Unterschiede in der Gesprächsführung bei Patienten mit

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Unterschiede in der
Gesprächsführung bei Patienten
mit chronischen und akuten
gesundheitlichen Problemen
WALTER BURGER
Professionelle ärztliche Kommunikation
unterscheidet sich von der Alltagskommunikation vor allem dadurch, dass sie
immer darauf ausgerichtet ist, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Dies kann die
Anamneseerhebung oder die Informationsvermittlung über diagnostische oder
therapeutische Maßnahmen sein, aber
auch das Erarbeiten gemeinsamer therapeutischer Ziele und die Motivation des
Patienten zu derer Umsetzung. Sie ist
weiterhin dadurch gekennzeichnet, dass
der Arzt dabei auf erlernte Techniken
zurückgreift.
Der Begriff »Technik« darf aber nicht missverstanden werden. Es handelt sich nicht
um möglichst emotionslos gehandhabte
Fertigkeiten, wie dies etwa für Operationsverfahren gilt, sondern um struktu-
rierte Vorgehensweisen, die nicht nur die
Gesamtsituation, sondern ebenso die eigene Gefühlswelt und die des Patienten
reflektierend einbezieht. Diese Techniken
sollten, wie das medizinisch-fachliche Wissen in der beruflichen Tätigkeit, ständiger Gegenstand kritischer Reflexion und
kontinuierlicher Fortbildung sein.
Die Beiträge dieses Bandes beleuchten
aus verschiedenen Perspektiven theoretische und praktische Aspekte ärztlicher
Kommunikationsfertigkeiten. Dieses Kapitel beschäftigt sich nicht mit solchen
Fertigkeiten, sondern mit der Frage, welche Bedeutung Krankheitskonzepte für
die professionelle Kommunikation haben.
Es geht um eine kritische Betrachtung
der Sicht von Krankheit und Gesundheit,
die – meist nur implizit – von der ärztli-
109
chen Seite in die Arzt-Patient-Kommunikation eingebracht werden.
Natürlich sind auch die Patienten nicht
unabhängig von den alltäglich präsenten,
von der modernen Medizin geprägten
Krankheits- und Therapiekonzepten. Sie
bringen gebahnte Interpretationsmuster
und durch Krankheitserfahrungen geprägte Verhaltensweisen in die Arzt-Patient-Begegnung mit.
Die folgenden Ausführungen fußen auf
einer mehrere Jahrzehnte umfassenden
Erfahrung im Umgang mit chronisch
kranken Kindern und Jugendlichen und
ihren Familien, vor allem aus dem Gebiet
der pädiatrischen Diabetologie. Die daraus
erwachsene Grundannahme ist, dass sich
akute und chronische Krankheitszustände in so wesentlichen Aspekten voneinander unterscheiden, dass nicht mehr von
einem gemeinsamen Krankheitsbegriff
ausgegangen werden kann, der etwa für
die Diagnosen »Lobärpneumonie« und
»Diabetes mellitus« gleichermaßen sinnvoll ist. Dies hat, so eine weitere Grundannahme, Auswirkungen auf die Kommunikation.
Ärztliches Handeln und der damit verbundene Kommunikationsstil sind traditionell vor allem auf die Situation akuter
Gesundheitsstörungen ausgerichtet und
werden in diesen Bereichen auch oft als
effektiv und befriedigend erlebt. Beim
Umgang mit chronisch kranken Patienten gelingt aber häufig keine befriedigende Kommunikation, da das auf dem akuten Krankheitskonzept beruhende Kommunikationsmuster nicht adäquat ist. So
kommt es zu typischen Konflikten und
Störungen, die für den Arzt ebenso wie
für den Patienten quälend sein können.
Deren Ursache und Überwindung ist dann
nicht allein aus der Analyse etwaiger individueller Kommunikationsschwächen
zu entwickeln – obwohl diese natürlich
hinzukommen können –, sondern aus der
kritischen Betrachtung des der Interaktion zugrunde gelegten Krankheitskonzeptes.
Im Folgenden werden grundlegende Unterschiede zwischen einem Krankheitskonzept für akute und für chronische
Krankheiten herausgearbeitet. Die Bedeutung der Thematik ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass chronische Gesundheitsstörungen inzwischen der weitaus häufigste Anlass für Arzt-PatientKontakte sind, in der Aus- und der meist
klinikzentrierten Weiterbildung aber nur
eine untergeordnete Rolle spielen.
