen wird. Da die Krise sich vertieft und der soziale Rückschritt mit der EU und dem Euro identifiziert wird, verstehen wir das verbreitete Gefühl, den Euro und Europa abzulehnen. Doch das hieße, das Problem auf den Kopf zu stellen, vor allem, wenn der Inprekorr 5/2013 31 4 . I n t e r n at i o n a l e Ausstieg aus dem Euro in einer Wirtschaft erfolgt, die kapitalistisch bleibt, und daher gleichbedeutend mit einer massiven Abwertung wäre, die eine andere Form von Sparpolitik gegen die Menschen ist. Es ist kein Zufall, dass die Front National in Frankreich (und andere reaktionäre Formationen in Europa) gegen den Euro sind. Statt zu einer nationalistischen Antwort zu greifen, müssen antikapitalistische Kräfte den Kurs halten: Für ein Europa im Dienst der Menschen und der Arbeiterinnen und Arbeiter. Aber wir dürfen die Augen nicht davor verschließen, dass es einen unüberwindlichen Widerspruch zwischen der Art des Auf baus der EU und dem Euro einerseits und der Durchsetzung eines Programms gegen die Sparpolitik andererseits gibt. Das ist der Grund, warum wir nie die Vorstellungen von einer „Reform“ oder „Neuausrichtung“ der EU geteilt haben. Wenn die Troika dem griechischen Volk ein Ultimatum stellt „Entweder Sie akzeptieren die Memoranden (Sparpolitik) und bleiben im Euro oder Sie lehnen die Memoranden ab und verlassen den Euro“, muss man dieser Falle ausweichen, und wir verstehen bestens die von Syriza in Griechenland ins Leben gerufen Parole „Keine Opfer für den Euro!“ Das heißt, sich auf den Konflikt, auf die Konfrontation vorzubereiten. Es ist nicht Sache einer Anti-Sparpolitik-Regierung, sich für den Austritt aus der Eurozone zu entscheiden; ihre Aufgabe ist es, die Ablehnung der Sparpolitik konsequent durchzuhalten und so die Bevölkerung auf den Bruch mit der kapitalistischen Logik vorzubereiten. Es ist Sache der Europäischen Union, das eine oder andere Land auszuschließen – was in rechtlicher Hinsicht nicht so einfach ist und auch nicht zu ihren Plänen passt. Und wenn die EU so weit geht, dann ist es die Verantwortung einer Arbeiterregierung, sich der Krise zu stellen und alle Konsequenzen aus dem Bruchs zu ziehen (und natürlich darauf vorbereitet zu sein). geprägt. Die herrschenden Klassen zeigen, dass sie bereit sind, die demokratischen Rechte und Freiheiten in Frage zu stellen, um ihre „Spardiktate“ durchzusetzen. 3. Die Elemente der politischen Krise d) In Frankreich ist die politische und moralische Krise enorm. Die Politik der Sozialistischen Partei wird überwiegend abgelehnt. Wir dachten, dass das Schicksal der griechischen PASOK – ein totaler Zusammenbruch – ein griechischer Sonderfall war und dass die Sozialdemokratie zwar zurückfallen könnte, aber nicht derart zusammenbrechen würde. Wenn wir die jüngsten Teilwahlen in Frankreich analysieren, können wir diese Art von Zusammenbruch aber auch für die PS nicht mehr ausschließen. Die PS verlor in diesen Wahlen Tausende von Stimmen. Sie ist sogar schon zum zweiten Mal in Folge bei Wahlen abgestraft worden. Wenn sich die derzeitigen Trends fort- a) Die gegenwärtige Situation ist durch eine Kombination verschiedener Krisen geprägt: einer wirtschaftlichen, einer sozialen und einer politischen. Der neoliberale Kapitalismus stellt in der Krise tendenziell die Demokratie in Frage und entwickelt im institutionellen Bereich autoritäre Maßnahmen. Die Schließung des griechischen öffentlichen Fernsehens ist ein gutes Beispiel für solche Angriffe auf die Demokratie: Es wurde sogar von einem „Staatsstreich“ gesprochen. Die Unterordnung der Regierungen in Südeuropa unter die Troika (EU, IWF, EZB) und die Macht der Finanzmärkte und Banken haben bereits den Wandel 32 Inprekorr 5/2013 b) Die Krise verschärft sich auch durch die Krise der politischen Repräsentation. Die gesellschaftliche, politische und stimmenmäßige Basis der traditionellen Parteien wird destabilisiert und ausgehöhlt. Italien muss eine große Koalition mit Bersani, Betta und Berlusconi zustande bekommen, um der durch die 8 Millionen Stimmen Beppe Grillos und die Millionen von der Rechten, von MitteRechts und Mitte-Links verlorenen Stimmen verursachten Instabilität zu begegnen. Die Inkonsistenz der Bewegung Beppe Grillo nach nur wenigen Monaten im Parlament zeigt deutlich die Tiefe der Krise. In Deutschland lassen die Umfragen derzeit Wahlergebnisse erwarten, die zu einer großen Koalition zwischen Christdemokraten und Sozialdemokraten führen würden. c) In dieser Krisensituation werden die Regierungsparteien regelmäßig abgestraft, aber dies in einer Verschiebung zugunsten der rechten und rechtsextremen Parteien. So gab es in Frankreich Demonstrationen von Hunderttausenden Menschen gegen die Ehe zwischen Personen des gleichen Geschlechts. Diese Frage hat ein altes katholisches, reaktionäres, Dreyfus-feindliches Frankreich wieder aufgeweckt, das seit Jahrzehnten im Land existiert, aber zu diesem Thema wieder aufgetaucht ist, angeregt durch ein allgemeines Klima, in dem die Linke durch die Politik der Sozialistischen Partei demobilisiert und demoralisiert ist. Im Zuge der Massenmobilisierungen einer radikalen Rechten, die sich auch teilweise von Parteien der traditionellen Rechten abgespalten hat, sind auch die Aktivitäten rechtsextremer Gruppen zu beachten, die Linke und Antifaschisten angreifen. 4 . I n t e r n at i o n a l e setzen, kann die Situation für die PS bei den kommenden Kommunal- und Europawahlen im Jahre 2014 katastrophal werden. Aber noch besorgniserregender in Bezug auf die Berichte über die politischen und stimmenmäßigen Kräfteverhältnisse ist die Tatsache, dass der Zusammenbruch der PS der Rechten zugutekommt und ganz besonders der Front National, die schon zum Schwerpunkt des politischen Lebens Frankreichs geworden ist. Selbst wenn zu diesem Zeitpunkt kein signifikanter Anteil der herrschenden Klassen hinter der FN steht – sie sind für den globalisierten Kapitalismus -, können wir nicht ausschließen, dass es rechts zu einer politischen Neuzusammensetzung mit einer gespaltenen Rechten kommt: Sektoren, die mit der Front National paktieren, und andere, die sich einer großen Neuzusammensetzung der Linken mit dem Zentrum zuwenden. Die relative Autonomie der politischen Krisenfaktoren könnte das Land irgendwann in eine kritische Situation führen. Arbeitsplätzen im öffentlichen Sektor oder Kürzungen bei den Sozialhaushalten zu verhindern.1 Kurz gesagt hat sich die Sparpolitik immer weiter verschärft. Die koordinierten Aktionstage auf europäischer Ebene haben soweit möglich die Situation geprägt, aber sie bilden keinen Bezugspunkt für die Arbeiterinnen und Arbeiter und jungen Menschen in den einzelnen Ländern. Neue Angriffe werden vorbereitet, insbesondere eine neue Reform der sozialistischen Regierung [Frankreichs], die die Politik der Rechten aufnimmt und noch verschärft, sowie ein europäischer Richtlinienentwurf, der den Wettbewerb im Dienstleistungssektor, darunter Gesundheit, Sozialversicherung, Renten, Sozialleistungen verlangt … Wir müssen dies beobachten und in Erwartung eines teilweisen Konjunkturabschwungs so aktiv wie möglich in diesen sozialen Bewegungen eingreifen. 4. Neue Bewegungen in den Schwellenländern und Grenzen sozialer Mobilisierungen in den Krisenländern Die politischen Kräfteverhältnisse bleiben ungünstig für die revolutionäre Linke. Syriza bleibt der Bezugspunkt für einen großen Teil der radikalen Linken in Europa. Ihr Kongress im Juli wird ein Test für ihre Fähigkeit sein, ein Programm gegen die Sparpolitik wieder zu beleben und dem enormen Druck der herrschenden Klassen und der Europäischen Union standzuhalten.2 In Spanien stabilisiert die von der PCE dominierte Izquierda Unida (Vereinigte Linke) ihre Ergebnisse bei Meinungsumfragen und verbindet Reaktionen gegen die Sparpolitik mit institutionellem Realismus wie in Andalusien, wo sie an ihrer Beteiligung an der Regierung mit der PSOE festhält. Im spanischen Staat ist in Katalonien, dem Baskenland und in Galizien der radikale Nationalismus von CUP, Sortu oder ANOVA von zentraler Bedeutung für den Aufbau einer politischen Alternative links von der Linken. Die Genossen von Izquierda Anticapitalista (Antikapitalistische Linke) haben kürzlich an Versammlungen teilgenommen, um eine „antikapitalistische Alternative Man muss einen Unterschied machen zwischen den neuen Mobilisierungen, die in den sogenannten Schwellenländern entstanden sind, und denen in den Krisenländern. Wir müssen die Dynamik, die Formen und die Inhalte der Mobilisierungen in der Türkei und in Brasilien genau betrachten. Die Mobilisierungen, die von sozialen und demokratischen Angriffen ausgehen, geben diesen Bewegungen ein Erscheinungsbild vergleichbar dem „Mai 68“. Die Schwellenländer sind auf ihre eigene Weise von der Krise betroffen, aber in einer besonderen Weise und mit einer materiellen Position (bezogen auf den Status dieser Gesellschaften), die sich weniger verschlechtert hat als in den Krisenländern. In Europa sind die Aktionstage und Demonstrationen in Spanien oder Portugal bemerkenswert. Am 27. Juni gibt es in Portugal einen weiteren Tag des Generalstreiks. Man sollte auch die sprunghafte Zunahme sozialer und demokratischer Mobilisierungen in Griechenland nach der Schließung des ERT beachten. Trotz einer schwierigen Situation für die soziale Mobilisierung in Griechenland nach 29 landesweiten Streiktagen ist die Volksbewegung in Griechenland immer noch in der Lage, gegen neue Angriffe Widerstand zu leisten. Auf Ebene des demokratischen Widerstands konnten Teilsiege errungen werden, aber auf sozio-ökonomischer Ebene waren die Kämpfe nicht in der Lage, Entlassungen, Einfrieren oder Kürzen der Löhne, den Verlust von Tausenden von 5. Neues von der radikalen und revolutionären Linken Tagung des Internationalen Komitees Ein Bericht von Jan Malewski über weitere Themen und Debatten, die auf der Sitzung des Exekutivbüros im Juni behandelt wurden, ist für die Online-Ausgabe der Inprekorr (http://www.inprekorr.de) vorgesehen. Inprekorr 5/2013 33 4 . I n t e r n at i o n a l e von unten“ aufzubauen. An diesen Versammlungen nahmen radikale Teile der Izquierda Unida, Verantwortliche von Gewerkschaften und Verbänden sowie AktivistInnen aus der revolutionären Linken teil. Diese Treffen in Städten im ganzen Land haben neuen Raum für Debatten zwischen politisch Aktiven geöffnet. Man kommt zusammen, um sich in einen dauerhaften Rahmen für eine antikapitalistische Alternative zur Politik der Izquierda Unida, die von institutionellen Fragen dominiert bleibt, umzuwandeln. In Frankreich hat bei den jüngsten Teilwahlen die Linksfront3 nicht hinzugewonnen. Vielmehr war es die FN, die vom Zusammenbruch der PS profitiert hat. Die Linksfront hat zu einer Demonstration von Zehntausenden von Menschen gegen die Sparpolitik aufgerufen, die auch von der NPA unterstützt wird, aber die Mobilisierung seitens der radikalen Linken ist noch nicht stark genug, um das Kräfteverhältnis zu ändern. Man muss die nächsten Kommunal- und Europawahlen abwarten um zu sehen, ob die radikale Linke in dieser Situation des Aufstiegs der FN ebenfalls punkten kann. Schließlich sollte darauf hingewiesen werden, dass es einige interessante Initiativen zur Sammlung von Revolutionärinnen und Revolutionären in Großbritannien gibt, an der Mitglieder von Socialist Resistance, der AntiCapitalist Initiative und jene, die aus der Krise der SWP hervorgegangen sind, beteiligt sind. Diese Aktivistinnen und Aktivisten sind auch in Initiativen um den Aufruf von Ken Loach für eine neue antikapitalistische Partei aktiv. In Deutschland gab es ein Treffen zur antikapitalistischen Sammlung auf Initiative einer Reihe von Strömungen, einschließlich der Mitglieder der Vierten Internationale in diesem Land, mit Olivier Besancenot und Charles André Udry. Außerdem sollen die Initiativen in Belgien erwähnt werden, genauer gesagt in Wallonien, zur Diskussion der Möglichkeit des Zusammenschlusses aller gewerkschaftlichen Gegnerinnen und Gegner der Sparpolitik, um Möglichkeiten einer neuen, auf Gewerkschaftsarbeit gestützten Partei zu erörtern. François Sabado ist Mitglied des Exekutivkomitees der Neue Antikapitalistischen Partei (NPA, Frankreich) und des Exekutivbüros der Vierten Internationale. Übersetzung: Björn Mertens 1 Seit der Erstellung dieses Berichts war ein Streik bei der EPSM (öffentliche psychiatrische Einrichtung) in Caen erfolgreich ... mit Bezahlung der Streiktage! Der brutale Sparkurs und die Umstrukturierung der EPSM (Streichung oder Um34 Inprekorr 5/2013 strukturierung von Dienste, Streichung von RTT-Tagen [im Zuge der Arbeitszeitverkürzung gewährte freie Tage] und ½ Stunde Essenszeit, Dequalifizierung der Arbeitsplätze ...), die plötzlich unerwartet durch Presse und Rundschreiben angekündigt wurde, hat eine beispiellose Mobilisierung unter allen Kategorien von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ausgelöst, die für mehrere Tage die Zugänge zum Krankenhaus blockiert haben und ihre Wut und Ablehnung für die angeblichen Defizite des Krankenhauses zu zahlen ausdrückten, zusammengefasst in der Parole „Wir sagen Nein! Das Personal wird nicht für das Defizit bezahlen!“. 2 Ein Bericht zum Ergebnis dieses Kongresses, der inzwischen stattgefunden hat, befindet sich auf S. xxff. in dieser Ausgabe der Inprekorr. [Anm. d. Red.] 3 Von der Parti de gauche (Linkspartei) und der Parti communiste français (PCF) für die Europa-Wahlen 2009 gegründete Wahlplattform. Sie trat zu den Regionalwahlen 2010 sowie zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2012 erneut an. [Anm. d. Üb.] D o s s i e r „B r e i t e Pa rt e i e n“ Breite Parteien Das Ziel bleibt: Am Ende wollen alle die sozialistische Massenpartei der Arbeiterklasse. Aber der Weg dahin ist heiß umstritten. Drei Zwischenbilanzen der unterschiedlichen Erfahrungen mit den Aufbauprojekten von breiten Parteien Ein Dossier mit 3 Beiträgen Für die Fortsetzung einer notwendigen Debatte Die Debatte über „breite Parteien“ Gegenposition 1 Beitrag zur Debatte über breite Parteien Gegenposition 2 Seite 36 Seite 40 Seite 43 Inprekorr 5/2013 35 D o s s i e r „B r e i t e Pa rt e i e n“ Für die Fortsetzung einer notwendigen Debatte Dieser Text hat zum Ziel, die Diskussion nach dem Debattentag des Internationalen Komitees 2012 mit den Berichten zu Brasilien, Italien und den Niederlanden neu anzuschieben. Laurent Carasso Die erste Debatte betrifft die irischen GenossInnen und die US-amerikanischen von Socialist Action, die systematisch jegliche Politik des Auf baus breiter Parteien ablehnen und vorschlagen, weiterhin einfach nur Organisationen auf Grundlage des Programms der Vierten Internationale aufzubauen. Die zweite Debatte, die seit den 1990er Jahren (und damit seit den Kongressen von 1995, 2003 und 2010) geführt wird, findet unter den GenossInnen statt, die die Linie vertreten, breite Parteien aufzubauen. Die zentrale Frage lautet: „Was wollen wir auf bauen?“ Dabei geht es darum, wie der Begriff der „breiten Parteien“ zu definieren und einzugrenzen ist. Auf dem letzten, dem 16. Kongress der IV. Internationale, wurde diese Frage im Zusammenhang mit der Resolution zu „Rolle und Aufgaben“ so gestellt: „Orientieren wir uns darauf, breite Parteien aufzubauen, die alle Strömungen sammeln, die links von der neoliberalen Sozialdemokratie stehen, darunter sowohl reformistische ,antineoliberale‘ Strömungen, die aus sozialdemokratischen oder stalinistischen Parteien entstanden sind, als auch revolutionäre Strömungen?“ Diese Definition trifft auf solche Parteien oder Umgruppierungen zu wie DIE LINKE (Deutschland), Synaspismos/Syriza (Griechenland), ÖDP (Türkei), Respect (Großbritannien), Rifondazione comunista (Italien) und Partido dos Trabalhadores (Brasilien, in den ersten Jahren nach ihrer Gründung). Auf dem letzten Weltkongress (2010) wurde beschlossen, auf den Auf bau breiter antikapitalistischer Parteien zu orientieren, die von vornherein den Sturz des kapi36 Inprekorr 5/2013 talistischen Systems anstreben und somit eine dezidiert revolutionäre, wenn auch nicht notwendigerweise strategisch ausgereifte Perspektive verfolgen, auch wenn darin Strömungen unterschiedlicher Tradition und Herkunft vertreten sind. Auch Strömungen und AktivistInnen aus radikalen sozialen Bewegungen können in solchen Parteien vertreten sein. Organisationen, die auf dieser Grundlage entstanden sind, sind die PSOL in Brasilien, die NPA in Frankreich, der Bloco de Esquerda in Portugal und Enhedslisten (Red Green Alliance) in Dänemark. Desgleichen Sinistra Critica in Italien und Izquierda Anticapitalista im Spanischen Staat. Natürlich gibt es zwischen den beiden Projekten keine undurchlässige Grenze und auf den vorhergehenden Kongressen der IV. Internationale (1995 u. 2003) wurden beide Perspektiven als denkbar erachtet. Hintergrund dieser Debatte war die kapitalistische Restauration in der UdSSR und in den Ländern Ost- und Mitteleuropas („der Fall der Berliner Mauer“) und das Einschwenken der sozialdemokratischen Parteien auf eine offen neoliberale Politik in den 1980er und 1990er Jahren. Infolgedessen hatte sich der Zusammenhalt der stalinistischen Parteien aufgelöst und es wurden zentrifugale Tendenzen (nach rechts wie nach links) von Zerfallsprodukten dieser Parteien begünstigt, neue Räume links von der Sozialdemokratie geschaffen. Letztlich waren damit auch die früheren Spaltungslinien zwischen revolutionären Strömungen, die oft aus den unterschiedlichen Bezugnahmen auf die UdSSR hervorgegangen warenresultiert waren, überholt. Die britischen GenossInnen distanzierten sich bei dieser Diskussion von der Orientierung auf „breite antikapitalistische Parteien“, da solche Projekte in vielen Ländern, angefangen mit England, nicht anstünden. Neue Erfahrungen In den 1990er Jahren machten die RevolutionärInnen in den verschiedensten Ecken der Welt neuen Erfahrungen: Es entstanden breite Parteien aus Strömungen links von der Sozialdemokratie, deren Mitglieder reformistische und antikapitalistische Positionen vertreten und lediglich in der Ablehnung der neoliberalen Verwaltung des Kapitalismus übereinstimmen. Wohl typisch dafür war DIE LINKE, in der antikapitalistische und sozialistische Strömungen vertreten sind, die in den sozialen, gewerkschaftlichen und globalisierungskritischen Bewegungen verankert sind, und daneben dezidiert reformistischen Strömungen, die auf Bündnisse mit der Sozialdemokratie auf nicht-liberalistischer Grundlage setzen,. D o s s i e r „B r e i t e Pa rt e i e n“ Die Entwicklung, die Rifondazione comunista und die brasilianische Arbeiterpartei (PT) nahmen, war im Wesentlichen vergleichbar, wenn auch in der jeweiligen Dynamik verschieden: Unsere italienischen und brasilianischen GenossInnen hatten in den 1990er Jahren die Hoffnung, dass hieraus sozialistische Parteien entstehen könnten, die strategisch einen revolutionären Bruch mit dem kapitalistischen System anstrebten. Die Frage, wie sie sich zu den Institutionen und zum Staat verhalten sollen, hat in beiden Fällen entweder zu einer Krise der Partei oder zu ihrer vollständigen Integration in die Verwaltung des kapitalistischen Systems geführt. Dies lehrt, dass sich neue Parteien nur dann stabil (in unserem Sinn) entwickeln können, wenn sie ihr Verhältnis zu den staatlichen Institutionen klären und ihre tagtägliche politische Aktivität mit der Perspektive des Umsturzes und nicht mit der Verwaltung des Systems verbinden, selbst wenn sie nicht über eine ausgereifte revolutionäre Strategie verfügen. Insofern war unsere Zielsetzung, wie wir sie auf den früheren Weltkongressen entwickelt und – mit der Bilanzierung der brasilianischen und italienischen Erfahrungen – auf dem letzten explizit präzisiert haben, nicht nur breite, sondern antikapitalistische Parteien aufzubauen. Dabei sollen alle Strömungen einbezogen werden, die die bloße Verwaltung des kapitalistischen Systems politisch ablehnen und stattdessen explizit auf einen sozialistischen Bruch, gestützt auf die Aktivität der sozialen Bewegungen, hinarbeiten. Vier Fragen Dieses Konzept (der breiten Parteien) wirft vier miteinander verknüpfte Fragen auf: 1. Wie können Parteien aufgebaut werden, die in der Epoche der Krise des Stalinismus und der Sozialdemokratie schlagkräftig sind und mehr sind als kleine propagandistische Gruppen? Parteien, die dazu imstande sind, den Klassenkampf zu organisieren, und die die Veränderung der Periode der 1990er Jahre aufgenommen haben. Parteien, die als Akteure und Organisatoren fungieren und nicht bloß als Strömungen, die der Sozialdemokratie und dem Stalinismus kritisch gegenüber stehen. Damit einher geht die Frage, wie die Aktivitäten, die Organisierung und die Verankerung dieser Parteien beschaffen sein müssen und auf welche soziale Basis sie sich stützen, was nicht nur der Wählerbasis betrifft, sondern die sozialen Schichten, die sie zu organisieren imstande sind. 2. Welches Programm müssen diese Parteien vertreten? Natürlich ein antikapitalistisches Programm, das auf Gesellschaftsveränderung, auf Sturz des Systems abzielt! Doch entscheidend dabei ist die konkrete politische Umsetzung dieses Programms und nicht der Kongresstext, auf den sich verweisen lässt: Welche Losungen und Kampagnen der Partei ergeben sich daraus; wie werden ihre AnhängerInnen und aktiven Mitglieder geschult; welche politischen Orientierung wird real verfolgt. Dies trifft umso mehr zu, wenn diese breiten Parteien neue politische Generationen organisieren, die über gesellschaftliche Mobilisierungen zu bestimmten Fragen politisiert werden. Am Beispiel von Schottland (Scottish Socialist Party, SSP) und England haben wir vor nicht allzu langer Zeit erlebt, welche bedauerlichen Folgen die praktische Vernachlässigung feministischer Fragestellungen haben kann. Doch können auch andere Fragen – etwa Antiimperialismus, Islamophobie, Rassismus, Ökologie – explosiven Charakter annehmen, denn auch sie bergen Spannungspotenzial, das durch eine demokratische interne Diskussion über die politische Ausrichtung dieser Parteien gemeistert werden müssen. 