Zeitschrift für historische Bildung Oliver Eckstein Heft 4/2016 Militärgeschichte Militärgeschichte im Bild: »Tornados« der Bundeswehr über Piacenza 1999. Nordostafrika 1914­‑1918 Unternehmen »Mammut« 1943 6. Juni 1944 – Küste als Kulturlandschaft? Strafvollzug der Wehrmacht ZMS Militärgeschichtliches Forschungsamt MGFA Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr Impressum Militärgeschichte Zeitschrift für historische Bildung Herausgegeben vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr durch Oberst Dr. Hans-Hubertus Mack und Oberst Dr. Frank Hagemann (V.i.S.d.P.) Produktionsredakteur der aktuellen Ausgabe: Oberstleutnant Dr. Harald Potempa (hp) Redaktion: Hauptmann Chris Helmecke M.A. (ch) Friederike Höhn B.A. (fh) Hauptmann Ariane Huth M.A. (aau) Major Dr. Jochen Maurer (jm) Oberstleutnant Dr. Harald Potempa (hp) Oberstleutnant Dr. Klaus Storkmann (ks) Bildredaktion: Dipl.-Phil. Marina Sandig Lektorat: Dr. Aleksandar-S. Vuletić Karten: Daniela Heinicke Layout/Grafik: Maurice Woynoski / Carola Klinke Anschrift der Redaktion: Redaktion »Militärgeschichte« Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr Postfach 60 11 22, 14411 Potsdam E-Mail: ZMSBwRedaktionMilGeschichte@ bundeswehr.org Homepage: www.zmsbw.de Manuskripte für die Militärgeschichte werden an obige Anschrift erbeten. Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird nicht gehaftet. Durch Annahme eines Manuskriptes erwirkt der Herausgeber auch das Recht zur Veröffentlichung, Übersetzung usw. Die Honorarabrechnung erfolgt jeweils nach Veröffentlichung. Die Redak­ tion behält sich Änderungen von Beiträgen vor. Die Wiedergabe in Druckwerken oder Neuen Medien, auch auszugsweise, anderweitige Vervielfältigung sowie Übersetzung sind nur nach vorheriger schriftlicher Zustimmung erlaubt. Die Redaktion übernimmt keine Verantwortung für die Inhalte von in dieser Zeitschrift genannten Webseiten und deren Unterseiten. 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Björn Opfer-Klinger beschreibt die Situation in dieser nicht nur damals heiß umkämpften Region, in der verschiedene Mächte an den Küsten des Roten Meeres, des Horns von Afrika bzw. des Indischen Ozeans sehr handfeste Interessen verfolgten. Schließlich war dieses Gebiet mit dem Suezkanal die Lebensader des Britischen Weltreiches. Sand in den Augen hatte die deutsche Führung, als sie versuchte, mit geringen Mitteln die einheimischen Muslime gegen die britische Kolonialherrschaft aufzuwiegeln, um das Empire zu schwächen. Pherset Rosbeiani stellt einen ähnlichen Versuch der Deutschen Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges im Irak vor. Das eher unbekannte Unternehmen »Mammut« spielte sich im Sand des »wilden Kurdistan« ab und verlief sich mangels geeigneter Vorbereitungen auch dort. Sandig waren die Strände bei den Unternehmen »Overlord« und »Neptun« in der Normandie am 6. Juni 1944. Jörg Echternkamp geht auf die historischen Ereignisse ein, entführt die Leserschaft aber vor allen Dingen in die jetzige Kulturlandschaft vor Ort und geht auf Spurensuche. Auf dem weichen Sand des blutigen Unrechts hatte die Wehrmacht ihren Strafvollzug aufgebaut. Peter Lutz Kalmbach widmet sich ihm unter dem Titel »Zwischen Ausmerzung und Bewährung«. Sand in die Augen des NS-Regimes streuten einige Verantwortliche des Amts Ausland/Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht, als sie den evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer als Mitarbeiter gewannen und Geheimaufträge ausführen ließen. Die historische Quelle kündet davon. Ich wünsche Ihnen eine gewinnbringende Lektüre und Ihnen und Ihren Familien ein gesundes, glückliches und friedvolles 2017. Ihr Oberstleutnant Dr. Harald Potempa Inhalt Nordostafrika zwischen den Fronten des Ersten Weltkrieges 4 Das historische Stichwort: The American Way 1917 22 Neue Medien 24 Lesetipps26 Die historische Quelle 28 Geschichte kompakt 29 Ausstellungen30 Dr. Björn Opfer-Klinger, geb. 1972 in Wolfshagen, Schulbuchredakteur für Geschichte beim Ernst Klett Verlag, Leipzig; freier Wissenschaftspublizist mit Schwerpunkt neuzeitliche Geschichte Südosteuropas und Nordafrikas Subversion gegen das Empire: Das Unternehmen »Mammut« 1943 Militärgeschichte 10 im Bild Nie wieder Auschwitz – die Bundesrepublik und der Kosovo-Einsatz 1999 Dr. Pherset Rosbeiani, geb. 1966 in Erbil, Universität Salahaddin, Arbil Normandie, 6. Juni 1944 – eine Küste als Kulturlandschaft heute? Service 14 Zwei ECR-Tornados über Piacenza im Frühjahr 1999: Rückkehr von einem Einsatzflug der Operation Allied Force. Foto: Oliver Eckstein Prof. Dr. Jörg Echternkamp, geb. 1963 in Herford, Wissenschaftlicher Direktor am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr Zwischen »Ausmerzung« Trauma Zweiter Weltkrieg.und Zerstörungsbilder in derDer Realität und im Kopf »Bewährung«. Strafvollzug der Wehrmacht Dr. Peter Lutz Kalmbach, geb. 1976 in Stade, Lehrbeauftragter für Rechtsgeschichte an der Universität Bremen 18 31 Weitere Mitarbeiter dieser Ausgabe: Dr. Maja Bächler, Dozentin Führungsakademie der Bundeswehr, Hamburg; Major Hans-Peter Kriemann, ZMSBw; Emilie Terre M.A., ZMSBw; Dr. Roger Töpelmann, Evangelisches Kirchenamt für die Bundeswehr, Berlin. SZ Photo/Scherl Nordostafrika 1914‑1918 5Deutsche Hilfstruppen an der Suez-Front, 1917. Nordostafrika zwischen den Fronten des Ersten Weltkrieges Ä thiopien (Abessinien), Darfur und Somalia sind Landesnamen, die wir immer wieder mit internationalen Krisen und internen Konflikten verbinden: im Zuge des europäischen Imperialismus oder im Zusammenhang mit den Stellvertreterkriegen der Supermächte während des Kalten Krieges, aber zumeist nicht als Kampfgebiete im Ersten Weltkrieg. Im deutschsprachigen Raum ist die Region, in der sich diese Länder befinden, von der Forschung bislang kaum beachtet worden, lag sie doch 1914/18 schein­bar fernab von den deutschen Ope­rationsgebieten. Tatsächlich scheint der Nordosten des afrikanischen Kontinents für das Deutsche Kaiserreich in der Rückschau von untergeordneter Bedeutung gewesen zu sein. Die afrikanische Sicht auf den Ersten Weltkrieg ist eine völlig andere: Besonders das Jahr 1916 wurde zu einem wichti- 4 gen Wendepunkt für viele der dortigen Akteure. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges In den Jahren vor Beginn des Ersten Weltkrieges hatten sich im Nordosten des afrikanischen Kontinents eine ganze Reihe von Konfliktherden herausgebildet, die 1914 ein solches Ausmaß annahmen, dass diese Region sowohl für die deutschen als auch die türkischen Kriegspläne ins Blickfeld geriet. Da ist zunächst Somalia zu nennen, das seit dem Bau des Suezkanals in Ägypten erheblich an strategischer Bedeutung für die europäischen Kolonialmächte gewonnen hatte. Großbritannien, Frankreich und Italien begannen im ausgehenden 19. Jahrhundert, an der somalischen Küste koloniale Stützpunkte einzurichten. Gegen diese zu- Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016 nehmende europäische Expansion regte sich bei mehreren somalischen Nomadenclans unter Führung des Scheichs der Sufi, einer mystisch-asketischen Richtung des Islam, Mohammed Abdullah Hassan, religiös und antikolonial geprägter Widerstand. Dieser wurde so stark, dass die Briten zu Beginn des Ersten Weltkrieges praktisch nur noch die größeren Küstenorte kontrollieren konnten. Westlich von Somalia hatte sich zu diesem Zeitpunkt Abessinien als eine eigenständige afrikanische Regionalmacht gegenüber dem Druck der europäischen Kolonialherren behauptet. Das alte Kaiserreich mit seinen weit mehr als zehn Millionen Einwohnern erlebte unter der Herrschaft Meneliks II. (1889‑ 1913) eine beeindruckende Phase des Aufschwungs und der Expansion. Dieses heterogene Vielvölkerreich bestand aus einer Reihe von feudalen Teilkönigreichen. Mene- punkt nahm der britisch-abessinische Gegensatz zu. Einerseits strebte die britische Kolonialverwaltung nach der Kontrolle über den abessinischen Oberlauf des Blauen Nils, andererseits hatte sie beständig mit einem ausgeprägten illegalen Waffenhandel im abessinisch-sudanesischen Grenzgebiet zu kämpfen. Für die anglo-ägyptische Verwaltung im Sudan war dies umso störender, als sie sich auch im Westen des Landes nicht absolut sicher fühlen konnte. Zwischen dem französischen Kolonialgebiet des heutigen Tschad und dem Sudan lag das Sultanat Darfur. Der dort herrschende Sultan Ali Dinar galt aus britischer Perspektive jedoch als wenig verlässlich, umso mehr, als er immer stärker Kontakte zum muslimischen Sufi-Orden der Senussi-Bruderschaft knüpfte. Diese puritanische mus­limische Reformbewegung stand in ideologischer Nähe zum arabischen Wahabismus, einer puristisch-traditionalistischen Strömung des Islam, und hatte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Oasen der Ostsahara ausgebreitet. Nachdem Italien 1911/12 im Krieg mit dem Osmanischen Reich in Libyen einmarschiert war, stellten sich die Senussi an die Spitze des antikolonialen Widerstandes im Osten des Landes, der Cy- lik II. war es gelungen, sein Land im Innern zu festigen und auf einen ambitionierten Modernisierungskurs zu führen. Gleichzeitig erreichte er durch geschickte Pendeldiplomatie zwischen den rivalisierenden Kolonialmächten einerseits sowie militärischen Erfolgen gegen Italien andererseits die Bewahrung der Unabhängigkeit Abessiniens. Er dehnte sein Einflussgebiet sogar weit nach Osten und Südosten aus. In seinen letzten Herrschaftsjahren war Menelik II. allerdings infolge mehrerer Schlaganfälle regierungsunfähig, was zu inneren Machtkämpfen führte. Als sein Nachfolger wurde schließlich sein noch sehr junger Enkel Iyasu V. eingesetzt, der sich aus Sicht der Ententemächte zu einem wachsenden Unsicherheitsfaktor entwickelte. Besonders die britische Diplomatie beobachtete Abessinien mit zunehmender Sorge. Die Vorherrschaft der Briten Großbritannien hatte seit dem Bau des Suezkanals seine Macht in Ägypten immer weiter zu einem faktischen Protektorat ausgebaut. Durch die militärische Niederschlagung des Mahdi-Aufstandes im Sudan Ende der 1890er Jahre dehnte Großbritannien sein Einflussgebiet bis an die Grenzen Abessiniens aus. Spätestens ab diesem ZeitMittelmeer Misrata OS Marsa Matruh NI MA Kairo Siwa britisch französisch italienisch deutsch belgisch l HE Ni Farafra SC Bahariya Libyen Kolonien und Protektorate europäischer Staaten in Nordostafrika 1914 Suezkanal Sallum S Dachla Ro CH I RE Ägypten Selbstständige Staaten in Flächenfarbe Oase Arabien te s Franz. Westafrika M ee Hadramaut r AngloÄgyptischer Sudan Aden N il Dschibuti i ABESSINIEN Bangui U b angi Belgisch-Kongo Uganda Entebbe Aden sc hSo m ali lan d Kamerun ADDIS ABEBA Kong o on lf v Brit.Somaliland Wei ß ar Go Franz.-Somaliland er Sultanat Darfur Asmara Nil El Fashir Fort Lamy Ch Eritrea Khartum uer Bla Franz.Äquatorialafrika BritischOstafrika Nairobi Ita ni lie Mogadischu INDISCHER OZEAN © ZMSBw 07830-02 renaika. Weitere Gegenwehr leisteten darüberhinaus andere, tripolitanische Stämme. Einen Sonderfall stellte Ägypten dar. Es war formal ein autonomes Land unter der Oberhoheit des osmanischen Sultans in Istanbul. Offiziell regierte der Khedive (Vizekönig) Abbas II. Hilmi Pascha als Vertreter des Sultans, tatsächlich kontrollierte jedoch der britische Generalkonsul sämtliche Schlüsselpositionen des Landes. Dies rief seit der Jahrhundertwende den politischen Widerstand ägyptischer Nationalisten gegen diese Art von Fremdherrschaft hervor. Zwar gingen viele Oppositionspolitiker der Nationalpartei Hizb al-Watami und der konstitutionellen Reformpartei Hizb al-Islah wegen der zunehmenden Verfolgung ins Exil. Dessen ungeachtet barg Ägypten ein großes soziales und politisches Unruhepotenzial. Dieses wurde nicht zuletzt dadurch angeheizt, dass die ägyptische Wirtschaft mehr und mehr zugunsten der Importbedürfnisse Großbritanniens umgestaltet wurde. Dazu gehörte auch die intensive Anpflanzung von Baumwolle am oberen Nil für den Export. Neben dem 1902 fertiggestellten (alten) Assuan-Staudamm war es dieser forcierte Baumwollanbau, der eine zunehmende Störung des natürlichen Rhythmus des Nils mit entsprechenden ökologischen Folgen verursachte, was wiederum indirekt infolge zunehmender Ernterückgänge des Getreides zu wachsenden sozialen Protesten unter den ägyptischen Nilbauern führte. Die deutsch-jungtürkischen Träume für Nordostafrika Ursprünglich hatte die außereuropäische Welt in den deutschen Kriegsszenarien allenfalls eine marginale Rolle gespielt. Das änderte sich allerdings im Laufe der Julikrise 1914. Angesichts des drohenden Zweifrontenkrieges konkretisierten sich im Deutschen Reich nun die bislang eher verschwommenen Ideen von einer forcierten »inneren Zersetzung« der Ententemächte. Dazu zählte die mögliche Instrumentalisierung sozialrevolutionärer oder nationalistischer Bewegungen im Russischen Reich (Georgien, Finnland) und Großbritannien (Irland). Ein noch viel bedeutenderer Nährboden zur Destabilisierung der gegnerischen Kolonialmächte schien aus deutscher Perspektive jedoch die islamische Bevölkerung Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016 5 Sammlung Stefan Noack Nordostafrika 1914‑1918 5Der fiktive Kriegsroman »1906« von Ferdinand Grautoff sorgte bei seinem Erscheinen für einige Furore und wurde zum Bestseller. in Nordafrika und Indien zu sein. Ein solches Szenario hatte der 1905 erschienene Zukunftsroman »1906. Der Zusammenbruch der Alten Welt« entworfen, der zu den meistverkauftesten Büchern seiner Zeit zählte. Darin schilderte der Leipziger Journalist Ferdinand Grauthoff unter dem Pseudonym »Seestern« einen 1906 ausbrechenden »Großen Krieg« zwischen den europäischen Mächten, an dessen Ende sich unter Führung der Senussi die Muslime in Nordafrika erhoben und die französischen, britischen und italienischen Kolonialherren vertrieben. Zugleich führte das Oberhaupt der äthiopischen Kirche einen »Vernichtungskrieg« gegen den »weißen Mann« im südlichen Afrika an. Das tatsächliche Problem für die Akteure im Sommer 1914 war nur, dass für eine antikoloniale Revolutionierung der islamischen Welt weder konkrete Pläne noch geeignete Spezialisten oder die nötigen Kommunikationswege in die gegnerischen Kolonien vorhanden waren. Auch bestanden keine Kontakte zu tatsächlichen oder angeblichen Revolutionären und antikolonialen Bewegungen vor Ort. Allerdings hofften die deutschen Stellen, dass die Begeisterung des Orient­bewunderers Kaiser Wilhelm II. und verschiedener Diplomaten den zwangsläufig zutage tretende Improvisationscharakter dieser Revolutionierungsstrategie aufwogen. 