Grundlegende Unterschiede
zwischen akuten und chronischen
Gesundheitsstörungen
Es gibt natürlich nicht »die« chronische
Krankheit an sich. Eine chronische Krankheit manifestiert sich vielmehr immer
konkret, zum Beispiel als Diabetes mellitus, Hämophilie, zystische Fibrose oder
Epilepsie etc. und steht somit für jeweils
unterschiedliche Therapieanforderungen,
Belastungen und Verläufe. Obwohl sich
die einzelnen Erkrankungen daher einer
direkten Vergleichbarkeit entziehen, gibt
es doch einige grundlegende Merkmale,
die unabhängig von der speziellen Situation wesentliche Fragen der Definition
von Krankheit und Gesundheit berühren
und erheblichen Einfluss auf die Interaktion zwischen Betroffenen und Therapeuten haben.
In dieser Hinsicht liegt ein erhebliches
Reflexionsdefizit der Medizin vor. Bei
chronischer Krankheit wird besonders
deutlich, dass die genaue Kenntnis pathophysiologischer Vorgänge und der daraus
abgeleiteten Therapie zwar eine unverzichtbare, aber keineswegs hinreichende
Voraussetzung für eine qualifizierte und
im weitesten Sinne »humane« Betreuung
chronisch kranker Menschen und ihrer
Angehörigen ist. Eine adäquate Versorgung erfordert vielmehr eine Erweiterung des medizinischen Modells und einen multidisziplinären Ansatz, in dem
keineswegs immer der Arzt die zentrale
Rolle spielt.
110
Abb. 6
Therapieverlauf bei akuten
Erkrankungen
Akute Erkrankung
Erkrankung
(Diagnostik)
Therapie
Gesundheit
Abb. 7
Krankheitsbewältigungsprozess bei akuten
Erkrankungen
Akute Erkrankung
Erkrankung
Bewältigung
Gesundheit
Akute Erkrankung
Die Behandlung einer akuten Erkrankung zeichnet sich – idealisiert – dadurch
aus, dass Beginn (Diagnose) und Ende
der Behandlung, nämlich die Wiederherstellung der Gesundheit, klar definierbar
sind (Abb. 6). Die Prognose bei unbehandeltem Verlauf, Therapierisiken und -prognose können nach dem jeweils aktuellen
Stand der Wissenschaft klar definiert
werden und bilden die Basis des Arzt-Patient-Vertrags, der überhaupt erst ärztliches Handeln legitimiert. Das Erreichen
des Ziels lässt sich an der Rückbildung
der Symptomatik und/oder der Normalisierung der initial pathologischen Befunde überprüfen und hängt vor allem von
Art und Qualität der ärztlichen Therapie
ab, der sich der Patient mehr oder weni-
ger passiv unterzieht. Nach Abschluss der
Behandlung (und dank der modernen
medizinischen Möglichkeiten häufig der
Wiederherstellung der Gesundheit) endet
üblicherweise der Arzt-Patient-Kontakt.
Die Bewältigungsaufgaben für die Patienten sind zeitlich begrenzt und eher
durch ein passives Aushalten gekennzeichnet (Abb. 7).
Chronische Krankheit
Die Verhältnisse bei chronischen Erkrankungen unterscheiden sich davon wesentlich.
Die »Chronizität« (die grundsätzliche oder
jedenfalls für absehbare Zeit bestehende
111
»Nichtheilbarkeit«) hat zur Folge, dass
die Krankheit langfristig Einfluss auf das
tägliche Leben sowie die Zukunftsperspektive nehmen und eine ständige, immer wieder neu zu erbringende Anpassungsleistung des Patienten und seiner
Familie erfordert.
Aufgrund der Chronizität und meistens
sogar der Progredienz ist eine Wiederherstellung von Gesundheit – und sei es nur
Symptomfreiheit oder »laborchemische
Gesundheit« durch Normalisierung pathologisch veränderter Stoffwechselparameter – bei den meisten Erkrankungen
kaum längerfristig erreichbar. Klinische
oder laborchemische »Gesundheit« ist also
weniger ein realistisches Ziel als eine
Orientierungsmarke.
Da es an eindeutig oder gar »objektiv« formulierbaren Erfolgsparametern fehlt, ist
im Gegensatz zu akuten Erkrankungen
das Therapieziel nicht leicht zu definieren. Jedes Behandlungsergebnis könnte
prinzipiell noch besser sein. Ob dies realisierbar ist, entscheiden aber die individuellen Umstände. Auch ist der Verlauf sehr
viel schwerer abzuschätzen als bei akuten Erkrankungen. Dies wirft die Frage
auf, w o r ü b e r eigentlich ein Arzt-Patient-Vertrag existiert.