3. Wie ist das Verhältnis zu den Institutionen? Natürlich ergibt sich allein aus dem Umstand, dass diese Organisationen in Abgrenzung zur Sozialdemokratie entstehen, ein anderes Selbstverständnis. Aber bedeutet dies auch eine konkrete Unabhängigkeit gegenüber der Sozialdemokratie und keine Zusammenarbeit mit ihr bei der Verwaltung der bürgerlichen politischen Institutionen? Diese Frage ist offenkundig mit dem Programm verbunden, doch konkreter mit dem Verhältnis zum Staat und mit dem Verständnis, das eine Partei von ihrer Rolle in der Gesellschaft hat und davon, wie sich politisches Handeln umsetzen lässt. Die traditionellen Parteien der Arbeiterbewegung (die sozialdemokratischen und ex-stalinistischen) sind im Wesentlichen reformistische, aber auch parlamentarische Parteien, für die die Funktion, das Wesen einer politischen Partei die Präsenz im Parlament ist, wobei also der Schwerpunkt der Partei in der institutionellen Aktivität liegt. Doch gilt diese Definition der politischen Partei nur für unsere gegenwärtigen Gesellschaften, denn das parlamentarisch-demokratische System ist der Auffassung, dass die Rolle der politischen Parteien darin besteht, die WählerInnen in den Verwaltungsinstitutionen des Systems zu repräsentieren und nicht die Ausgebeuteten und Unterdrückten zu dessen Sturz zu organisieren! Diese Inprekorr 5/2013 37 D o s s i e r „B r e i t e Pa rt e i e n“ Frage des Verhältnisses zu den Institutionen hat zahlreiche Debatten in Parteien wie Rifondazione Comunista oder der PT bestimmt und hat zu einem bestimmten Zeitpunkt auch zum „Überschreiten des Rubikon“ geführt, ab dem sie sich ausdrücklich der institutionellen Verwaltung des Staats auf höchstem Niveau oder der Unterstützung neoliberaler Regierungen verschrieben haben. Doch hat es diese Debatten in den letzten Jahren auch in breiten Parteien gegeben, die in den Institutionen eine gewisse Repräsentanz haben, beispielsweise in Portugal, in Dänemark oder in der letzten Zeit in Frankreich in der NPA. 4. Wie ist das Verhältnis zu den sozialen Bewegungen und zu den neuen Formen der Radikalisierung? In den letzten Jahren der Krise des Kapitalismus ist die Nützlichkeit von politischen Parteien für die Unterdrückten in Frage gestellt worden. Die abwechselnde Verwaltung des Systems und der Angriffe auf die Arbeitenden durch die konservativen und die sozialdemokratischen Parteien hat die Diskreditierung der Institutionen und des bürgerlich-demokratischen Spiels sowie eine tiefe Skepsis in Bezug auf emanzipatorische politische Projekte, die von politischen Parteien getragen werden, beträchtlich gesteigert. Diese Diskreditierung erstreckt sich natürlich auch auf die Parteien der radikalen Linken. Das Aufkommen der Indignad@s (Empörten) in mehreren Ländern in den letzten Jahren hat diesen Widerspruch nach zahlreichen Debatten in der globalisierungskritischen Bewegung ebenfalls ins Rampenlicht gerückt. Neue Schichten, neue Generationen lehnen sich auf, revoltieren gegen dieses System, bringen aber alle parteilichen politischen Formen mit dem System in Verbindung, da faktisch alle in das System, das zu bekämpfen sie vorgeben, integriert zu sein scheinen. Zugleich sind diese neuen politischen Räume Quellen für eine Politisierung bzw. eine rasche antikapitalistische Radikalisierung. Doch parallel hierzu öffnet die kapitalistische Krise, eben weil das System innerhalb der Jugend und der Arbeiterklasse auf Ablehnung und Widerwillen stößt, auch Raum für ultrareaktionäre, faschistische Strömungen. Ein Bündel von Widersprüchen Insofern stehen die breiten Parteien vor einem Bündel von Widersprüchen: Sie wollen ein Partei sein, die mit der sozialdemokratischen Politik bricht und ein antikapitalistisches Programm entwickelt. Es gilt Schichten von Arbeitenden und Jugendlichen zu organisieren, die sich aufgrund der Krise radikalisieren. 38 Inprekorr 5/2013 Sie wollen eine politische Aktivität entfalten, die für die Unterdrückten nützlich ist, indem sie an der Organisierung der sozialen Kämpfe teilhaben und zugleich jedwede institutionelle Zusammenarbeit mit den sozial- bzw. neoliberalen Verwaltern ablehnen; Es geht um ein internes politisches Leben, das demokratisch und gestaltungsfähig ist, um sie zu wirklichen Parteien und nicht bloß zu politischen Wahlfronten zu machen und sie zugleich gegenüber jedweder Art von Druck im Sinne von „Realismus“ und „politischer Seriosität“ zu festigen, der sich um so stärker entwickelt, je mehr diese Parteien ein gewisses Gewicht im nationalen politischen Leben einnehmen. Im Laufe der Diskussion haben sich verschiedene Aspekte herausgeschält: Zunächst einmal stellt sich natürlich die Frage, ob es ein glaubhaftes Projekt ist, solche breiten Parteien auf stabile Weise aufbauen zu wollen. Ob diese Zielsetzung Sinn macht und wie sie umgesetzt wird, hängt offenkundig von den jeweiligen nationalen Besonderheiten ab, nämlich der Situation der radikalen Linken und unseren eigenen Fähigkeiten, Initiativen zu ergreifen. Dafür gibt es kein Modell, sondern es können sogar Situationen auftreten, in denen politische Fronten von Organisationen oder Wahlfronten dauerhaft die einzige konkrete Option darstellen. Das ist zum Beispiel in England mit Respect der Fall gewesen. Doch selbst hier stand Respect ab einem gewissen Zeitpunkt klar vor der Aufgabe, über diesen Rahmen hinaus zu gehen und eine neue Partei aufzubauen, die über die ursprünglichen Bestandteile dieses Projekts hinausgeht. Das hätte nicht zwangsläufig zu revolutionären Positionen geführt, aber die Situation qualitativ verändert. Damals hat die SWP solch eine Entwicklung ausdrücklich abgelehnt, und dies war dann der erste Schritt zur Krise von Respect und der SWP. Die wichtigste Frage der letzten Jahre war jedoch, welchen Nutzen antikapitalistische Parteien oder breite Parteien in Anbetracht der Krise haben. Insbesondere in Europa hat es in den 1990er und den 2000er Jahren eine sehr dynamische Welle gegeben, die von der globalisierungskritischen Bewegung getragen wurde und der radikalen Linken zugute kam. Das Ausmaß der kapitalistischen Krise seit 2008 hat die Aktualität antikapitalistischer Positionen bestätigt, aber nicht dazu geführt, dass die europäische antikapitalistische Linke sichtbarer und wirkungsvoller geworden wäre – ganz im Gegenteil. Zunächst sind Rifondazione, Respect und SSP D o s s i e r „B r e i t e Pa rt e i e n“ in eine Krise geraten und später DIE LINKE und jüngst die NPA. Dafür gab es jeweils spezifische Ursachen, aber im Endergebnis sind alle Parteien, die als Zugpferde der europäischen radikalen Linken angetreten sind, von der Krise erfasst worden. Seit einigen Jahren geht es für die Bevölkerung – vor allem in Europa – vornehmlich darum, gegen die mit der Staatsverschuldung verknüpften Strukturanpassungsprogramme anzugehen. Auf der einen Seite offenbart die Krise, wie das ungezügelte kapitalistische System funktioniert, auf der anderen Seite werden dadurch unmittelbar wirksame Maßnahmen gegen die sozialen Verheerungen der neoliberalen Politik noch dringlicher. Diese Situation erklärt die Schlüsselstellung, die Syriza bei den letzten Ausschlägen der Krise in Griechenland und die Front de Gauche in Frankreich im vergangenen Jahr eingenommen haben. Wenn soziale Mobilisierungen ausbleiben, die dazu imstande wären, die kapitalistischen Übel an den Wurzeln anzupacken und zu einer gesellschaftlichen Konfrontation mit dem System zu führen, suchen die Krisenopfer nach unmittelbaren Antworten auf die von der Krise und den Sparplänen hervorgerufenen Leiden. Wir müssen aus diesen Rahmenbedingungen Konsequenzen ziehen und uns vorrangig darauf konzentrieren, politische Organisationen aufzubauen, die dazu imstande sind, zu kämpfen und konkrete Lösungsvorschläge gegen die Angriffe der Regierungen und Kapitalisten im Rahmen der gegenwärtigen Krise anzubieten. Unser zentrales Anliegen muss der Aufbau von Anti-Austeritäts-Fronten sein, das heißt der Zusammenschluss der politischen und sozialen Kräfte im Rahmen einer Einheitsfrontpolitik, die gegen diese Austeritätsmaßnahmen eintreten. Unser Anknüpfungspunkt muss sein, die auf dieser Grundlage aktiven politischen Kräften zu einem gemeinsamen Vorgehen zu veranlassen. Das heißt in erster Linie, dass wir Sofortmaßnahmen gegen die Austerität vorschlagen, die die wesentlichen Forderungen gegen die Krise enthalten und die als Grundlage für derartige Fronten dienen können. Die Probleme im Auge behalten Parallel hierzu machen es die Erfahrungen der letzten zehn Jahre notwendig, die Problemstellung des letzten Weltkongresses bezüglich des Auf baus breiter antikapitalistischer Parteien weiter zu erörtern. 1. Die Fortdauer der ökonomischen, ökologischen und kapitalistischen Krisen und deren wahrscheinliche Verschärfung in den kommenden Jahren machen das entschiedene politische Handeln der RevolutionärInnen und der AntikapitalistInnen für die frontale und globale Bekämpfung dieses Systems, der Ausbeutung und sämtlicher Formen von Unterdrückung, die es hervorbringt und die es befördert, immer dringlicher. 2. Wir halten daran fest, politische Parteien auf bauen zu wollen, die über den Rahmen unserer Sektionen hinausreichen. Dabei wollen wir die sozialen Kämpfe der Ausgebeuteten und Unterdrückten organisieren und versuchen, die kämpferischen Strömungen zusammenzubringen, die in sozialen und politischen Zusammenhängen gegen den Kapitalismus kämpfen, und ihre Aktivitäten politisch kohärent und wirksam zu gestalten. 3. Die Möglichkeiten, das politische Profil und die Formen solcher Parteien hängen weitgehend von der jeweiligen nationalen Situation und der realen Situation unserer Sektionen ab. In allen Fällen müssen wir uns offen gegenüber den anderen antikapitalistischen Organisationen verhalten, aber auch und vor allem gegenüber den neuen aktiven Generationen, die bei sozialen Bewegungen in Erscheinung treten. Aufgrund der Erfahrungen der letzten Jahre sind wir umso mehr davon überzeugt, dass sich solche Parteien auf die sozialen Bewegungen und nicht auf parlamentarische Positionen stützen müssen, um Bestand zu haben. Gleichzeitig müssen wir uns darum bemühen, diesen Parteien unsere Analyse des Staats und der bürgerlichen Institutionen nahezubringen. 4. Wir müssen uns weiterhin die internationalen Verbindungen und Aktivitäten der antikapitalistischen Organisationen fördern. Zwar waren die letzten Jahre auf diesem Gebiet von Blockaden und Rückschlägen geprägt, doch müssen wir umso mehr daran festhalten, als die internationalen Entwicklungen der Krise solch koordiniertes Handeln immer dringlicher machen. Zwar hat der letzte Weltkongress gezeigt, dass unsere Internationale in der Lage ist, solche Zusammenschlüsse und gemeinsame Aktionen zu fördern, aber die regionalen Ansätze treten eindeutig auf der Stelle. Laurent Carasso ist Mitglied der NPA und des Exekutivbüros der IV. Internationale. Dieser Bericht ist zusammen mit Berichten zur Bilanz über den Aufbau von breiten Parteien in Pakistan, im Spanischen Staat und in Frankreich vorgetragen worden, mit dem Ziel, Inprekorr 5/2013 39 D o s s i e r „B r e i t e Pa rt e i e n“ die Debatte zu verallgemeinern; sie wird zur Vorbereitung des 17. Weltkongresses auf der Tagung des Internationalen Komitees 2014 fortgesetzt werden. Übersetzung aus dem Französischen: Friedrich Dorn und MiWe 1 Sinistra Critica wird in Kürze in zwei getrennten Organisationen auf der politischen Bühne erscheinen. Wir werden zu gegebener Zeit in einer der folgenden Inprekorr-Ausgaben darauf zurückkommen. [Anm. d. Red.] Die Debatte über „breite Parteien“ Gegenbericht zum Text „Für eine Fortsetzung der Debatte über die breiten Parteien“ des Büros der Vierten Internationale. Jeff Mackler Die schlimmste Art eine wichtige und umstrittene Frage in unserer Bewegung zu debattieren, ist die gegnerische Position zu karikieren und dann die Karikatur lächerlich zu machen. Unglücklicher Weise ist das die Methode, die das Büro in den Anfangsabsätzen seines Textes „ Zur Fortsetzung der Debatte um breite Parteien“ gewählt hat. Im Text steht: „Die erste Debatte betrifft die irischen GenossInnen und die US-amerikanischen von Socialist Action, die systematisch jegliche Politik des Auf baus breiter Parteien ablehnen und vorschlagen, weiterhin einfach nur Organisationen auf Grundlage des Programms der Vierten Internationale aufzubauen.“ GenossInnen, die mit der Debatte vertraut sind, wissen, dass diese Behauptung keine Substanz hat. Weder SA noch die irischen GenossInnen haben jemals in irgendeinem Text oder irgendeiner Stellungnahme den Auf bau von Organisationen oder Sektionen der Vierten Internationale basierend auf dem Programm der Vierten Internationale in Gegensatz gesetzt zum Auf bau von breiten oder breiten anti-kapitalistischen Parteien bzw. jeglicher Form 40 Inprekorr 5/2013 von Arbeiterparteien, die für die Interessen der Arbeiterklasse zu kämpfen beabsichtigen. Was wir wiederholt betont haben ist, dass der Auf bau von revolutionären sozialistischen Massenparteien auf Grundlage des Programms der Vierten Internationale in jedem Land der Welt der nicht aufzugebende und Hauptgrund für die Existenz der Vierten Internationale ist – die Sache der sozialistischen Weltrevolution voranzubringen. Leninistische Massenparteien sind die notwendigen Instrumente für die Eroberung der Macht, die Abschaffung des Kapitalismus und die Errichtung von Arbeiter- und Bauernregierungen zur Schaffung der zukünftigen sozialistischen Ordnung. Das ist ein fundamentales Prinzip revolutionärer sozialistischer Politik. Heutzutage scheint es in unserer Weltbewegung ernsthaft in Frage gestellt zu werden. Die Frage, ob RevolutionärInnen in breite anti-kapitalistische Parteien, Arbeiterparteien auf Basis von Gewerkschaften oder eine andere politische Formation auf Basis der Arbeiterklasse eintreten oder sie auf bauen sollten, ist eine taktische Frage, die auf Grundlage der Situation in jedem Land entschieden werden muss. Abhängig von den Umständen können diese Formationen der Arbeiterklasse sowohl die Erziehung und Mobilisierung der Arbeiterklasse begünstigen als auch ein Hindernis dafür sein. Das Hauptkriterium, um zu entscheiden, ob revolutionäre SozialistInnen sich an solchen Parteien beteiligen, sie auf bauen oder sie gründen, ist, ob dadurch der Auf bau revolutionärer sozialistischer Massenparteien des leninistischen Typs vorangebracht wird oder nicht. Eine Unterscheidung ohne Unterschied Der heutige neue Büro-Text versucht, zwischen zwei Arten von Parteien zu unterscheiden, einer offen reformistischen und einer anderen, die vage als breit antikapitalistisch definiert wird. Bei letzteren handelt es sich gemäß dem Büro um Parteien, „„die von vornherein den Sturz des kapitalistischen Systems anstreben und somit eine dezidiert revolutionäre, wenn auch nicht notwendigerweise strategisch ausgereifte Perspektive verfolgen, auch wenn darin Strömungen unterschiedlicher Tradition und Herkunft vertreten sind ...“ „Natürlich gibt es zwischen den beiden Projekten keine undurchlässige Grenze ...“, wie uns das Büro bei dieser Unterscheidung in Erinnerung ruft. In der Tat fördern die Geschichte der Vierten Internationale in den letzten Jahrzehnten und die Entscheidungen der letzten Weltkongresse die Beteiligung in und den Auf bau beider Sorten D o s s i e r „B r e i t e Pa rt e i e n“ von Parteien. Heute ist der Fokus des Büros nur auf eine gerichtet. Socialist Action hat nie irgendeine Gegnerschaft dazu angedeutet, dass Sektionen der Vierten Internationale sich an einer der „beiden“ beteiligen oder sie auf bauen – qualifiziert von uns nur durch eine klare Antwort auf die Frage: „Hilft oder behindert unsere Beteiligung die Sache des Auf baus der revolutionären sozialistischen Partei der Vierten Internationale?