6 Große Hoffnungen wurden dabei auf die türkische Regierung gesetzt, die im Laufe des Herbstes 1914 das Osmanische Reich auf deutscher Seite in den Krieg führte. Für die deutschen Revolutionierungsideen war wichtig, dass die Verbündeteten über wertvolle Beziehungen zu den Senussi in Nordafrika und anderen politischen Kräften verfügten. Von operativer Bedeutung war hier besonders die Teşkilât-i Mahsusa, eine vom türkischen Kriegsminister Enver Pascha gegründete Spezialorganisation, die beispielsweise für geheime Operationen in Libyen, Ägypten und Arabien eingesetzt wurde. Aus deutscher Perspektive lag es nahe, diese panislamischen Ideen zu nutzen. Treibende Kraft hierfür wurde die eigens dafür gegründete »Nachrichtenstelle für den Orient« unter der Leitung des Islamwissenschaftlers Max von Oppenheim, die bald viele namhafte Orientalisten und For­ schungs­reisende in ihre Tätigkeit einband. Letztlich aber blieb sie bei vielen Operationen auf die Kooperation mit der Teşkilât-i Mahsusa angewiesen. Die deutschen und türkischen Revolutionierungsideen waren zwar hoch ambitioniert, doch kam auch hier der Improvisationscharakter zu Tage, was sich an einem Mangel an Strategie sowie an unzureichenden personellen und materiellen Mitteln zeigte. Besonders das Deutsche Reich verfügte über nur wenige orienterfahrene Spezialisten. Hinzu kam das nicht minder große Problem der Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten. Die Entfernungen waren riesig. Alle wichtigen Telegrafenleitungen befanden sich in der Hand von Gesellschaften aus gegnerischen Staaten. Auch der Einsatz der neuen Funktechnik und die Einrichtung einer Großfunkanlage am Bos­ po­ rus im Jahr 1916 sollten das Kom­mu­nikationsproblem nicht lösen können. Die Realisierung der Revolutionierungspläne Eine zentrale Rolle für die deutschen und jungtürkischen Pläne spielte von Anfang an Ägypten. Als der Erste Weltkrieg begann, hielt sich der Khedive Abbas II. gerade in Istanbul auf. Spätestens als im November 1914 das Osmanische Reich offen in den Konflikt eintrat, wurde Abbas II. von den Briten als zu großes Sicherheitsrisiko eingestuft und wenige Wochen später unter dem Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016 Vorwand, mit antibritischen Nationalisten in Kontakt zu stehen, abgesetzt. Ägypten wurde als eigenständiges Sultanat unter britisches Protektorat gestellt. Als Sultan installierte die britische Regierung einen Neffen des abgesetzten Abbas II., Hussein Kamil I. Nach Hussein Kamils Tod im Jahr 1917 wurde dessen Bruder Ahmad Fuad I. sein Nachfolger auf dem Thron. Von beiden erzwang die britische Regierung die Umstellung der ägyptischen Wirtschaft auf die Bedürfnisse der eigenen Kriegswirtschaft. Die Preise für Baumwolle wurden gezielt gedrückt, während die wachsende Zahl kaufstarker britischer Soldaten im Land die Nahrungsmittelpreise steigen ließ. Beides führte zu einer Verarmung breiter Bevölkerungsschichten in Ägypten und im Sudan. Dieser soziale und politische Sprengstoff, so die Hoffnungen in Berlin und Istanbul, musste explodieren, wenn es gelang, militärisch über den Suezkanal hinweg vorzustoßen. Allerdings scheiterte ein solcher, schlecht vorbereiteter Versuch der osmanischen Armee Anfang Februar 1915. Bereits hier zeigte sich, dass es den deutsch-osmanischen Verbündeten nicht möglich war, in Ägypten einen nennenswerten bewaffneten Widerstand gegen die britische Herrschaft zu entfachen. Angesichts der wenig später beginnenden Schlacht um Gallipoli und des Vordringens britisch-indischer Truppen in Mesopotamien war es dem Osmanischen Reich fortan auch nicht mehr möglich, größere Offensivoperationen in Richtung Suezkanal zu unternehmen. Damit waren die Träume der deutschen und jungtürkischen Strategen, die britische Herrschaft in Ägypten zum Einsturz zu bringen, aber nicht gänzlich zerplatzt. Zudem waren viele Geheimoperationen im Gange oder in Vorbereitung, um doch noch Aufstände am Nil zu entfachen. Vor allem wurde versucht, Propagandamaterial nach Ägypten einzuschleusen, um auf diese Weise die antibritische Stimmung in der islamischen Bevölkerung zu schüren. Deren Aufstandspotenzial wurde allerdings völlig falsch eingeschätzt. Der im November 1914 auf deutsches Drängen vom osmanischen Sultan und Kalifen durch den Scheich al-Islām ausgerufene Ğihād (= Heiliger Krieg) fand in Ägypten ebenso geringen Widerhall wie in anderen islamischen Regionen Afrikas und Asiens. Und auch die erhofften Rebellionen unter den ägyptisch-sudanesischen ullstein bild 5Deutsch-türkische Waffenbrüder: Stellung am Suezkanal mit einer 7,5-cm-KruppFeldkanone, 1915. oder den indischen Truppen des britischen Empire blieben aus. Darüber hinaus scheiterten in den Anfangsmonaten des Krieges nicht zuletzt angesichts des unprofessionellen Vorgehens und der mangelnden Koordination zwischen deutschen und türkischen Akteuren auch alle Versuche, den Suezkanal durch Sabotageakte, Verlegen von Minen oder die gezielte Versenkung von Schiffen zu sperren. Nicht minder erfolglos gestaltete sich der Versuch, die nationalistische Diaspora der Ägypter im Ausland für die Revolutionspolitik einzuspannen. Zwar wurden besonders zu den Exil­ ägyptern in der Schweiz intensive Kontakte aufgebaut, doch merkten diese wahrscheinlich ziemlich schnell, dass das Deutsche Reich keine klare, langfristige Ägyptenpolitik verfolgte. Ein naturgemäß wichtiger Partner wäre der abgesetzte Khedive Abbas II. gewesen, auch wenn dieser von manchen Beobachtern als unzuverlässig eingestuft wurde. Er stand jedoch in einem sehr schlechten Verhältnis zum einflussreichen jungtürkischen Großwesir Muhammad Said Halim Pascha. Der Großwesir war ein Enkel des Begründers der ägyptischen Khedivendynastie, Mehmet Ali Pascha, und hatte sich zeitweise selbst Hoffnung auf den Thron in Ägypten gemacht. Ganz allge­mein zeigte sich die türkische Regierung auch nicht bereit, ägyptische Politiker und Revolutionäre als gleichberechtigte Partner in ihre Operationen einzubinden. Die deutsche Diplomatie wiederum konnte sich nicht dazu durchringen, in Istanbul auf mehr Kooperationsbereitschaft gegenüber den Ägyptern zu pochen. Hoffnungen durch die Senussi-Bewegung Die größten Erfolge erzielten die deutsch-jungtürkischen Geheimoperationen bei der Kooperation mit den Senussi, die immerhin über ein militärisches Potenzial von mehreren tausend Bewaffneten verfügten. Mehrmals wurden 1914/15 Geheimmissionen sowie Kriegsgerät und kleinere Abteilungen osmanischer Soldaten zur Unterstützung der Senussi-Beduinen eingeschleust. Tatsächlich kam es im November 1915 dann auch zu gezielten Angriffen der Senussi-Verbände gegen die britischen Stützpunkte in Westägypten. Der Zeitpunkt dafür war günstig: Die italienische Kolonialmacht hatte sich seit Ende 1914 in Libyen wieder weitgehend auf wenige Küstenstützpunkte zurückziehen müssen und Großbritannien musste seine militärische Präsenz in Ägypten angesichts der zwischenzeitlichen Rückschläge an der Gallipoli- und Mesopotamien-Front deutlich reduzieren. Zu einem Brennpunkt der Kämpfe gestaltete sich der Küstenort Sallum, den die Senussi eroberten und von wo sie zeitweise in Richtung des ägyptischen Küstenortes Marsa Matruh vorstießen. Weitere Angriffsziele waren mehrere Oasen in der westägyptischen Wüste: Siwa, Bahariya, Farafra und Dachla. Auch der Sultan von Darfur, Ali Dinar, schloss sich nun dem »Heiligen Krieg« gegen die Briten an. Der Aufruf war nicht ganz ohne Folgen geblieben. Parallel zu diesen Ereignissen intensivierte Ende 1915 das deutsche Reichskolonialamt seinen Plan, die Volksstämme im südlichen Sudan mittels finanzieller Unterstützung gegen die dortige schwache anglo-ägyptische Besatzung aufzuwiegeln. Anfang 1916 wurde eine geheime Mission unter dem Kommando des Hauptmanns Othmar von Stotzingen in Richtung Jemen in Marsch gesetzt. Dort sollte eine Funkstation eingerichtet und über Abessinien Geldmittel in den Südsudan geschleust werden. Die am 5. Juni 1916 beginnende arabische Revolte im Hedschas gegen das Osmanische Reich, die von Großbritannien unterstützt wurde, führte allerdings zum Abbruch der Operation. Hoffnungen in Abessinien? Zu diesem Zeitpunkt hätte vielleicht allein noch ein Kriegseintritt Abessiniens für die britische Stellung in Ägypten und am strategisch wichtigen Suezkanal gefährlich werden können. Allerdings wurde die militärische Stärke Abessiniens besonders von deutscher Seite stark überbewertet. Walter Zechlin, der vor dem Krieg deutscher Gesandter in Addis Abeba gewesen war und später als Konsul in Tétouan die deutschen Revolutionierungsversuche in Marokko steuerte, schätzte 1912 die Schlagkraft der abessinischen Streitkräfte auf mindestens 200 000 Mann. Allerdings bestand ein Großteil dieser Truppen aus Soldaten der feudalen Teilkönigreiche, die der abessinische Kaiser bei Bedarf einfordern konnte. Der Anteil der mit modernem Kriegsgerät ausgerüsteten Armeeverbände war deutlich geringer. Darüber hinaus fehlte eine Instanz ähnlich einer Intendantur in den europäischen Armeen, die für Offensivoperationen über größere Entfernung zur Versorgung der Truppen nötig gewesen wäre. Dennoch besaß die abessinische Armee sicherlich das Potenzial, bei einem militärischen Eingreifen gegen den anglo-ägyptischen Sudan eine ernstzunehmende Rolle zu spielen. Hin­zu kam die Möglichkeit, durch eine Blockade des Blauen Nils die sozioökonomische Situation in Ägypten erheblich zu verschlechtern. Bereits im November 1914 war eine geheime deutsche Mission unter Lei- Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016 7 Nordostafrika 1914‑1918 tung des Ethnologen Leo Frobenius nach Abessinien aufgebrochen, um den jungen Herrscher Iyasu V. zum Kriegseintritt zu bewegen. Der Weg endete jedoch in der italienischen Kolonie Eritrea, wo der Mission die Weiterreise untersagt wurde. Als dann wenig später Italien auf Seite der Entente in den Krieg eintrat, war auch dieser Weg für Geheimoperationen versperrt und die letzte neutrale Telegrafen­ leitung nach Abessinien stand den Deutschen und ihren Verbündeten nicht mehr zur Verfügung. Fortan basierte die Kommunikation zwischen Berlin und der deutschen Gesandtschaft in Addis Abeba allein auf einzelnen Boten, denen es gelegentlich gelang, das Rote Meer zwischen dem osmanischen Jemen und Eritrea an Briten, Franzosen und Italienern vorbei zu überqueren. Umsturz und zerplatzte Träume ullstein bild Trotz dieser Schwierigkeiten entwickelte sich zwischen dem deutschen Gesandten in Abessinien, Lorenz Jensen, und Iyasu V. ein zunehmend gutes Verhältnis. Die diplomatischen Vertreter der Entente vor Ort argwöhnten wahrscheinlich nicht zu Unrecht, dass Iyasu V. politisch stärker den Mittel- mächten zuneigte, auch wenn unklar blieb, ob dieser tatsächlich über eine offene Parteinahme nachgedacht hatte. Sicher ist, dass unter der Herrschaft von Iyasu V. zunehmend mehr Waffenlieferungen zur antibritischen bzw. antifranzösischen Aufstandsbewegung in Somalia gelangten. Die Ententemächte reagierten darauf mit einem Waffen­ embargo gegen Abessinien. Aus den deutschen Gesandtschaftsberichten lässt sich außerdem herauslesen, dass Groß­britannien sich intensiv darum be­mühte, die antiroyalistische Opposition in Abessinien durch Geldzuwendungen für sich zu gewinnen. Verhäng­ nis­voll wurde für Iyasu V. schließlich seine eigene Integrationspolitik gegenüber den überwiegend muslimischen Landesteilen im Osten und Südosten des christlichen Kaiserreichs. Nicht zuletzt mit Unterstützung der britischen Gesandtschaft verbreitete sich 1916 das Gerücht, Iyasu V. wolle zum Islam konvertieren. Auch wenn dieses Gerücht letztlich einer realen Grundlage entbehrte, stärkte doch seine Verbreitung die Opposition im Lande, die sich gegenüber dem jungen, oft eigenwilligen Herrscher gebildet hatte. Am 27. September 1916 kam es schließlich zum Sturz des Königs. Die höchsten Kirchenvertreter und mehrere Minister er- klärten den jungen Herrscher für abgesetzt. Zentraler Kopf des Umsturzes war Kriegsminister Habte Giyorgis. Als neue Herrscherin wurde Iyasus kinderlose Tante Zauditu eingesetzt; zum vorläufigen »bevollmächtigten Regenten« und zukünftigen Thronerben erhoben die Putschisten den 18-jährigen Sohn eines einflussreichen Provinzgouverneurs und entfernten Neffen Iyasus, Tafari Makonnen, der später als der letzte äthiopische Kaiser Haile Selassie I. bekannt werden sollte. Die deutschen Staatsbürger im Land wurden interniert. Am 27. Oktober 1916 unterlagen die rund 80 000 Mann starken loyalistischen Truppen, die unter dem Kommando von Iyasus Vater, auf Addis Abeba vorrückten, in der Schlacht bei Segale der Armee der Putschisten. Iyasu V. selbst flüchtete in das autonome Sultanat Awsa, das ihm Asyl gewährte. Aus der Danakilwüste heraus führte er noch einige Zeit einen Kleinkrieg gegen die neue Regierung, bis er 1921 in Gefangenschaft geriet. Abessinien fiel im Spätsommer 1916 somit als militärischer Verbündeter für die Mittelmächte aus. Der neue Regent, Tafari Makonnen, blockierte allerdings fortan jegliche Sondierungen von britischer Seite im Hinblick auf eine Beteiligung abessinischer Truppen im Kampf gegen das Osmanische Reich und lockerte stattdessen allmählich die Internierungsbedingungen für die deutschen Staatsangehörigen im Land. Ende und Nachspiel Ein Angehöriger des Senussi-Ordens in der türkischen Armee, 1915. 8 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016 Zu diesem Zeitpunkt war die deutsch-türkische Revolutionierungspolitik allerdings ohnehin gescheitert. In Berlin musste man einsehen, dass es nicht gelungen war, auch nur halbwegs tragfähige nachrichtendienst­ liche Strukturen in Nordostafrika aufzubauen, geschweige denn, dort nen­nens­ werten Einfluss zu gewinnen. Jegliche Geheimaktivitäten und Propagandaaktionen in Ägypten wurden fortan den türkischen Verbündeten überlassen, deren Einfluss angesichts der militärischen Rückschläge zunehmend schwand. Spätestens Anfang 1917 zeichnete sich ab, dass Großbritannien als Sieger aus dem Konflikt um diese Region hervorgehen würde. Seit März 1916 hatte eine kleine anglo-ägyptische Interventionstruppe den militärischen Bewegungsraum des Darfur-Sultans Ali Di- pa/akg-images nar eingeschränkt. Am 23. Mai wurde die Darfur-Hauptstadt El Fashir erobert. Ali Dinar zog sich mit seinen letzten Getreuen auf das Jebel-Marra-Plaeteau zurück, fiel dort aber in Kämpfen am 3. November 1916. Das Fur-Sultanat wurde schließlich 1917 als Provinz in den anglo-ägyptischen Sudan eingegliedert. Auch der Aufstand der Senussi verlor seit Sommer 1916 immer mehr an Boden. Gegen die technische und zahlenmäßige Überlegenheit der angloägyptischen Truppen kamen die meist nur leicht bewaffneten Reiterkrieger nicht an. Es kam zu Spaltungen der Bewegung, sodass Scheich Ahmad asch-Scharif zunehmend von seinem jungen Cousin Sayyid Mohammed Idris an den Rand gedrängt wurde. Jener schloss am 12. April 1917 einen Friedensvertrag mit Großbritannien ab. Darin konnte er einen Teil des Senussi-Einflusses in der Region bewahren. 1951 wurde er als Idris I. erster König Libyens. Ahmad asch-Scharif führte mit einer schwindenden Anzahl von Anhängern einen Guerillakrieg weiter. Im August 1918 wurden aber schließlich die letzten Reste seiner Senussi-Krieger im kleinen tripolitanischen Küstenort Misrata eingekesselt. Ahmad aschScharif gelang dank eines deutschen U-Bootes die Flucht. Wenige Wochen später war der Erste Weltkrieg zu Ende, dennoch kehrte in Nordostafrika keine Ruhe ein. Großbritannien wähnte sich mit dem Ende der osmanischen Herrschaft im Nahen Osten als nunmehr unangefochtene Hegemonialmacht in der Region. Diese Vormachtstellung stand jedoch auf wackeligen Füßen. Der antikoloniale Derwisch-Widerstand in Somalia konnte zwar bis 1920 niedergeschlagen werden, doch blieb die Gesamtregion ein Unruheherd. Die britische Herrschaft über Ägypten hatte während des Krieges sozioökonomische Konflikte geschürt. Als die Londoner Regierung dann 1919 Ägypten die Teilnahme an den Pariser Friedensverhandlungen in Gestalt einer eigenen Delegation verwehrte, wurden die nationalistischen Proteste so stark, dass Großbritannien 1922 die weitgehende Selbstständigkeit und 1936 die Souveränität Ägyptens zugestehen musste. Aber auch in Abessinien konnte die britische Politik aus dem Putsch von 1916 keinen Vorteil ziehen. Die Hoffnungen auf einen wachsenden Einfluss im Land blieben Iyasu V. bestieg als 16-Jähriger den Kaiserthron von Abessinien. Nach seiner Absetzung 1916 amtierte er noch bis 1921 als Gegenkaiser. 