Für welches Therapieziel besteht eine Legitimierung für ärztliche Interventionen?
Meist ist dies nicht explizit definiert.
Während etwa der Jugendliche mit Diabetes mellitus zufrieden ist, wenn er keine Symptome spürt, zielt der Arzt auf
eine Optimierung des Stoffwechsels zur
Vermeidung von Folgeschäden.
Der Behandlungserfolg hängt ungleich
stärker als bei akuten Erkrankungen von
der aktiven Mitarbeit des Patienten ab,
da er die therapeutischen Maßnahmen
überwiegend selbst durchführt. Nicht der
Arzt führt die Blutzuckerkontrollen durch,
hält die Kostempfehlung ein, nimmt die
vorgeschriebenen Medikamente, macht
die empfohlene Krankengymnastik etc.,
sondern der Patient.
Anders als bei akuten Erkrankungen, bei
denen es nur bei unvorhergesehenem Verlauf zu Therapieanpassungen kommt, ist
bei chronischen Erkrankungen eine ständige Veränderung und Adaptierung der
Therapie die Regel. Dies gilt vor allem im
Kindes- und Jugendalter, in dem zum Beispiel medikamentöse Behandlungen oder
Kostempfehlungen dem Wachstum und
der Entwicklung angepasst werden müssen.
Zusätzlich können die Krankheitsprogredienz oder das Auftreten von Komplikationen die Therapieziele erweitern. So
muss etwa ein Patient mit zunehmender
Blasenentleerungsstörung lernen, seine
Harnblase selbst zu katheterisieren, ein
Hypertonus muss mit zusätzlichen Medikamenten behandelt werden, sekundäre
hormonale Störungen oder eine Kardiomyopathie in Verbindung mit einer Organsiderose bei einem Patienten mit
␤-Thalassämie erfordern zusätzliche diagnostische und therapeutische Maßnahmen. Dies sind nur einige Beispiele unter
vielen möglichen.
Während bei akuten Krankheiten fortschrittsbedingte Änderungen der Therapieempfehlungen sich in der Regel nicht
während der Therapie vollziehen, muss
bei chronischen Erkrankungen dagegen
während der Betreuung desselben Patienten immer wieder neu geprüft werden, ob sich neue, Erfolg versprechende
Therapieansätze ergeben haben, und ob
diese neuen Entwicklungen gegebenenfalls dem Patienten nahe gebracht und in
die Therapie eingebaut werden müssen.
Weiterhin werden die Betreuer, gerade
bei Erkrankungen mit schlechter Prognose, mit oftmals auch wechselnden alternativen Heilmethoden konfrontiert, auf
die die Patienten ihre Hoffnung setzen.
Der Krankheitsverlauf bei chronischen
Erkrankungen ist folglich nicht linear,
sondern durch einen zirkulären, sich
ständig weiter entwickelnden Ablauf zu
charakterisieren, in dem Therapie und
Therapieergebnis einem wechselseitigen
112
Diagnostisch-therapeutischer Prozess
bei chronischer Krankheit
Bewältigungsprozess
bei chronischer Krankheit
Therapie
Coping
apie
Ther
nose
Diag
ng
Copi
nose
Diag
apie
Ther
nose
Diag
ng
Copi
nose
Diag
apie
Ther
nose
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Copi
nose
D i ag
apie
Ther
nose
Diag
ng
Copi
nose
D i ag
apie
Ther
nose
Diag
ng
Copi
nose
D i ag
Diagnose
Diagnose
Abb. 8
Verlauf der Therapie bei chronischen
Erkrankungen
Abb. 9
Verlauf der Krankheitsbewältigung
(»Coping«) bei chronischen Erkrankungen
Einfluss unterliegen (Abb. 8) und an oft
nicht vorhersehbare Entwicklungen angepasst werden müssen.
weitere Therapieplanung einzubeziehen
sind. Für den Patienten und seine Familie
erhöht sich damit die Zahl medizinischer
Ansprechpartner, die nicht selten räumlich getrennt tätig sind.
Dies spiegelt sich auch in der Krankheitsbewältigung wider (Abb. 9).