“ Anzumerken ist, dass die „revolutionäre Horizont“Partei des Büros zu oft die offen reformistische Partei geworden ist. So wurde Rifondazione Comunista, die aus einer „linken“ Abspaltung der italienischen KP entstand, Teil einer kapitalistischen Koalitionsregierung; die brasilianische PT kam durch eine Wahlallianz mit einer katholischen Partei der kapitalistischen Reaktion an die Macht. Unsere Genossen der Vierten Internationale beschrieben RC und PT von Beginn an und für Jahre als „ihre Parteien“ und betonten in Theorie und Praxis, dass der Auf bau von Parteien der Vierten Internationale dem Auf bau dieser jetzt diskreditierten reformistischen oder aufgelösten Parteien untergeordnet war. Bei dieser Debatte geht es nicht darum, ob unsere Sektionen ermutigt werden, in diese oder jene anti-kapitalistische (wie auch immer definiert) oder reformistische (wie auch immer definiert) Partei einzutreten und sie aufzubauen. Die Diskussion geht darüber, ob diese neuen Formationen ein Ersatz für die revolutionäre Partei sind – ob nach „dem Fall der Berliner Mauer“, wie es im Text steht, etwas Neues in der Welt aufgetaucht ist, das heute in fundamentaler Weise unsere historische Perspektive des „Auf baus der Weltpartei der sozialistischen Revolution“ ändert, die wir seit einem dreiviertel Jahrhundert verteidigten und für die wir kämpften. Der Bericht „Rolle und Aufgaben der Vierten Internationale“ des letzten Weltkongresses legte den Schwerpunkt darauf, dass es die Aufgabe der Vierten Internationale sei, eine neue Internationale gestützt auf Parteien vom Typ der NPA aufzubauen. Wir waren und bleiben in entschiedener Opposition zu dieser Perspektive. Wenn das zur Norm für alle oder die meisten Sektionen der Vierten Internationale wird, gehen wir dem Untergang der Vierten Internationale entgegen. Als diese klar dargestellte Orientierung bei der Weltkongress-Debatte von einer bedeutenden Anzahl von Sektionen in Frage gestellt wurde, fühlte sich der Berichterstatter für das Büro in seiner Schlussbemerkung gezwungen, diese kategorische Behauptung zu modifizieren, in dem er sagte, dass die NPA etwas für Frankreich sei und dass die anderen Sektionen auf Grundlage der Situation in ihren Ländern tun könnten, was sie wollten. Diese Schlussbemerkung war ein wichtiger, aber noch ungenügender Rückzug, der sich in der Folge als vergänglich erwiesen hat. Aber die sprichwörtliche Katze war aus dem Sack und besonders, als die französische LCR sich auflöste – und damit im Ergebnis unsere stärkste Partei liquidiert wurde. Heute werden wir im Folgenden die Weisheit dieser Auflösung überprüfen. Um die Frage klarer zu stellen, müssen wir fragen, warum die GenossInnen glaubten, dass die Bildung der NPA die komplette Auflösung der LCR mit ihren Publikationen und Parteieinrichtungen nötig machte. Es ist klar, dass es sich nicht um eine taktische, sondern um eine strategische Entscheidung handelte. Sie basierte auf der grundsätzlich falschen Prämisse, dass die Weltpolitik sich mit dem Untergang der UdSSR und der anderen stalinistischen Staaten zusammen mit der „sozial-liberalen“ Transformation der Sozialdemokratie, in fundamentaler Weise geändert hat. Daraus wurde geschlossen, dass der Bedarf für die Vierte Internationale und ihre leninistischen Sektionen in Frage gestellt war. Eine Vierte Internationale bestehend aus NPAs war das neue Projekt – eine Orientierung, deren negative Konsequenzen jetzt schnell durch die Bank sichtbar werden. Am ungeheuerlichsten war die Tatsache, dass es nicht das Ziel der Vierten Internationale war, in diesen Parteien „das Programm der Vierten Internationale“ vorzustellen und dafür AnhängerInnen zu gewinnen. Wäre das der Fall gewesen, dann hätten unsere GenossInnen ernsthafte Formationen für diesen Zweck organisiert – egal ob Strömungen, Tendenzen, Plattformen oder wie auch immer bezeichnet. Aber im Allgemeinen wurde das nicht getan, noch weniger als Priorität gesehen. In Frankreich gibt es keine Sektion oder Strömung der Vierten Internationale innerhalb der NPA. Was von der NPA übrig geblieben ist, erscheint als stetig wachsende Anzahl von „Plattformen“, die jede ihre eigene und gegeneinander gerichtete Perspektive vorbringen und von denen die meisten von GenossInnen der Vierten Internationale geführt werden. Das Büro befindet sich auf unsicherem Grund, wenn es über die Perspektive eines „revolutionären Bruchs mit dem Kapitalismus“ spricht und die Parteien, die von ihm als dem entsprechend bezeichnet werden, kapitalistischen Austeritäts-Rettungspaketen (wie in Portugal) oder kapitalistischen Koalitionsbudgets (wie die dänische RotGrüne Allianz) zugestimmt haben (s. IV, SAP national Inprekorr 5/2013 41 D o s s i e r „B r e i t e Pa rt e i e n“ conference statement, „Budget 2013: A major mistake by the Red-Green Alliance). Heute scheint das Büro eine weitere Wendung vorzuschlagen. „Aufgrund der brasilianischen und italienischen Erfahrungen“ wiederholt das Büro, beabsichtigen wir nun etwas anderes – keine breiten Parteien, sondern breite anti-kapitalistische Parteien, „die alle Strömungen zusammenfassen, die die Logik der Verwaltung des kapitalistischen Systems zurückweisen und ausdrücklich für einen sozialistischen Bruch, einen revolutionären Bruch basierend auf der Aktivität sozialer Bewegungen handeln. „ Hier stellen wir fest, dass zu dem Mix dessen, was diese neuen anti-kapitalistischen Parteien, wenn sie denn das Licht der Welt erblicken, sein sollen, die „Sprache“ der Revolution kommt: ausdrücklich „sozialistisch“ und für einen „revolutionären Bruch“ mit dem kapitalistischen Staat. Wir schätzen, dass das Büro nach den Erfahrungen mit der klassenkollaborationistischen Politik von „antikapitalistischen“ Parteien in Vergangenheit und Gegenwart, das Bedürfnis fühlt, von den Parteien, die es früher gepriesen hat, etwas Abstand zu nehmen. Lasst uns annehmen, dass solche „Strömungen“ zusammen kommen könnten, um das zu bilden, was das Büro „nützliche Parteien“, Parteien, die „den Klassenkampf organisieren“ können, anstelle von dem, was das Büro als „kleine Propagandagruppen“ beschreibt, nämlich die Sektionen der Vierten Internationale. In diesem Fall wären wir die ersten, die aus vollem Herzen mitmachen würden, aber niemals als Ersatz für den Auf bau und die Umwandlung der kleinen, im Wesentlichen propagandistischen Gruppen, die die Sektionen der Vierten Internationale heute sind, in revolutionär-sozialistische Massenparteien, die in der Lage sind, die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft zu organisieren. Vage definierter Anti-Kapitalismus und Sozialismus, einschließlich eines vagen Hinweises auf einen zukünftigen Bruch mit der Staatsmacht, sind kein Ersatz für disziplinierte revolutionäre sozialistische Parteien mit einem Programm für die sozialistische Revolution. Die Sektionen der Vierten Internationale sind nicht aus freien Stücken kleine Propagandagruppen. Die Geschichte hat uns in eine Situation gebracht, die wir nicht mit magischen Formeln, wie sie das Büro vorschlägt, umkehren können. Unsere zugegebenen Schwierigkeiten sind nicht auf inhärente programmatische Mängel und die leninistischen demokratisch-zentralistischen Normen zurückzuführen, sondern auf die vielleicht längste Periode relativer kapitalistischer Stabilität, die es jemals gegeben hat. 42 Inprekorr 5/2013 Wie auch bei Lenins Partei sind die Aussichten, „kleine Propaganda-Parteien“ in Perioden solcher Stabilität und/ oder nach Niederlagen und Rückzügen der Arbeiterklasse in revolutionäre Massenparteien umzuwandeln, schwierig wenn nicht gar unmöglich. Das ist ein qualitativer Unterschied zu reformistischen Parteien, die im kapitalistischen System verwurzelt sind und oft aufgerufen werden, es „verwalten“ zu helfen. Keine ernsthafte revolutionäre Partei genießt es, durch Umstände außerhalb ihrer Kontrolle auf eine kleine Propaganda-Gruppe reduziert zu werden, ohne breiten Einfluss in der Arbeiterklasse und bei den Unterdrückten. Aber jedeR RevolutionärIn stand vor diesem Dilemma, von Marx und Engels zu Lenin und Trotzki und all den anderen, überall. Wie man weiter existieren, kämpfen, wachsen, bedeutenden Einfluss gewinnen, sich auf die Zukunft vorbereiten kann, wenn die Massenkräfte für Veränderung in der breiten Arbeiterklasse relativ passiv bleiben, ist die Frage aller Fragen. Aber wir sind nicht ohne Instruktionen. Die Methode der Einheitsfront hat sich für bedeutende Sektionen der Vierten Internationale als unschätzbar erwiesen, um bedeutende Strömungen auf der Linken und oft der breiteren Arbeiterbewegung für gemeinsamen Kampf zu vereinen. Sie ist eine wesentliche Taktik, im transformierenden Prozess den Klassenkampf voranzubringen und zuerst kleine Mengen von engagierten Kadern und dann breite Kräfte für die revolutionäre Partei zu gewinnen – und das wird im Text des Büros auch angemessen betont. Im Wesentlichen soll die Taktik der Einheitsfront zwei Ziele erreichen – 1) die Mobilisierung unserer Klasse, um für ihre eigenen Interessen zu kämpfen und dabei ihr Selbstvertrauen, ihre Kraft und ihre Fähigkeit zu gewinnen zu steigern, und 2) uns in dem Prozess von den Strömungen abzugrenzen, die sich wegen reformistischer oder sektiererischer Gründe aus solchen Kämpfen heraushalten. Natürlich, in dem Maß, wie andere Strömungen der sozialistischen Linken sich mit uns zu gemeinsamen Aktionen und demokratischer Planung zusammentun, treten wichtige Differenzen in den Hintergrund, während Vertrauen und Zuversicht sich vergrößern und die Basis für künftige Zusammenarbeit und eventuell prinzipienfeste Fusionen legen können. Wir müssen betonen, dass der zentrale Zweck der Taktik der Einheitsfront der Auf bau der revolutionären sozialistischen Partei ist. Die Geschichte hat verschiedentlich und in tragischer Weise demonstriert, dass das Fehlen einer solchen Partei und einer Führung, die im D o s s i e r „B r e i t e Pa rt e i e n“ Kampf gebildet wurde, Niederlagen bedeutenden Ausmaßes garantiert. Wir müssen hier nicht auf die Konsequenzen im Arabischen Frühling, in Syrien, Libyen, Ägypten und tatsächlich der ganzen modernen Ära eingehen. Die Taktik der Einheitsfront hat, wie alle anderen, ihre Grenzen. Sie ist keine magische Formel, besonders heute, wo sich das kapitalistische System in einer Krise historischen Ausmaßes befindet und die wichtigen, aber noch begrenzten Kämpfe, mit einigen Ausnahmen, noch bedeutende Siege erringen müssen. Wir sind zuversichtlich, dass solche Siege aus der gegenwärtigen Krise und dem Kampf dagegen resultieren und die Basis für tiefergehende und Einheitsfront Aktionen legen, die das Tor zur revolutionären Umwandlung des Staates weiter öffnen werden. Müssen wir wiederholen, dass das ohne eine tief verankerte revolutionäre Massenpartei, die durch nichts von diesem Ziel abgebracht werden kann, sehr unwahrscheinlich ist? Das Büro hat die „Problematik“ erkannt, dass die sogenannten anti-kapitalistischen Parteien zu oft Einheitsfront-Mobilisierungen der Wahlpolitik untergeordnet haben, und ist daher gezwungen, uns daran zu erinnern, dass das Engagement der Massen in direkter Aktion auf der Straße essentiell bleibt. Nichtsdestotrotz bestätigt das Büro unmittelbar nach diesem Abschnitt sein zentrales „strategisches“ Ziel: „Gleichzeitig machen es die Erfahrungen der letzten zehn Jahre nötig, die Thematik des Auf baus breiter anti-kapitalistischer Parteien, wie sie der letzte Weltkongress aufgeworfen hat, weiter zu verfolgen.“ Diese „nützlichen“ Parteien waren ihrer Natur gemäß öfter als nicht, mehr auf Wahl-/Parlamentspolitik fixiert, als Parteien, die auf Massenmobilisierungen setzten, um die Macht der Arbeiterklasse auf den Straßen zu gebrauchen. Daher die Notwendigkeit für das Büro, die GenossInnen vor einer Politik des Elektoralismus zu warnen. In den letzten Jahren hat sich die Mehrheit der Leitung der Vierten Internationale kopfüber in den Auf bau vage definierter Parteien mit elektoralistischen Illusionen – darunter befinden sich einige, die unsere Prinzipien der Klassenunabhängigkeit verletzen – gestürzt und diesem Auf bau den Auf bau leninistischer Parteien untergeordnet bzw. ihn gar dadurch ersetzt. Wenn dieses Projekt noch weiter verfolgt wird, bedeutet das die Aufgabe unseres historischen Programms. Tragisch, wenn wir eine Bilanz unserer Erfahrungen mit solchen Formationen nicht nur in den letzten „10 Jahren“ , wie das Büro es tut, sondern auch in den Jahrzehnte davor ziehen würden, dann wären wir gezwungen, im Wesentlichen negative Schlussfolge- rungen zu ziehen. Viele dieser Gruppen stehen bereits vor der Auflösung oder befinden sich in rapidem Niedergang. Ginge es bei der Diskussion nur um eine Taktik über eine Kombination von Wahlpolitik und Einheitsfrontmobilisierungen zum Vorantreiben des Klassenkampfes; um eine Taktik, die sich konzentriert auf den Auf bau von disziplinierten Sektionen der Vierten Internationale basierend auf unserem historischen Programm und mit einem organisatorischen Ausdruck innerhalb wie außerhalb jeder Formation, die wir entscheiden aufzubauen oder der wir beitreten wollen, wären wir auf solidem Grund. Aber die Ereignisse im Laufe der Zeit und der mangelnde Erfolg dieser Projekte warnen uns, dass das nicht der Fall ist. Jeff Mackler ist ein führendes Mitglied von Socialist Action, USA Übersetzung: W. W. Beitrag zur Debatte über breite Parteien Dies ist ein Gegenbericht sowohl zu dem Text des Büros „Die Debatte über breite Parteien fortsetzen“ als auch zu dem Text „Die Debatte über breite Parteien“ von Socialist Action für die Tagung des Internationalen Komitees (IK) im März 2013. Alan Davies Seit dem letzten Weltkongress ist der Auf bau von breiten Parteien zur Füllung des Raums links von der Sozialdemokratie – besonders in Europa – wieder dringender geworden. Der Antrieb dazu geht von der Wirtschaftskrise, der nicht gelösten Krise der Repräsentation der Arbeiterklasse und dem Bedarf an politischer Führung im Kampf gegen die Austerität aus. Wir haben einen dramatischen Anstieg des Niveaus des Klassenkampfes in Spanien, Portugal und natürlich Inprekorr 5/2013 43 D o s s i e r „B r e i t e Pa rt e i e n“ in Griechenland, dem Epizentrum, gesehen. Wir haben den bemerkenswerten Aufstieg von Syriza bei den JuniWahlen in Griechenland gesehen, bei denen sie 27 % der Stimmen gewonnen hat und nahe daran war, den ProAusteritäts-Parteien eine Niederlage beizubringen und eine linke Anti-Austeritäts-Regierung zu bilden. Die französische Front de Gauche mit Mélenchon lag im vergangenen Jahr in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl mit 3 984 822 Stimmen – 11,1 % der Gesamtzahl – an vierter Stelle. Insbesondere die Rolle von Syriza – sowohl die Wahlergebnisse als auch ihre Rolle bei den Massenmobilisierungen und in den sozialen Bewegungen – hat gezeigt, welch riesige Möglichkeiten solch eine Partei in dieser Situation bietet. Syriza stellte für die Linke einen politischen Raum zur Organisierung bereit. Sie eröffnete nach 19 Generalstreiks und Hunderten von Mobilisierungen bezüglich der Regierungsfrage eine entscheidende Dimension für die Kämpfe in Griechenland. Sie hat zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten die Möglichkeit auf die Tagesordnung gebracht, dass in Europa eine Regierung der radikalen Linken gewählt wird. Das hat wiederum die Frage des Auf baus von weiteren Parteien dieser Art aufgeworfen, sowohl um eine politische Führung zu bieten, die der Austerität ein Ende bereiten kann, als auch um Solidarität aufzubauen, falls eine von Syriza geführte Regierung gewählt wird. Doch was ist der politische Charakter von Syriza? Sie ist natürlich keine revolutionäre Partei. Und die meisten GenossInnen des IK würden dem zustimmen, dass sie trotz eines sehr radikalen Programms keine antikapitalistische Partei ist. Das Büro verdient Anerkennung dafür, dass es vor den Juni-Wahlen eine Erklärung herausgegeben hat, mit der der Aufruf von Syriza zur Einheit der griechischen Linken und für eine Regierung der AntiAusteritäts-Parteien unterstützt wird. Und eben nach Syrizas Aufruf für eine Regierung der Linken (d. h. einem glaubwürdigen Regierungsvorschlag) ist die Unterstützung für sie drastisch hochgeschossen. Trotz all dem zieht der Text des Büros bei diesem IK die Schlussfolgerung, dass das vom Weltkongress verabschiedete Herangehen (wie es in dem Dokument „Rolle und Aufgaben der Vierten Internationale“ niedergelegt ist), mit dem zum Auf bau von antikapitalistischen Parteien auf der Grundlage des Beispiels der französischen NPA aufgerufen wird, richtig war und richtig bleibt. Es heißt da: „Die Erfahrungen der letzten zehn Jahre machen es notwendig, die Problemstellung des letzten Kongresses 44 Inprekorr 5/2013 in Bezug auf den Auf bau von breiten antikapitalistischen Parteien beizubehalten“. Dazu wird Folgendes näher ausgeführt: „Wir halten die Perspektive des Ausbaus von politischen Parteien aufrecht, die über den Rahmen unserer Sektionen hinausreichen, um die sozialen Kämpfe der Ausgebeuteten und Unterdrückten zu organisieren und zu versuchen, die kämpferischen Strömungen zusammenzubringen, die sozial und politisch auf dem Terrain des Antikapitalismus agieren, und ihre Aktivitäten politisch kohärent und wirksam zu machen versuchen.“ Im Text des Büros wird der Text des Weltkongresses in einem der Absätze im Anhang in hervorgehobener Form zitiert. Dieser Text geht sogar noch weiter, wobei Antikapitalismus mit revolutionärer Organisation vermengt wird, was meiner Ansicht nach extrem problematisch ist. Da heißt es folgendermaßen: „Revolutionär-marxistische AktivistInnen, Kerne, Strömungen und Organisationen müssen das Problem des Auf baus von antikapitalistischen, revolutionären politischen Formationen mit der Perspektive der Bildung einer neuen unabhängigen politischen Repräsentation der Arbeiterklasse stellen“. Darin ist schwerlich etwas anderes als die Beschreibung einer revolutionären Partei, nicht einer breiten linken Formation zu erblicken. Während wir voll und ganz für revolutionäre Umgruppierung und Zusammenschlüsse sein sollten, sollten wir dies nicht mit dem Auf bau einer breiten linken Partei entweder in der Art von Syriza oder von Enhedslisten in Dänemark vermengen. Ich war mit diesem Herangehen an den Auf bau breiter Parteien nicht einverstanden, als es auf dem Weltkongress beschlossen wurde, und ich bin auch jetzt nicht damit einverstanden. Ich stimme auch nicht mit der Schlussfolgerung des Büros in Bezug auf die Bilanz von all dem überein. Ich denke in der Tat, dass die Bilanz das Gegenteil zeigt: nämlich dass die starke Betonung auf dem antikapitalistischen Charakter solcher Parteien (und mit unzureichender Berücksichtigung linker Parteien von anderem Charakter) ein Fehler gewesen ist und zu Zweideutigkeiten in Bezug auf breite Parteien mit anderen politischen Merkmalen geführt hat. Auf dem Weltkongress habe ich eine Reihe von Abänderungen von „Socialist Resistance“ zu dem Text „Rolle und Aufgaben der Vierten Internationale“ vorgestellt, deren Aussage war, wir sollten breite Parteien links von der Sozialdemokratie auf bauen, deren politischer Charakter der jeweiligen politischen Realität angemessen sein müsse. Das kann eine antikapitalistische Partei sein, es könnte D o s s i e r „B r e i t e Pa rt e i e n“ aber auch nicht der Fall sein. Es könnte den Auf bau einer linksreformistischen Partei oder einer Partei bedeuten, die fast einen antikapitalistischen Charakter hat. Bei der Debatte hierüber auf dem Weltkongress gab es drei Stränge: Der erste bestand in der erwähnten Mehrheitsposition, die nicht nur für antikapitalistischen Parteien aufrief, sondern den Unterschied zwischen breiten Parteien und der IV. Internationale und ihren Sektionen verwischte; das bedeutet, dass sie in der Frage zweideutig war, ob solche Parteien als Modell für eine neue „breitere“ Internationale zu betrachten sind. Die zweite Position war die von Socialist Resistance, die zum Auf bau von Parteien links von der Sozialdemokratie aufrief, wobei ihr politischer Charakter von der nationalen politischen Situation bestimmt wird – wenn möglich eine antikapitalistische Partei, ansonsten radikal linke, linksreformistische oder auf die Gewerkschaften gestützte Parteien. Bei diesem Ansatz wurde das Entstehen solcher Linksparteien als wichtig betrachtet, wie auch immer ihr genauer politischer Charakter aussieht, unter der Voraussetzung, dass es offene und demokratische sowie für die Arbeiterbewegung und den Kampf gegen die Austerität nutzbringende Organisationen sind. Die dritte Position (wie sie sich jetzt in dem Text von Socialist Action USA widerspiegelt) bezogen diejenigen, die zwar sagen, sie seien nicht grundsätzlich gegen die Beteiligung an breiten Parteien, doch jedes praktische Beispiel verurteilen und jedes Problem in der Vergangenheit gegen ein weiteres Engagement in solchen Parteien ausnutzen. Ich habe hauptsächlich wegen der unangebrachten Betonung, die der Text „Rolle und Aufgaben der Vierten Internationale“ auf den Auf bau von antikapitalistischen Parteien gelegt hat, dagegen gestimmt. Daraus war zu schließen, dass linke Parteien jeden anderen Charakters, ob beispielsweise linksreformistisch oder radikal links, entweder problematisch waren oder wenig bewirkten. DIE LINKE, die wichtigste Partei links von der Sozialdemokratie, die in der Zeit vor dem Kongress entstand, wurde nicht einmal erwähnt, vermutlich weil sie nicht ins Drehbuch passt. Dies schien sich in der Diskussion über den Text des Büros in einem gewissen Ausmaß zu ändern, als gesagt worden ist: „Natürlich sind wir für den Eintritt in DIE LINKE, das ist aber nicht die Art von Partei, die wir auf bauen wollen.