1935 kam er unter ungeklärten Umständen zu Tode. ebenfalls unerfüllt. Fatale Folgen dort hatte etwa die Veröffentlichung der Geheimverträge der Entente durch die sowjetische Regierung 1917, darunter auch des italienisch-britischen Abkommens als Teil des Londoner Vertrages vom 26. April 1915: In diesem hatte Großbritannien Italien den kolonialen Erwerb Abessiniens zugesichert. Die britisch-italienische Blockade des Beitritts Abessiniens zum Völkerbund tat ein Übriges zum Schwinden des britischen Einflusses in der Region. Sicherlich hatte auch niemand geahnt, dass der scheinbar schwache, junge und unerfahrene Regent Tafari Makonnen sich bald zu einem geschickten Diplo- maten und ehrgeizigen Reformer entwickeln würde. Aus europäischer Perspektive letztlich wenig beachtet, waren im Ersten Weltkrieg für die Geschichte Nordostafrikas einige folgenreiche Weichen neu gestellt worden. Björn Opfer-Klinger Literaturtipps Jay Spauding and Lidwien Kapteijns, An Islamic Alliance. Ali Dinar and the Sanusiyya, 1906‑1916, Evanston 1994. Eloi Ficquet and Wolbert G.C. Smidt (Eds..), The Life and Times of Lij Iyasu of Ethiopia, Münster 2014. Russell McGuirk, The Sanusi’s Little War, London 2007. Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016 9 Subversion gegen das Empire: Das Unternehmen »Mammut« 1943 5Schwarzes Gold: Die Sabotageakte der Operation »Mammut« sollten sich vor allem gegen die Ölförderung der Briten wenden. Z u Beginn des Zweiten Weltkriegs standen der Nahe und der Mittlere Osten – im Unterschied zu 1914 – nicht im unmittelbaren Fokus deutscher Expansions- und Eroberungsinteressen. Hitler und die Führungsstäbe des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) sowie des Oberkommandos des Heeres (OKH) waren sehr stark auf die Führung kontinentaler Feldzüge in Europa fixiert und hatten daher die globale Perspektive nur am Rande im Blick. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs war das Gebiet des heutigen Irak Teil des Osmanischen Reiches gewesen. Durch die Friedensverträge von 1919 und der frühen 1920er Jahre sowie der Beschlüsse des Völkerbundes stand das Gebiet unter britischer Mandatsherrschaft. Erst 1932 wurde der Irak formal zwar unabhängig, befand sich de facto aber immer noch unter dem Einfluss Großbritanniens. Im April 1941 erfolgte ein Militärputsch, sodass der mit dem Deutschen Reich sympathisierende Raschid Ali al Gailani Ministerprä­ sident wurde. Einen Monat später geriet seine deutsch-freundliche Regierung in Konflikt mit den Briten, die Durchmarschrechte für ihre indischen Truppen durch das Gebiet des Irak beanspruchten. Die neue irakische Regie­ 10 rung verkündete die Neutralität und den sofortigen Abzug aller britischen Truppen aus ihrem Land. So kam es schließlich zum Krieg zwischen dem Irak und dem Britischen Empire. Zwar dauerte der Waffengang nur einen Monat, der Irak verlor und seine Regierung stürzte. Allerdings stellte sich nun auch die Frage, ob das Deutsche Reich den Irak unterstützen würde, zumal die irakische Regierung Hilfeersuchen an Berlin gerichtet hatte. Das Deutsche Reich und der Irak Schon zuvor waren in Deutschland ausgesprochene Befürworter von Interventionen im Orient aktiv geworden und hatten alte Hoffnungen aus der Zeit vor 1918 wiederbelebt. Zu nennen sind hier insbesondere Oskar Ritter von Niedermayer, Otto Werner von Hentig, beide Anführer einer riskanten, aber letztlich nicht ganz so erfolgreichen Expedition nach Afghanistan 1915/16, aber auch der frühere Reichskanzler und NS-Diplomat Franz von Papen. Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop stand einem entsprechenden Engagement wohlwollend gegenüber. Diese Kräfte konnten sich mit ihren Ansichten aber gegen den Primat von Hitlers einseitig orientiertem Rasse- und Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016 Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion nicht durchsetzen. Zwar erließ Hitler am 23. Mai 1941 die Weisung Nr. 30 über die Kriegführung im Mittleren Osten und die Unterstützung der »arabischen Freiheitsbewegung«, in der u.a. stand, dass die »arabische Freiheitsbewegung [...] im Mittleren Orient unser natürlicher Bundesgenosse gegen England« sei und dass in «diesem Zusammenhang [...] der Erhebung des Irak besondere Bedeutung« zukomme. Auch stärke sie »über die irakischen Grenzen hinaus die England feindlichen Kräfte im Mittleren Orient«, störe »die englischen Verbindungen« und binde »englische Truppen sowie englischen Schiffsraum auf Kosten anderer Kriegsschauplätze«. Faktisch blieb die Weisung jedoch ohne Folgen für die deutsche Kriegführung, denn der Diktator genehmigte lediglich den Einsatz einiger weniger Staffeln von Kampfflugzeugen der Typen Me 110 und He 111, vor allem als »Heroische Geste« für die aufständische irakische Regierung. Die Briten verfügten ihrerseits über Luftwaffenverbände im Irak (u.a. einige Jagdflugzeuge des Typs Hawker Hurricane) und schlugen rasch zurück. Die deutschen Verbände erhielten keinen Ersatz für ihre Verluste und wurden da- pa/akg-images/Paul Almasy Unternehmen »Mammut« 1943 folgsaussichten von Sabotageaktionen in Irakisch-Kurdistan diskutiert hatte. Bei dieser Besprechung war auch Müller zugegen. Mit großer Wahrscheinlichkeit wurde er von seinen späteren Vorgesetzten aufgefordert, seine Überlegungen zu diesem Thema ausführlich zu Papier zu bringen. Den Hintergrund für die darauffolgende Ausarbeitung eines Diversionsunternehmens gegen britische militärische Einrichtungen und vor allem Anlagen der Ölförderung bildete die strategische Lage im Herbst 1942, als die deutschen Kräfte in das Kaukasusgebiet vordrangen und sich ihnen somit, zumindest als theoretische Option, ein weiterer Vormarsch, nun nach Süden in Richtung Orient anbot. Die Niederlage in der Schlacht von Stalingrad im Winter 1942/43 entzog derlei Hoffnungen jedoch jegliche Grundlage. »Mammut«: Hoffnungen Unbeeindruckt von der sich abzeichnenden Niederlage in Stalingrad, verfügte Oberst Lahousen am 14. Januar 1943 die Aufstellung des Unternehmens »Mammut«, die vom Leiter der Irak und Umgebung Ende 1942 Krim Sarabus Krasnodar SOWJETUNION Constanza Tuapse Groznyj Schwarzes Meer K a u k a s u s Istanbul Batumi britische Kolonien und Mandatsgebiete unter britischem Schutz von den westlichen Alliierten besetzte Gebiete sowjetisch sowjetisch besetzte Gebiete deutsch besetzte Gebiete/ Frontverlauf 18.11.1942 neutrale Staaten wichtige Erdölgebiete und -leitungen Kaspisches Meer Tiflis Baku TÜRKEI Erzurum Mossul Erbil TEHERAN Kirkuk Zypern Tripolis Beirut Mittelmeer Syrien Homs Rutba a äst in ÄGYPTEN Haditha Damaskus Haifa KAIRO Euphrat Hamadan is Tigr Nach dem Scheitern des »Irak-Abenteuers« von 1941 beschränkten sich die deutschen militärischen Aktivitäten nunmehr auf Kommandoaktionen des Amts Ausland/Abwehr im OKW unter der Führung von Admiral Wilhelm Canaris (1887‑1945). Direkt zuständig für das Unternehmen »Mammut« war die Abwehr Abt. II (Sabotage und Zersetzung) unter der Führung des im März 1938 nach dem sogenannten Anschluss Österreichs aus dem österreichischen Bundesheer in den Dienst der Wehrmacht übernommenen Obersten und späteren Generalmajors Erwin Edler von Lahousen-Vivremont. Er hatte von Juni 1935 bis März 1938 den Evidenz- und Informationsdienst, also den militärischen Geheimdienst im Verteidigungsministerium der Republik Österreich geleitet und führte die Abwehr Abt. II vom 1. Januar 1939 bis zum Kriegsende. Lahousen war für eine ganze Reihe von Geheimdienstunternehmen verantwortlich, die allerdings nur in wenigen Fällen erfolgreich verliefen. Die meisten dieser Operationen bzw. Sabotageaktionen scheiterten an technischen, personellen oder organisatorischen Unzulänglichkeiten wie auch aufgrund selten vorhersehbarer und kalkulierbarer Umstände. Die operative Planung, Vorbereitung und der Einsatz von Abwehr-Spionagetrupps an ausgewählten Zielorten, so auch für den Nahen und Mittleren Osten, führte die Gruppe 2 der Abwehr Abt. II durch. Ihr Leiter war der in militärischer Spionage- und Sabotagearbeit sehr erfahrene Oberstleutnant, später Oberst, Putz. Ihm unterstanden mehrere Referate, die je nach der geografischen Lage der Zielorte, sämtliche Kriegsschauplätze in Europa und in Übersee fachlich bearbeiteten. Nicht nur sollte vor allem Großbritannien durch geheimdienstliche Aktionen und einer ganzen Reihe vielfältiger Diversionshandlungen weitestgehend geschädigt werden, sondern letztlich die britische Vorherrschaft im Nahen Pal »Mammut«: Planungen und Mittleren Osten beendet werden – aus heutiger Sicht ein reichlich ambitioniertes Ziel. Aufgrund der sich ausweitenden Kommandounternehmen während des Krieges musste die Gruppe 2, Sabotage und Zersetzung, der Abwehr Abt. II vergrößert und zugleich den unterschiedlichen Erfordernissen hinsichtlich der einzelnen Kommandounternehmen angepasst werden. Bislang hatte sie alle geheimdienstlichen Operationen in den überseeischen Gebieten zu verantworten und zu führen. Nun wurden daraus neue Referate gebildet, wobei das Referat 2 für den Irak zuständig war. Dessen Leiter war Ende 1942 Hauptmann Misenky, der direkte Vorgesetzte von Leutnant Gottfried Johannes Müller, der am 5. Dezember 1942 eine Denkschrift für ein Unternehmen »Said Schahswar« (das spätere Unternehmen »Mammut«) im Nord­ irak verfasst und danach bei seinen Vorgesetzten eingereicht hatte. Die Anregung zu dieser Denkschrift war bereits am 21. Oktober 1942 erfolgt, als Gruppenleiter Putz, mit dem ihm unterstellten Referatsleiter und weiteren Mitarbeitern eventuelle Er- Nil her rasch aufgerieben, eine von Hitler erhoffte Volkserhebung blieb aus. Die irakische Armee wurde dann schnell von den britischen Truppen besiegt und die irakische Regierung gestürzt. In der Folge besetzten die Briten auch noch Syrien, das bis dahin unter der Kontrolle des französischen Vichy-Regimes gestanden hatte. IRAN BAGDAD IRAK AMMAN Transjordanien Ahvaz Basra SAUDI-ARABIEN Quellen: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd 6: Der globale Krieg, Stuttgart, 1990; Bernd Philipp Schröder, Irak 1941, Freiburg i.Br. 1980. KUWAIT P e r s . Golf © ZMSBw 07826-03 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016 11 Unternehmen »Mammut« 1943 Abwehr, Admiral Wilhelm Canaris, bestätigt wurde. Das Unternehmen wurde im Februar 1943 durch den Chef des OKW, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, freigegeben. Als Ziele wurden u.a. genannt: Nachschubstörung der feindlichen Truppen, Sabotageakte, Unterbrechung von Telefon­ leitungen, Durchführung besonderer Ab­wehrmaßnahmen. Sogar die »Schaf­ fung von Auffangplätzen für andere Unternehmungen« war vorgesehen. All diese Maßnahmen erfolgten mit ausdrücklicher Kenntnis und Billigung durch den Abteilungsleiter Lahousen. Müller hielt sich aufgrund einer 1935/36 unternommenen Orientreise, die ihn bis in die Gegend von Sulaimaniya im Nordosten Iraks geführt hatte, für ausreichend kompetent, das Unternehmen »Mammut« erfolgreich leiten zu können. Allerdings gab es aber auch aufgrund der dünnen Personaldecke wohl kaum eine Alternative. Denn die Abwehr besaß keine Mitarbeiter, die über ähnliche Erfahrungen verfügten. Der Mangel an qualifiziertem Personal machte sich auch beim weiteren Vorgehen bemerkbar. Zudem baute das Unternehmen »Mammut« auf dem Infor- mationsstand Müllers über die Lage in Südkurdistan Mitte der 1930er Jahre auf. Daher ist es nicht überraschend, dass Hauptadressat des Unternehmens der kurdische Scheich Mahmud Barzinji war. Barzinji hatte bis 1931 eine ganze Reihe von Aufständen gegen die britische Mandatsmacht verübt und hier durchaus zumindest zeitweise Erfolge verbuchen können. Müller hatte ihn nach eigenen Angaben bei seiner Orientreise Mitte der dreißiger Jahre selbst getroffen. In der Abwehr erhielt der Scheich die interne Bezeichnung »Mammut«. Dabei handelte es sich um eine Verballhornung des Vornamens »Mahmud«, woraus sich auch der Deckname »Mammut« der Operation erklärt. Die in Barzinji gesetzten Hoffnungen entsprachen im Jahre 1943 keineswegs mehr den realen Tatsachen. Der Scheich hatte sich nach einer ganzen Reihe von Niederlagen im Kampf gegen die britische Mandatsmacht, spätestens aber mit dem Scheitern des Gailani-Putsches Mitte 1941 aus dem politischen und militärischen Leben der Widerstandsbewegung in Südkurdistan zurückgezogen. Er lebte, überwacht von den Briten, im Hausarrest in Bagdad. Seinen Platz als unbestrittener Führer der Kämpfer in Südkurdistan hatte bereits Scheich Ahmad Barzani und später auch dessen jüngerer Bruder Mustafa eingenommen. Auch andere regionale kurdische Anführer wollte die deutsche Seite mit Hilfe von Empfehlungsschreiben für die Mitwirkung am Unternehmen »Mammut« gewinnen. Es blieb unklar, ob die kurdischen Anführer im Ernstfall für das Deutsche Reich Partei ergreifen würden. In seiner Denkschrift war Müller nur von der Hoffnung ausgegangen, er werde sich mit ein paar Dutzend Männern in den Kurdengebieten des Irak längere Zeit gegen die britisch-arabische Übermacht halten können. Er wolle dabei so viele Sabotageakte gegen Ölpipelines und die Infrastruktur verüben können wie nur möglich. Ursprünglich hatte er offenbar sogar geglaubt, er könne die irakischen Ölquellen für das Deutsche Reich sichern und die Herrschaft des Empire zumindest im Irak erschüttern. Sonderunternehmen »Mammut«: Die Aufstellungsverfügung vom 14. Januar 1943 ist im Bundesarchiv, Abt. Militär­ archiv überliefert. BArch, RW 5/271, Bl.1. 12 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016 »Mammut«: Scheitern Das ganze Unternehmen endete im Grunde genommen bereits kurz nach dem Fallschirmabsprung der Gruppe I am 17. Juni 1943. Denn alle vier Agenten wurden am 28. Juni, also nach nur elf Tagen, durch die irakische Polizei in Erbil festgenommen. Ihre Gefangennahme bildete jedoch nur den Abschluss einer Serie von Pannen, die das Unternehmen begleitet hatten: In der Frühe des 17. Juni westlich von Mossul, 200 Kilometer vom eigentlichen Landeplatz bei Ranya entfernt, abge- pa/CPA Media Am 6. März 1943 ging bei Ausland/ Abwehr II/Ost die Meldung von der Kriegs-Organisation der Abwehr im Ausland (KO) Istanbul ein, dass jetzt mit Ramzi Nafi‘ Raschid Agha ein geeigneter Informant und Kontaktmann gefunden worden sei. Dieser junge kurdische Idealist war wichtig für die Durchführung der Operation »Mammut«. Er stammte aus Erbil und wollte durch seine Zusammenarbeit mit der Abwehr ein Zeichen zur Abspaltung Irakisch-Kurdistans von der durch die Briten in Bagdad eingesetzten arabischen Zentralregierung setzen. Noch im März 1943 wurden etwa ein Dutzend deutsche Mitarbeiter der Abwehr auf die »Mammut«-Gruppen I, II und III aufgeteilt. Dazu gehörten auch die Gefreiten Georg Heinrich Adalbert Konieczny und Friedrich Wilhelm Hoffmann. Ende April schließlich traf Ramzi vom KO Istanbul über die Außenstellen Sofia und Wien in Bodental (Krain) ein, wo die an dem Unternehmen Beteiligten ausgebildet wurden. Diese Ausbildung gestaltete sich schwieriger als erwartet. Zusätzliche Sonderlehrgänge waren notwendig, weswegen der ursprünglich vorgesehene Termin des Unternehmens am 20. Mai 1943 verschoben werden musste. Am 14. Juni schließlich wurde die »Mammut«-Gruppe I auf dem Hof des Bendler-Blockes in Berlin feierlich verabschiedet, wobei die kurdische Fahne gehisst wurde. Einen Tag später begann die erste Flugetappe der Gruppe I in Rangsdorf: Leutnant Müller, die Gefreiten Konecny und Hoffmann sowie Ramzi. Zeitgleich verlegte das Personal der Funker-Gegenstelle nach Sarabus auf die Krim. Am 16. und 17. Juni flog die Gruppe von Sarabus nach Irakisch-Kurdistan und wurde in der Nähe des Dorfes Kharab Quba per Fallschirm abgesetzt. 