Diese Dynamik bedeutet nicht nur für
den Arzt, sondern auch für den Betroffenen eine ständige, zur Auseinandersetzung zwingende Unsicherheit. Treten zusätzliche Komplikationen auf, muss nicht
nur dieser Aspekt verarbeitet werden,
sondern in der Regel auch, dass neue Therapeuten als Spezialisten für die jeweilige
Komplikation hinzugezogen und in die
Es müssen möglicherweise sehr unterschiedliche Therapieanforderungen miteinander koordiniert werden, und es kann
geschehen, dass die im Verlauf der Erkrankung eingetretene Komplikation so
gravierend ist, dass für den Patienten die
eigentliche Grundkrankheit in den Hintergrund tritt. Im Unterschied zum Arzt,
der typische Komplikationen als Bestandteil der Grunderkrankung zu betrachten
113
gelernt hat, für den sich also unter seiner
Sicht der »Diagnose« grundsätzlich nichts
geändert hat, sehen sich Patient und seine
Familie plötzlich einer »neuen« Erkrankung gegenüber, welche neue Anpassungsleistungen erfordert. Gerade in einer solchen Situation droht dem Patienten durch
neue Bezugspersonen ein Verlust seiner
festen und vertrauten Arztbeziehung.
Die Koordination unterschiedlicher medizinischer Belange stellt folglich nicht nur
hohe Anforderungen an die fachliche Kompetenz, sondern auch an die Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit der
Betreuer.
Chronische Erkrankungen verlangen also
allen Beteiligten – und nicht nur den Patienten – vielfältige Anpassungsleistungen ab. Die medizinischen Betreuer sind
dabei mit ihren eigenen Empfindungen
und Reaktionen selbst Teil dieses Anpassungsprozesses (»Coping«). In ihrer Eigenschaft als professionelle Helfer haben sie
die Aufgabe, den Patienten bei seinen Anpassungsbemühungen zu unterstützen.
Gleichzeitig müssen sie aber persönlich
ertragen, dass chronische, »unheilbare«
Krankheiten die Grenzen medizinischen
Könnens unmissverständlich aufzeigen
und sie mit einer Rolle konfrontieren, auf
die sie in ihrer Ausbildung kaum vorbereitet wurden, nämlich nicht heilen zu
können und ungünstige Verläufe begleiten zu müssen.
Dies enthält kränkende Momente, aus denen unbewusste und aggressive (auch autoaggressive) Emotionen entstehen können. Anzeichen dafür finden sich durchaus im medizinischen Alltagsjargon, etwa
wenn in Zusammenhang mit Diätunregelmäßigkeiten bei Patienten mit Diabetes der Begriff »Fressen« auftaucht oder
wenn Patienten als »dumm«, »renitent«,
»nicht behandelbar« bzw. »non-compliant«
bezeichnet werden, weil sie die ärztlichen
Verordnungen nicht einhalten wollen oder
können. Die aktuelle Stigmatisierung fettleibiger Personen hat unverkennbar aggressive und strafende Züge.
Aus diesen Überlegungen folgt, dass der
Krankheitsbewältigungsprozess des Patienten von den Helfern nur dann adäquat unterstützt werden kann, wenn sie
sich ihrer eigenen Einstellungen und
Empfindungen bewusst und bereit sind,
diese kritisch zu reflektieren.
Die Bedeutung der Krankheitsbewältigung bei chronischen
Erkrankungen
Da die Therapie chronischer Erkrankungen entscheidend von der aktiven Mitarbeit des Patienten abhängt, ist die Akzeptanz der Erkrankung und der mit ihr verbundenen Belastungen die Voraussetzung
für die Therapiemotivation und somit den
Therapieerfolg.
Es gibt viel Literatur zum Ablauf von Bewältigungsprozessen und zu ihrem Einfluss auf den Krankheitsverlauf (1–5).
Die zum Teil sehr unterschiedlichen Studienergebnisse machen aber deutlich, wie
schwer es ist, individuelle Verhaltensweisen standardisiert zu erfassen und zu bewerten. Schon die Sicht- und Herangehensweise des Untersuchers lässt jeweils
andere Aspekte hervortreten.
Die Diskussion des Begriffes »Lebensqualität« zeigt (6, 7), wie schwierig es ist, subjektive Einstellungen zu erfassen und sie
mit medizinisch definierten Therapiezielen in Beziehung zu setzen. Jeder, der mit
einer chronischen Erkrankung konfrontiert ist, also der Betroffene selbst, die Familie, die Freunde, der Therapeut etc.,
sieht die Erkrankung anders. Objektivität kann es dabei nicht geben.
Die von akuten Erkrankungen hergeleitete Vorstellung, Krankheit sei durch medizinische Parameter »objektiv« und für
Therapeuten und Patienten gleichermaßen verbindlich definierbar, ist bei chronischen Krankheiten ein verbreitetes Missverständnis zwischen Therapeuten und
Patienten und hat einen wesentlichen Anteil an Therapiemisserfolgen (8, 9).