“ Aber warum sollten wir sie nicht auf bauen wollen, wenn das den Kampf der Arbeiterklasse in Deutschland voranbringen würde? Das würde keinen Sinn machen. Es stimmt, dass es nicht die Art von Partei ist, die wir am Ende haben wollen, aber das ist eine ganz andere Angelegenheit. Das wirft vielmehr die Frage auf, wie wir darin arbeiten sollten und wie wir sie zu gestalten suchen. Das ganze Herangehen (die Betonung von antikapitalistischen Parteien) ist nach wie vor viel zu restriktiv. Es stellt die politischen Realitäten in den meisten europäischen Ländern nicht in Rechnung, in denen der Auf bau einer antikapitalistischen Partei derzeit nicht auf der Tagesordnung steht. Breite Parteien entstehen als Antwort auf eine politische Realität, anderenfalls werden sie sich nicht sehr lange halten. Der Charakter solcher Parteien wird durch den Stand des Klassenkampfs, die politischen Bedingungen auf nationaler Ebene und die Geschichte und die Gestalt der Arbeiterbewegung und der Linken in dem jeweiligen Land bestimmt. Wir können nicht im Vorhinein bestimmen, welchen Charakter solche Parteien haben werden – obschon wir (hoffentlich) einen gewissen Einfluss darauf nehmen können. Ob wir (als Sektionen der IV. Internationale) solch einer Partei beitreten und in ihr arbeiten, sollte sich nach zwei Hauptfaktoren richten. Der erste und wichtigste ist, ob dies den Kampf der ArbeiterInnen und Unterdrückten voranbringen würde. Der zweite ist ihre interne Demokratie, was entscheidend ist, wenn es eine Partei sein soll, die breiten Einfluss in der Arbeiterbewegung haben kann – einen breiteren Einfluss als derjenige, den wir als revolutionäre Strömung direkt haben können. Wenn es in solch einer Partei keine Demokratie oder keine Struktur gibt, um sie zu befördern, oder wenn es nicht möglich ist, eine Plattform oder eine Tendenz zu bilden, um die herum man sich organisieren kann, dann mag es wenig Sinn haben beizutreten – was z. B. bei der Front de Gauche der Fall zu sein scheint. Syriza dagegen ist eine offene und demokratische Partei. Andere Strömungen, die beitreten, erhalten eine Repräsentation in den Leitungsgremien. Bei der letzten Syriza-Konferenz hat die radikale antikapitalistische Plattform, zu der Kokkino gehört, 25 % der Stimmen bekommen. Das soll nicht heißen, dass Syriza nicht unter dem Druck, der auf sie ausgeübt wird, der Rechten nicht Zugeständnisse machen wird, vor allem wenn sie die nächste Wahl gewinnen und unter massiven Druck von rechts geraten wird. Es soll aber heißen, dass die Art und Weise, sich vor solchem Zurückweichen zu hüten, nicht darin besteht, es von außen anzuprangern, sondern Teil Inprekorr 5/2013 45 D o s s i e r „B r e i t e Pa rt e i e n“ einer organisierten Linken in ihr zu sein, um gegen solches Zurückweichen aufzutreten. In Griechenland heißt jede andere Politik als das Aufrufen für Einheit um Syriza und Mitarbeit in Syriza, um sie auf die effektivste Weise aufzubauen, eine historische Chance verpassen – was bei der KKE und Antarsya der Fall war, die draußen gestanden haben und in den Wahlen gegen sie angetreten sind. Syriza dagegen bleibt in dem Kampf gegen Austerität in Europa in der Avantgarde und ist die Partei der radikalen Linken, die am wahrscheinlichsten einen Regierungsdurchbruch erreichen kann. Es gibt ein weiteres Problem mit dem Beharren darauf, solche Parteien müssten antikapitalistisch sein. Es besteht darin, dass „antikapitalistisch“ ein sehr schwer genauer zu bestimmender Begriff ist. Es gibt viele Ansichten darüber, was darunter zu verstehen ist, was zu vielen Zweideutigkeiten führt. Einige auf der Linken betrachten Syriza als antikapitalistisch und andere nicht (ich nicht, nebenbei). Aber es gibt keine einfache Definition. Syrizas Programm (z. B. ihr Wahlmanifest) ist mindestens so radikal wie manche breite Parteien, die sich selbst als entschieden antikapitalistisch betrachten – obwohl Syriza eine größere Unterschiedlichkeit aufweist. Ihr Programm scheint beispielsweise dem der Linken im Linksblock sehr ähnlich zu sein. Syriza hat, daran sei erinnert, jede Art von Koalitionsarrangement mit der PASOK und den Pro-AusteritätsParteien abgelehnt. Ihr wurde die Gelegenheit zu einem Versuch zur Regierungsbildung gegeben, nachdem die Nea Dimokratia damit gescheitert war. Sie war aber nur dazu bereit, mit den linken Anti-Austeritäts-Parteien zu sprechen und infolgedessen nicht dazu imstande, eine Regierung zu bilden. Das ist sehr anders als die Front de Gauche z. B., und weit links davon. Es wird angeführt, linksreformistische und radikal linke Parteien seien tendenziell instabile Formationen, die mit einiger Wahrscheinlichkeit unter Druck einknicken würden. Ihre GegnerInnen spekulieren viel darüber, ob Syriza unter Druck zusammenklappen und nach rechts rücken wird, insbesondere wenn sie eine Regierung bildet. Manche argumentieren, sie bereite sich bereits darauf vor. Dagegen gibt es natürlich keine Garantie, und an diesen Befürchtungen mag einiges dran sein. Doch kann keine Partei sicher sein, dass sie die Probe bestehen wird, bis von ihr gefordert wird, sich der Probe zu stellen. Sich als antikapitalistisch zu definieren, ist keine Garantie gegen Einknicken unter Druck, wie die dänischen GenossInnen bezeugen können. Selbst sich als revolutionär zu definie46 Inprekorr 5/2013 ren, ist keine Garantie gegen solch eine Entwicklung, wie den brasilianischen GenossInnen bekannt ist. Keine dieser Gefahren ist jedoch ein Grund, sich von solchen Parteien fern zu halten. Solche Parteien können eine wichtige (sogar entscheidende) Rolle spielen, selbst wenn sie letztlich scheitern – wie die Rifondazione comunista in Italien. Rifondazione ging als breite, pluralistische Partei aus der PCI hervor, die das Beste an der kommunistischen Partei zusammenbrachte, die in den Kämpfen der Arbeiterklasse verwurzelt war und die sich in großem Umfang an den neuen sozialen Bewegungen beteiligte– insbesondere der globalisierungskritischen Bewegung und der Bewegung gegen den Irak-Krieg 2002/03. Die Partei war für eine Reihe von Massenmobilisierungen zentral. Nach der desaströsen Entscheidung, sich 2006 bis 2008 als Juniorpartner an der Mitte-Links-Regierung von Romano Prodi zu beteiligen, verlor sie ihre parlamentarische Vertretung vollständig und spaltete sich auf die erbittertste Weise. Die Fragmente rückten nach rechts. War es also ein Fehler, Rifondazione beizutreten und an ihrem Auf bau mitzuarbeiten? Absolut nicht. Was sollen wir tun, wenn Kräfte aus einer stalinistischen Vergangenheit heraustreten und eine größere Rolle im Klassenkampf spielen? Oder auch aus der Sozialdemokratie? Sollen wir sagen, sie seien nicht links genug und ihnen den Rücken kehren? Sollten wir sagen, auch wenn sie sich im Moment nach links bewegten, würden wir uns enthalten, weil sie sich in der Zukunft nach rechts bewegen oder weil sie in eine Koalitionsregierung gehen könnten? Nichts von dem würde irgendeinen Sinn machen. Wir sollten in ihnen kämpfen, um die Rolle, die sie spielen, zu einem Maximum zu bringen und zu versuchen, sie auf linkem Kurs zu halten – und genau das haben die italienischen GenossInnen in Rifondazione getan (meiner Ansicht nach mit großer Wirkung). Rifondazione und vor allem ihr Jugendverband (in dem unsere GenossInnen sehr einflussreich waren) haben Ende der 1990er und zu Beginn der 2000er Jahre in Massenbewegungen in Italien eine bedeutende Rolle gespielt. Sie waren die Avantgarde einer europaweiten Bewegung, mit Genua als Höhepunkt. Sollten wir sagen, es war eine negative Erfahrung, weil Fausto Bertinotti (der Rifondazione geführt und populär gemacht hat) am Ende heftig nach rechts gerückt ist? Nein, sollten wir nicht. Das Erbe dieser Kämpfe ist geblieben. Es stellt sich also die Frage, was an die Stelle treten kann und wie das, was gewonnen wurde, verteidigt werden kann. Keine dieser Erfahrungen ist meiner Ansicht nach ein D o s s i e r „B r e i t e Pa rt e i e n“ Grund, sich von solchen Organisationen fernzuhalten. Wenn es Raum gibt, auf der Grundlage unserer eigenen Politik in ihnen zu intervenieren, sollten wir das tun. Es gibt jedoch sehr gute Gründe, dass unsere Sektionen eigenständig organisiert bleiben (entweder als Strömung oder als Plattform), wenn sie in solchen Parteien sind und sie auf bauen. Unsere Sektionen sollten innerhalb von solchen Parteien organisiert bleiben. Dies macht es möglich, dass wir sowohl unseren Einfluss auf die Ausrichtung der Partei maximieren als auch kollektiv handeln, wenn sich die breite Organisation in die falsche Richtung bewegt, unter Druck einknickt oder sich in eine Koalition mit kapitalistischen Parteien begibt. Das jüngste Beispiel, wie man es machen sollte, ist das der dänischen GenossInnen in Enhedslisten. Als Enheds­ listen im Parlament gegen Opposition, die von ihnen ausgegangen war, für den Haushalt stimmte, waren unsere GenossInnen dazu in der Lage, sich in dieser Frage sehr effektiv politisch abzusetzen und einen unabhängigen Standpunkt zu beziehen. DIE LINKE (wo wir die isl drinnen und den RSB draußen haben) ist ein weiteres Beispiel für eine wichtige linke Partei, die eine demokratische Struktur hat, bei der es möglich ist, einzutreten und in ihr zu arbeiten. Es können Plattformen gebildet werden, die innerhalb der Partei und bei ihren Konferenzen auftreten. Man kann sich schwerlich Umstände vorstellen, unter denen es richtig wäre, außerhalb solch einer Organisation zu sein. Es war ebenso richtig, in der früheren Periode innerhalb der brasilianischen PT zu sein. Sind die GenossInnen in ihr adäquat organisiert geblieben? Eindeutig nicht, und es wurde ein hoher Preis gezahlt, sie haben jetzt aber eine gute und kritische Bilanz dieser Periode gezogen, aus der wir Lehren ziehen sollten. Zu dem Text von Socialist Action Wie schon erwähnt, unterstütze ich den Text von Socialist Action nicht. Er stellt die gegenwärtigen politischen Realitäten besonders in Europa nicht in Rechnung und geht z. B. nicht auf Syriza ein. Der Text liegt meiner Ansicht nach falsch in Bezug auf das Kriterium, das er für den Beitritt zu breiten Parteien angibt. Es wird argumentiert, wir sollten das nur tun, wenn es den Auf bau einer revolutionären Massenpartei (nicht weniger als das) voranbringt. Er drückt es so aus: „Das Hauptkriterium, nach dem sich richtet, ob revolutionäre SozialistInnen sich an solchen Parteien beteiligen, sie auf bauen oder mitgründen sollten, ist, ob sie den Auf bau der revolutionär-sozialistischen Massenpartei leninistischen Typs voranbringen oder nicht.“ Das ist meiner Ansicht nach grundlegend falsch. Hauptkriterium ist, ob der Beitritt zu solch einer Organisation und unser Mitwirken in ihr den Kampf der Arbeiterklasse und der Unterdrückten voranbringen kann oder nicht. Ob sie beginnen kann, die Krise der Repräsentation der Arbeiterklasse anzugehen. Wenn sie dazu imstande ist, so etwas zu tun und wir daran mitwirken, werden wir auch unsere eigenen Kräfte auf bauen, aber das ist nicht die primäre Überlegung. Der Text erhebt den Anspruch, für den Auf bau von breiten Parteien zu sein, doch spricht er in völlig negativen Ausdrücken von ihnen, und er stellt solche Parteien und revolutionäre Organisationen gegeneinander. Es heißt da: „Vage definierter Antikapitalismus und Sozialismus einschließlich eines vagen Bezugs auf einen künftigen Bruch mit der Staatsmacht sind kein Ersatz für disziplinierte revolutionär-sozialistische Parteien, die mit einem Programm für die sozialistische Revolution bewaffnet sind.“ Natürlich sind sie kein Ersatz für ein Programm der sozialistischen Revolution, aber wenn sie die Rolle spielen können, die Kämpfe der Arbeiterklasse weiterzubringen, können sie uns in eine bessere Lage versetzen, um für solch ein Programm zu argumentieren und darauf hinzuarbeiten. Der Text warnt uns vor Elektoralismus. Es heißt z. B.: „Diese ,nützlichen‘ Parteien hatten öfter einen wahlorientierten/parlamentarischen Charakter und waren nicht Parteien, die auf Massenmobilisierungen, um die Macht der Arbeiterklasse auf der Straße auszuüben, ausgerichtet sind“. Natürlich gibt es immer die Gefahr des Elektoralismus, aber worauf bezieht sich der Text? War Syriza elektoralistisch, als es in den vergangenen Jahren in die Wahlen gegangen ist? Absolut nicht. Syrizas Wahlintervention war ein entscheidender Teil des Massenkampfs, der zu dieser Zeit in Griechenland stattfand. Sie verlieh dem Kampf zu einer Zeit, in der vielfache Generalstreiks und Tausende von Demonstrationen und Besetzungen von Betrieben und Regierungsgebäuden etwas wie eine Sackgasse erreicht hatten, eine politische Dimension und eine Regierungsperspektive. Alan Davies ist Mitglied des Exekutivbüros der IV. Internationale und der Leitung von Socialist Resistance, der britischen Sektion der IV. Internationale. Übersetzung aus dem Englischen: Friedrich Dorn Inprekorr 5/2013 47 Griechenl and 9+1 Bemerkungen zu Syriza nach ihrem Gründungskongress Eine breite Partei sollte es werden, eine Einheitspartei besonderen Typs scheint dabei herausgekommen zu sein. Was das unter anderem für die linke Plattform, zu der auch der Autor gehört, bedeutet, bleibt die spannende Frage der allernächsten Zukunft. Stathis Kouvelakis 1. Der Syriza-Kongress hat in einem Kontext wachsender politischer Instabilität stattgefunden nach der Krise im Gefolge der Schließung des öffentlichen Rundfunks (ERT) durch die Regierung von Antonis Samaras und dem Verlassen der Regierungskoalition durch die der Partei der Demokratischen Linken (DIMAR). Die neue Regierung aus den beiden Parteien der Neuen Demokratie und der PASOK kann von nun an nur noch auf eine sehr knappe parlamentarische Mehrheit zählen (hinter ihr stehen nur noch 153 von 300 Mandaten), wie sich das bei der Abstimmung im Parlament zum neuen Sparprogramm mit weiterem Abbau des öffentlichen Dienstes am 17. Juli gezeigt hat. Mehr noch: die Stärke der Proteste gegen die Schließung von ERT hat das Ende einer relativen Apathie der Massen nach Verabschiedung der letzten Memorandumsbeschlüsse im November letzten Jahres eingeläutet. Der herrschende Block geht aus diesem Kräftemessen sichtlich geschwächt hervor. Der Sturz der Regierung unter dem Druck der Mobilisierungen von unten erscheint heute eine realistischere Möglichkeit zu sein als noch vor einigen Monaten. Gleichwohl mangelt es schmerzlich an einer Strategie und Taktik, die diese Frage grundlegend angehen würden. Die Position von Syriza bleibt in dieser Hinsicht beschwörend im Ton und geprägt von der Kluft zwischen einer Konfliktbereitschaft andeutenden, aber vagen Rhetorik und der konkreten Linie bei Schlüsselereignissen der 48 Inprekorr 5/2013 gesellschaftlichen Konfliktsituationen in der letzten Periode (abgebrochene oder niedergeschlagene Streiks bei der UBahn, den Hafenarbeitern und GymnasiallehrerInnen mit den harten Antistreikmaßnahmen der Regierung). Bei allen diesen Gelegenheiten hat die Syriza-Führung eine extreme Vorsicht an den Tag gelegt und jedes Streben nach einem machtvollen Anwachsen der Protestbewegung vermieden, was im Rückzug von der Unterstützung der Streikbewegung der Lehrerinnen und Lehrer kulminierte, die doch von den darüber beratenden Vollversammlungen mit 90 % der Stimmen beschlossen worden war. 2. Als die Führung im Mai die Abhaltung des Kongresses verkündet hatte, hatte sie nur ein Ziel: die Konstituierung von Syriza als Gelegenheit zu nutzen, „die Dinge wieder in die Hand zu nehmen“, um zugleich die interne Opposition an den Rand zu drängen und eine Parteiform zu stabilisieren, die in wesentlichen Punkten mit der politischen und organisatorischen Kultur der radikalen Linken bricht. Anders gesagt, ging es der Führung darum, sehr schnell eine „Parteiform“ zu schaffen, die maßgeschneidert ist, um in deren organisatorischer Realität die Reorientierung zu verankern, die die Führung seit Herbst 2012 geharnischt verfolgt – eine Linie, die sich in der zunehmenden Vernebelung der Positionen von Syriza (sowie von deren Wahrnehmung durch die gesellschaftlichen Schichten, die ihr vertrauen) zu Schlüsselfragen (wie der Außerkraftsetzung der Memorandumsbeschlüsse, der Position zur Schuldenfrage, der Ablehnung der Privatisierungen) ausgedrückt hat.1 Zu diesem Zweck hat die Führung der Partei einen Gewaltmarsch (mit einer Zeitspanne von weniger als einem Monat zwischen der Veröffentlichung der Texte zur Beschlussfassung und der Abstimmung in den Kreisverbänden) und eine Tagesordnung durchgesetzt, die vollständig um die internen Fragen kreist, weit entfernt von den Fragen der Strategie und der programmatischen Weiterentwicklung, die doch in einer so schnell sich ändernden Lage gefordert sind. Griechenl and Diese „introvertierte“ Tagesordnung war um drei Schlüsselfragen gruppiert: die Frage der Bestandteile, mit einem Ultimatum von zwei oder maximal drei Monaten bis zur Auflösung der Organisationen des bisherigen Syriza-Bündnisses zum Zweck der Herstellung der „Einheit“ von Syriza als Partei;2 ein weitgehend ausgehöhltes Tendenzrecht mit Abschaffung der „getrennten“ Listen für die parteiinternen Wahlen, eine Ausdrucksweise, die davon ablenken soll, dass damit die proportionale Repräsentanz von Minderheiten in den Führungsorganen in Frage gestellt wird; die Art und Weise, wie der Vorsitzende der Partei gewählt wird, nämlich vom Kongress und nicht vom Führungsorgan (vom Zentralkomitee). 