5Das Ziel: Scheich Mahmud Barzinji (1878‑1956) hatte sich bereits mehrfach gegen die britischen Mandatsträger aufgelehnt und sollte dies nun ein weiteres Mal mit deutscher Unterstützung versuchen. setzt, waren die vier Abwehragenten ohne Funkausrüstung und konnten keinen Kontakt mit ihrer Gegenstelle auf der Krim aufnehmen. Da eine Flucht über die noch weiter entfernte türkische Grenze aussichtslos erschien, beschlossen die Agenten, sich nach Erbil, dem Heimatort Ramzis, durchzuschlagen, um dort in den Untergrund zu gehen. Die Gruppe führte nun nicht mehr der sichtlich entnervte Leutnant Müller, sondern der kurdische Informant Ramzi als einziger Landeskundiger. Nach einem fünftägigen Fußmarsch vom Landeplatz über Mossul am Tigris gelangten die Agenten schließlich in die Nähe Erbils. Die drei Deutschen versteckten sich ab dem 23. Juni in einer Höhle nördlich der Stadt, während Ramzi versuchte, Hilfe aus seinem Heimatort zu holen. Verraten wurden die Agenten schließlich durch kurdische Schmuggler. Die irakische Polizei verhaftete die Deutschen am 28. Juni 1943. Einen Tag später stellte ich Ramzi den Behörden des Irak, nachdem sein Vater und seine Verwandten inhaftiert worden waren. Da die Planer der Abwehr von einem nachhaltigen Erfolg dieser ersten Gruppe ausgingen, obwohl nach ihrer Landung überhaupt kein Funkkontakt mit ihr zustande gekommen worden war, wurde zur Unterstützung die Gruppe II in Bereitschaft gehalten, die noch von Müller aufgestellt worden war. Die Ausbildung dieser Gruppe II wurde sogar noch bis in den August 1943 fortgesetzt, obwohl die Abwehr durch ein dechiffriertes Funktele- gramm vom 23. Juli 1943 nun unzweifelhaft wusste, dass alle Mitglieder der Gruppe I festgenommen worden waren. Sogar die Entsendung einer Gruppe III, der auch zivile deutsche Spezialisten als V-Leute der Abwehr, darunter die angehende Ärztin Maria Effinger, angehören sollten, war geplant. Die Vermittlung von Wissen und die Leistung medizinischer Hilfe sollten Hand in Hand mit der Aufstachelung der kurdischen Klans gegen die britische Mandatsmacht gehen. Das Scheitern der Sabotageaktion »Mammut« noch in der Frühphase war angesichts der dafür bereitgestellten geringen materiellen und personellen Mittel durchaus nicht überraschend. Hier zeigte sich in besonderer Weise die mangelnde personelle Ausstattung, planerische Beliebigkeit und Konzeptionslosigkeit wie auch die Realitätsferne solcher Kommandounternehmen. Ramzi erhielt eine lebenslange Gefängnisstrafe, wurde jedoch aus Krankheitsgründen 1947 entlassen und starb zwei Jahre später im Alter von 31 Jahren an den Folgen der Haft. Gottfried Johannes Müller, Friedrich Wilhelm Hoffmann und Georg Heinrich Adalbert Konieczny überlebten ihre Kriegsgefangenschaft, u.a. im berüchtigten britischen Wüstenlager im Kloster Emmaus in Palästina. Müller hat 1974 in einem spannenden, im Stile der Abenteuerromane Karl Mays geschriebenen Erlebnisbericht »Im brennenden Orient« seine Sicht der Dinge dargelegt. Darin bekundete er, wohl durchaus ehrlich gemeinte Reue wegen seiner manipulativen Einflussnahme auf den jungen Ramzi und bedauerte dessen frühen Tod. Er selbst hat sich in seinen folgenden Lebensjahren karitativen Aufgaben zugewandt und 1957 die Bruderschaft von Salem e.V. gegründet, die sich für die Betreuung von Waisenkindern und die Aussöhnung einst verfeindeter Völker und Religionen einsetzt. Pherset Rosbeiani Literaturtipps Bernd Lemke, Der Irak und Arabien aus der Sicht deutscher Kriegsteilnehmer und Orientreisender 1918 bis 1945, Frankfurt am Main 2012. Pherset Rosbeiani, Das Unternehmen »Mammut«. Ein politisch-militärisches Geheimdienstunternehmen in Südkurdistan in den Jahren 1942/43 und seine Vorgeschichte, Berlin 2012. Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016 13 ullstein bild – mirrorpix Küste als Kulturlandschaft? 5D-Day-Veteranen in der Normandie, 5. Juni 2014. Normandie, 6. Juni 1944 – eine Küste als Kulturlandschaft heute? S oviel Prominenz in nur einer Woche hatte das normannische Küstendorf Courseulles-sur-Mer nie zuvor erlebt: Am Montag, den 12. Juni 1944 betrat Winston S. Churchill französischen Boden, am Mittwoch folgte General Charles de Gaulle, am Freitag schließlich ließ es sich der britische König George VI. nicht nehmen, seinen Soldaten zum Erfolg zu gratulieren. Wenige Tage zuvor, im Morgengrauen des 6. Juni, hatten 1200 Kriegsschiffe und 7500 Flugzeuge Großbritannien verlassen, um mit 150 000 Briten, US-Amerikanern, Franzosen, Polen und Kanadiern und vielen anderen an der französischen Küste des Ärmelkanals zu landen. Die Landung selbst, die »Operation Neptun«, bildete nur den ersten Akt des weitaus größeren Unternehmens »Overlord«; nicht des größten amphibischen Unternehmens des Zweiten Weltkrieges, sondern desjenigen mit der größten strategischen Bedeutung. Auch wenn die Kämpfe in der Normandie, in denen unter anderem Caen, 14 Lisieux und Le Havre in Schutt und Asche gelegt wurden, zwölf Wochen und nicht drei dauerten, wie die Alliierten kalkuliert hatten: Am 25. August waren die Alliierten bis Paris vorgerückt, die Wehrmacht kapitulierte, und General de Gaulle zog einen Tag später in die Hauptstadt ein. Keine Frage, die Küstenlandschaft hat der »Operation Neptun« ihren Stempel aufgedrückt. Doch auch das Gegenteil ist richtig: Die Kämpfe an der Küste haben tiefe Spuren in der Landschaft hinterlassen. Die Region kann deshalb als ein Paradebeispiel für die Wechselbeziehung von Mensch und Raum gelten. Lässt sich deshalb auch von einer »Kulturlandschaft« sprechen? Dieser unscharfe Begriff bezeichnet in der Lesart der UNESCO »Kulturgüter«, die »gemeinsame Wer­ke von Natur und Mensch« darstel­ len. Sie sind »beispielhaft für die Ent­ wick­ lung der menschlichen Gesellschaft [...] unter dem Einfluss der physischen Beschränkungen und/oder Mög­lich­keiten, die ihre natürliche Um- Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016 welt aufweist, sowie der von außen und innen einwirkenden aufeinander folgenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Kräfte«. Artefakte von Verteidigung und Angriff Utah Beach, Omaha Beach, Gold Beach, Juno Beach und Sword Beach: So lauteten die Namen der fünf Landungsstrände. Noch heute weisen Schilder mit diesen Namen den Touristen den Weg von der Küstenstraße D in den Départements Calvados und ­Manche, vorbei an Bauernhöfen, Kirchen und Kühen zum jeweiligen Landungsabschnitt. Doch nicht die Strände allein faszinieren den Besucher. Das militärische Unternehmen hat zahlreiche Spuren hinterlassen, die bis heute den etwa 80 km langen Küstenabschnitt prägen. Einige sind schon von Weitem zu sehen, andere werden erst entdeckt, wenn man über sie stolpert, wieder andere lassen sich nur mit dem Fernglas erkennen wie der Munitions- Landung am D-Day, 6. Juni 1944 Cherbourg Bolbec Seinebucht Le Havre Ste. Mère-Eglise Carentan Nor m andi e Quinéville Caen Lisieux St. Lô Ste. Mère-Eglise 1. US-Armee 1 Pointe du Hoc Grandcamples-Bains re Vi Carentan La Cambe Isignysur-Mer 2 OM A 2. brit. Armee HA G OLD A ViervilleJU N O sur-Mer SW B 3 4 Saint LaurentOR D sur-Mer Colleville- PortArromanchesLonguessur-Mer enBernières5 Courseullesles-Bains Bessin sur-Mer sur-Mer sur-Mer Tag Lion-sur-Mer e szie Bayeux l D-Day Ouistreham Grenze US-brit. Streitkräfte N o r m a n d i e Mulberry-Häfen »A« und »B« Gooseberries 1–5 Luftlandeeinsatzräume Denkmäler/Soldatenfriedhöfe (2016) © ZMSBw 07829-02 Schützen herausragte. Drittens existierten auch in der Normandie sogenannte Festungen: Schwerere Artillerie und Flak sollten in Cherbourg und Le Havre die Alliierten daran hindern, die Hafenstädte aus logistischen Gründen einzunehmen. Anders als in einem Museum indes sind viele militärische Artefakte begehbar. Wer nicht an Platzangst leidet und unterirdische dunkle Gänge nicht fürchtet, kann durch einen Schlitz zwischen meterdickem Beton bis zum Horizont des Ärmelkanals schauen, beinahe so wie die deutschen Soldaten im Juni 1944. Die Stellungen sind unterschiedlich gut erhalten. Die Batterie von Longues-sur-Mer beispielsweise ist die einzige Anlage dieser Art, in der die aus deutscher Produktion stammenden Kanonen noch vorhanden sind. Allerdings wurde das Niveau des umgebenden Erdhügels abgesenkt, damit die Touristen nicht mehr ohne Weiteres auf die Kasematten steigen können – was die Konturen der Bunker noch verschärft. Wenngleich an anderen Stellen, etwa an der Pointe du Hoc, zur Sicherheit der Besucher Metallgitter angebracht und Aussichtsplattformen angelegt wurden, besitzt der Raum der Landungsstrände insgesamt doch ein hohes Maß an historischer Authentizität. Die Bunker ducken sich in die Dünenlandschaft. Die befestigten Stellungen scheinen mit ihrer natürlichen Umwelt verschmolzen, so sehr passen sie sich den geografischen Bedingungen an. Was 1944 der Tarnung diente, Caen 0 Or ne AH UT bunker, dessen Betonoberfläche das satte Grün einer umzäunten Weide unterbricht. Spricht man stellvertretend von den Landungsstränden (Les Plages du Débarquement), ist daher weit mehr gemeint als die Küstenlinie. Welche militärhistorischen Spuren hat der Krieg hinterlassen? Dem Besucher springen auf der einen Seite die massiven Überreste des »Atlantikwalls« ins Auge. Zwischen 1942 und 1944 hatten Wehrmacht und Organisation Todt dieses Verteidigungssystems von Nord-Norwegen bis nach Südfrankreich geplant und teilweise angelegt. Es sollte das »Dritte Reich« vor einer »Invasion« der Alliierten schützen. Nur hier in der Normandie wurde der Atlantikwall, der Militärhistorikerinnen und -historikern als Höhepunkt militärischer Küstenbefestigung gilt, auf die Probe gestellt. Die NS-Propa­ ganda suggerierte mit dem Begriff »Wall« ein durchgängiges und dichtes Hindernis. Tatsächlich handelte es sich um eine mehr oder weniger dichte, auf den Küstenstreifen beschränkte Abfolge von teils halbfertigen Stellungen an der rund 4000 km langen Atlantikküste. Die französische Übersetzung »Mur de l’Atlantique« (AtlantikMauer) führt erst recht in die Irre. Wie in einem Freilichtmuseum können zwischen den normannischen Dörfern drei unterschiedliche Komponenten dieser Verteidigungsanlage besichtigt werden. Erstens finden sich zwischen der Mündung der Seine und der Pointe de Saire rund dreißig mehrere Kilometer auseinanderliegende Küstenartillerie-Batterien, die wieder­um aus vier bis sechs teils in Kasematten geschützten Kanonen, Bunkern für Munition und Personal sowie Beobachtungs- und Feuerleitständen, zumeist Hochbunkern aus Stahlbeton, bestehen. Die Batterien waren mit Stacheldraht und Minen, mit Flugbzw. Panzerabwehrkanonen (Flak bzw. Pak) gesichert. Musealen Wert besaßen bereits 1944 jene Kanonen, die aus dem Ersten Weltkrieg stammten; bei anderen handelte es sich um Beutewaffen aus Tschechien, der Sowjetunion oder Frankreich. Zweitens wimmelt es in Strandnähe von rund 200 ehemaligen Widerstands­ nestern (WN). Die leicht bewaffneten WN verfügten über Pak und Maschinengewehre, die häufig aus einem in die Erde eingelassenen Betonbau bedient wurden, dessen oberster Teil mit einem kreisförmigen Loch für den 10 km sorgt bis heute für Überraschungen, wie etwa der nur von oben zu entdeckende Zugang eines unterirdischen Munitionsbunkers. Zudem haben die Kampfhandlungen, vor allem die schweren Bombardierungen, zu noch heute sichtbaren Zerstörungen geführt. Die Ruinen der Kirche von St. Manvieu-Norrey, wo alliierte Luft­ angriffe den Gegenangriff deutscher Verbände der 12. SS-Panzerdivision abwehrten, dienen seit langem als Denk­ m al. Einer Kraterlandschaft gleich lässt auch die Pointe du Hoc mit ihren Bombentrichtern und Bunkertrümmern die Wucht der Luftangriffe vom Juni 1944 erahnen. Auf der anderen Seite sind neben diesen Verteidigungsanlagen der Deutschen jene Artefakte zu nennen, welche die Allierten zu logistischen Zwecken geschaffen haben. Mulberry A und B: So heißen die beiden künstlichen Nachschubhäfen am Omaha Beach und am Gold Beach, an denen nach der Landung Transportschiffe, unabhängig vom Tidenhub, anlegen sollten. Insbesondere der im Juni 1944 errichtete Hafen vor Arromanches-les-Bains mit seinen riesigen Pontons auf einer Fläche von knapp 1000 Hektar erinnert heute an die gewaltigen Anstrengungen der Alliierten, Menschen und Material an Land zu bringen. Seit Kriegsende scheint sich hier wenig verändert zu haben. Nur durch eine Taucherbrille können derzeit die militärhistorischen Relikte bestaunt werden, die sich unter Wasser befinden. Diese historischen Artefakte Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016 15 Küste als Kulturlandschaft? Gedenken und Versöhnung Hoc wurde am 6. Juni 1944 von Army Rangern eingenommen, nachdem sie von der US Air Force heftig bombardiert worden waren. Die Kampfhandlungen prägen die landschaftliche Gestaltung auch heute noch. gen – darunter die Brüder von Frederick Niland, den Steven Spielberg als den Soldaten James Ryan bekannt gemacht hat. Ganz anders die deutsche Kriegsgräberstätte bei La Cambe: Die nüchterne Anlage mit ihren dunkel gehaltenen Kreuzen und Grabsteinen steht in Kontrast zu den Begräbnisstätten der Siegermächte. Hier ruhen über 21 000 gefallene Soldaten der Wehrmacht, darunter Angehörige der Waffen-SS. Seit dem deutsch-französischen Vertrag von 1954 über die Kriegsgräberstätten ist der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge für La Cambe zuständig. Schließlich stößt der Besucher in beinahe jedem Dorf auf ein Museum. Manche befinden sich in öffentlicher Trägerschaft, andere in privaten Händen. Ein nichtstaatliches aber städtisches Haus hat sich zum Leitmuseum der Region entwickelt und über­re­ gionale Bedeutung gewonnen: das Mémorial von Caen. Am 6. Juni 1988 vom französischen Staatspräsidenten François Mitterrand eingeweiht, ruht der moderne Betonbau auf den Resten eines Bunkers, der in die Ausstellung einbezogen ist. Der auffällige Einschnitt, der das steinerne Gebäude scheinbar halbiert, steht für die Bresche, die »Neptun« in den Atlantikwall geschlagen hat. Hier informieren sich Schulklassen auf dem abschüssigen Sammlung Jörg Echternkamp Eine zweite historische Bedeutungsschicht durchzieht den gesamten Raum zwischen Utah Beach im Westen und Sword Beach im Osten. Seit den 1950er Jahren markiert eine Vielzahl von Denkmälern die Orte des historischen Geschehens. Sie rufen jeweils das Schicksal bestimmter Gruppen von Soldaten ins Gedächtnis. Ein hochaufragendes Lothringer Kreuz beispielsweise erinnert in Courseullessur-Mer an die erwähnte Rückkehr de Gaulles am 14. Juni 1944. Im kollektiven Gedächtnis wird der Beteiligung französischer Soldaten eine große symbolische Bedeutung beigemessen. Namentlich die Männer des Kommandos »Kieffer«, das in den Reihen der Briten bei Colleville landete, gelten als Helden. Zu den ungewöhnlichen, neueren Monumenten gehört das Denkmal der kanadischen Inuit, ein Symbol aus aufeinander getürmten Steinen in Form eines Menschen, in Bernières-sur-Mer. Zu den geschichtspolitisch besonders bedeutsamen Erinnerungsorten zählen die weiträumigen Soldatenfriedhöfe. Wer hat nicht die endlosen Reihen weißer Kreuze und David­ sterne auf makellos grünem Rasen vor Augen, die so typisch für den US-amerikanischen Soldatenfriedhof in Colleville-sur-Mer sind? Hier wurden 1956 die sterblichen Überreste von rund 9400 Gefallenen zusammengetra- 5Die deutschen Stellungen am Pointe du pa/AP Images/David Vincent von deutscher wie von alliierter Seite sind freilich noch nicht alles, was die Landungsstrände zu einer Kulturlandschaft macht. Weg über einen spiralförmigen Parcours, der sie geradewegs in die Hölle des Zweiten Weltkriegs hinabzuführen scheint, über dessen Vorgeschichte seit 1918. Hier debattieren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über die Militärgeschichte des 20. Jahrhunderts. Hier treffen sich schließlich die Staatsmänner und -frauen aus aller Welt, um den Beginn der Befreiung und die Versöhnung ehemaliger Kriegsgegner zu feiern. Betritt der Besucher die große Eingangshalle, fällt der Blick auf eine große Fotografie vom Fall der Berliner Mauer – ein Bild, das hier vielleicht nicht zu erwarten gewesen wäre. Die Landung der Alliierten als Beginn eines gesamteuropäischen Befreiungsprozesses: eindringlicher könnte man die einfache Botschaft des Mémorial kaum ausdrücken. Denkmäler, Friedhöfe, Museen: Diese Teile der Erinnerungsgeschichte machen den Küstenstreifen zu einem historischen Raum im doppelten Sinn. Hier sind zum einen die Überreste eines militärhistorischen Großereignisses zu besichtigen, zum anderen zugleich zahlreiche Versuche, diesem Ereignis eine Bedeutung zuzuschreiben. Weil der Raum Authentizität verspricht, Deutungsangebote bereithält und auf beiden historischen Ebenen international angelegt ist, eignet er sich hervorragend als Bühne für Gedenkund Versöhnungszeremonien, nicht nur für die Veteranen. Mitten auf dem Die künstliche Hafenanlage vor Arromanches-les-Bains an der Gold Beach ist bei Ebbe bis heute zu sehen. 