114
Chronische Krankheit muss in besonderer Weise in die persönliche Lebenssituation (10, 11) eingearbeitet werden. »Für
die Person ist ihre persönliche Situation,
die sich über einer sie relativ tragenden
persönlichen leiblichen Disposition entwickelt, zugleich Hülle und Partner: Hülle
als Domäne des Eigenen, in der sie sich
entwickeln und wechselnd oder gleichzeitig viele Niveaus personaler Emanzipation und personaler Regression einnehmen
kann, Partner als Orakel, das sie befragen
muss, um zu wissen, was sie will.« (11).
Die Krankheit wird als ständiger Lebensbegleiter ein neuer Partner des Lebens
(12). Dabei ist »… das Verhalten des betroffenen Menschen, seine Stellungnahme, seine Gestaltung, unabziehbar beteiligt. Eine
glatte Übertragung der sozialen Einwirkung von der Ursache auf den Empfänger
wird dadurch ausgeschlossen. Alles kommt
darauf an, was dieser daraus macht. Noch
so schlimme Zustände und Ereignisse in
seiner Umgebung können in seine persönliche Situation so einheilen, dass sich ein
Zuwachs an Lebensfülle und Gestaltungskraft – wenn auch auf Umwegen – ergibt;
andererseits kann ein Hauch getrübter Atmosphäre des Zusammenlebens das Fortkommen vergiften« (12).
Es gibt unterschiedliche Vorstellungen
oder »Modelle«, wie Krankheitsbewältigungsvorgänge ablaufen. Am bekanntesten ist das Phasenmodell, von ELISABETH
KÜBLER-ROSS in Anlehnung an Erfahrungen mit Sterbenden entwickelt und von
SCHUCHARDT (13) an die Verhältnisse bei
chronischer Krankheit angepasst. Danach
kommt es über die Phasen »Ungewissheit«, »Gewissheit«, »Aggression«, »Verhandlung«, sowie »Depression« zur aktiven Akzeptanz.
Die Kenntnis dieser Abläufe ist für die
Betreuer für das Verständnis der Reaktionen der Patienten hilfreich. So wäre es
zum Beispiel nicht sinnvoll, im Stadium
der Krankheitsverleugnung mit einer
Schulung zu beginnen, da keine Bereitschaft besteht, Informationen über die
noch verleugnete Erkrankung aufzunehmen.
In dieser Situation ist eine verständnisvolle Hilfe bei der Verarbeitung der Diagnose sinnvoller. Dies gilt ebenso für die
Phasen der Aggression und Verhandlung,
in der viele Patienten im Bestreben, die
neue Situation zu bewältigen, Verhaltensweisen zeigen, die einer inneren Logik
(Abwehr, Verdrängung, Leugnung) folgen,
die sich nach außen aber in vermeintlich
unvernünftigen, aggressiven, fordernden
oder auch querulantischen Verhaltensweisen darstellt. Dies führt nicht selten
dazu, dass diese Patienten abgelehnt und
mit dem Attribut »schwierig« belegt werden, womit oft eine lang dauernde Karriere als »schwieriger Patient« begründet
wird. Kenntnis über die innere Dynamik
dieser Adaptationsprozesse sollten alle Betreuer, die Menschen mit schweren und
chronischen Erkrankungen begleiten, haben.
Der Prozess der Krankheitsakzeptanz
sollte aber nicht als zeitlich begrenzt angesehen werden. Keineswegs alle Patienten und ihre Familien erreichen die Stufe
der Akzeptanz und aktiven Mitarbeit und
bleiben dabei. Chronische Krankheiten
sind eher dadurch gekennzeichnet, dass
immer wieder Krisen auftreten, die erneut in einen Verarbeitungsprozess münden, der durchaus wieder mit einem Rückfall in vorangegangene Verarbeitungsstufen einhergehen kann. Die Krankheitsbewältigung ist komplex und wird von
vielen unterschiedlichen, miteinander verknüpften Faktoren beeinflusst.
Eine entscheidende Variable ist die »psychosoziale Grundausstattung« eines Patienten und seines Umfeldes, in die frühere Krankheitserfahrungen, Muster der
Bewältigungsstrategie, Lebensziele und
-planung sowie aktuelle, krankheitsspezifische Belastungen eingehen. Weitere Faktoren sind im »health-belief-model« (14)
enthalten, das entwickelt wurde, um Gesundheitsverhalten verstehen und voraussagen zu können.