3. Der Sinn dieser auf die internen Probleme fokussierten Tagesordnung kann nur verstanden werden im umfassenderen Kontext der Wahrnehmung von Syriza durch die VertreterInnen des herrschenden Blocks und der inneren Entwicklung dieser Partei seit einem Jahr. Für die Medien und die dem herrschenden System verpflichteten politischen Kräfte sind die „Komponenten“ und „Strömungen“ von Syriza, ihre berühmte Kakophonie die verschlüsselte Art und Weise, den Radikalismus von Syriza zu bezeichnen, den diese „Strömungen“ gegenüber einer (von Tsipras repräsentierten) Führung verkörpern, die für „Realismus“ und für eine entsprechende Reorientierung steht. Die Führung und insbesondere Tsipras sind insofern einem anhaltenden, vom herrschenden System ausgehenden Druck ausgesetzt, „im eigenen Haus Ordnung zu schaffen“ („Tsipras, lass’ Köpfe rollen“, ist eine der beliebtesten Forderungen der führenden etablierten Kommentatoren in den Medien …) und sich von den oppositionellen Stimmen zu befreien. Im Fadenkreuz sind dabei insbesondere die kritischen Stimmen links der Führung, die als ebenso viele Hindernisse dafür dargestellt werden, das „Image“ von Syriza zu dem einer „verantwortlichen Regierungspartei“ zu machen. Innerhalb von Syriza selbst hatten sich die spektakulären Wahlerfolge des Frühjahrs 2012 in einer widersprüchlichen Dynamik ausgedrückt. Einerseits eine bedeutende Eintrittswelle (die Mitgliederzahl hat sich in wenigen Monaten in etwa verdoppelt bis auf heute ungefähr 35 000 Mitglieder) und Erfolge in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen, vor allem in der Gewerkschaftsbewegung, einem traditionellen Schwachpunkt von Syriza – aber doch relative Erfolge, weil die Präsenz in den Gewerkschaften doch deutlich unterhalb des Niveaus der griechischen KP (der KKE) bleibt, die bei den Wahlen aber weniger als 5 % der Stimmen bekommen hat, nur ungefähr ein Sechstel so viel wie Syriza. Doch diese Welle beinhaltet auch einen anderen, sehr viel zweischneidigeren Gesichtspunkt. In einer von der ökonomischen Depression traumatisierten Gesellschaft, die von Jahrzehnten der „Parteienherrschaft“ (vom „System“, das seit dem Sturz des Obristenregimes 1974 abwechselnd regierenden Neuen Demokratie und der PASOK geschmiedet worden war) geprägt worden ist, kann der Eintritt in eine Partei auch die Bedeutung des Wiederaufbaus klientelistischer Beziehungen annehmen, wozu eine Beziehung der Gefolgschaft zum charismatischen Führer passt. Dieses Phänomen trifft sicher noch lange nicht auf die Mehrzahl der Mitglieder zu, doch verändert es bereits in charakteristischer Weise die Zusammensetzung der Parteimitgliedschaft und nährt wesentlich das Gewicht „passiver Mitglieder“, die nur zum Tag der Abstimmung auf dem Kongress kommen, und deren Beziehung zur Organisation im Wesentlichen auf ihren Bindungen mit ihnen persönlich bekannten führenden Parteimitgliedern (einem oder mehreren) vor Ort beruht. 4. Dieses teils spontan auftretende und für diejenigen, die mit dem Klima der griechischen politischen Realitäten vertraut sind, absolut vorhersehbare Phänomen ist seit Herbst 2012 von der Parteiführung im Namen der notwendigen „Verbreiterung“ eindeutig gefördert worden. Die von diesem Zeitpunkt an getroffenen Entscheidungen – Verzicht auf jegliche Strategie aktivistischen Eingreifens und des Parteiaufbaus, die Organisierung von Konferenzen und Kongressen in aller Eile, mit einer möglichst großen Zahl an Delegierten, ähnlich wie für die landesweiten oder regionalen Führungsebenen, Aufbau einflussreicher informeller Netzwerke rund um bestimmte führende Mitglieder (die im Allgemeinen zugleich Mandatsträger sind) – führen unvermeidlich zu einer Partei, „die alle einfängt“, eine catch-all-Partei, wie die Politologen im Gefolge Kirchheimers sagen. In anderen Worten, eine Wahlpartei mit schwindendem internen Leben, die sich wesentlich um ihren Führer und um einen Diskurs schart, der von oben kommt, die sich wesentlich – vermittelt über die Medien – an ein „nationales Publikum“ wendet und immer darauf bedacht ist, den verschiedenen Teilen des „Publikums“ zu gefallen („radikaler“ und „lyrischer“, wenn man sich an die Mitglieder wendet, „nüchterner“ und „pragmatischer“, wenn man Schäuble oder dem IWF begegnet). 5. Die problematischsten Aspekte des Gründungskongresses dieser „neuen Syriza“, dieser nunmehr vereinheitlichten Partei kommen von diesen schwerwiegenden Tendenzen, die zu ihrer Transformation in eine „regierungsfähige Partei“ Inprekorr 5/2013 49 Griechenl and führen, die zur Verwaltung der Regierungsgeschäfte im Rahmen des Systems in der Lage ist: disproportional viele Mitglieder mit Stimmrecht im Vergleich zur Zahl derjenigen, die an den internen Debatten teilnehmen, ein amorpher Haufen von 3500 Delegierten, die Abwesenheit jeglicher organisierter Diskussion während der ersten beiden Tage (wo Delegierte überhaupt das Wort ergreifen konnten), Fehlen von Rechenschaftsberichten der Führungsorgane, einleitende Rede von Tsipras im Stil der Rede auf einer Wahlkampfveranstaltung und nicht im Stil einer Einleitung zu einer Beratung und Mitgliedern der Partei. Dazu kam die außerordentlich aggressive Stimmungsmache gegen die parteiinterne Opposition (die als Linke Plattform gemeinsam aufgetreten ist3), die am Abend der letzten Sitzung des Kongresses bei den Abstimmungen zu drei Schlüsselfragen des organisatorischen Funktionierens der Partei kulminierten, auf die die Auseinandersetzungen fokussiert waren (Auflösung der Gruppierungen, Repräsentierung der Strömungen und Art und Weise der Wahl des Vorsitzenden). Da gab es für einen Kongress der radikalen Linken schockierende Szenen (ausgebuhte SprecherInnen der Linken Plattform, Stinkefinger und Beschimpfungen und Beifall für Tsipras, wann immer er ans Rednerpult trat, schon bevor er überhaupt den Mund aufgemacht hatte), die zum Auszug der Delegierten der Linken Plattform und eines nicht unbeträchtlichen Teils auch von Delegierten der Mehrheit aus dem Saal geführt haben. 6. Wie ist dieser Kongress zu bilanzieren? Vom Gesichtspunkt des programmatischen Gehalts und der strategischen Ausarbeitung her ist das Ergebnis mager bis inexistent. Die verabschiedeten Dokumente wiederholen mehr oder weniger wörtlich (und dann noch in einer eher verwässernden Weise) die Formulierungen der nationalen Konferenz vom November letzten Jahres. Diese Texte voller zweideutiger und verschieden interpretierbarer Kompromissformulierungen sind ohnehin von der Mehrheitsfraktion der Führung nie öffentlich verbreitet oder vertreten worden – sie hat vielmehr immer „Interpretationen“ dieser Texte in Übereinstimmung mit der „Reorientierung“ und dem „Realismus“ geliefert. So haben im letzten Dezember, wenige Tage nach der Konferenz von Syriza, die die Position bekräftigt hatte, im Falle eines Wahlsiegs die Memorandumsbeschlüsse unverzüglich per mehrheitlichem Parlamentsbeschluss zu kippen, die Verantwortlichen für Wirtschaftspolitik und die wichtigsten Führungspersönlichkeiten nach Tsipras in den Medien Erklärungen verbreitet, um klarzustellen, dass Syriza „nicht einseitig handeln würde“, und dabei haben sie systematisch 50 Inprekorr 5/2013 vermieden, Ausdrücke wie „Annullierung“ oder „Rücknahme“ zu verwenden und stattdessen sehr viel gemäßigter von „Verhandlungen“ mit „unseren europäischen Partnern“ gesprochen. Tsipras selbst hat sich immer wieder in dieser „versöhnlerischen“ Weise geäußert, vor allem bei seinen Auslandsreisen, insbesondere in Deutschland, wo er sich mit Schäuble getroffen hat, und in den USA, wo er mit VertreterInnen des State Department und des IWF gesprochen hat. 7. Die Linke Plattform hat versucht, der fast gar nicht stattfindenden programmatischen Debatte einen politischen Gehalt zu geben, und vier Änderungsanträge eingebracht, die auf die empfindlichsten strategischen Gesichtspunkte abzielten: die Schuldenfrage (Infragestellung der Legitimität der Schulden überhaupt, Denunzierung der formell gültigen Verträge und, wenn notwendig, Aussetzung der Ableistung des Schuldendienstes mit dem Ziel der Streichung der Schulden); mögliches Ausscheiden aus der Eurozone (denkbare Option, auf die man sich ernsthaft vorbereiten muss, wenn eine Syriza-Regierung in ähnlicher Weise wie Zypern von der EU und der EZB erpresst wird); Verstaatlichung des Bankensektors insgesamt, klare Zusage, die laufenden Privatisierungen zurückzunehmen und die Schlüsselbereiche der Ökonomie (Telekommunikation, Energie, Infrastruktur der Straßen und der Flughäfen) unter demokratischer Kontrolle wieder zu vergesellschaften; eine Bündnisstrategie, die den Willen zu einer Linksregierung gegen die Sparpolitik bekräftigt und eine Öffnung zum „Zentrum“ oder zur souveränistischen Rechten des Parteienspektrums ausschließt. Alle diese Änderungsanträge sind zurückgewiesen worden, konnten aber zwischen einem Drittel und 40 % der Delegiertenstimmen auf sich ziehen, wobei die Änderungsanträge zu den Schulden und zum Euro am meisten Unterstützung gefunden haben. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Führung zur Frage der politischen Linie ihren Standpunkt durchsetzen konnte. 8. Und doch stellt dieser Kongress gemessen an den Zielen, die sich diese Führung gesetzt hatte, einen bedeutenden Rückschlag dar. Die drei weiter oben erwähnten Punkte, die in der Partei „Ordnung schaffen“ sollten, sind doch aus diesem Moment der Gründung der „neuen Syriza“ ziemlich zerfleddert herausgekommen. Zur Frage der Auflösung der Komponenten und dem entsprechenden Ultimatum an die Adresse der Organisationen, aus denen das bisherige Bündnis Syriza zusammengesetzt war, musste sich die Führung auf einen Kompromiss einlassen (die verabschiedete Formulierung spricht von einer Griechenl and „Auflösung in einem vernünftigen zeitlichen Rahmen und nach Beratungen“), und zwar wegen der sehr aufrechten Haltung von Manolis Glezos. Als emblematische Figur des Widerstands, mit seinem immensen Prestige und seiner Statur als der nationale Held, der er ist, hat er sich nicht darauf beschränkt, das Recht der Organisationen des Syriza-Bündnisses zu verteidigen, ihre Autonomie zu behalten. Er hat Tsipras direkt und persönlich angegriffen und das Modell der „Präsidentenpartei“ entschieden zurückgewiesen, was die moralische und symbolische Autorität der Führung und ihrer führenden Hauptperson ordentlich untergraben hat. Zur Frage der Repräsentierung von Minderheiten hat diese Führung allerdings alles in die Waagschale geworfen und ein Vorgehen gewählt, das durchaus als Handstreich gekennzeichnet werden kann, den Tsipras persönlich ausgeführt hat: Nachdem er ein System vorgeschlagen hatte, das mit einer „technischen“ Regelung automatisch die Mehrheitsliste begünstigt, hat der Mehrheitsblock den (minderheitlichen) Strömungen, die gerne als solche repräsentiert sein wollen, aufgezwungen, getrennte Listen zu konstituieren, die auf einem eigenen Wahlzettel stehen. Die bis dahin bestehende Möglichkeit, auf demselben Wahlzettel eine Liste auszuwählen und dann bis zu einem gewissen Grad KandidatInnen, die auf verschiedenen Listen kandidieren, zu panaschieren, ist somit eliminiert worden. Was die Liste der Mehrheit betrifft, so präsentiert sie sich nicht als Strömungsliste oder als Liste eines Blocks von Strömungen (was sie aber faktisch ist), sondern als „Einheitsliste“, als einfache Addition von kandidierenden Mitgliedern der Partei, die „die Vielfalt der Partei“ als solche repräsentieren. Es handelte sich offensichtlich darum, die Minderheiten als bloß tolerierte „Fremdkörper“ erscheinen zu lassen und der Mehrheitsliste einen symbolischen Status als einzigen Gralshüter der legitimen Parteiidentität zu verschaffen. Und doch hat sich diese Operation gegen ihre Urheber gedreht. Anstatt schwächer zu werden, ist die Linke Plattform deutlich stärker geworden (siehe weiter unten) und konnte mit Hilfe der Präsenz kleiner „unabhängiger“ Listen die Liste der Mehrheit auf 67,5 % zurückführen, und das sind sieben Prozentpunkte weniger als auf der nationalen Konferenz im November letzten Jahres. Und schließlich, zur Frage der Wahl des Vorsitzenden durch den Kongress, konnte sich die Führung durchsetzen, aber um den Preis der Annahme einer „flexiblen“ Regelung in den Statuten, die jedem Kongress erlaubt, die Art und Weise der Wahl des Vorsitzenden souverän festzulegen. Nicht überraschend hat sich dieser Kongress danach für die Direktwahl des Vorsitzenden ausgesprochen. Doch bei der geheimen Wahl hat Tsipras dann ein wenig überzeugendes Ergebnis von 72 % erreicht (74 % der gültigen Stimmen, wobei fast alle ungültigen Stimmzettel entweder Ausdruck der Ablehnung des Verfahrens oder der Person von Tsipras waren). 9. Man kann gleichwohl davon ausgehen, dass der wichtigste Rückschlag für die Führung die Stärkung der Linken Plattform ist, die die symbolische Schwelle der 30 % überschritten hat, was gemessen an der nationalen Konferenz im November des letzten Jahres einem Zuwachs um fast fünf Prozentpunkte entspricht (30,16 % gegenüber 25,6 %), und das in einem stark konfliktgeprägten Rahmen, wo die Regie vollständig darauf abgestellt war, die Marginalisierung der Opposition zu erreichen. Ohne Zweifel hat das Klima der Einschüchterung bei einem Teil der Delegierten einen starken Widerstand hervorgerufen, über den Kreis derer hinaus, die von vornherein die Positionen der Plattform unterstützt hatten. Das Ergebnis hat die Führung regelrecht schockiert; sie hat jeden offiziellen Kommentar vermieden (ihre RepräsentantInnen wurden mit der Verkündung der ersten Ergebnisse regelrecht unsichtbar). Die Presse und die Medien registrieren die manifeste Verlegenheit in den Reihen der MehrheitlerInnen, wenn sie auch, im Allgemeinen, Tsipras zu schonen versuchten. Die Fragen nach der Linie, die er in der nun beginnenden Periode verfolgen will, werden immer drängender: Anstreben von Kompromissen oder Weiterführen der innerparteilichen Konfrontation, womit er dieses Mal riskieren würde, eine lang andauernde interne Krise zu provozieren. Die Linke Plattform hat ihrerseits zum ersten Mal eine eigene Erklärung öffentlich gemacht und mit ihr ihre Meinung deutlich zum Ausdruck gebracht, dass ihre Bemühungen um eine „Radikalisierung und Verankerung von Syriza auf linken Positionen und für die Einheit der radikalen Linken insgesamt unter verbesserten Bedingungen fortgesetzt werden.“ Das ist ein Zeichen dafür, dass ihr Erfolg als Ermutigung dafür verstanden wird, ihre Intervention in der Partei und sogar über die Partei hinaus sichtbarer zu machen. 9+1 Schlussfolgernd kann man sagen, dass der Gründungskongress mehr Probleme geschaffen als gelöst hat oder versucht hat zu lösen. Nunmehr konstituiert als vereinheitlichte Partei mit ihren Statuten und programmatischen Dokumenten und ihrer gewählten Führung, erscheint Syriza nichtsdestoweniger als eine Partei, die zu wesentlichen strategischen Fragen, die im Mittelpunkt der landesweiten und der europaweiten Debatte stehen, tief gespalten ist. Offensichtlich führt die Konfrontation zwischen den AnhängerInnen eines „reInprekorr 5/2013 51 Griechenl and alistischen“ Herangehens, das bestrebt ist, auf „kalte“ Weise an die Regierung zu kommen und nicht mit dem von der EU gesetzten Rahmen zu brechen und strategische Sektoren der herrschenden Kräfte zu schonen, und denjenigen, die die offene Konfrontation und den Bruch mit dem gegenwärtigen Rahmen der EU wollen, ins Herz der Fragen, die sich der radikalen Linken in Europa stellen. Der entscheidende Beitrag von Syriza und die Dynamik, die sie im Frühjahr des vergangenen Jahres in Gang zu setzen in der Lage war, ist, dass sie in der radikalen Linken die Frage einer Machtalternative in konkreter Weise stellen konnte. Bleibt zu erfahren, ob dieses Unternehmen auf Kosten der Radikalität fortgeführt wird und ob es sich in die lange Liste der Erfahrungen mit Linksregierungen einreiht, die im Morast der loyalen Verwaltung des Systems stecken geblieben sind. Der Kongress von Syriza ist wohl nützlich dafür gewesen, dass er zumindest die Konturen des Problems für die im Sinne eines emanzipatorischen Projekts engagierten gesellschaftlichen und politischen Kräfte klarer und einfacher verständlich zu formulieren erlaubt hat. Athen, 18. Juli 2013 Quelle: http://www.contretemps.eu/interventions/91-remarques-sur-syriza-après-son-congrès-fondateur http://alencontre.org/europe/grece/grece-91-remarques-sursyriza-apres-son-congres-fondateur.html#more-17140 Stathis Kouvelakis, Universitätsprofessor und Mitglied des Zentralkomitees von Syriza und führendes Mitglied der linken Strömung4, deren bekannteste Persönlichkeit Panagiotis Lafazanis ist. Stathis Kouvelakis hat unter anderem das Buch Philosophie et révolution: de Kant à Marx (Presses Universitaires de France, 2003 [englischsprachige Ausgabe: Philosophy and Revolution. From Kant to Marx, 2003] veröffentlicht. Er unterrichtet am Londoner King’s College. (Redaktion der Webseite A l’Encontre) Übersetzung: Manuell Kellner 1 Zur Entwicklung von Syriza siehe den Artikel von Baptiste Dericquebourg „Prendre le pouvoir sans perdre son âme“ (Die Macht übernehmen, ohne die Seele zu verlieren) in der Ausgabe von Juni 2013 von Le Monde diplomatique [auf Englisch: „Where Syriza stands“, http://mondediplo. com/2013/07/07syriza] sowie Philippe Marlières Text „Alexis Tsipras entre radicalisme et réalisme“ (Alexis Tsipras zwischen Radikalismus und Realismus) in http://blogs.mediapart.fr/ blog/philippe-marliere/220313/alexis-tsipras-entre-radicalisme-et-realisme. 2 Von 2004, dem Datum der Gründung, bis zu der nationalen Konferenz von November 2012, existierte Syriza als Bündnis eines Dutzends unterschiedlicher Komponenten, die quasi das gesamte Spektrum der radikalen Linken abdeckten. Wichtigste 52 Inprekorr 5/2013 Komponente war Synaspismos, die Partei von Alexis Tsipras, wobei diese Partei selber aus unterschiedlichen Strömungen bestand, die von der gemäßigten Sozialdemokratie (daraus ist die gegenwärtige Demokratische Linke, DIMAR, hervorgegangen, doch ist ein beträchtlicher Teil dieser Strömung in Synaspismos geblieben) bis zum Neokommunismus der Linken Strömung (siehe nächste Anmerkung) reicht. 