16 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016 rungspolitischen Wandel. Sie deuten die Landung als ein europäisches, wenn nicht weltweites Fanal der Freiheit. Auf einem anderen Blatt steht freilich, ob die GIs tatsächlich für die Befreiung der Europäerinnen und Europäer kämpften (oder nicht vielmehr nur ihren »Job« machten und Befehle ausführten) und die Alliierten auch die Deutschen befreien wollten (und nicht erst einmal ihre Entmachtung, Entmili- Zum anderen sind die Landungsstrände symbolische Träger universeller Werte. Sie stehen für Frieden und Freiheit und bilden einen Ort, der an den solidarischen Kampf gegen Unterdrückung und Tyrannei erinnert, sich für Versöhnungsfeiern anbietet und den Erfahrungsaustausch über Generationen hinweg ermöglicht. Die Strände verkörpern die Hoffnung auf Befreiung, vor allem in den Konzentrationsullstein bild – Alpeyrie US-amerikanischen Soldatenfriedhof fand beispielsweise 2014 die französisch-amerikanische Feier zum 70. Jahrestag der Landung statt. Ein Irrtum wäre indes die Annahme, dass sei schon immer so gewesen. Zwar kümmerte sich bereits seit 1945 ein Komitee um die Gedenkveranstaltungen, seit 1947 sogar auf der Grundlage eines Gesetzes, das die Erinnerung wachhalten und den Tourismus fördern sollte. Doch erst 1984 fanden die Feiern weltweite Beachtung, als US-Präsident Ronald Reagan zum 40. Ja­hrestag in die Normandie reiste. Erst­mals seit 1954 ließ sich der französische Staatspräsident blicken, ebenso die britische und die belgische Königin. Die Zahl prominenter Politikerinnen und Politiker stieg zu den Gedenkjahren 1994 und 2004 stetig an. Am 60. Jahrestag nahm erstmals ein deutscher Regierungschef, Bundeskanzler Gerhard Schröder, an der internationalen Zeremonie teil. Die Feiern am 6. Juni 2014 bildeten den vorläufigen Höhepunkt eines globalen Gedenkaktes und rückten den Küstenstreifen in das Rampenlicht der Weltöffentlichkeit. Wohl ein letztes Mal nahmen Veteranen teil – die mündlich überlieferte Erinnerung geht in die kulturelle Erinnerung über. Sinnstiftung: Einheit in Freiheit Die Landungsstrände, wie sie sich uns heute präsentieren, sind das Ergebnis einer jahrzehntelangen Wechselwirkung von Natur und Kultur, die längst ihre eigene Vergangenheit hat. Auch diese »Geschichte zweiten Grades« (wie der französische Historiker Pierre Nora sie nennt) lässt sich untersuchen, was die Normandie für die Geschichtswissenschaft zu einem spannenden Forschungsfeld macht. Der Küstenstreifen zeugt in besonderem Maße von der historischen Dynamik des Raumes. Einschnitte in die Dünenlandschaft und der Bau von Straßen veränderten bereits 1944 die Küste; der künstliche Hafen beeinflusste das Erscheinungsbild des Meeres. Das Mémorial von 1988, die privat finanzierten neun Meter hohen Skulpturen (»Les Braves« – Die Tapferen) am Strand von Omaha Beach 2004, das 2013 eröffnete Panoramakino »Arromanches 360«: Diese Beispiele stehen für die allmähliche Überformung der Natur nach 1944/45 mit Erinnerungsorten aller Art und für einen erinne- 5Bundeswehrsoldaten auf dem Soldatenfriedhof La Cambe, 7. Juni 2014. tarisierung und Entnazifizierung anstrebten). Der Raum war und ist jedenfalls veränderlich, die natürliche Landschaft zugleich eine kulturelle, von menschlichen Eingriffen geformte. Der Gedanke, sie als ein Kulturgut einzuordnen und als Weltkulturerbe zu begreifen, liegt da nicht fern. Und tatsächlich: Am 7. April 2014 hat die Ständige Delegation Frankreichs bei der UNESCO den Antrag eingereicht, die Landungsstrände der Normandie auf die Liste des Weltkulturerbes zu setzen. Dazu wurden an der Küste eine Kern- und eine Pufferzone festgelegt. Zwei Argumente werden ins Feld geführt: Zum einen stellen die Landungsstrände ein herausragendes Beispiel zwischen einem offensiven und einem defensiven militärischen System dar. Die Stellungen des Atlantikwalls und die baulichen Maßnahmen der Alliierten waren mit der natürlichen Umgebung eng verbunden und haben diese nachhaltig geprägt. lagern und unter den Widerstandskämpfern. Die Überwindung des At­lan­tikwalls steht für den Beginn der Befreiung zahlreicher europäischer Völker durch den Sieg über den Totalitarismus. Die historische Allianz der beteiligten Staaten und die europäische Integration seit 1945 werden hier in einen Wirkungszusammenhang gestellt. Die Landungsstrände stellen die Menschenrechte nicht nur symbolisch dar, sie dienen auch als Ort ihrer Vermittlung in der Gegenwart. Diese Argumente entsprechen den Aufnahmekriterien IV und VI der UNESCO. Dem militärhistorischen Ereignis des 6. Juni 1944 wurde seit den 1980er Jahren eine symbolpolitische Bedeutung zugeschrieben. Mit der Klassifizierung als Weltkulturerbe würde die Küste ein Gütesiegel erhalten, das sie unter den Schutz der Vereinten Nationen stellt. Jörg Echternkamp Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016 17 Strafvollzug der Wehrmacht Bundesarchiv Bild 146-2007-0126 Zwischen »Ausmerzung« und »Bewährung«. Der Strafvollzug der Wehrmacht 5Verhandlung vor einem Kriegsgericht, Oktober 1941. D er Zweite Weltkrieg war wenige Tage alt, als einige schlesische Jugendliche Zeugen eines für sie verstörenden Geschehens wurden: Am Morgen des 3. September 1939 wurden in einer Sandgrube nahe des alten deutsch-polnischen Grenzflusses Prosna deutsche Soldaten exekutiert – durch deutsche Soldaten. Die den Hingerichteten vorgeworfenen Vergehen bleiben im Dunkel der Geschichte wie ihre Namen; aber die Hinrichtung war Auftakt einer in der deutschen Justizwie Militärgeschichte beispiellosen Entwicklung. Wehrmachtjustiz Im Januar 1934 hatten die deutschen Streitkräfte eine eigene Justizorganisation erhalten. Fortan unterstanden ihre 18 Soldaten nicht mehr der zivilen Gerichtsbarkeit, wie in der Weimarer Republik, sondern den Militärgerichten. Durch das von der NS-Regierung erlassene Gesetz über die Einführung einer Militärgerichtsorganisation begann der Aufstieg eines Justiz­apparates, der sich fundamental von seinen historischen Vorbildern unterschied. In mehreren Phasen formte sich dieser Justizzweig, der justizielle sowie polizeiliche Kompetenzen vereinte und über Jahre hinweg selbst die Befugnisse der politischen Sondergerichte und des Volksgerichtshofes übertraf. Bis 1939 schuf die Wehrmachtjustiz ihre Grundstruktur: Neben den Gerichten entstand ein Straf- und Vollzugsapparat, bestehend aus Arrestund Festungshaftanstalten sowie Gefängnissen. Zeitgleich arbeiteten Ju- Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016 risten, die in steigender Zahl eingestellt wurden, an Vorschlägen für neue Strafgesetze sowie für ein neues Strafverfahrensrecht. Diese Überlegungen zielten darauf, in einem kommenden Krieg über eine Justiz zu verfügen, die sich ausschließlich an militärischen Belangen orientierte. Insoweit argumentierten die maßgeblichen Akteure bereits mit einem »totalen Krieg«, zu dem Richter durch unverhältnismäßig harte Urteile beizutragen hätten. Diese Ausrichtung bedeutete eine Abkehr von der Praxis des Ersten Weltkrieges. Die Strafjustiz der Jahre 1914 bis 1918 wurde als Negativbeispiel ausgegeben. Sowohl die militärische Führung als auch Vertreter der Justiz attestierten ihr eine Mitschuld an der Niederlage 1918: Gegenüber deutschen Soldaten waren seinerzeit 48 Todesurteile – aus Strafen Die Todesstrafe wurde wegen ihrer als abschreckend einstuften Wirkung als »Rückgrat« des Strafsystems ausgewiesen. Dementsprechend wurde ihre Anwendung zunehmend angeordnet – sich von Jahr zu Jahr nahezu verdoppelnd. Sträflinge konnten zu Arbeiten SZ Photo/Scherl Sicht der Kritiker viel zu wenige – vollstreckt worden. Der Vollzug von Freiheitsstrafen wiederum wurde als nicht abschreckend und stattdessen als Anreiz abgetan, sich durch das Begehen von Straftaten dem Frontdienst zu entziehen. Um derartige Milde in Zukunft zu verhindern, sollte die neue Kriegsjustiz auf weit auslegbare Tatbestände, strenge Strafen sowie ein vereinfachtes Verfahrensrecht zugreifen können. Letzteres sollte insbesondere gewährleisten, dass Prozesse mit großem Tempo vorangetrieben wurden. Auch die personelle Ausstattung der Militärjustiz wurde großzügiger geplant, die Zusammenarbeit mit Polizeiorgani­ sationen ausgebaut und jedes Kriegsgericht motorisiert, um schnelle Ortswechsel zu ermöglichen. So verfügte die Wehrmacht am 1. September 1939 über neue Möglichkeiten, die Rechtsprechung ihrer Gerichte nach Belieben auszuüben und auch bei geringfügigen Anlässen die Todes- oder eine Zuchthausstrafe auszusprechen. Die Zahl der zu verfolgenden Delikte umfasste nunmehr nicht nur klassische militärische Vergehen, wie Fahnenflucht, Befehlsverweigerung oder Wachvergehen, sondern betraf auch Handlungen, die als »seelisch zersetzend« für den Durchhaltewillen der Bevölkerung angesehen wurden. Durch die ab Herbst 1939 erlassenen Kriegsgesetze wurden Tatbestände geschaffen, die jede Form der Unbotmäßigkeit unterdrücken sollten – die »Wehrkraftzersetzung« ist das bekannteste Beispiel. Wenn es dem Interesse der Streitkräfte entsprach, konnten die Militärgerichte auch Verfahren gegen deutsche wie ausländische Zivilisten durch­führen. Von dieser Möglichkeit machte die Wehrmacht in unterschiedlicher Weise Gebrauch. Teilweise gab sie Fälle an deutsche, manchmal auch an landeseigene Strafgerichte besetzter Gebiete ab. Zu einer intensiven Zusammenarbeit kam es ab 1940 mit den Sondergerichten, ab 1941 auch mit dem Volksgerichtshof. 5Guillotine und Strick: In der Hinrichtungsstätte der Untersuchungshaftanstalt PragPankraz wurden die Todesurteile vollstreckt. herangezogen werden, die dem Regime nützlich waren und direkt der Kriegführung dienten. Von Militärgerichten zu Freiheitsstrafen verurteilte Zivilisten behielt die Wehrmacht nur selten in ihren eigenen Haftanstalten, stattdessen wurden sie in der Regel den zivilen deutschen Justizbehörden übergeben. Diese hatten, nach ersten Anläufen im Jahre 1938, zur Jahreswende 1940/41 ihren Strafvollzug zunehmend in den Dienst der Rüstungsindustrie gestellt. Wurden Zivilisten in den besetzten Gebieten verurteilt, konnten kürzere Freiheitsstrafen dort vollstreckt werden, um auf­wendige Transporte ins Reichsgebiet zu vermeiden. Der Vollzug von Freiheitsstrafen für Wehrmachtangehörige gestaltete sich unterschiedlich: Zuchthausstrafen führten stets zu einer Entlassung aus den Streitkräften. Die Verurteilten verloren ihre Hoheits- und Rangabzeichen und wurden und an die zivile Justiz in Deutschland übergeben. Als »ehrlose Zuchthäusler«, die nicht mehr ihrer Wehrpflicht genügten, wurde ihr Überleben auf ein nutzbringendes Minimum reduziert. Als besondere Strafschärfung erfolgte statt der Einweisung in ein reguläres Zuchthaus zumeist eine Inhaftierung unter entwürdigenden Bedingungen in einem Straflager. Dort waren die Gefangenen in um- zäunten Baracken zusammengepfercht und mussten harte Zwangsarbeit leisten. Als Zeichen ihrer »schweren Schuld« wurden ihnen die Köpfe kahlrasiert. Die auszehrenden Arbeiten bestanden etwa im Trockenlegen von Mooren oder im Zerkleinern von Steinen. Wie in einem Konzentrationslager wurden hier als loyale Unterstützer der Wachleute Häftlinge mit einer kriminellen Vergangenheit eingesetzt, die ihre Mithäftlinge gegen Vergünstigungen zusätzlich überwachten und schikanierten. Der Alltag in einem Wehrmachtgefängnis war zwar ebenfalls auf harte Arbeit und schikanösen Drill ausgelegt, galt aber als, verglichen mit dem Zuchthaus, mildere Strafe. 