115
Nach diesem Modell ist das Gesundheitsverhalten eines Menschen Ergebnis einer
individuellen (meist nicht bewusst vollzogenen) Kosten-Nutzen-Analyse, in welche
folgende Kriterien eingehen:
䡩 Die subjektiv empfundene Krankheitsbedrohung;
䡩 die Vorstellung von Krankheit
allgemein;
䡩 die Einschätzung der mit den
therapeutischen Anforderungen verbundenen Einschränkungen;
䡩 persönliche und familiäre Krankheitserfahrungen;
䡩 bereits eingeübte Verhaltensweisen.
Zum besseren Verständnis des Gesundheitsverhaltens ist es zusätzlich sinnvoll,
sich zu vergegenwärtigen, dass Gesundheit nicht nur somatische, sondern auch
psychische und soziale Elemente umfasst.
Diese können durchaus in bestimmten
Situationen im Widerspruch zueinander
stehen. Ein unauffälliges Verhalten in der
Gruppe der Gleichaltrigen (»peer group«),
das ein aus somatischer Sicht ungesundes Verhalten erfordert, kann sozial stabilisierend, insofern »gesundheitserhaltend« sein und damit die Selbstsicherheit
schaffen, die langfristig wiederum die Voraussetzung für eine unter somatischem
Aspekt sinnvolle Therapieführung ist.
Berücksichtigt man diese Zusammenhänge, so sind Therapieabweichungen besser
verständlich.
Hat ein Jugendlicher mit Diabetes familiäre Schwierigkeiten oder keine Aussicht
auf eine Lehrstelle – für welche Zukunft
soll er denn in der Gegenwart Entbehrungen auf sich nehmen? Warum soll er Komplikationen vermeiden, die er sich gar
nicht vorstellen kann oder will? Nicht der
wiederholte Hinweis auf drohende gesundheitliche Gefahren, sondern eine Unterstützung bei der Lösung seiner basalen, im psychosozialen Bereich liegenden
Probleme könnte ihm eine Basis für eine
positive Kosten-Nutzen-Analyse geben.
Trotz der mit chronischer Erkrankung unzweifelhaft verbundenen Belastung soll
aber betont werden, dass eine chronische
Erkrankung nicht per se psychosoziale
Therapiebedürftigkeit bedeutet. Sie kann
auch als Herausforderung erlebt werden
und die Bewältigungskräfte des Patienten und seiner Familie stimulieren.
Chronische Erkrankung – Krankheit
oder »bedingte« Gesundheit?
Der Umgang mit chronischer Krankheit
ist auch deshalb oft so kompliziert, weil
Chronische Krankheit aus Sicht der Betroffenen
Chronische
Krankheit
Akute
Erkrankung
Bedrohliche
Verschlechterung
Behinderung
Dauerhafte
Beeinträchtigung
Gesundheit
Wohlbefinden,
Entscheidungsfreiheit
Abb. 10
Verschiedene Aspekte
chronischer Krankheit aus
Sicht des Betroffenen
116
Abb. 11
Verschiedene Aspekte
chronischer Krankheit aus
Sicht der Betreuer
Chronische Krankheit aus Sicht der Therapeuten
Akute
Erkrankung
Chronische
Krankheit
Akuter
Handlungsbedarf
Behinderung
Überwiegend
Beratung
Gesundheit
Primär
keine Zuständigkeit
sie Elemente verschiedener, teilweise widersprüchlicher Befindlichkeiten enthält
(Abb. 10).
Bei akuter Verschlechterung trägt die
chronische Erkrankung den Charakter
einer akuten Erkrankung, in der der Betroffene aus dem täglichen Leben herausgerissen wird und ärztlicher Hilfe bedarf,
wie etwa bei einem akuten Asthmaanfall
oder einer schweren Stoffwechselentgleisung bei Diabetes mellitus. Diese Gefahr
wird von vielen Betroffenen als permanente Bedrohung erlebt – mit der Folge,
dass sie sich auch bei Symptomfreiheit
nicht als völlig gesund erleben können.
Auch die bei den meisten chronischen Erkrankungen möglichen Folgeschädigungen können als Bedrohung wahrgenommen werden, zudem deren Vermeidung
in der Regel direkten Therapieansätzen
nicht zugänglich ist.
Ein wesentlicher Aspekt ist aber auch der
Zustand der s u b j e k t i v e n G e s u n d h e i t. Dieser ist ja das eigentliche Therapieziel, also der angestrebte Normalzustand. Gesundheit wiederum wird üblicherweise mit der Möglichkeit assoziiert,
sich ungestört von gesundheitlichen Einschränkungen in freier Entscheidung verhalten zu können.