3 Die linke Plattform hat sich in ihrer gegenwärtigen Form zu der nationalen Konferenz von November 2012 gebildet, und zwar durch das Zusammengehen der zwei Hauptkomponenten, die in verschiedenen Konfigurationen seit über einem Jahrzehnt existieren: 1. der linken Strömung in Synaspismos, die im wesentlichen von AktivistInnen gebildet worden ist, die bei der Spaltung 1991 aus der griechischen kommunistischen Partei (KKE) ausgetreten sind; sie kontrolliert die Mehrzahl der Betriebsgruppen und den Gewerkschaftssektor und verfügt in bestimmten Kreis- und Regionalverbänden, im Wesentlichen im Norden von Griechenland, über eine starke Präsenz; 2. den drei Syriza- Komponenten trotzkistischer Herkunft (Kokkino, DEA und APO), die sich inzwischen unter dem Schirm von Rproject/Rotes Netzwerk zusammengetan haben. Auf dem Kongress haben sich eine Komponente, die aus der PASOK stammt, DIKKI, sowie eine Organisation aus Gewerkschaftskadern, die 1995 die KKE verlassen haben, KEDA, der Plattform angeschlossen. Etwa ein Dutzend der insgesamt 70 ParlamentarierInnen von Syriza zählen sich zur linken Plattform, darunter einer der drei SprecherInnen der Parlamentsfraktion, nämlich Panagiotis Lafazanis, ehemaliges Leitungsmitglied der KKE und langjähriger Abgeordneter für den Wahlkreis Piräus, dem am stärksten von IndustriearbeiterInnen geprägten im Land, zugleich die bekannteste öffentliche Persönlichkeit dieses Orts. 4 Stathis Kouvelakis hat auf dem Gründungskongress gesprochen und während des Kongresses an der gemeinsamen Versammlung der linken Plattform teilgenommen, zu der ein großer Teil der Delegierten der linken Strömung und von Rproject, also DEA, Kokkino und APO, zusammenkamen. Zu dieser Versammlung, die am Freitag, den 12. Juli, sehr kurzfristig für 22 Uhr einberufen wurde, kamen rund 1000 Personen, also auch Nichtmitglieder der beiden erwähnten „Strömungen“, d. h. Delegierte, die erfasst hatten, worauf es für die Tsipras-Führung auf dem Kongress wirklich ankam: nämlich den „Staatsstreich“, wie die von Stathis Kouvelakis auf dieser Versammlung verwendete Formulierung lautete, von Tsipras, um die 14 Organisationen zu zerbrechen, aus denen Syriza besteht und daraus eine, wie es heißt, vereinigte Partei zu machen, mit Auflösung der Organisationen im Namen einer aus einer Summe von Individuen bestehenden „Demokratie“. Danach verbleibt als einzige „organisierte Fraktion“ der Kern von und um Tsipras. Dies verleiht der Charakterisierung des Gewaltstreichs, den die Tsipras-Führung versucht hat und der weitgehend fehlgeschlagen ist, durch Stathis Kouvelakis Gültigkeit. Doch wird mit Sicherheit ein Krieg niedrigerer Intensität gegen die Syriza-Linke fortgesetzt werden. Diese kann jedoch im Rahmen der sozialen Mobilisierungen stärker werden und ein paar Steinchen in die Schuhe der, wie Antonis Ntavanellos sie genannt hat, „neuen golden boys von Syriza“ praktizieren, die glauben, ihren Realismus den griechischen herrschenden Eliten verkaufen zu können, ganz zu schweigen von der Troika oder Wolfgang Schäuble. Dieser hat in enger Zusammenarbeit mit der Regierung Samaras bei seinem Besuch vom 18. Juli eine gigantische Abriegelung des Athener Stadtzentrums und ein Verbot jedweder Demonstration durchgesetzt Br a silien „ICH WILL KEINEN BALL, ICH WILL EINE SCHULE“ Mit „Brot und Spielen“ lässt sich die brasilianische Bevölkerung, besonders die Jugend, nicht mehr über die sozialen Schwierigkeiten im Land hinwegtäuschen. Über den Charakter der Protestbewegung und ihr Verhältnis zu den Parteien, auch und besonders der regierenden PT, spricht Juan Tortosa mit João Machado. Aktuell befindet sich Brasilien in einer Periode der ökonomischen und sozialen Fortentwicklung. In Europa kann man nicht verstehen, was die Gründe für den Protest sind, der weit über die Frage der Tariferhöhung beim öffentlichen Transport hinausgeht. Was ist Deine Meinung? Handelt es sich um einen Aufstand der Mittelklasse, die sich nicht repräsentiert fühlt? Die Wahrheit ist, dass der Eindruck, dass es in Brasilien eine Situation des umfassenden ökonomischen und sozialen Fortschritts gäbe, falsch ist. Die Zentralregierung möchte gerne diesen Eindruck erwecken und die internationale Bourgeoisie (und ihre Medien) ebenfalls, aber das ist es nicht, was wirklich stattfindet. Es ist wahr, dass es unter der Regierung Lula ein höheres Wachstum der Ökonomie gegeben hat als in der vorangegangenen Regierung von Fernando Henrique Cardoso. Aber wenn wir es unter historischen Gesichtspunkten betrachten, oder wenn wir einen Vergleich mit der restlichen Welt vornehmen, ist das Wachstum Brasiliens mittelmäßig und in den letzten 10 Jahren war es eines der geringsten in Lateinamerika, es ist auf jeden Fall geringer als das Wachstum der anderen so genannten Schwellenländer. Wenn wir außerdem die letzten zwei Jahre der Regierung Dilma Rousseff betrachten, über die bereits die Daten vorliegen, so ist das Wachstum noch weiter gesunken: 2011 hatten wir ein Wachstum des Bruttosozialprodukts von 2,7 %, und 2012 von 0,9 %. 2013 deuten die Daten bereits darauf hin, dass trotz der von der Regierung genährten Hoffnungen in eine große Erholung das Wachstum erneut mittelmäßig sein wird. Wahrscheinlich ist eine Erklärung dafür, dass das zu einem guten Teil auf die schlechte Situation der Weltwirtschaft zurückzuführen ist (wie in gleicher Weise die weniger schlechten Ergebnisse der Regierung Lula zu einem guten Teil durch den internationalen Boom der Warenproduktion, vor allem ausgelöst durch China, zurückzuführen war), aber Tatsache ist, dass es keinen signifikanten Wachstumsprozess der Ökonomie in Brasilien gibt. Wenn wir das Ganze unter einem etwas breiteren Blickwinkel betrachten, also mehr im Zusammenhang mit der Hypothese der „Entwicklung“, ist die Bilanz eher noch schlechter. In den letzten 10 Jahren ist Brasilien unter dem Gesichtspunkt der industriellen Entwicklung zurückgefallen – es gibt einen Prozess der Deindustrialisierung – und zwar vor allem unter dem Gesichtspunkt seiner ökonomischen Beziehungen mit dem Ausland. Die Exportsituation hat sich gewandelt, Brasilien exportiert weniger industrielle Produkte als vor 20 Jahren. Dem entsprechend ist seine Abhängigkeit vom Ausland größer geworden. Aber die ökonomischen Probleme sind noch Inprekorr 5/2013 53 Br a silien größer. In den letzten Monaten ist eine Wiederkehr der Inflation zu beobachten, die zwar begrenzt, aber nichtsdestoweniger deutlich ist (derzeit ist ein Anstieg auf 6 % in diesem Jahr zu erwarten). Gleichzeitig gibt es eine Verschlechterung der Handelsbilanz (zum Teil erklärt durch die Überbewertung der brasilianischen Währung, des Real, die eine Methode der Kontrolle der Inflation darstellt). Schwaches Wachstum, gekoppelt mit Inflation und Verschlechterung der Außenhandelsbilanz, das ist eine Kombination, die den Handlungsspielraum der Regierung stark einschränkt. Und da es sich um eine unter ökonomischen Gesichtspunkten sehr konservative Regierung handelt, die ihr Schwergewicht darauf legt, die öffentlichen Ausgaben zu kontrollieren und Anreize für das Kapital zu geben, sind die entsprechenden Resultate ärmlich. Es gibt einen Aspekt Deiner Frage, mit dem ich sehr einverstanden bin. Es ist klar, dass die Mobilisierungen nicht ausschließlich, und vielleicht auch nicht grundsätzlich, durch die relativ schlechte ökonomische Situation erklärt werden können (obwohl die Transportpreise im öffentlichen Verkehr im Vergleich zur Kauf kraft der Bevölkerung tatsächlich erhöht wurden). Die Empörung über die Unterdrückung der Demonstrationen auf der einen und die Verteidigung des Rechtes auf Demonstration andererseits … hatten dabei auch ein starkes Gewicht. Und ein starkes Gewicht hatte auch das, was die Frage unterstellt, und was ich nicht bezeichnen würde als „die Mittelklasse, die sich nicht repräsentiert fühlt“, sondern mehr als den generellen Verlust der Legitimität des politischen Systems. Ein großer Teil der Bevölkerung fühlt, dass die Mehrheitsparteien überall mehr oder weniger die gleiche Politik machen (was sich beispielsweise deutlich gezeigt hat durch die sehr ähnliche und generell gemeinsame Vorgehensweise der Amtsträger, die direkt für den öffentlichen Transport verantwortlich sind (wie in São Paulo der Bürgermeister Fernando Haddad von der PT, und der Gouverneur Geraldo Alckmin von der PSDB). Es ist richtig, dass die Zentralregierung in den letzten Jahren eine mehrheitliche Unterstützung genoss, besonders bei den Wahlen. Aber es gab öffentliche Umfragen unmittelbar vor den jetzigen Mobilisierungen, die einen deutlichen Rückgang dieser Unterstützung anzeigten. Und der Bereich, der die Regierung weniger unterstützt, ist gerade der mittlere Bereich der Arbeitslosen (ein Teil des Proletariats also) und 54 Inprekorr 5/2013 die Mittelklasse. Die Regierung genießt eine größere Unterstützung bei den Arbeitslosen, die am unteren Rande der Gesellschaft stehen, bei den Ärmsten also, dem Sektor, den einige Analysten „Subproletariat“ nennen. Aber bis zu einem Teil dieses Sektors hin dehnte sich die Rebellion aus – genauer gesagt, die Initiativen für Aktionen gegen den Handel und die Banken, das Anzünden von Autos … das kommt von dort – und es zeigt, dass man sich dort ausgebeutet und unterdrückt fühlt. Welche sozialen Sektoren dominieren die Ökonomie? Hat von dem ökonomischen Wachstum Brasiliens die ganze Gesellschaft profitiert? Die brasilianische Ökonomie wird von einer Allianz zwischen dem Finanzkapital, dem großen industriellen Kapital und dem Agrobusiness (der großen Landbourgeoisie) dominiert, sowohl auf nationaler wie internationaler Ebene, wobei es einige Widersprüche zwischen diesen gibt. Für das industrielle Kapital beispielsweise bereitet die Politik der Überbewertung des Real Probleme, weil es den Wettbewerb gegenüber den Importen erschwert. Aber da dieses Kapital die generelle neoliberale Ausrichtung der ökonomischen Politik der Regierung akzeptiert, hat sie nicht viel Anlass, auf eine Änderung dieser Politik zu drängen. Das ökonomische Wachstum Brasiliens in den letzten Jahren – das tatsächlich stattfand, auch wenn es deutlich geringer ist, als das, was die Propaganda der Regierung und die Elogen seitens der internationalen Bourgeoisie suggerieren – hat vor allen Dingen dem Finanzkapital und dem Agrobusiness geholfen. Aber es wurde auch etwas an die Armen in der Gesellschaft verteilt, in erster Linie über eine Ausdehnung der Sozialhilfe (das bedeutendste unter diesen Programmen ist das, was als „bolsa familia“ [etwa: Familienpaket; Anm.d.Ü.] bekannt ist) und durch die Anhebung des Mindestlohns, die tatsächlich deutlich war (und das hat auch Folgen für diejenigen, die Renten erhalten, weil diese an das Mindestgehalt gekoppelt sind). Dieses sind die wesentlichen Gründe für die größere Unterstützung, die die Zentralregierung in den ärmsten Schichten der Bevölkerung hat. Hinzu kommt, dass, obwohl insgesamt die Situation der öffentlichen Leistungen nicht gut ist, die Regierung die Ausgaben für die staatlichen Universitäten angehoben hat und eine Politik der Stipendien verfolgt, die den Zugang der ärmeren Br a silien Schichten auch zu den Privatuniversitäten erleichtert hat. Verloren haben die Menschen mit mittlerem Einkommen und die mit den etwas höheren, besonders die Angestellten im öffentlichen Dienst. Das ist einer der Gründe, aus denen die, die als „Mittelklasse“ charakterisiert werden können (was einen Teil des Proletariats einschließt, einschließlich der Arbeiter), eine deutlich schlechtere Meinung von der Regierung haben. Es haben auch andere Sektoren verloren, wie die Bauern und die indigene Bevölkerung (die in Brasilien sehr zahlreich ist), weil die Regierung die Großagrarier fördert und nicht die bäuerliche Landwirtschaft. Die Zentralregierung lässt einen tatsächlichen Genozid an der indigenen Bevölkerung zu – es gibt zahllose Morde an Ureinwohnern durch die großen Grundeigentümer, und die Regierung toleriert das -, weil die großen Landeigentümer (das Agrobusiness) ein wichtiger Teil der Allianz sind, die die so genannte „Regierungsfähigkeit“ garantieren soll. die Abhängigkeit vom Imperialismus noch die kapitalistischen Widersprüche aufgelöst. Und die Kontrolle über „die da unten“ von Seiten der PT einschließlich ihrer Alliierten und der von ihr geführten Organisationen währt nicht ewig. Diese gesamte Strategie hat die Arbeiterbewegung und die Volksbewegung geschwächt und diese Situation wird für einige Jahre anhalten, bis sie sich reorganisiert haben. Bisher war das für die PT sekundär, weil sie mit einer erheblichen Wahlunterstützung rechnen konnte, die sie mittels der breiten Allianz ausbauen konnte, die sie mit der Rechten eingegangen ist. Es gibt noch andere Aspekte der Regierungsstrategie, die sehr negativ sind. Das eine, was erwähnt werden muss, ist die Missachtung von Umweltfragen, verschärft durch die Allianz mit Sektoren der Agroindustrie. Das andere ist die Öffnung eines Raumes für die fundamentalistische religiöse Rechte, was durch die Bedeutung hervorgerufen wurde, die sie in den Allianzen der PT hat. Was ist deine Bilanz betreffend die PT an der Macht? Ich glaube, es ist möglich, die Linie der PT-Regierungen folgendermaßen zusammenzufassen: Man macht Konzessionen an „die da unten“, unter der Bedingung, dabei nicht in eine Konfrontation mit den herrschenden Klassen einzutreten, was bedeutet, dass man keinen grundsätzlichen Wandel der neoliberalen Orientierung der Politik vornimmt, die von eben diesen Klassen favorisiert wird. Das ist eine grundsätzlich konservative Orientierung. Solange die wirtschaftliche Situation, das ökonomische Wachstum, das zulässt und solange der Einfluss von Lula, der PT und der Organisationen, die von ihr gesteuert werden, auf das Bewusstsein der Arbeiter und der unterdrückten Schichten der Gesellschaft bestehen bleibt, ist es möglich, etwas an „die da unten“ abzugeben, ohne „denen da oben“ etwas wegzunehmen. Lula scheint zu glauben, und er scheint die PT davon überzeugt zu haben, dass es mehr oder weniger möglich ist, für alle zu regieren, indem man den Klassenkampf durch Verhandlung (vor allem mit denen da oben) und Kontrolle (für die da unten, wenn es mit Verhandlungen nicht geht) ersetzt. Zu einem gewissen Zeitpunkt – und der scheint gekommen zu sein – ist diese Linie ausgereizt. Schließlich haben die PT-Regierungen weder die tiefen Widersprüche der brasilianischen Gesellschaft noch Wann und wie sind die Proteste entstanden? Was sind ihre Ziele? Es gibt viele verschiedene Zielvorstellungen, und teilweise widersprüchliche, die zu verschiedenen Zeitpunkten auftauchten. Aber wir können feststellen, dass das Zentrum der Bewegung die Stadt São Paulo war, und dass die Forderung, die den Ausgangspunkt der Mobilisierungen bildete, diejenige nach der Rücknahme der Preiserhöhung für den städtischen Transport war, einer Erhöhung von 3 auf 3,20 Reales (ein Euro entspricht etwa 2,95 Reales). Die erste Demonstration fand am 6. Juni statt. Auf der Grundlage dieser Forderung gab es zwei weitere Demonstrationen, die größer waren, aber noch ohne ein außergewöhnliches Ausmaß anzunehmen. Es handelte sich um einige 1000 Teilnehmer. An 13 die gab es dann eine sehr große Demonstration (mindestens 15 000 Teilnehmer) und darauf hin setzte eine erheblich stärkere polizeiliche Repression ein, als bei den vorherigen Demonstrationen. Es gab mehr als 250 Verhaftungen und einige Dutzend Verletzte durch Gummigeschosse oder Gummiknüppel. Auch einige Journalisten wurden verhaftet oder verletzt. Die Fotografie eines Journalisten, der durch ein Gummigeschoss am Auge verletzt wurde, fand weite Verbreitung. Ab diesem Zeitpunkt entwickelte sich das rasante Wachstum der Mobilisierung in São Paulo und die Ausdehnung der Bewegung. Inprekorr 5/2013 55 Br a silien Auf der folgenden Demonstration in São Paulo, am 17. Juni, war neben der Forderung nach Rücknahme der Preiserhöhung eine zentrale Achse der Protest gegen die Gewalttätigkeit der Polizei. Zwischen dem 13. und dem 17. Juni gab es eine große Welle der Sympathie mit den Protesten, und es zeigte sich eine starke soziale Unterstützung gegen die Gewalttätigkeit der Polizei und für das Recht auf Demonstration. In diesen Tagen gab es auch einen Wandel in der Darstellung der großen Kommunikationsmedien, die von einer offenen Feindseligkeit gegen die „irreale“ Forderung zu einer gewissen Sympathie (obwohl sie immer noch behaupteten, dass die Preiserhöhung ja „gering“ sei) umschwenkten und die vor allem die Verantwortung für die gewalttätigen Akte der Demonstranten der Polizei und ihren „Exzessen“ zuschrieben. Das war dann der Punkt, an dem die Regierung des Bundesstaates beschloss, ihre Linie zu ändern und die Repression (teilweise) auszusetzen. Die entstandene Solidarität mit den Demonstrationen, die Empörung über die Gewalttätigkeit der Polizei, die geänderte Haltung der Kommunikationsmedien – all das begünstigte die Ausweitung der Proteste auch auf die nationale Ebene (die Presse zählte Demonstrationen in mehr als 400 Städten), und auch die Ausweitung der Forderungen. Wie ich schon gesagt habe, rückte die Frage der Repression ins Zentrum, gleichberechtigt mit der Forderung betreffend den öffentlichen Transport, die beliebteste Parole war: „qué coincidencia, sin policía no hay violencia“ (“was für ein Zufall – ohne Polizei keine Gewalttätigkeit”). Denn diese Demonstration, war über fast ihre gesamte Dauer ausgesprochen friedlich. Bei der Demonstration am Montag, den 17. Juni war dann ein anderes bedeutendes Thema der Protest gegen die exorbitanten Ausgaben für die Fußballweltmeisterschaft und den Confederation Cup. Es gab viele Parolen von dem Typ: „ich will keinen Ball, ich will eine Schule“. (Portugiesisch: não quero bola, quero escola). Auch gab es Parolen, die hervorhoben, dass Gesundheit und Erziehung wichtiger als Fußball seien. Daneben hatten dann auch noch andere Parolen ein Gewicht, die sich gegen die Homophobie richteten, ein Thema, das in den Monaten zuvor viel Protest als Reaktion auf die Haltung der fundamentalistischen religiösen Rechten hervorgerufen hatte. (Es gibt derzeit eine große Mobilisierung der öffentlichen Meinung gegen das Projekt eines Gesetzes, das es erlaubt, die Homosexualität als Krankheit zu behandeln, 56 Inprekorr 5/2013 das von der fundamentalistischen religiösen Rechten verteidigt wird.). Gleichzeitig tauchten dann immer stärker Parolen gegen die Korruption auf. Vermutlich ist dies nicht allein auf die allgemeine Volksmeinung zurückzuführen, sondern auch auf eine gewisse Linie der Rechtspresse. Die Wochenendausgabe der größten und am weitesten rechts stehenden Zeitung des Landes, „Veja”, vom 15./16 Juni titelte auf der ersten Seite: „Die Jugendrevolte – nach den Transportpreisen geht es jetzt gegen Korruption und Kriminalität „. Andere Presseorgane gingen nicht so weit, der Jugend vorzuschlagen, gegen die Kriminalität zu kämpfen (das heißt, für mehr Polizei), aber sie griffen auch die Frage der Korruption auf. Bei den Demonstrationen von 17. Juni tauchten dann auch Gruppen auf, die klar aus der extremen Rechten stammen und die mit Provokateuren der Polizei zusammenarbeiteten, wenn auch wenig offensichtlich. All das hat letztendlich das allgemeine Gefühl „gegen die Parteien“ verstärkt und auch prinzipiell gegen das Auftauchen ihrer Fahnen. Ab dem Donnerstag den 20. Juni verstärkte sich die Präsenz der rechten Gruppen. In dem Maße, in dem sich die Demonstrationen massiv ausweiteten und sich aufs ganze Land ausbreiteten (schon am Montag, den 17. Juni fanden laut Presse Demonstrationen in vielen Hauptstädten des Landes und anderen Städten statt mit sicher mehr als 100 000 Teilnehmern in São Paulo und mehr als 100 000 in Rio de Janeiro), begannen sie sich auch zu diversifizieren und es begannen sich deutliche Widersprüche zu entwickeln. Gibt es Ähnlichkeiten mit den Demonstrationen der so genannten Indignad@s in anderen Ländern? Sicher gibt es Ähnlichkeiten zwischen den Protesten in Brasilien und den Bewegungen der Indignados anderer Länder. Es handelt sich vor allem um Jugendbewegungen (obwohl es vielleicht in Brasilien seit dem 17. Juni eine stärkere Präsenz von Gruppen höheren Alters gibt); alle haben sich durch die neuen Medien wie Facebook und andere vernetzt. Es gibt ein Gefühl der Entwürdigung gegenüber der Ungerechtigkeit und das ist eine starke Komponente für die Motivation der Bewegung. Aber es gibt natürlich viele