1940 existierten acht Haftanstalten auf dem Gebiet des Deutschen Reiches; im Laufe des Krieges folgten noch etliche »Kriegswehrmachtgefängnisse« in den besetzten Gebieten unter der Gewalt lokaler Wehrmachtbefehlshaber sowie der Heeresgruppen. Diese im Ausland befindlichen Anstalten dienten sowohl als Anlaufstelle für die Weiterleitung von Häftlingen ins Reich als auch zur Vollstreckung von Freiheitsstrafen von nur wenigen Monaten. Die Wehrmacht hatte ihren Haftanstalten eine Struktur gegeben, die einer militärischen Einheit ähnelte: Die Einteilung der Häftlinge erfolgte kompa- Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016 19 Strafvollzug der Wehrmacht Ab 1941: Bewährungsbataillone Diese, als »Bewährungstruppe 500« bekannte Erweiterung des Vollzuges entstand unter dem Eindruck steigender Personalverluste und sollte Tausende von Verurteilten für Kampfeinsätze nutzbar machen. Abgesehen von Unteroffizieren und Offizieren, die man aufgrund ihrer Vorgesetzteneigenschaft nicht zu einer Fronteinheit kommandieren konnte, weil der Strafmakel Anlass zu Ungehorsam geboten hätte, erschlossen sich so noch zehntausende weitere Häftlinge zum direkten Kampf­einsatz: Die Wehrmacht löste über diese Sondereinheiten auch das Problem von Häftlingen, die nicht zu einer Gefängnis-, sondern zu einer Zuchthausstrafe verurteilt worden waren. Zu den Sondereinheiten konnten nämlich auch jene versetzt werden, die wegen der Verurteilung als »wehrunwürdig« galten – insbesondere »Zuchthäusler«. Bereits ab Juni 1941 wurden diese Bewährungseinheiten an der Ostfront eingesetzt. Mindestens bis 1943 wurde dort von den Kommandeuren ihr »Kampfwert« als hoch eingeschätzt – weil insbesondere die verurteilten Offiziere, Feldwebel und Unteroffiziere durch den Anreiz, Strafmilderung zu erhalten oder gar ihren Eintrag im Strafregister zu tilgen, besonders motiviert kämpften. Die Aufstellung bewaffneter Häftlingsbataillone war die Weiterentwicklung ähnlicher Vorläufer aus dem Ersten Weltkrieg. Anfang 1918 hatten die bpk nie- und zugweise; den Wachtmeisterdienst versahen Unteroffiziere des Heeres. Im Gegensatz zu den zivilen Gefängnissen waren sie nur selten den Produktionsstandorten der Rüstungsindustrie angegliedert. Die tägliche Arbeit umfasste dennoch schwere körperliche Tätigkeiten, wie etwa Kohlen­ schaufeln. Nachmittags war infanteristische Grundausbildung befohlen. Für die Inhaftierten war grundsätzlich eine Teilverbüßung der Strafe und eine anschließende gnadenweise Aussetzung zugunsten eines Einsatzes in einer Kampfeinheit vorgesehen. Diese »Strafaussetzung zur Bewährung« war anfangs, 1939 bis 1941, nur fragmentarisch durch eine bei Kriegsbeginn gewährte Amnestie geregelt und folgte einem groben Schema: Nach monatelangem harten Vollzug sollten die Delinquenten besondere Tapferkeit an einer Front unter Beweis stellen, um dadurch einen gnadenweisen Erlass der (Rest-)Strafe zu erreichen. Gefangene hingegen, die als renitent und »unbelehrbar« eingestuft wurden, sollten statt einer Bewährung in eine Straflagerkompanie überstellt werden, die jedem Wehrmachtgefängnis angegliedert war, wo sie ohne Aussicht auf Abmilderung der Bedingungen zu schwersten Arbeiten herangezogen wurden, wie in den (Zuchthaus-) Straflagern der zivilen Justizverwaltung. Diese Behandlung wurde erst im Frühjahr 1941 grundlegend verändert, als es zur Errichtung von Bewährungsbataillonen kam. österreichisch-ungarischen Streitkräfte Tausende von als unzuverlässig gel­ tenden sowie gerichtlich verurteilten Armeeangehörigen in Arbeitskommandos zusammengefasst, um sie im Frontbereich zu Schanzarbeiten heranzuziehen. Das Prinzip der Bewährungsbataillone wurde zunehmend zum wesent­ lichen Faktor des militärischen Strafvollzuges. Neben den Sonder­kampf­einheiten mit ihren »Bewäh­rungs­schüt­ zen« traten ab Frühjahr 1942 weitere Sonderbataillone: Als bewegliche Heeresgefängnisse wurden Feld-Straflager und Feld-Strafgefangenenabteilungen aufgestellt. In ihnen fand zunehmend der Strafvollzug der verurteilten Soldaten statt. Die Straflager waren dabei für Häftlinge vorgesehen, die als »unbelehrbar« eingestuft wurden. Für sie waren nicht nur besonders harte und gefährliche Arbeitseinsätze vorgesehen, sondern sie wurden auch an extrem unwirtlichen Teilen der Ostfront ein­ gesetzt, wie etwa im nördlichen Norwegen. Für die Feld-Straflager ist nachgewiesen, dass es immer wieder Misshandlungen durch das Wachpersonal gab; auch kleinere Vergehen wurden in der Regel standgerichtlich ab­ geurteilt und mit der Todesstrafe sanktioniert. Gefangene, welche die dortigen Torturen überlebten, wurden nach sechs Monaten entweder als »unverbesserlich« in ein Konzentrationslager überstellt, wo sie als sogenannte unerziehbare Wehrfeinde »ausgemerzt« werden sollten, oder sie gelangten in den Vollzug einer Feld-Strafgefangenenabteilung, wo gegebenenfalls eine Aussetzung der Strafe zwecks Einsatz in einem Bewährungsbataillon angeordnet werden konnte. Alle StrafSonderverbände wurden wie die Be­ wäh­rungs­truppe an der Ostfront eingesetzt. 1942‑1944: Verschärfung Durch die steigende Konzentration der Gefangenen in Verbänden veränderte sich der militärische Strafvollzug ab 1942 zunehmend. Die Gefängnisse wurden immer mehr zu Drehscheiben für die Weiterleitung an die verschiedenen Strafabteilungen an der Front. Dort wurden nur noch die Untersuchungshaft durchgeführt, kurze Strafen verbüßt sowie insbesondere Häft5Reichsarbeitsdienst-Lager Esterwegen am Fullener Moor. 20 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016 ten Ersatz für die Bewährungsbataillone 999. Zunehmend wurden außerdem Gefangene aus dem Bereich der zivilen Justiz angefordert. Obwohl das Justizministerium darauf verwies, dass der erhebliche Teil der von Häftlingen ausgeführten Arbeiten besonders kriegswichtigen Rüstungsprogrammen diente, erzwang Himmler die Überstellung tausender Häftlinge aus den Haftanstalten des Reichsjustizministeriums für militärische Strafeinheiten. Zugleich erfolgte die Erweiterung der Bewährungstruppe 500 um weitere Einheiten, die – allerdings unter gänzlichen anderen Nummerierungen – nunmehr auch an der Westfront eingesetzt wurden. Dorthin gelangten nicht mehr nur Verurteilte, sondern sogar Untersuchungsgefangene, deren Prozess noch ausstand. Nachdem bereits in den vorherigen Kriegsjahren auch zunehmend Todesurteile gnadenhalber in Freiheitsstrafen mit möglicher Bewährung umgewandelt worden waren, trat 1944 eine weitere Form des Strafvollzuges hinzu: Nunmehr konnten Todesstrafen vorübergehend ausgesetzt werden. Die Delinquenten musste für drei Monate in einem Bewährungsbataillon »Bewährungswillen« zeigen, um anschließend entweder begnadigt oder hingerichtet zu werden. Zusammenbruch Die letzten Monate des Krieges waren durch stetige Überprüfungen sämtlicher Haftorte geprägt, um jeden Gefangenen auf seine Be­wäh­rungs­tauglich­ keit hin zu überprüfen. Zugleich erfolgte die Aussetzung von Urteilen der Militärgerichte, die auf eine Freiheitsstrafe lauteten, in der Regel sofort zum Zwecke der Bewährung, sodass selbst auf eine Teilverbüßung der Freiheitsstrafe verzichtet wurde. Die sogenannte Auskämmung der Haftanstalten nach wehrfähigen Insassen steigerte sich in den letzten Kriegswochen zur Groteske. Befördert durch Hoffnungen der NS-Führung, man könne mit Bestraften noch Massenheere personell auffüllen, wurden auch gänzlich Hinfällige sowie Untaugliche uniformiert und bewaffnet. Ein Zeitzeuge beschrieb einen Eindruck solcher Strafsoldaten, die in diesem Fall aus einem Arbeitslager in der Papenburger Moorlandschaft kamen: »Ein großer Teil dieser Leute erkrankte schon bei den ersten Ausmärschen. Die ullstein bild – Archiv Gerstenberg linge mit Unteroffiziers- oder Offi­ ziersrang inhaftiert. Außerdem ent­ standen auf der Ebene von Divisionen teilweise eigene Vollzugsformen: sogenannte Strafvollstreckungszüge. Sie wurden vor allem dort eingerichtet, wo es keine Wehrmachthaftanstalten in der Nähe gab und wo auch keine Strafoder Bewährungsbataillone eingesetzt waren. So fungierten etwa die Strafvollstreckungszüge an der italienischen Front als Straf- und Bewährungsverbände eigener Art: Die Gefangenen wurden teilweise unbewaffnet zu Arbeiten herangezogen; es kamen aber auch Kampfeinsätze mit Infanteriebewaffnung in Betracht. Um ausreichende Kampfstärken zu erreichen, wurden Verurteilte auch aus dem eigenen Divisionsbereich heraus an benachbarte Vollstreckungszüge überstellt. Daneben wurden zunehmend auch in den anderen Wehrmachtteilen Sonderformationen für Inhaftierte sowie zur Bewährung aufgestellt. Die Kriegsmarine unterhielt beispielsweise eigene kleine Bewährungseinheiten im Ostseeraum, die allerdings rein infanteristisch eingesetzt wurden. Das Reichsjustizministerium sowie die zum Teil von diesem unabhängig existierenden Justizverwaltungen deutscher Zivilkommissariate im besetzten Ausland überstellten zunehmend auch verurteilte reichs- und volksdeutsche Zivilisten an die Wehrmacht, um den personellen Bedarf der Bewährungseinheiten zu bedienen. Dabei gelangten deutsche Zivilisten mit Gefängnisstrafen in die Bewährungstruppe 500, während für Zuchthausgefangene eine eigene Formation aufgestellt wurde, zunächst als »Afrika-Brigade 999«, später allgemein als Bewährungsbataillon 999 bezeichnet. Schließlich wurden selbst ausländische Wehrmachtsfreiwillige, die Haftstrafen verbüßten, regelrecht angehalten, sich für Bewährungseinsätze zu melden. Ab Sommer 1944 kam es schließlich zu einer weiteren starken Veränderung des militärischen Strafvollzugsystems. Infolge seiner Ernennung zum Befehlshaber des Ersatzheeres übernahm Heinrich Himmler auch die Befehlsgewalt über die Wehrmachtgefängnisse. Zunehmend wurden nun verurteilte Wehrmachtangehörige sogenannten SS-Bewährungsformationen überstellt. Insbesondere die »Sturmbrigade Dirlewanger« übernahm ab Herbst 1944 tausende Inhaftierte sowie den gesam- 5Zwei Soldaten des Bewährungsbataillons 999 während ihrer Ausbildung in Belgien, 1942. Ihre Uniformen bestehen zum Teil aus holländischer Beute. meisten hatten Wassersucht, dick geschwollene Beine und Bäuche, während sie im Übrigen buchstäblich nur mit Haut überspannte Skelette waren. Selbst die Ärzte erschauerten beim Anblick dieser ›Moorgerippe‹ [...] Die Vorstellung, dass Hitler mit solchen Leuten noch den Krieg gewinnen wollte, erschien uns allen grotesk und gespenstisch.« Die letzten Bewährungsbataillone und Gefangenenabteilungen wurden im April 1945 aufgerieben. Die Zahl der dort zu Tode Gekommenen ist unbekannt und wird vermutlich nie aufgeklärt werden können. Gesichert ist hingegen, dass die Militärjustiz rund 400 000 Gefängnis- und mehrere zehntausend Zuchthausstrafen aussprach – gegen Soldaten wie gegen Zivilisten. Peter Lutz Kalmbach Literaturtipps Manfred Messerschmidt, Die Wehrmachtjustiz 1933‑1945, Paderborn u.a. 2005. Ulrich Baumann und Magnus Koch (Hrsg.), »Was damals Recht war ...«. Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht, Berlin 2008. Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016 21 D ullstein bild-S Service Das historische Stichwort The American Way 1917: Wilson zwischen Isolationismus, Imperialismus und Idealismus nal gespalten, nicht zuletzt deswegen, weil im US-amerikanischen »melting pot« sowohl deutsche Einwohner als auch jene aus den Entente-Ländern dicht nebeneinander lebten. US-Präsident Woodrow Wilson musste Überzeugungsarbeit leisten, um die USA aus ihrer Grundhaltung des Isolationismus zu lösen. Dieser basierte im Wesentlichen auf der Monroe-Doktrin von 1823, als der damalige Präsident James Monroe die Nichteinmischung der USA in europäische Angelegenheiten als außenpolitische Maxime formulierte. Diese Doktrin harmonisierte zunächst mit der Idee des »Manifest Destiny«, die sich seit den 1840er Jahren ausbreitete. Das »Manifest Destiny« beinhaltet, dass die neuamerikanischen Bevölkerungen dazu verpflichtet seien, ihre Ideen von Freiheit und Demokratie auf weniger privilegierte Nachbarn, also zum Beispiel die indigene Bevölkerung der USA im Westen des nordamerikanischen Kontinents, auszudehnen. Dies wurde nicht als Eroberung, sondern als Zivilisierung verstanden. Das »Manifest Destiny« bietet als Teil des US-amerikanischen Gründungsmythos wichtige Hinweise darauf, wie sich die USA im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert als Nation selbst verstanden. Die außenpolitische Doktrin Monroes und der innenpolitische Gründungsmythos des »Manifest Destiny« bildeten bis zum Ersten Weltkrieg keinen Widerspruch. Dies änderte sich jedoch in und mit der Aufforderung Wilsons in seiner Rede vor dem US-amerikanischen Kongress am 2. April 1917, dem Kriegseintritt der bpk ie Kriegserklärung der USA an das Deutsche Reich am 6. April 1917 erscheint vielen als Konsequenz einer sich fortwährend verschlechternden Stimmung zwischen den zwei Staaten seit Februar 1915, als der uneingeschränkte U-Bootkrieg der Deutschen erste negative Auswirkungen auf den US-amerikanischen Seehandel hatte. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die Entwicklung der Beziehungen komplexer verlief. Denn bereits im Mai 1915, nach der Versenkung des Passagierdampfers »Lusitania«, schränkte die deutsche Führung den U-Bootkrieg wieder ein. Die Stimmung in den USA war auch 1915 alles andere als eindeutig für oder gegen die Kriegserklärung an das Deutsche Reich. Vielmehr war die Bevölkerung in dieser Frage tief emotio- 5Washington D.C., vor dem Kongressgebäude, April 1917: US-Präsident Wilson hält eine Rede an die Menge. 22 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016 Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898 bereits gegeben. Umso wichtiger war nun die idealistische, anti-imperiale Haltung Wilsons in dem Sinne, dass er öffentlich jeden Eroberungswillen ablehnte. Die Neutralität der USA, sprich ihr Isolationismus, sei angesichts der Bedrohung des Weltfriedens und der Freiheit der Bevölkerungen, nicht länger möglich, so Wilson. Den Kriegseintrittplänen des Präsidenten half, dass das Deutsche Rreich im Januar 1917 den uneingeschränkten U‑Bootkrieg wieder aufgenommen und mit dem sogenannten Zimmermann-Telegramm viele Sympathien in den USA verspielt hatte. Der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Arthur Zimmermann, hatte leichtfertig versucht, Mexiko als Bündnispartner gegen die USA zu gewinnen und den Mexikanern dafür ihre im Mexikanisch-Amerikanischen Krieg von 1848 an die USA verlorenen Gebiete angeboten. Diese Depesche war abgefangen worden, Wilson nahm in seiner Rede direkten Bezug darauf. Für Wilson stellte der Isolationismus also nicht länger eine politische Handlungsoption dar. Erklärtes Kriegsziel war die Implementierung seiner politischen Vorstellungen im von Krieg gebeutelten Europa. Hier sprach der Idealist Wilson, der sich auch in seiner Rede immer wieder gegen imperialistische Bestrebungen der »preußischen« Gegner wendete. Dass diese Rede letztlich den Grundstein für die US-amerikanisches Außenpolitik im 20. und 21. Jahrhundert legen würde, die durchaus als imperialistische Sicherung von Einflusssphären angesehen werden kann, hat Wilson sicher nicht im Sinn gehabt. Er war der tiefsten Überzeugung, dass dieser Weltkrieg ein »War That Will End War« sein würde, wie der Schriftsteller H.G. Wells 1912 titelte. Dass Wilsons Auffassung von der Universalität »US-amerikanischer« Werte wie Freiheit und Demokratie durch das Bedürfnis nach nationaler Sicherheit und Prosperität geprägt war und auf Werten einer christlich geprägten, weißen Ostküstenoberschicht beruhte, stand 1917 nicht im Widerspruch zu seinem Idealismus. Mit seinem am 18. Januar 1918 verkündeten 14-Punkte-Programm, das die Grundlage für die Gründung eines Völkerbundes bilden sollte, gilt Wilson als ein Mitbegründer der wissenschaftlichen Disziplin der Internationalen bpk USA zuzustimmen. Darin wird deutlich, dass Wilson das ursprünglich innenpolitische Konzept des »Manifest Destiny« auf die US-amerikanische Außenpolitik übertrug: »The world must be made safe for democracy. Its peace must be planted upon the tested foundations of political liberty. We have no selfish ends to serve. We desire no conquest, no dominion.« Wilson betonte nicht nur seine missionarische Überzeugung als Überbringer von Freiheit und Demokratie auf der Basis politischer Freiheit, sondern auch, dass die Kriegsbeteiligung der USA allen Ansprüchen eines gerechten Kriegs genügen würde, da der Krieg nicht aus Selbstsucht und Eroberungswillen geführt werde. Hier finden sich bereits in Grundzügen die Ideen der »responsibility to protect«, die stark von den christlichen Werten der damaligen politischen Eliten und dem Missionsgedanken geleitet waren. Im weiteren Verlauf seiner Rede hob Wilson hervor, dass sich dieser Krieg der USA nicht gegen die deutsche Bevölkerung richte, sondern allein gegen das autokratische System Preußens. Damit versuchte er gleichzeitig, die Vorurteile und Verdächtigungen, die sich nun gegen die deutschstämmige Bevölkerung in den USA richteten, zu entschärfen. Neben der isolationistischen Grundhaltung eines Teils der Bevölkerung bestand eine zweite Schwierigkeit für Wilsons Kriegseintrittpläne darin, die US-Amerikaner als Angehörige einer gemeinsamen Nation und nicht primär als französisch-stämmige, deutschstäm­mige oder russisch-stämmige Einwohner anzusprechen. Hier hatte das nationalistische 19. Jahrhun­dert zwar bereits erste Einigungstendenzen hervorgebracht, doch erinnerte der europäische Krieg die US-amerikanischen Bevölkerungsgruppen wieder an ihre unterschiedliche Herkunft. Der Krieg war also bereits vor 1917 in den USA ein wichtiges Thema. Vor allem um daraus resultierende innenpolitische Konflikte zu vermeiden, hatte Wilson noch bis zum Februar 1917 auf der Neutralität der USA bestanden. Um weitere innenpolitische Debatten zu unterbinden, musste Wilson auch denjenigen den Wind aus den Segeln nehmen, die jegliche Einmischung in die Angelegenheiten anderer Länder als Imperialismus ansahen und daher ablehnten. Eine solche Diskussion hatte es im Anschluss an den 5Woodrow Wilson (1856‑1924), der 28. US-Präsident (1913‑1921) an seinem Schreibtisch, 1918. Beziehungen sowie als Vertreter des Idealismus – in Abgrenzung zum Realismus. Wilsons Denken beruhte damit zum einen auf der Erwartung des Philosophen Immanuel Kant, dass Demokratien eher zum Frieden tendierten als autokratische Systeme, und zum anderen auf der Annahme, dass die Institutionalisierung von Beziehungen zwischen Demokratien – z. B. durch einen Völkerbund – die gewaltsamen Konflikte zwischen Staaten überwinden könne. Er erkannte darüber hinaus, dass die neue Stärke der USA nach dem Niedergang des Britischen Empire auch eine neue Verantwortung für diese mit sich brachte. Die USA lösten im Zuge des Ersten Weltkriegs die Briten von ihrer Vormachtstellung auf wirtschaftlichem, militärischen, technischen und ideologischen Gebiet ab und übernahmen damit die Rolle, die sie bis heute innehaben. Wilson wollte die Macht der Nationalstaaten und der zwischenstaatlichen Kriege mit der Schaffung des Völkerbunds einhegen: »There must be, not a balance of power, but a community of power; not organized rivalries, but an organized common peace.