Diese Freiheit kann es aber bei chronischer Krankheit nicht geben. So erweist
sich die erreichbare Gesundheit als eine
nur scheinbare, da chronische Erkrankungen zu ihrer Behandlung bestimmte
Unterlassungen, besondere Anstrengungen, eine bestimmte Ernährung und/oder
andere therapeutische Maßnahmen erfordern. Die Bewältigung einer chronischen
Erkrankung bedeutet also nicht nur, zu
lernen, mit den spezifischen Therapieanforderungen und körperlichen Beeinträchtigungen umzugehen, sondern auch
situationsspezifisch mit den widersprüchlichen Aspekten von akuter Symptomatik, Gefahr von Behinderung oder Gesundheit.
Chronische Krankheit zwingt den Betroffenen, sich ständig aktiv mit der Erhaltung seiner Gesundheit auseinanderzusetzen und sie damit in einem unlöslichen
Paradoxon in gewissem Sinne wieder aufzulösen.
Gesundheit – »Das große Wunder der Gesundheit, das wir alle leben und das uns
alle mit dem Glück des Vergessens, dem
Glück des Wohlseins und der Leichtigkeit
des Lebens immer wieder beschenkt« (15) –
liegt nämlich, wie der Philosoph GADAMER
herausgearbeitet hat, i m Ve r b o r g e -
117
n e n. Je mehr wir der Gesundheit auf der
Spur sind, desto mehr verschwindet ihre
unbewusste Selbstverständlichkeit, die
ihren Wesenskern ausmacht. »Aber Gesundheit ist etwas, das all dem auf eigentümliche Weise entzogen ist. Gesundheit
ist nicht etwas, das sich als solches bei der
Untersuchung zeigt, sondern etwas, das
gerade dadurch ist, dass es sich entzieht.
Gesundheit ist uns also nicht ständig bewusst und begleitet uns nicht besorgt wie
die Krankheit. Es ist nicht etwas, das uns
zur ständigen Selbstbehandlung einlädt
oder mahnt. Sie gehört zu dem Wunder
der Selbstvergessenheit.« (15).
Diese unterschiedlichen Aspekte chronischer Krankheit finden sich komplementär in den Anforderungen an die Betreuer
wieder (Abb. 11).
Auch Therapeuten müssen situationsbezogen entscheiden, ob wegen akuter gesundheitlicher Bedrohung akuter Handlungsbedarf besteht, hinsichtlich dauer-
Arzt
akut
hafter Beeinträchtigungen eher eine beratende Funktion angemessen ist oder ob
sie gar nicht gefragt sind und der Patient
selbstständig entscheidend sein Leben gestaltet. Diese Flexibilität erfordert mehr
als üblicherweise dem Arzt im Rahmen
seiner Ausbildung vermittelt wird. Entsprechend dem traditionellen Rollenbild
des akut und wirksam helfenden und die
gesamte Verantwortung tragenden Arztes ist die Versuchung sehr groß, sich
weitgehend auf diese Rolle zu beschränken und sich nur den akuten oder vermeintlich akuten gesundheitlichen Problemen zuzuwenden. Eine chronische Erkrankung kann so als eine unendliche
Kette kleinerer »akuter« gesundheitlicher
Probleme missverstanden werden, auf die
dann jeweils durch eine situationsbezogene Intervention reagiert, der Chronizität
des Prozesses aber nicht gerecht wird.
Allerdings kann das Festschreiben in der
Rolle des Kranken und das Sich-Ausliefern an medizinische Fachleute dem Pa-
Verantwortungsverteilung
zwischen Arzt und Patient
Patient
Charakter der Erkrankung
118
chronisch
Abb. 12
Verteilung von Therapieverantwortung bei
chronischer Krankheit in
Abhängigkeit von Präsenz
und Bedeutung a k u t e r
medizinischer Probleme
tienten auch ein Gefühl der Sicherheit geben, indem er sich vor allem über seine
Erkrankung als »Diabetiker«, »Asthmatiker«, »Epileptiker« etc. beschreibt und begreift. Diese Einstellung behindert aber
die Entwicklung von Selbstständigkeit,
die wiederum Voraussetzung für ein aktives Integrieren der Erkrankung in den
eigenen Lebensentwurf und somit einer
erfolgreichen Therapie ist. Hier offenbart
sich deutlich, dass chronische Krankheit
eine Erweiterung der üblichen Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit erfordert.
Die immer wieder erhobene Forderung
nach dem »mündigen« Patienten läuft
möglicherweise auch deshalb so oft ins
Leere, weil das unausgesprochene und
meist auch unbewusste Selbstverständnis von Therapeuten und Patienten ihre
Verwirklichung behindert, und weil dem
Arzt das professionelle Verhaltensrepertoire fehlt, mit einem wirklich mündigen
Patienten umzugehen. Für Arzt wie Patienten bedeutet dies, dass sowohl der Betroffene wie auch der Therapeut situationsbezogen flexibel Therapieverantwortung annehmen, aber auch abgeben kann
(Abb. 12).