Besonderheiten in Brasilien, zum Beispiel glaube ich nicht, dass in einem anderen Land die Bewegung der Indignados sich gegen eine Regierung einer Partei mit der Geschichte der PT richtet. Außerdem ist es möglicherweise in Brasilien Br a silien so, dass wir es mit einem Netz von „nicht-traditionellen“ sozialen und Volksorganisationen verschiedener Herkunft zu tun haben, das stärker ist als in anderen Ländern. Was sind die sozialen Sektoren, die die ursprüngliche Basis der Mobilisierungen bilden, was sind Ihre Kampfformen und was ist ihre Organisationsform? Der Ausgangspunkt der Bewegung gegen die Erhöhung der Transportpreise in São Paulo war das Movimento Passe Livre (MPR, das heißt, eine Bewegung für kostenlosen öffentlichen Transport). Diese Initiative existiert seit 2005 und hat bereits mehrmals öffentliche Mobilisierungen angestoßen, aber niemals von der Breite wie jetzt. Es handelt sich um eine Bewegung, die sich als parteilos und nicht- hierarchisch definiert, aber nicht als parteienfeindlich. Im Allgemeinen hatte sie immer gute Beziehungen zu den mehr links stehenden Parteien, wie der PSOL und der PSTU. De facto haben PSOL und PSTU die Mobilisierungen vom 6. Juni unterstützt und dabei mit dem MPL zusammengearbeitet, auch einige Sektoren der PT haben sich angeschlossen. Jugendorganisationen, die der PSOL nahe stehen (in denen also jugendliche Mitglieder der PSOL mitarbeiten), waren ein wichtiger Teil dabei. Von Anfang an haben auch Sektoren der Anarchisten mitgearbeitet. Die soziale Basis des MPL ist vor allem die Jugend der so genannten Mittelklasse (daraus besteht auch die Mitgliedschaft des MPL). Es handelt sich zweifellos um eine linke Bewegung und um eine, die generell links von der PT steht. Nach dem 13. Juni schlossen sich zahlreiche andere Bewegungen und Organisationen den Mobilisierungen an und haben an den entsprechenden Versammlungen teilgenommen. In São Paulo war das das MTST (Bewegung der wohnungslosen Arbeiter) und die Bewegung Periferia Activa, die Menschen aus der Peripherie der Stadt organisieren, die keinen Zugang zu Wohnungen haben. Außerdem haben zu den Mobilisierungen Teile der Frauenbewegung und der LGTB-Bewegung aufgerufen, und auch verschiedene Jugendinitiativen. Auch die Regierungslinke hat das getan (Sektoren der PT und der PCdoB). Die Beteiligung der Anarchisten wurde größer. Andererseits haben, wie bereits gesagt, bestimmte Gruppen der extremen Rechten angefangen, sich mit dem Ziel zu beteiligen, die Zielrichtung der Bewegung zu ändern. In anderen Städten ist das Spektrum, das zu den Kundgebungen aufrief, ähnlich: Kollektive, die für kostenlosen Nahverkehr oder gegen die Preiserhöhungen beim öffentlichen Transport kämpfen (das MPL existiert nicht im ganzen Land, in den unterschiedlichen Städten gibt es ähnliche Initiativen), in Zusammenarbeit mit den Parteien der Linken. In vielen Städten gibt es Volkskomitees zum Weltcup, die seit mehr als zwei Jahren eine kritische Mobilisierung nicht nur gegen die exorbitanten Ausgaben für die Fußballweltmeisterschaft, sondern auch gegen die Verletzungen der Rechte der Bevölkerung, die für die entsprechenden Bauarbeiten umgesiedelt werden, und gegen die Ausnahmegesetzgebung für die Weltmeisterschaft (auf Forderung der FIFA) und anderes durchführen. In vielen Städten haben diese Komitees (und sie tun es noch) sich in bedeutendem Maße an den Aufrufen zu den Kundgebungen beteiligt. In der Tat wurden auf Druck der FIFA Demonstrationen am brutalsten von der Polizei unterdrückt, die in der Nähe der Stadien stattfanden, in denen der Confederation Cup ausgetragen wurde, generell kann man sagen, dass in der vergangenen Woche mehr Menschen außerhalb der Stadien protestiert haben, als die Spiele gesehen haben. Welche Beziehungen hat die aktuelle Bewegung zu den sozialen Bewegungen: zu den Landlosen, den Wohnungslosen etc.? Gibt es eine Verbindung zwischen dieser Bewegung und anderen sozialen Sektoren? Wie ich es bereits in der Antwort auf die vorherige Frage erklärt habe, gibt es eine bedeutende Beteiligung der Bewegungen der Wohnungslosen, der Jugendlichen, der Einwohner der Peripherie und der Volkskomitees zur Weltmeisterschaft. In einigen Städten hat die Bewegung der Landlosen die Demonstrationen unterstützt, allerdings wird sie in erster Linie von der städtischen Bevölkerung getragen. Andererseits gibt es keine oder zumindest keine gute Beziehung der aktuellen Bewegung zur organisierten Arbeiterbewegung. Man kann sagen, dass man eine Beteiligung der Arbeiterklasse als Klasse nicht feststellen kann, obwohl die CUT (und ich glaube, dass auch andere Gewerkschaftszentralen) begonnen haben, formal die Demonstrationen zu unterstützen. Ich glaube dass die größte Schwierigkeit – und das betrifft auch in gewisser Weise die Beziehungen zwischen der Bewegung, die sich in den Demonstrationen ausdrückt, und Inprekorr 5/2013 57 Br a silien dem MST – die Kontrolle der CUT durch die Zentralregierung und die enge Beziehung des MST zu eben dieser Regierung sind. Natürlich ist der Ton der Bewegung sehr gegen die Zentralregierung gerichtet (und gegen die Bundesstaatsregierungen und die Bürgermeister sowieso). In Europa ist man perplex, dass ausgerechnet im Land des Fußballs Menschen zum Zeitpunkt der Weltmeisterschaft mobilisieren und weniger Fußball und mehr Investitionen in andere Sektoren (Erziehung, Gesundheit etc.) fordern. Wie erklärst du Dir das? In der Tat war das Ausmaß der Demonstrationen auch für uns selbst eine Überraschung. Aber es ist nicht schwer, das zu erklären. Dieser Confederation Cup (und noch deutlicher wird das bei der Weltmeisterschaft sein) findet nicht statt, damit das Volk daran teilnehmen kann. Die Eintrittspreise sind sehr teuer. Hinzukommt, und das ist noch wichtiger, dass der ganze Prozess der Organisierung der so genannten Megaevents (Fußballweltmeisterschaft, Olympiade, Confederation Cup) ein riesiger Skandal ist und das Gerechtigkeitsgefühl der Bevölkerung verletzt. Die Ausgaben sind riesig, die Profite der Unternehmen ebenso, die Forderungen der FIFA betreffend die Sicherheitsvorkehrungen – praktisch ein Ausnahmezustand – sind absurd. Ein Teil der Bevölkerung leidet unter Umsiedlungen als Folge der Bauarbeiten. Ich glaube, dass der Confederation Cup, anstatt als Dämpfer für die Mobilisierungen zu wirken, sie noch erheblich verstärkt hat. Das Gerechtigkeitsgefühl, die Empörung gegen die Ungerechtigkeiten waren unter den Leuten sehr viel größer als die Lust auf Fußball. Was ist die Antwort der Regierungen auf die Forderungen der Bewegung? Gibt es Widersprüche im Staatsapparat? Die Regierung, oder besser, die verschiedenen Regierungen der verschiedenen Parteien im ganzen Land, sind in der Frage der Nahverkehrspreise zurückgewichen. Was dieses Ausgangsthema betrifft, hat die Bewegung einen klaren und schnellen Sieg errungen. Darüber hinaus hat am 21. Juni die Präsidentin der Republik versprochen, „die Stimme der Straße zu hören …“ allerdings hat sie auch gesagt, dass sie „keinen Aufruhr dulden“ werde und darüber hinaus die Sicherheit der Spiele des Confederation Cups garantiere, und sie hat einen „nationalen Pakt für die öffentlichen Dienstleistungen“ vorge58 Inprekorr 5/2013 schlagen. Das heißt nichts anderes, als dass sie keinerlei Änderung der politischen Orientierung vorhat, sondern lediglich sagt, dass sie vorhat, die Dinge effizienter zu gestalten und besser zu koordinieren, also nichts anderes als das, was sie bereits mit den Gouverneuren der Bundesstaaten und den Bürgermeistern tut. Es ist zu früh, um zu sagen, ob das irgendeine Konsequenz hat. Die Demonstrationen gehen weiter und es sind noch mehr für die nächsten Tage angekündigt (am 24. Juni hat die Präsidentin versprochen, ein Referendum zu organisieren, das den Weg für eine Verfassungsreform öffnen soll). In den Reaktionen der unterschiedlichen Regionalregierungen unterschiedlicher Parteien (die PT und ihre Alliierten, sowie die rechte Opposition) gibt es erheblich mehr Übereinstimmungen als Unterschiede. Ich glaube nicht, dass man da von wirklichen Widersprüchen im Staatsapparat sprechen kann. Welche Beziehungen gibt es zwischen der Bewegung und der Linken? Glaubst du, dass die Bewegung von der Rechten vereinnahmt werden kann? Ich habe vorhin bereits zu dieser Frage Stellung genommen. Die Bewegung hat eine klare parteiunabhängige Richtung (in dem Sinne, dass sie ein starkes Misstrauen gegenüber einer Beziehung zu Parteien hat), obwohl man sie in keiner Weise als unpolitisch bezeichnen kann. Die ursprüngliche Grundtendenz der Bewegung war ganz klar links: Die Parole des kostenlosen öffentlichen Nahverkehrs (oder die Rücknahme der Preiserhöhung) ist ganz klar eine linke Forderung. Andere Themen der Bewegung, wie die Kritik der exorbitanten Ausgaben für die Weltmeisterschaft, die Forderung nach besserer Gesundheitsversorgung und Erziehung, sind ebenfalls linke Forderungen, ebenso wie die Parolen gegen die Homophobie beispielsweise. Andererseits begann die Rechte, einschließlich der extremen Rechten, ab dem Zeitpunkt der Demonstration vom 13. Juni in São Paulo, als klar wurde, dass die Bewegung einen großen Zulauf bekam, ebenfalls zu mobilisieren, mit dem Ziel, sie zu kontrollieren, indem sie sie über die Kommunikationsmedien unterstützte und direkt an den Demonstrationen teilnahm. Am 20. Juni führte die aggressive Präsenz von Gruppen der extremen Rechten, mit der Kollaboration von Polizeiprovokateuren, in vielen Städten, vor allem in São Paulo und Rio de Janeiro, wo die größten Demonstrationen stattfanden, zu einem teilweisen Erfolg, insofern, als Teilnehmer mit Fahnen von Parteien oder Br a silien Bewegungen aus der Demonstration ausgeschlossen wurden. In São Paulo fing das mit den Fahnen der PT an, aber danach wurde es auf die Fahnen anderer Parteien und Bewegungen ausgeweitet. Und es kam bis zu dem Punkt, dass selbst Leute, die schlicht rot gekleidet waren, angemacht wurden. Diese Aggressionen entwickelten sich auf der Grundlage eines spontanen Gefühls des Misstrauens gegenüber den Parteien, das mindestens zwei verschiedene Gründe hat: Da ist zum einen der Prestigeverlust der institutionalisierten Parteien (bis hin zu Leuten, die die Regierung unterstützen, gibt es eine generell negative Sicht der Parteien, die sie bilden) und zum anderen das, was man, aus gutem Grund, als Opportunismus der mehr links stehenden Parteien ansieht, die, indem sie mit großen Fahnen auftauchen und sich an die Spitze der Demonstration stellen, den Eindruck vermitteln wollen, dass ein großer Teil der Leute, die demonstrieren, sie unterstützt. Und hinzukommt, dass dieses Gefühl durch die großen bürgerlichen Kommunikationsmedien verstärkt wurde, die versuchen, die Stimmung zu erzeugen, dass sich „alle unter der brasilianischen Flagge versammeln müssen“. Ich glaube nicht, dass die Bewegung von der Rechten okkupiert wurde, jedenfalls ist das derzeit nicht der Fall. Was stattfindet, ist eine große Auseinandersetzung um Orientierungen und Forderungen. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass das, was bis jetzt konkret erreicht worden ist, Siege der Linken sind, beispielsweise die Rücknahme der Fahrpreiserhöhungen im ganzen Land. Es ist interessant, dass die Ankündigung der Rücknahme in São Paulo und Rio de Janeiro und in anderen verschiedenen Städten bereits am 19. Juni bekannt gegeben wurde (andere Städte hatten dies bereits vorher getan). Trotzdem wurde in diesen Städten die für den 20. geplante Demonstration „zur Erinnerung“ durchgeführt. Das Gefühl des Sieges führte zu einer noch höheren Teilnahme an der Demonstration (die Presse sprach von mehr als 300 000 Personen in Rio de Janeiro beispielsweise), aber gleichzeitig führte das dazu, dass es keine klare, vereinheitlichende Forderung gab. Ein zentraler Punkt ist, dass wichtige Teile der Bevölkerung die Erfahrung gemacht haben, an Massenmobilisierungen teilzunehmen, die zu Siegen geführt haben – und das hat Ihnen gefallen. Das kann zwar mittelfristig zu einer Erschöpfung führen, aber ich glaube nicht, dass das von der Rechten vereinnahmt werden kann. Welche Probleme hat die PT mit dieser Bewegung? Die Situation der PT ist sehr schwierig, zumindest derzeit, es gibt keinen Zweifel, dass sie die Partei ist, die am meisten durch diese Mobilisierungen verloren hat. Vor allem hat sie einen guten Teil ihrer Argumentation der letzten Jahre verloren: Sie kann nicht weiter behaupten, dass es einen Prozess des Fortschritts in Brasilien gebe und dass die Bevölkerung zufrieden sei. Und eine ihrer zentralen Orientierungen, nämlich die Politik der „Megaevents“, ist komplett gescheitert. Der Confederation Cup, gedacht als eine Gelegenheit, ihr Prestige zu erhöhen, hat stattdessen zu erheblichem Unwillen geführt. Es ist das erste Mal in ihrer Geschichte, dass die PT sich großen Massenmobilisierungen gegenübersieht, die ihr gegenüber feindlich sind. Seit dem Beginn der Regierung Lula – und schon bei der sehr konservativen Rentensreform – war die PT es gewöhnt, Front gegen Streiks und Mobilisierungen zu machen, die sich gegen ihre verschiedenen Regierungen richteten. Viele Male, mit Unterstützung des größten Teiles der Gewerkschaftsführungen, hat sie verhandelt, zu anderen Gelegenheiten hat sie zur Repression gegriffen. Aber eingeschlossen die große Mobilisierung gegen eine ihre Regierungen – gegen die konservative Rentensreform – kann man das Ausmaß der derzeitigen Mobilisierungen mit nichts zuvor vergleichen. Offensichtlich hat das eine tiefe Verunsicherung in der PT ausgelöst. Vor dem 20. Juni lancierte der Präsident der Partei, Rui Falcão, einen Aufruf an die Mitgliedschaft der PT, dass sie an den Demonstrationen mit ihren Fahnen teilnehmen solle. Das Resultat war ein Desaster: ein großer Teil der Teilnehmer sah das als eine Provokation an und das war einer der Gründe, die es den Gruppen der extremen Rechten erleichterten, den Ausschluss der Teilnehmer durchzusetzen, die Parteifahnen (und Fahnen von Bewegungen) trugen. Derzeit ist die vorherrschende Tendenz in der PT und vor allem in den Sektoren, die sie von einer mehr links stehenden Position unterstützen, wie es der MST in den letzten Jahren getan hat, zur Einheit der Linken aufzurufen (was heißt, Einheit mit der Linksopposition gegen die PT Regierungen) um eine gemeinsame Front „gegen die Rechte“ zu bilden. Aber das ist sehr widersprüchlich angesichts der Tatsache, dass die PT-Regierungen keinerlei Zeichen einer Änderung ihrer Orientierung erkennen lassen. Sie behalten die gleiche Linie bei, die die Demonstrationen hervorgerufen hat (und immer Inprekorr 5/2013 59 Br a silien noch hervorruft). Es ist offensichtlich, dass die Linksopposition gegen die Regierung der PT eine Allianz auf einer solchen Basis nicht akzeptieren kann. Welche Probleme stellen sich nun der radikalen Linken in dieser Bewegung? Was sind die Herausforderungen, denen sich die Mobilisierung gegenübersieht, damit es nicht bei einem einmaligen Ereignis ohne Zukunft bleibt? Eine erste Frage ist, zu einem wirklichen Verständnis dessen zu kommen, was sich abspielt. Auch die radikale Linke war überrascht von der Breite der Mobilisierung und der Komplexität des Kampfes, der sich derzeit zwischen Sektoren der Linken und der Rechten bei den Demonstrationen abspielt. Aber wir kommen, glaube ich, voran beim Verständnis der Situation. Eine zweite Frage ist das Verhältnis zur PT und ihren Satellitenparteien, wie der PCdoB. betreffend die Frage: welche Einheit der Linken? Es gibt einen gewissen Druck der Sektoren, die eine „Einheit der Linken“ anstreben. Derzeit gibt es eine Debatte in verschiedenen Teilen der radikalen Linken, aber ich glaube, die dominierende Position ist klar und korrekt: Wir können kein Allianz mit Sektoren eingehen, die, auch in kritischer Form, die Regierungen der PT unterstützen. Die Einheit der Linken, die wir anstreben müssen, ist die mit Sektoren, die sich in Opposition zu den Regierungen der PT befinden (und natürlich auch in Opposition zu den Regierungen der Rechten, die in Opposition zur Zentralregierung stehen). Das schließt die anarchistischen Strömungen ein, die Parteilosen und die Bewegungsorientierten wie den MPL von São Paulo. In diesem Rahmen darf man auf keinen Fall in die Falle laufen, in eine Diskussion um Parteienfahnen zu geraten. Zwar haben die Parteien das Recht, ihre Fahnen zu tragen, aber zum jetzigen Zeitpunkt gilt es, die beste Art und Weise zu finden, auf der einen Seite die Legitimität der Teilnahme von Parteimitgliedern bei den Mobilisierungen zu sichern, ohne den Eindruck zu erwecken (und in vielen Fällen handelt es sich nicht nur um einen Eindruck), als Anführer der Bewegung auftreten zu wollen und auf wenig ehrliche Weise den Eindruck zu verbreiten, das alle Teilnehmer die oder jene Partei unterstützen würden. Es gibt andere Parteisymbole, die mehr akzeptiert sind, wie z.B. T-Shirts. Das Zentrum des Kampfes ist nicht die Frage der „Parteiabzeichen“, sondern die politische Orientierung der Bewegung, ihre Überzeugungen und Forderungen. Damit sind wir bei einer anderen Herausforderung, nämlich der, herauszuarbeiten (zusammen mit allen 60 Inprekorr 5/2013 Sektoren, die die Bewegung vorwärts treiben), was die besten Grundlagen und Forderungen sind, um weiter voran zu kommen. Es gibt einige mehr oder minder klare Ideen. Die Frage des öffentlichen Verkehrs – die komplette Kostenfreiheit zu fordern, oder vielleicht Kostenfreiheit für junge Leute oder etwas in dieser Richtung, die Frage der Transportqualität – all das bleibt eine wichtige Achse. Diese Woche stehen zwei oder drei prioritäre Fragen auf der Tagesordnung: die Proteste gegen den Confederation Cup (und generell die Ausgaben für so genannte Megaevents) und der Kampf gegen die Gesetzesvorlage, die es erlaubt, Homosexualität wie eine Krankheit zu behandeln, die von der fundamentalistischen religiösen Rechten verteidigt wird. Es gab schon eine sehr große Demonstration in São Paulo explizit zu diesem Thema (am 21. Juni) mit mehr als 10 000 Personen, und das ist ein Thema, das in vielen der Demonstrationen präsent war. Das Thema stand auf der Tagesordnung der Abgeordnetenkammer, und viele Abgeordnete beginnen bereits, Erklärungen abzugeben, dass man sich dagegen aussprechen muss. Ein kurzfristiger Sieg scheint hier durchaus wahrscheinlich. Und schließlich ist die härteste Herausforderung der Kampf gegen die Rechte (speziell gegen die Kommunikationsmedien) und gegen die Gruppen der extremen Rechten. Ein Weg, das hinzubekommen, ist, zu Demonstrationen mit klaren Grundlagen und Forderungen aufzurufen, in denen sich die Teilnehmer wiederfinden, die nach links neigen, und bei denen die Gruppen der rechten und extremen Rechten, wenn sie teilnehmen, isoliert sind. Die Einheit der Linken außerhalb des Regierungslagers ist ein anderer Weg, Front gegen die Rechte zu machen. Außerdem ist es nötig, mehr auf die organisatorischen Aspekte zu achten, wie den Schutz der Demonstranten gegen Provokationen. Wie würdest du die heutige politische Situation in Brasilien definieren? Es gibt Anzeichen, dass die Politik der PT an der Macht – so wie ich sie vorhin zusammenfasste: ein bisschen was an „die da unten“ abzugeben, unter der Bedingung, dass man dabei nicht in einen Konflikt mit der herrschenden Klasse kommt – sich erschöpft hat: Die PT wurde zweifellos am meisten von allen Parteien durch die Demonstrationen beeinträchtigt, obwohl andere Parteien in der Regierung, die mit der PT zusammenarbeiten (wie die Br a silien PMDB des Gouverneurs von São Paulo) ebenfalls betroffen wurden. Ich glaube nicht, dass es derzeit die Möglichkeit eines „Rechtsputsches“ gibt, wie es einige Sektoren der PT behaupten. Die Rechte hat keinerlei Grund, einen Putsch anzustreben: Die Regierung der PT mag zwar nicht die Regierung ihrer Träume sein, aber sie ist im Großen und Ganzen nicht schlecht für sie. In der derzeitigen Krise haben sich die Parteien der Rechten sehr ähnlich verhalten wie die PT. Was die Rechte interessiert, ist, die Krise auszunützen, um die PT zu diskreditieren (in der Presse wird sehr viel von Korruption geschrieben, was den Eindruck erwecken soll, dass das Problem der Korruption einer Frage mehr auf der Ebene der Zentralregierung, als auf der der Bundesstaaten sei) und sich damit eine bessere Ausgangsposition für die nächsten Wahlen zu verschaffen. Es ist nicht klar, wohin die Bewegung gehen wird, und auch nicht, in welcher Weise sie eine Veränderung der Kräfteverhältnisse darstellen kann. Es gibt Anzeichen, dass die Bewegung die Kraft hat, weiter vorwärts zu gehen, dass sie noch weitere Siege einfahren kann, aber es ist nicht wahrscheinlich, dass sie allein einen grundsätzlichen Wandel in Gang setzen kann. Der wesentliche limitierende Faktor ist, dass, obwohl der Verlust an Legitimität des politischen Systems sehr ausgeprägt ist, die Bewegung sich nicht das Ziel setzt, das politische Regime oder die Regierung zu verändern, und dass wir weit entfernt von der Forderung sind: „Sie sollen alle abhauen“. Andererseits ist es sicher, dass es einen Wandel in den Kräfteverhältnissen geben wird als Folge der Mobilisierung. Die PT und ihre Satelliten haben viel verloren, die rechte Opposition hat auch verloren, obwohl weniger. Die Organisationen der sozialen Bewegungen, die der PT und ihren Alliierten näher stehen, wie die CUT, und die bereits sehr bürokratisiert sind, werden wahrscheinlich auch etwas verlieren. Organisationen, die unabhängiger sind, wie die verschiedenen Organisationen, die die Mobilisierungen angestoßen haben, werden wahrscheinlich gestärkt daraus hervorgehen. Was die politischen Parteien außerhalb der Regierung betrifft (die sehr viel schwächer sind als die PT oder die Parteien der Rechtsopposition) so können wir feststellen, dass derzeit eine Partei, die gestärkt worden ist, das „Rede Sustentabilidade“ (etwa: Netz für Nachhaltigkeit, Anm.d.