« Aber obgleich der Idealismus Wilsons letztlich an der realen Politik scheiterte und auf den Ersten ein Zweiter Weltkrieg folgte, wurde mit der Gründung der Vereinten Nationen 1945 an seine Ideen angeknüpft. Die ursprüngliche Idee des ­»Manifest Destiny« ist dabei erhalten geblieben. Maja Bächler Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016 23 Service Neue Medien Erster Weltkrieg Z ugegeben, in den letzten drei Jahren kam man kaum am Ersten Weltkrieg vorbei. Überall wimmelte es von neuen Büchern und Zeitschriften, von Filmen und Internetportalen, von Comics und Fernsehsendungen, die jeden Aspekt des Krieges ausgeleuchtet haben sollten. Und dennoch gibt es immer noch etwas zu entdecken, das sich zu entdecken lohnt: Der YouTubeChannel »The Great War« veröffentlicht jede Woche eine neue Episode, die den Ersten Weltkrieg in jener Woche vor 100 Jahren nachverfolgt. Die Beiträge decken alle wichtigen militärische und politische Ereignisse ab, erklären Zusammenhänge und Hintergründe. Dazu werden Originalvideos aus dem Archiv von Pathé-Film, Fotografien und eigens produzierte Karten und Grafiken eingesetzt. Moderiert wird die Sendung von Indiana Neidell, dem es – gemeinsam mit dem Team hinter den Kulissen – gelingt, auch komplizierte Themen informativ und unterhaltsam zu gestalten. Neben der wöchentlichen Episode werden in Spezialausgaben auch einzelne Aspekte YouTube-Kanal »The Great War Channel«, https://www. youtube.com/user/TheGreatWar wie Uniformen, Waffen und Kuriositäten aus dem Krieg vorgestellt. Übrigens: Wer nicht mehr die Zeit hat, sich alle Videos anzusehen, um jetzt noch einzusteigen, kann auf die sogenannten Recaps zugreifen. Hier sind die Ereignisse mehrerer Monate in etwa siebenminütigen Videos nochmals zusammengefasst. Der Kanal zeichnet sich durch eine außergewöhnlich starke Einbindung von Zuschauerinteressen aus: In der Serie »Out of the Trenches« beantwortet Neidell regelmäßig eingesandte 24 Fragen, dazu gibt es auch über Facebook, Twitter und Instagram die Möglichkeit, mit den Machern in Kontakt zu treten, und bei Reddit diskutieren die mittlerweile mehr als 450 000 Abonnenten über die einzelnen Episoden hinaus über die Ereignisse des Krieges, ihre Familiengeschichten und ihr In­ teresse an den Geschehnissen vor 100 Jahren. Leider wird der Kanal seit 2015 nur noch auf Englisch produziert. Doch die etwa 100 Videos des deutschen Ablegers »Der Erste Weltkrieg» sind natürlich weiterhin verfügbar. fh ! Comics & Graphic Novels Rechtsextremismus D ie Neonazi-Szene bildete sich in den 1980er Jahren in Westdeutschland aus. Waren bis dahin sogenannte Alt-Nazis in rechtsextremen Parteien und Gruppierungen bestimmend gewesen, fand nun ein Generationenwechsel statt: Junge Männer ohne eigene Erfahrung oder Erinnerung an die NS-Zeit eigneten sich deren Parolen und Ideen an. Die Neonazis zeichneten sich auch von Beginn an durch ein erhöhtes Gewaltpotenzial aus. Eine der Hochburgen der Neonazis ist bis heute Dortmund-Dorstfeld – einst geprägt durch Bergbau, nach dessen Ende perspektivlos geworden. Hier wächst Nils Overkamp in den 1980er Jahren auf und hier spielt auch die Geschichte, die er in seinem autobiografischen Comic »Drei Steine« erzählt. Als 13-jähriger Schüler beobachtet Nils, wie an seiner Schule junge Männer von Alt-Nazis für ihre Ideen begeistert werden; bald werben Jungen aus seiner Klasse für die neonazistische »Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei« (FAP) und grölen rechtsex­ treme Parolen im Unterricht. Nils bietet Nils Oskamp, Drei Steine, Stuttgart 2016. ISBN 978-395798-646-7; 144 S., 19,99 Euro Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016 ihnen Paroli und muss bald um sein Leben fürchten. Der Titel »Drei Steine« bezieht sich auf die jüdische Tradition, als Zeichen des Gedenkens kleine Steine auf Grabsteine zu legen. Drei solcher Steine steckt sich Nils eher beiläufig in die Hosentasche, als er auf dem Nachhauseweg an einem von Neonazis verwüsteten jüdischen Friedhof vorbeifährt und die zerstörten Grabstätten besucht. Diese drei Steine begleiten ihn auf seinem Kampf gegen die Neonazis und stehen sinnbildlich für Nils‘ eigenen Umgang mit Gewaltanwendung. Das Comic zeichnet sich durch seine klare, ohne Umschweifen und Schönrederei erzählte Botschaft aus: dem Rechtsextremismus keinen Platz einräumen, Zivilcourage zeigen, selbst nicht zum Täter werden. Das Thema ist leider immer noch hochaktuell, die rechtsextreme Gewalt hat seit Nils‘ Jugend nicht nachgelassen, wie ein dem Comic beigefügter Aufsatz deutlich macht. Daher eignet sich das Comic insbesondere für den Einsatz im Schul­ unterricht. Hierzu können über die Seite www.dreisteine.com pädagogische Begleitmaterialien und Hintergrundinformationen abgerufen werden fh Soldat Schwejk/Švejk J neue osef Schwejk ist ein rheumatischer Kerl, der im multikulturell geprägten Prag der Habsburgermonarchie Hunde mit gefälschten Stammbäumen verkauft. Als 1914 der Krieg beginnt, wird er wegen defätistischer Aussagen festgenommen und für irre erklärt. Dem Militärdienst entgeht er so zwar nicht, doch mit seiner Mischung aus Bauernschläue und Blödheit gelingt es ihm, eine vergleichsweise angenehme Stellung als Offiziersdiener zu erhalten. Als solcher führt Schwejk seinen ganz eigenen Kleinkrieg gegen den bürokratischen Irrsinn und die Willkür des k.u.k.-Militärapparats. Sein stumpf-pedantisches Ausführen von Be­fehlen, seine einfältige Korrektheit und sein übertriebener Gehorsam treiben alle um ihn herum zur Weißglut, entlarven schließlich die Sinnlosigkeit des Krieges und entblößen das Militär in seiner Lächerlichkeit. Jaroslav Hašek, Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk. Lesung mit Helmut Qualtinger, Berlin 2016. ISBN 978-3-86231-733-2; 1 Audio-CD, ca. 4 h 44 min, 10 Euro In der Tradition des Schelmenromans schilderte der Prager Autor und Satiriker Jaroslav Hašek die »Geschichte des braven Soldaten Schwejk« und schuf damit einen Klassiker der Nachkriegsliteratur. Hašek, geboren 1883, diente im Ersten Weltkrieg selbst in einem Infanterieregiment an der Ostfront, geriet in russische Gefangenschaft und wechselte die Seiten. Er wurde »Politarbeiter« und Mitglied der Kommunistischen Partei Russlands. Nach seiner Rückkehr 1920 nach Prag begann er die Niederschrift des »Soldaten Schwejk«. Dieser wurde zunächst als Fortsetzungsroman für wenig Geld in Gasthäusern verkauft; die letzten Teile allerdings blieb Hašek seinen Lesern schuldig: Er starb 1932 im Alter von 39 Jahren an Tuberkulose. Trotzdem wurde der unvollendete Roman zu einem Welterfolg: Zahlreichen Übersetzungen folgten Bühnen­ adaptionen und später Verfilmungen, u.a. mit Heinz Rühmann und Fritz Muliar. Auch der österreichische Kabarettist Helmut Qualtinger hat sich mit dem Text auseinandergesetzt: Seine Version des »Schwejk« las er 1982 für den Bayerischen Rundfunk ein. Jetzt erscheint sie in gekürzter Fassung auf Audio-CD in der Reihe »Große Werken – Große Stimmen« des Deutschen Audioverlages. Qualtinger setzt die klassische deutsche Übersetzung von Grete Reiner aus dem Jahre 1926 meisterhaft um. Seine Figuren sprechen einmal viel zu schnell, einmal hoch, gerne versoffen, schnoddrig, nuschelnd. Die szenenhafte Anlage des Romans, der nicht unbedingt immer einer stringenten Handlung folgt, kommt dem Hörbuch zugute: So lassen sich einzelne Episoden auch wunderbar einzeln hören – bei einer Gesamtlaufzeit von mehr als viereinhalb Stunden durchaus zu empfehlen. Der böhmisch-deutsche Dialekt, den Grete Reiner den Figuren in den Mund legte, gibt dem Text eine ganz eigene Note. Bertolt Brecht fand ihn urkomisch und setzte ihn mit »Schweyk im Zweiten Weltkrieg« fort. Kurt Tucholsky hingegen bezeichnete die Übersetzung als »unmöglich«. Tatsächlich ist sie sehr weit weg vom tschechischen Original, weswegen der deutsch-tschechische Dichter Antonín Brousek das Buch neu übersetzte und mit einem Anhang versah. Dieser erklärt u.a. Ortsnamen und militärische Fachbegriffe des Ersten Weltkrieges. Die Neuausgabe ist nicht minder erschreckend-komisch, macht aber bereits im Titel die Unterschiede deutlich: Aus dem »braven Soldaten Schwejk« wird »der gute Soldat Švejk im Weltkrieg«. Ob nun zum Hören oder zum Lesen: Beide Neuerscheinungen laden zur Entdeckung oder zur neuerlichen Auseinandersetzung mit dem unvergleichlichen »Soldaten Schwejk/Švejk« aus dem untergegangenen Vielvölkerreich ein. Sie sorgen dafür, dass der Roman auch nach beinahe hundert Jahren nicht in Vergessenheit geraten wird, und machen deutlich, dass Figuren wie der Feldkurat Katz, der Oberleutnant Lukáš oder der Geheimpolizist Bretschneider letztlich überzeitliche Phänomene sind. fh/hp Jaroslav Hašek, Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg. Neuübersetzung, Stuttgart 2016. ISBN 978-3-15-020411-5; 1008 S., 18,95 Euro Lebensläufe W o finden sich zuverlässige Informationen zu Personen der deutschen Geschichte? Die Bayerische Akademie der Wissenschaften gab von 1875 bis 1912 die Allgemeine Deutsche Biographie (ADB) in 55 Bänden nebst Register heraus. Seit 1953 erscheint in diesem Hause die Neue Deutsche Biographie (NDB). Sie wird immer wieder aktualisiert und umfasst 25 Bände. Beide Werke, die ADB und die NDB, sind inzwischen auch unter dem Namen Deutsche Biographie online verfügbar. Sie verzeichnen insgesamt ca. 93 000 Personen. Zudem ist die Seite mit Personenangaben aus einschlägigen Forschungsinstitutionen angereichert worden. Somit kann auf die Deutsche Nationalbibliothek, das Bundesarchiv, das Deutsche Literaturarchiv, das Deutsche Museum, das Deutsche Rundfunkarchiv u.v.a. zugegriffen werden. hp www.ndb.badw-muenchen.de Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016 25 Service Lesetipp Jugend erforscht Geschichte Barock »Projekt« Europa J W T ugendliche für Geschichte zu begeistern ist manchmal schwierig. Wie es gelingen kann, zeigt ein regionales Projekt aus Freiburg im Breisgau: Über Jahre hinweg haben Schülerinnen und Schüler Biografien von Menschen, die selbst als Kinder und Jugendliche in der Region der Verfolgung durch die Nazis ausgesetzt waren, recherchiert. Die Jugendlichen fahndeten nach Zeitzeugen sowie in Archiven und stellten eine beeindruckende Ausstellung auf die Beine, die nun als Katalog veröffentlicht wurde. Unter den porträtierten Personen befindet sich beispielsweise Feldwebel Erwin Dold, der als Jagdflieger 1943 abgeschossen und verwundet wurde. Danach wurde er als Wachmann in zwei KZ-Außenlagern eingesetzt und der SS unterstellt. Als Lagerkommandant ab März 1945 nutzte Dold seine begrenzte Macht, um die Gefangenen bis zur Befreiung vor Übergriffen zu schützen. Kurt Lion (geb. 1926) wurde 1940 wegen seiner jüdischen Herkunft in ein Lager in Frankreich deportiert und schloss sich nach geglückter Flucht der Résistance an. Nach der Landung der Alliierten in der Normandie wurde er 1944 als Unteroffizier in die »Free French Airforce« aufgenommen. Anton Reinhardt (geb. 1927), als Sinto mehrfach verhaftet und von Zwangssterilisierung bedroht, gelang zwar 1944 die Flucht in die Schweiz, doch nach Ablehnung seines Asylantrags wurde er nach Deutschland abgeschoben. Erneut gelang ihm die Flucht aus einem Lager, bevor er im März 1945 von einer Volkssturmeinheit aufgegriffen und als Deserteur standrechtlich zum Tode verurteilt und erschossen wurde. Die Täter wurden Ende der 1950er Jahre zunächst zu Haftstrafen verurteilt, das Urteil aber in zweiter Instanz aufgehoben und zur Bewährung ausgesetzt. Die Forschungsleistung der Freiburger Schüler wirft so auch ein erschreckendes Licht auf die Justiz der Bundesrepublik in den Nachkriegsjahren. ks ussten meine Großeltern bei ihrer Hochzeit im Jahre 1930, dass sie in gerade in einer Zwischenkriegszeit bzw. im Zeitalter der Weltkriege lebten? Nein, denn Epochen werden erst im Nachhinein erstellt und benannt. Nämliches galt für die Zeit zwischen 1580 und 1770, die wir heute als Barock bezeichnen. Das vorzustellende Buch, ein Ausstellungskatalog, widmet sich dieser Epoche in sieben Abschnitten: Was ist Barock?, Raum, Körper, Wissen, Glaube, Ordnung und Zeit. Militärisch sind vom Ausgang des 16. bis zum 18. Jahrhundert eine ganze Reihe von Entwicklungen zu beobachten, die natürlich nicht von gesellschaftlichen Prozessen abgekoppelt betrachtet werden können: Aus den nur in Kriegszeiten angeworbenen Armeen wurden stehende Heere; die Möglichkeit, etwas »von der Pike auf« zu lernen, war durch das Steinschlossgewehres mit Bajonett nicht mehr gegeben. Festungsbau, Lineartaktik, Exerzieren und Kriegskunst folgten geometrischen Regeln, die zu einem beherrschenden Teil der Epoche wurden, so etwa bei Residenzen, Gärten und Tänzen. Die »neu« entdeckten Kontinente erforderten militärisches Engagement zu Lande und zu See. An militärischen Konflikten herrschte kein Mangel, da­ runter der Dreißigjährige Krieg, der Spanische Erbfolgekrieg, der Nor­ dische Krieg und der Siebenjährige Krieg. Sie spiegelten sich in den zeitgenössischen Drucken, Flugblättern und Büchern wider. Die Wissenschaft schließlich leistete auch hier ihre Beiträge, mit Isaac Newtons Erkenntnissen zur Schwerkraft ließen sich die Flugbahnen von Kanonenkugeln und Granaten berechnen. Davon erzählt das vorliegende Buch und macht die skizzierten Entwicklungen anhand der Objektfotos sehr anschaulich. Meine Großeltern hätten es sicher gerne mit mir durchblättert. hp Monika Rappenecker (Hrsg.), Nazi-Terror gegen Jugendliche. Verfolgung, Deportation und Gegenwehr in der Region Freiburg, UbstadtWeiher 2016. ISBN 978-389735-917-8; 319 Seiten mit 365 Abbildungen, 24,80 Euro 26 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016 Alfried Wieczorek, Christoph Lind und Uta Coburger (Hrsg.), Barock. Nur schöner Schein?, Regensburg 2016. ISBN 978-37954-3111-2; 232 S., 34,95 Euro o Hell and Back – so beschreibt der renommierte britische Historiker Ian Kershaw die Geschichte Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es ist eine