Je akuter die gesundheitliche Störung ist,
desto mehr wird der Patient (sinnvollerweise) bereit sein, die Therapieverantwortung zu delegieren. Treten chronische
Aspekte der Erkrankung in den Vordergrund, ist der Patient gefordert, Verantwortung und Initiative zu übernehmen.
Dies kann nur gelingen, wenn umgekehrt
der Arzt bereit ist, Verantwortung abzugeben, nicht nur hinsichtlich der Therapiedurchführung, sondern auch hinsichtlich der Therapiekonzeption. Der ständige Wechsel zwischen Annahme und Abgabe von Verantwortung kann, wie bei der
Benutzung einer Schaukel, beiden Partnern Schwindel verursachen und das Bedürfnis hervorrufen, sich in einer stabilen
Position zu definieren, dem vom Arzt abhängigen »Asthmatiker«, »Epileptiker«,
»Diabetiker« bzw. dem alleinverantwortlichen Arzt.
Konsequenzen für die Betreuung
Krankheits- und Therapiemodelle, die
sich überwiegend an akuten, somatischen
Krankheitsbildern orientieren, sind bei
der Behandlung von Patienten mit chronischen Erkrankungen nur begrenzt tauglich. Eine adäquate Therapie setzt eine
kritische Reflexion über Therapieziele
und Rollenverteilungen voraus (16, 17):
䡩 Medizinisch gut begründbare, an Idealwerten ausgerichtete Ziele können nur
als Orientierungshilfe dienen, sind aber
meist nicht erreichbar. Welches Ausmaß
an Erreichtem als Erfolg zu sehen ist, ist
schwer erkennbar. Dies erfordert in der
Regel ein Aushandeln zwischen medizinischen Ansprüchen und subjektiver (Ein-)
Sicht des Patienten.
䡩 Therapieziele sind daher meist nur
genereller Art, in der aktuellen Situation
oft unscharf oder nur implizit definiert.
Oft sind sie dem Patienten (und Arzt) gar
nicht bewusst und müssen erst entwickelt
werden. Sie sind abhängig vom Krankheitsverlauf und vom Bewältigungsprozess und insofern instabil.
䡩 Da die Zielsetzung des Therapieprozesses meist nur etappenweise klar formulierbar ist, muss die Kommunikation darauf ausgerichtet sein, flexibel und einfühlsam mit der Situation als Ganzem
umzugehen und nur so viel, wie für den
erstrebten Vorgang des Therapieprozesses notwendig ist, explizit zu machen. Die
persönliche Situation des Patienten ist
dabei ein wichtiges Thema.
䡩 Dies schließt nicht aus, dass gelegentlich auch im direktiven Stil Klarheiten
über die somatischen Grundlagen und
daraus abgeleitete medizinische Folgerungen geschaffen werden müssen.
䡩 Die Verteilung der Verantwortung für
den Therapieprozess ist nicht eindeutig
festgelegt, sondern (situationsgebunden)
ausgesprochen variabel.
119
Praktische Hinweise
䡩 Schwierigkeiten im Umgang mit chronisch kranken Patienten können vermieden oder zumindest besser verstanden
werden, wenn Ärzte erkennen, dass sie
sich bei chronischen Erkrankungen nach
anderen Krankheitsmodellen orientieren
müssen und ihre Kommunikation mit
den Patienten darauf ausrichten.
䡩 Die nicht vermeidbaren, für das ärztliche professionelle Selbstverständnis ungewohnten Unschärfen erfordern ein Grundrepertoire von Kommunikationstechniken.
Diese fallen den meisten Ärzten nicht in
den Schoß, sondern müssen, ebenso wie
die medizinischen Kenntnisse und Fertigkeiten, systematisch erworben und weiterentwickelt werden (18–20).
䡩 Es ist dringend zu fordern, dass theoretische und praktische Aspekte der Kommunikation obligatorisch und stärker als
bisher in der medizinischen Ausbildung
verankert werden.
䡩 Für die tägliche Arbeit sollte ein interkollegialer und gegebenenfalls auch interdisziplinärer Gesprächskreis organisiert werden, etwa nach dem Modell der
BALINT-Gruppen oder den reflektierten
Kasuistiken. Dies kann möglicherweise
mit Unterstützung der Landesärztekammern erfolgen.
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