Ü.) von Marina Silva ist, eine Partei, die gerade dabei ist, ihre Wahlzulassung zu erlangen. Das ist eine Partei, die, wie ihr Name schon sagt, beabsichtigt, keine klassische Partei zu sein. Sie hat ein sau- beres Image und sitzt in keiner Regierung. Die PSOL wurde wahrscheinlich durch die Bewegung ebenfalls gestärkt und könnte mehr gestärkt werden, auch wenn sie in gewisser Art und Weise den Demonstranten ähnlich wie die PT erscheint, da sie eine Partei der Linken ist, und die PT in der Bevölkerung immer noch als der größte Repräsentant der Linken gesehen wird, wobei man nicht vergessen darf, dass das Gefühl des Misstrauens gegenüber Parteien generell sehr stark ist. Die PSOL ist die Partei, die die stärksten Übereinstimmungen mit den Überzeugungen hat, die die Bewegung in Gang gebracht haben und die in ihr dominieren. Hinzukommt, dass ihre Mitglieder, eingeschlossen ihre Parlamentarier, von Anfang an bei den Mobilisierungen dabei waren, speziell die Jugendlichen. Es ist sicher, dass die Jugendorganisationen, die der PSOL nahe stehen, bereits jetzt mehr Autorität genießen und auch weiter gestärkt werden. In jedem Falle werden die Kämpfe der nächsten Tage und Wochen für all dies entscheidend sein. Gibt es eine glaubwürdige Alternative links der PT? Was sind die in wesentlichen Herausforderungen, vor denen die antikapitalistische Linke steht? Derzeit gibt es keine glaubwürdige Alternative auf der Linken zur PT auf nationaler Ebene. Wir stehen immer noch am Beginn der Rekonstruktion der antikapitalistischen Linken in Brasilien nach dem schweren Schlag, den der Weg der PT in die institutionelle Bürgerlichkeit bedeutete. Die PSOL, die bei weitem die erste politische Alternative auf der Linken zur PT ist, ist nichtsdestotrotz schwach, und leidet dazu unter inneren Widersprüchen. Sie kann eine glaubwürdige Alternative in einigen Städten darstellen, wie sich das in den Wahlen vom Oktober 2012 gezeigt hat, aber nicht auf nationaler Ebene. Die Hauptherausforderung, vor der die antikapitalistische Linke in diesem Moment steht, ist, zum Aufbau der Bewegung beizutragen, in dem Sinne, in dem ich es vorhin dargestellt habe. Wenn sie das erreicht, wird sie gleichzeitig in den Prozess ihrer Rekonstruktion und beim Aufbau einer glaubwürdige Alternative links von der PT vorankommen. Was hältst du von dem Vorschlag der brasilianischen Präsidentin, ein Referendum anzusetzen und hundert Prozent der Öleinnahmen für Bildung und Gesundheitswesen zur Verfügung zu stellen? Inprekorr 5/2013 61 Br a silien Der erste Vorschlag lautete: „Durchführung einer Volksabstimmung über die Form eines speziellen verfassungsgebenden Prozesses zur Umsetzung der politischen Reform“. Dieser Vorschlag wurde ursprünglich als ein Plebiszit präsentiert, um eine verfassungsgebende Versammlung einberufen zu können, die sich ausschließlich der politischen Reform widmet; am nächsten Tag wurde dieser Vorschlag zurückgezogen und durch den Vorschlag eines Plebiszits zu Fragen der politischen Reform ersetzt. Dieser Vorschlag ist selbstverständlich ein Versuch, um auf den klaren Legitimitätsverlust des politischen Systems zu reagieren, der in den Demonstrationen zum Ausdruck kam. In seiner ersten Version hätte der Vorschlag zu einer Chance für einen wirklichen Wandel werden können (was unter anderem von den Regelungen zur Wahl der Volksvertreter abhängig gewesen wäre). Die zweite Version ist viel schlechter. Das Volk würde nach einer Wahlkampagne, in der die großen Medien viel Einfluss haben, auf einige Fragen antworten – so wie dies üblicherweise bei bürgerlichen Wahlen der Fall ist – und die sehr schlechte aktuelle Nationalversammlung (der Kongress) würde der „politischen Reform“ die endgültige Fassung verleihen. Die Wahrscheinlichkeit einer nennenswerten Verbesserung ist gering: Alles wird vom Fortgang der Mobilisierung abhängen, um zu verhindern, dass die Fragen zur Abstimmung stehen, die der Kongress gerne stellen würde … Der zweite Vorschlag, den Dilma am Montag unterbreitet hat, besteht darin, hundert Prozent der Lizenzgebühren für die Ölförderung und 50 % der Öleinnahmen aus den Tiefseebohrungen (camada pre-sal)1, die von den Kommunen, den Einzelstaaten und dem Bundesstaat eingenommen werden, dem Erziehungswesen zuzuteilen. Dieser Vorschlag wurde schon am nächsten Tag vom Abgeordnetenhaus kassiert, das dann ein Vorhaben billigte, nach dem 75 % der Lizenzgebühren dem Erziehungswesen und 25 % dem Gesundheitswesen zugeteilt werden sollen. Dieser Entwurf wird dann im Senat erörtert werden. Ich weiß nicht, was schließlich dabei rauskommen wird, aber es ist darauf hinzuweisen, dass dieses Projekt (ganz gleich in welcher Variante) sehr schlechte Punkte enthält. Die bedeutendsten Öllizenzgebühren werden aus der Nutzung der camada pre-sal erwartet, deren Ausbeutung aber noch nicht mal begonnen hat. In den kommenden Jahren werden diese Mittel sehr beschränkt sein und werden die aktuell im Bildungssektor bereitstehenden Mittel kaum erhöhen. Deshalb der Vorschlag der Linken, die im 62 Inprekorr 5/2013 Bildungssektor aktiv sind, zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts dem staatlichen Bildungswesen zuzuweisen, ein machbarer Vorschlag, der aber nur umsetzbar ist, wenn der Haushalt substanziell umgeschichtet wird, z. B. über die Reduzierung der öffentlichen Schulden auf der Grundlage eines Schuldenaudits. Zum anderen ist die öko-sozialistische Bewegung aufgrund der damit verbundenen großen Umweltprobleme eh gegen die Ölförderung in den camada pre-sal. Allein das ist schon Grund genug, gegen diese Ölförderung zu sein. Außerdem würde in dem vorgesehenen Ölfördermodell der größte Teil der Ölrente an private Unternehmen gehen. Um zu schließen: Die Losung „100 Prozent der Lizenzgebühren für die Ölförderung in der camada pre-sal für den Bildungssektor“ ist in den Teilen der Linken, die die Regierung unterstützen, sehr populär, hat aber viele negative Seiten. Ein weiterer Punkt: Seit dem 24. Juni wetteifern Regierung, Abgeordnetenhaus und Senat darum, wer die schönsten Dinge ankündigen kann, die sich als Antwort auf „die Stimme der Straße“ präsentieren lassen. Die wirksamste Ankündigung – oder in manchen Fällen die wirksamste Entscheidung – ist die Preissenkung im Öffentlichen Nahverkehr (was sehr unterschiedlich ausfällt, je nach Regierungsebene in den verschiedenen Staaten oder Städten), wobei in manchen Fällen auch der kostenlose Transport für Studierende angekündigt wurde. Ein weiterer sehr positiver Punkt ist die (für die kommenden Tage angekündigte) Rücknahme eines Gesetzentwurfs, nach dem es ermöglicht werden sollte, Homosexualität als Krankheit zu behandeln – das sogenannte Gesetz „zur Behandlung Schwuler“. Wir werden abwarten müssen, um eindeutiger bewerten zu können, was durchgesetzt wurde – auch weil die Mobilisierungen weitergehen, weniger massiv zwar, aber zahlreicher und vielfältiger als in der vergangenen Woche. Was ist in den letzten Tagen passiert? Gibt es was Neues? Neben den anhaltenden Mobilisierungen gibt es einen sehr breiten Prozess der Ausweitung politischer Diskussionen, der Versammlungen verschiedener Sektoren (Junge, BewohnerInnen der Vorstädte, Bewegungen für den Öffentlichen Nahverkehr, Bewegungen für den Bildungssektor usw.) und mit mehr Menschen als vorher. Sie diskutieren darüber, was zu machen ist und welche konkreten Forderungen sie aufstellen sollen. Die Gewerkschaftsvorstände, die sich bisher überhaupt nicht engagiert hatten, kündigen (einschließlich der rechtesten Vorstände) für den 11. Juli einen Generalstreik und einen Protesttag an und vertreten dabei eine recht Br a silien fortschrittliche Linie. Die Mehrheit der sozialen Bewegungen, einschließlich derjenigen, die ansonsten eher mit der Regierung verbunden sind, hat sich diesem Aufruf der Gewerkschaftsvorstände angeschlossen, und zwar mit ihren eigenen Forderungen, die ebenfalls sehr fortschrittlich sind. Ex-Präsident Lula hat sich mit einigen sozialen Bewegungen, die ihm nahe stehen, getroffen und er führte dann aus, dass der Moment gekommen sei, „auf die Straße zu gehen“, um der Rechten entgegenzutreten und die Regierung nach links zu drücken. Natürlich weist diese Position Lulas sehr komische Züge auf, aber es ist ein deutlicher Reflex dessen, was sich zurzeit im Land abspielt. Auf der anderen Seite sind die Drohungen der Rechten – die Ende letzter Woche gewichtig erschienen – doch sehr begrenzt geblieben. Es gab ein paar Mobilisierungen, zu denen unter eindeutig rechten Losungen aufgerufen worden war, die aber völlig gescheitert sind. Wir wissen nicht, ob alle angekündigten Mobilisierungen der Bewegungen und der Gewerkschaften stattfinden werden und wie stark sie sein werden. Nach den letzten zehn Jahren ist es sehr schwer, sich vorzustellen, dass die sehr bürokratisierte CUT [der große Gewerkschaftsdachverband, Anm. d. Übers.] in einem solchen Prozess wirklich seine Kraft in die Waagschale werfen wird, ganz zu schweigen von den rechteren Gewerkschaftsverbänden. Das Gleiche lässt sich von der genauso bürokratisierten UNE (dem nationalen Studierendenverband) sagen, einer der Organisationen, die sich mit Lula getroffen haben. Die sozialistische Linke in den verschiedenen Bewegungen gewinnt in dem aktuellen Prozess an Stärke, ist allerdings noch sehr minoritär. Mit großer Gewissheit jedoch können wir sagen: Die politische Teilhabe des Volkes hat einen bedeutenden, qualitativen Schritt nach vorne gemacht. Hoffen wir, dass es mit dem Bewusstsein ebenso verlaufen wird. Brasilien ist heute nicht mehr dasselbe, das ist sicher. 23. und 27. Juni 2013 João Machado ist Mitglied der nationalen Leitung der Partei für Sozialismus und Freiheit (PSoL.) und der Strömung ENLACE. Er ist Mitglied des Internationalen Komitees der Vierten Internationale. Übersetzung: Klaus Engert und Jakob Schäfer 1 Bei den camada pre-sal (engl. pre-salt layers) handelt es sich um Ölfelder mehrere Tausend Meter (!) unter dem Meeresgrund, unter Fels und salzführenden Schichten vor der brasilianischen und der afrikanischen Küste, die nur sehr aufwändig auszubeuten sind. Impressum E-Mail: [email protected] Inprekorr ist das Organ der IV. Internationale in Abonnements: deutscher Sprache. Inprekorr wird herausgegeben Einzelpreis: von der deutschen Sektion der IV. Internationale, Jahresabo (6 Doppelhefte): € 20,– Kontaktadressen: von RSB und isl. Dies geschieht in Zusammen- Doppelabo (Je 2 Hefte): € 30,– RSB / IV. Internationale, Eigenstr. 52, € 4,– arbeit mit GenossInnen aus Österreich und der Solidarabo: ab € 30,– 47053 Duisburg Schweiz und unter der politischen Verantwortung Sozialabo: € 12,– isl, internationale sozialistische linke, des Exekutivbüros der IV. Internationale. Probeabo (3 Doppelhefte): € 10,– Regentenstr. 75–59, D-51063 Köln Auslandsabo: € 40,– SOAL, Sozialistische Alternative, Inprekorr erscheint zweimonatlich (6 Doppelhef- [email protected] te im Jahr). Namentlich gekennzeichnete Artikel Website: Sozialistische Alternative, geben nicht unbedingt die Meinung des heraus- http://inprekorr.de Postfach 4070, 4002 Basel gebenden Gremiums wieder. Redaktion: Michael Weis (verantw.), Birgit Althaler, Jakob Schäfer, Wilfried Dubois, Jochen Eigentumsvorbehalt: Die Zeitung bleibt Eigentum Konto: Herzog, Paul Kleiser, Björn Mertens, Ursi Urech, des Verlags Neuer Kurs GmbH, bis sie dem/der Neuer Kurs GmbH, 25761 Büsum E-Mail: [email protected] Gefangenen persönlich ausgehändigt ist. „ZurHabe-Nahme“ ist keine persönliche Aushändi- Postbank Frankfurt/M, 60320 Frankfurt a.M. Gestaltungskonzept: Tom Bogen, gung im Sinne des Eigentumsvorbehalts. Wird die BLZ: 500 100 60, Layout: Grafikkollektiv Sputnik Zeitschrift dem/der Gefangenen nicht persönlich IBAN: DE97 5001 0060 0036 5846 04 Verlag, Verwaltung & Vertrieb: der Gründe der Nichtaushändigung umgehend BIC: PBNKDEFF Inprekorr, Hirtenstaller Weg 34, 25761 Büsum, zurückzusenden. Kontonr.: 365 84-604 ausgehändigt, ist sie dem Absender unter Angabe Inprekorr 5/2013 63 L at e i n a m e r i k a Lateinamerika – vor einem neuen Erwachen? Nach den blutigen Militärdiktaturen in den 70er und den neoliberalen Regimes in den 80er und 90er Jahren, die mit ihren Strukturmaßnahmen die Lebensbedingungen der einfachen Bevölkerung drastisch verschlechtert hatten, sind seit Beginn dieses Jahrhunderts linke und „fortschrittliche“ Regierungen ins Amt gewählt worden. Franck Gaudichaud und Pedro Huarcaya Dieser politische Umschwung resultiert zum einen aus der Krise der neoliberalen Eliten und der traditionellen Parteien und zum anderen aus dem Wiederaufschwung aufständischer Bewegungen (wie dem Caracazo1 in Venezuela und dem Kampf gegen die Privatisierung der Wasser- und Gasversorgung in Bolivien) sowie Mobilisierungen der Gewerkschaften, Bauern und/oder Indigenen (der bolivianischen Kokaarbeiter, der Zapatisten und der Arbeiter in Mexiko oder der Bewegung der Landlosen in Brasilien). Zugleich wurden etliche korrupte Staatschefs aus dem Amt gejagt, etwa in Ecuador, Bolivien oder Argentinien. Damit stehen soziale Fragen und ebenso die Selbstbestimmung der Völker wieder auf der Tagesordnung, während der Washington Consensus der Vergangenheit angehört. Vom Widerstand … Allerdings sind diese „fortschrittlichen“ und nationalistischen Regierungen keineswegs durch Klassenkämpfe ins Amt gelangt und hinter ihrem linken Image stehen ganz unterschiedliche Auffassungen von Politik, sei es auf internationaler Ebene oder in Bezug auf soziale Konflikte. Einige arrangieren sich mit den internationalen Finanzinstitutionen und dem transnationalen Kapital (Brasilien, Chile), andere setzen auf Populismus (Argentinien) und manche wiederum verstaatlichen ganze Teile der Volkswirtschaft und gehen mitunter auf Konfrontation zum Imperialismus und den einheimischen Oligarchien und setzen dabei auf die Mobilisierung der unteren Schichten (Venezuela, Bolivien). Auch wenn in den 14 Jahren unter Chávez reale demokratische Fortschritte erzielt wurden, so sind die wirtschaftlichen Strukturen vor Ort im Wesentlichen unverändert geblieben: Der Schwerpunkt liegt weiterhin auf der Ausbeutung der Rohstoffe und die herrschenden Klassen sind weiter an der Macht – im Unterschied zu den Revolutionen in Kuba und Nicaragua in den 60er beziehungsweise 80er Jahren. Ihre Popularität schöpfen die gegenwärtigen Regierungen weitgehend aus sozialstaatlichen Programmen, mit denen die Auswirkungen des Neoliberalismus abgefedert werden. Zudem profitieren sie vom anhaltenden Wirtschaftswachstum (dank steigender Rohstoffpreise) und einer gewissen außenpolitischen Distanz 64 Inprekorr 5/2013 gegenüber Washington, gefördert durch die regionale Großmacht Brasilien. … zum Angriff übergehen! Projekte für den Aufbau einer alternativen Gesellschaft bleiben aber sehr vage. Auch wenn Hugo Chávez zweifellos das Verdienst zukommt, seit 2005 für eine sozialistische Perspektive geworben zu haben, so ist dessen Inhalt doch sehr unbestimmt geblieben. Umgekehrt droht in Kuba immer mehr eine kapitalistische Restauration. In diesem Zusammenhang zeigt der Aufschwung der sozialen Bewegungen, dass die Bevölkerung von ihren Rechtsregierungen genug hat (Studentenbewegung in Chile, Gewerkschaftskämpfe in Mexiko), aber auch dass die sozialliberalen Regierungen sich verbraucht haben (Demonstrationen in Brasilien, Widerstand der betroffenen Bevölkerung gegen Rohstoffausbeutung in Peru) und dass die populistisch/ nationalistischen Regierungen in der Zwickmühle sind (zweiwöchiger Generalstreik in Bolivien, knapper Wahlsieg von Maduro in Venezuela). Tatsächlich erleben wir einen Aufschwung der Kampfbereitschaft und damit stellt sich auch die Frage nach einer unabhängigen politischen Organisierung. Zwar sind in den letzten Jahren radikale oder antikapitalistische Organisationen entstanden, aber unabhängig davon, ob sie in der Opposition sind (PSOL in Brasilien, UPI in Ecuador, FIT und MST in Argentinien), oder ob sie als linker Flügel in der Regierungskoalition (Marea Socialista in Venezuela) sind, haben sie es nicht geschafft, zum politischen Ausdruck der sozialen Bewegungen zu werden. Nichtsdestotrotz sind diese aufkommenden Mobilisierungen in Lateinamerika wirklich hoffnungsvoll, vor allem weil sie die Idee des Ökosozialismus und des „besseren Lebens“ fördern. Für uns als europäische Internationalisten geht es darum, uns gemeinsam mit ihnen dem Imperialismus und der drohenden Repression entgegenzustellen. Aus Tout est à nous (Nr. 206), Wochenzeitung der NPA (Frankr­eich) Übersetzung: MiWe 1 Aufstand der Bevölkerung Venezuelas 1989, der von der sozialdemokratischen Regierung blutig niedergeschlagen wurde.