Epoche, die von Krieg bestimmt war und in der Europa sich fast selbst zerstörte. Kershaw verdeutlicht in dramaturgischer Weise die Extreme des Zeitalters der Weltkriege. Das instabile europäische Staatensystem und der Zweite Weltkrieg haben ihre Wurzeln im Ersten Weltkrieg, für dessen Entstehen Kershaw – im Gegensatz zur Schlafwandler-These von Christopher Clark – eine entscheidende Rolle beim Deutschen Reich sieht. Doch auch in den dunkelsten Schatten ist immer Licht zu finden, deshalb endet dieser erste Teil eines auf zwei Bände angelegten Werkes nicht 1945, sondern 1949. Der Kampf ums Überleben in den Ruinen des Krieges zeigt in Ansätzen, dass es nicht beim »Höllensturz« geblieben ist, und bietet eine erste Vorschau auf einen Austritt aus der Hölle, der uns voraussichtlich im zweiten Band erwarten wird. Kershaws Werk ist eine äußert gelungene Symbiose von Darstellungen großer Linien und Zusammenhängen sowie von immer wieder eingefügten persönlichen Erfahrungen, die einen nahen Einblick in das Leben und die Geschichten einzelner Menschen geben. Dadurch entsteht ein greifbareres sowie breites – und nicht nur west­ europäisch zentriertes – Bild des damaligen Europas. Sprachlich ist dieses Werk brillant – nüchterne Analyse und ergreifende Erzählung zugleich. Für den interessierten Leser bietet es einen sehr verständlichen Überblick, um diejenigen Kräfte besser zu verstehen, die in der jüngeren Vergangenheit unsere heutige Welt geformt haben. »Höllensturz« ist nicht nur Historie, sondern auch ein Appell an die Idee eines Europas und eine Ansage gegen nationalstaatlichen Egoismus – ein Thema, wie es aktueller nicht sein kann. ch Ian Kershaw, Höllensturz. Europa 1914 bis 1949, München 2016. ISBN 987-3-421-04722-9; 768 S., 34,99 Euro Wahrheitssuche Krise der Demokratie Adenauers Widersacher W D A er hat am 27. Februar 1933 den Reichstag angezündet? Diese scheinbar einfache Frage erhitzt seit 83 Jahren die Gemüter. War es Marinus van der Lubbe, der niederländische Einzeltäter, den die Nationalsozialisten zunächst – und erfolglos – als Werkzeug einer angeblichen kommunistischen Verschwörung darstellten? Oder waren es die Nationalsozialisten selbst, um sich so einen Anlass zum »Durchgreifen« gegen Kommunisten und alle anderen politischen Gegner zu verschaffen? Mitwisser aus Gestapo und SA sagten 1945/46 unter Eid aus, ein Berliner SA-Trupp habe den Reichstag in Brand gesetzt. Dagegen setzte sich in den 1950er Jahren die These von der Alleintäterschaft van der Lubbes durch, die zunächst durch den Hobbyhistoriker und Verfassungsschutzbeamten Fritz Tobias und den »Spiegel« vertreten, dann von renommierten Historikern wie Hans Mommsen und dem Institut für Zeitgeschichte übernommen wurde und bis heute vielerorts unbestritten verbreitet wird. Brauchte es erst den zeitlichen und räumlichen Abstand eines jungen Historikers aus den USA, um die alten Mythen zu erschüttern? Offenbar ja: Benjamin Carter Hett diskutiert auch die These, ein Kommando der SA habe die Aktion im Auftrag des Berliner Gauleiters Joseph Goebbels, aber ohne Wissen Adolf Hitlers durchgeführt. Mindestens so wichtig wie der Blick auf den Tathergang sind aber Hetts kontrovers aufgenommene Forschungen zur Geschichte der Geschichte des Reichstagsbrands. Sie zeigen, wie sehr die Einzeltäterthese von Politikern und Medien gegen Zweifler durchgesetzt werden sollte, deckt »Quellenfälschungen, erfundene Beweise und Erpressungsversuche« auf. Eine Geschichte wie ein Krimi, 1933 und in der Bundesrepublik der 1960er Jahre. ks Benjamin Carter Hett, Der Reichstagsbrand. Wiederaufnahme eines Verfahrens, Reinbek bei Hamburg 2016. ISBN 978-3-498-03029-2; 640 Seiten, 29,95 Euro emokratien werden immer wieder durch verschiedenste innere und äußere Bedrohungen unter Druck gesetzt: Aktuell wird Europa etwa durch schwache Finanzmärkte, Flüchtlingsströme oder auch politische Rechtsrücke herausgefordert. Doch gerade diese Phänomene sind nicht neu. Die Zeit zwischen den Weltkriegen stellte eine der stärksten Prüfungen dar, an deren Ende insbesondere die deutsche Demokratie den Kampf verlor. Verlorener Krieg, revisionistische und antiparlamentarische Bestrebungen, Wandel des Staatswesens, Inflation, Agrarkrise, Wirtschaftskrise, Aufstieg des Faschismus – Boris Barth identifiziert eine lange Liste der wichtigsten politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Destabilisierungsfaktoren der Zwischenkriegszeit in den verschiedenen Ländern Europas. Dieser weite Blick verdeutlicht, dass die Krise ganz Europa betraf und auch mehr beinhaltete als nur den bekannten Versailler Vertrag oder die Wirtschaftskrise. Barth betrachtet auch die Defizite, die in ihrer Bedeutung für eine Destabilisierung bislang häufig – wie etwa die Agrarkrise – unterschätzt wurden. Für ihn hat das Gesamtpaket aus einer schwachen Nachkriegsordnung und all den einwirkenden Faktoren solch eine des­ truktive Dynamik entwickelt, dass die politischen Handlungsträger macht­los erschienen. Der Aufstieg der Dik­ta­turen liegt nicht an deren Stärke, sondern an der Schwäche der Demokratie. Barths Werk vereint mehrere Vorteile für die Leser: Die knapp gehaltene Überblicksdarstellung findet das richtige Maß zwischen thematischer sowie räumlicher Weite der Darstellung und einer dennoch analytischen Tiefe. Dazu ist es noch leicht verständlich geschrieben. Ob die Krise wirklich so hoffnungslos war, wie beschrieben, davon können sich die Leser in einer kurzweiligen Lektüre selbst überzeugen. ch Boris Barth, Europa nach dem Großen Krieg. Die Krise der Demokratie in der Zwischen­kriegszeit 1918‑1938, Frankfurt a.M. 2016. ISBN 978-3-593-50521-3; 361 S., 34,95 Euro ls »Kämpfer für Frieden, deutsche Ehre und Freiheit« würdigt der Grabstein auf dem Freiburger Hauptfriedhof den dort ruhenden Altkanzler Joseph Wirth. Im Mai 1921 wurde der erst 41-jährige Zentrumspolitiker zum bis heute jüngsten Kanzler gewählt. Seiner Nominierung war eine partei­ interne Kampfabstimmung gegen den Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer vorausgegangen, Quell einer jahrzehntelangen erbitterten Gegnerschaft der beiden Protagonisten des politischen Katholizismus. Wirth blieb bis November 1922 Reichskanzler; weltweit bekannt wurden er und sein Außenminister Walter Rathenau durch den Rapallo-Vertrag mit Sowjetrussland. Als »Erfüllungspolitiker« gegenüber den Alliierten wurden sie aber auch Ziel des rechtsextremen Hasses. Nach der Ermordung Rathenaus klagte Wirth am 25. Juni 1922 im Reichstag – auf die Abgeordneten der Deutschna­ tionalen zeigend – leidenschaftlich an: »Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden des Volkes träufelt. Da steht der Feind – und darüber ist kein Zweifel: dieser Feind steht rechts!« Weniger bekannt und spannend sind die Dokumente aus der zweiten Nachkriegszeit: Wirth kämpfte in der CDU gegen die auf Westintegration zielende Politik seines alten Widersachers Adenauer. Für ihn bedeutete Adenauers Kurs eine Absage an die deutsche Einheit. Wirth scheute sich nicht, Kontakt zu Politikern aus der DDR aufzunehmen und sogar vor der deren Parlament, der Volkskammer, zu reden. Die Bundesbehörden verweigerten Wirth seine Pensionsansprüche als Reichminister und Reichskanzler bis zu seinem Tod 1956. Ob diese für die Bundesrepublik peinliche »Rentenstrafe« eine Form Adenauerscher Vergeltung für 1921 war oder eine Retourkutsche für Wirths aktuelle Deutschlandpolitik, sei dahingestellt. Wirths spannendes, prinzipientreues politisches Leben ist eine Entdeckung durch die Leser wert. ks Bernd Braun/Ulrike HörsterPhilipps, In jeder Stunde Demokratie. Joseph Wirth. Ein politisches Portrait in Bildern und Dokumenten, Freiburg ­i.­Br. 2016. ISBN 978-3-86833-159-2; 216 S., 49,00 Euro Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016 27 Service Die historische Quelle Staatsbibliothek zu Berlin Kurierausweis für Dietrich Bonhoeffer als V-Mann der Abwehr D as Blatt Papier wirkt unscheinbar, doch es berechtigte seinen Inhaber 1942 in offizieller Mission des Auswärtigen Amtes in das neutrale Schweden zu reisen. Interessant ist vor allem die Person, auf die der Kurierausweis Nr. 474 ausgestellt wurde: Dietrich Bonhoeffer (1903‑1945), einer der bedeutensten evangelischen Theologen, Publizisten, Hochschullehrer, zudem Angehöriger der Bekennenden Kirche und Gegner Adolf Hitlers. Bonhoeffer war entschlossen, den Diktator auszuschalten; er sah in ihm buchstäblich den »Antichrist«. Und Widerstand war dem Pfarrer dadurch möglich, da er während des Krieges im Amt Ausland der Abwehr, dem militärischen Geheimdienst, beim Oberkommando der Wehrmacht an einer Schaltstelle der Konspiration arbeitete. Bonhoeffer und seinem Chef Admiral Wilhelm Canaris oblagen die internationale Informationsbeschaffung über die großen Vorgänge der Politik. Canaris verwendete Bonhoeffer als »geeigneten V-Mann«, zudem konnte dieser so vor dem Militärdienst bewahrt werden. Zu dessen wichtigsten Aufträgen gehörte die Reise nach Schweden am 30. Mai 1942, für welche dieser Kurierausweis ausgestellt wurde. Dort sollte Bonhoeffer die Lage für einen künftigen Frieden sondieren Dazu traf er seinen alten Freund und Verbündeten im Kampf der anglikanischen Kirche gegen Hitler, den englischen Lordbischof George Bell. Doch dieser musste Bonhoeffer mitteilen, dass er vor Reisebeginn mit Anthony Eden, dem Kriegs- und Außenminister im Kabinett Churchills, ausführlich gesprochen und gefragt habe, was er tun solle, wenn in Schweden von irgend einer Seite Friedensfühler ausgestreckt würden. Eden habe ganz schroff geantwortet, vor einem britischen Sieg würde über Frieden nicht gesprochen. Gänzlich verschieden von der Haltung Edens zu den Problemen des Krieges war die von Sir Stafford Cripps, einem christlichen Sozialisten, den Bonhoeffer ebenfalls traf. Dieser Informant sprach mit großer Besorgnis von der jetzigen und künftigen Macht der Sowjetunion nach dem Sieg über Hitler, die in Großbritannien fast überall unterschätzt werde. Seinem Freund Bell überreichte Bonhoeffer wertvolle Informationen über den deutschen Widerstand, darunter die Namen derer, die im Amt Abwehr und in der Wehrmacht das Attentat gegen Hitler und den Putschversuch planten. Damit sollte der britischen Regierung der Willen der Angehörigen des Widerstandes an einem Waffenstillstand nach dem Sturz des Hitlerrregimes zum Ausdruck gebracht werden. Eine solche Wende in den Allianzen der kriegführenden Mächte, auch ein Bündnis der westlichen Alliierten mit Deutschland gegen die Sowjetunion hätte die Kriegslage völlig verändert. Bell übergab die Informationen an Eden, doch dieser war an weiteren Kontakten zu deutschen Widerständlern nicht interessiert. Auf der Konferenz in Casablanca beschlossen der britische Premierminister Winston S. Churchill und US-Präsident Franklin D. Roosevelt im Januar 1943, das Deutsche Reich bis zur bedingungslosen Kapitulation zu bekämpfen. Das Blatt Papier stammt aus dem Nachlass Dietrich Bonhoeffers im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes. Der Theologe wurde 1943 verhaftet und im April 1945 im KZ Flossenbürg ermordet. Roger Töpelmann Quelle: bpk/SBPK, Nachlass 299 Bonhoeffer A61,5. 28 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016 Geschichte kompakt 22. März 1692 1917 Kurfürstentum Hannover Februarrevolution R A Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016 29 pk/Adoc Photos bpk m Anfang stand die Sieben. Nach Jahrzehnten der ussland Jahresende 1916: Blanke Not bis zum Hunger Wirren, nach König und Gegenkönig bzw. Kaiser hatten die Kriegsmüdigkeit und Unzufriedenheit besonders nach der gescheiterten Brussilow-Offensive und Gegenkaiser regelte die von Kaiser Karl IV. 1356 derart gesteigert, dass die Situation im Winter eskalierte: verfügte Goldene Bulle, wie die Thronfolge im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation vor sich gehen sollte. Der Am 9. Januar 1917 fanden in vielen Teilen Russlands, vor allem in Petrograd und Moskau, Massendemonstrationen König und künftige Kaiser war von sieben Fürsten des Reiches zu küren, also zu wählen, den Kur-Fürsten. Dieses wastatt, die sich in den folgenden Wochen in Hungermärschen ren die Erzbischöfe von Köln, Mainz und Trier, der König und Streiks fortsetzten. Am 23. Februar 1917 (8. März) von Böhmen, der Pfalzgraf bei Rhein, der Markgraf von schlossen sich Textilarbeiterinnen und Hausfrauen am Internationalen Frauentag den in den Ausstand getretenen FabBrandenburg und der Herzog von Sachsen. Während des rikarbeitern der Petrograder Putilov-Werke an. Sie verlangDreißigjährigen Krieges, 1623 bzw. 28, kam eine weitere ten in Protestzügen nach Brot. Dies uferte in Forderungen Kurstimme für den Herzog von Bayern hinzu. nach der Beendigung des Krieges und der Abdankung des Gegen Ende des 17. Jahrhunderts strebten die meisten der Zaren aus. Hieraus entwickelte sich die zweite Revolution Fürstenhäuser des Reiches nach einer Rangerhöhung. Die im Zarenreich nach 1905. In den darauffolgenden Tagen legKurfürsten wollten Könige werden, was den Sachsen (Wettin) in Polen gelang, womit die Brandenburger (Hohenzolten immer mehr ihre Arbeit in den Fabriken nieder, bereits lern) in Preußen erfolgreich waren und die Bayern (Wittelsam 25. Februar wurde in der Hauptstadt von den Fabrikarbach) in Spanien scheiterten. beitern der Generalstreik ausgerufen: Über 300 000 Menschen demonstrierten auf den Straßen der Hauptstadt. Das Ernst August von Braunschweig-Calenberg (1629‑1698) war zunächst für Kirchliches vorgesehen und wurde FürstRegime setzte, wie schon 1905, daraufhin das Militär ein, bischof von Osnadas in die Menschenmassen feuerte und bis zu 150 Menbrück. Erst 1679 beschen erschoss. Dagegen verweigerten sich zunächst einkleidete er zusätzlich zelne Soldaten, die sich stattdessen der Demonstration anschlossen. Schließlich wechselten ganze Regimenter die ein weltliches Amt Seite: Der bewaffnete Arm der herrschenden Autokratie verund wurde Fürst von sagte den Gehorsam und zwang die Regierung am 27. FebCalenberg. Er unterstützte Kaiser Leoruar zum Rücktritt. Einen Tag später bildete sich eine »Doppold I. in wichtigen pelherrschaft« zweier Machtzentren heraus: die Provisorischen Regierung unter Fürst Georgij J. Lwow und der ArbeiFragen u.a. in den Türkenkriegen sowie im ter- und Soldatenrat. Über die künftige Staatsform sollte Pfälzer Erbfolgekrieg, eine Verfassungsgebende Versammlung letztlich im Herbst führte notwendige Re1917 entscheiden. Doch dazu kam es nicht mehr. formen in seinem Land Am 1. März 1917 wurde Nikolaj II. von Dumapräsident durch, vergrößerte Michail V. Rodzjanko und Generalstabchef des Oberbefehlshabers der russischen Armee, Michail A. Alekseev, aufseine Herrschaft durch gefordert, abzudanken. Am 2. März 1917 unterzeichnete Erbverträge und erhielt eine von ihm lang der Zar die Abdankungsurkunde für sich und seinen Sohn angestrebte RangerhöAleksej. Die Herrschaft der Romanov-Dynastie wurde dahung: Unter dem offimit beendet. ziellen Namen BraunDie Schwerfälligkeit der »Doppelherrschaft«, die Radikaschweig-Lüneburg, lisierung der oppositionellen Kräfte angesichts der ungelösten Probleme wie die Landreform und vor allem die Fortinoffiziell Hannover, setzung des Krieges samt seinen fortdauernden Niederlagen wurde er am 22. März Ernst August I. von Hannover, ebneten den Bol1692 Kurfürst dieses Kupferstich von Pierre Drevet. schewiki den Weg Territoriums. Das bis zur OktoberreReich zählte nun neun Kurstimmen, nunmehr gab es wieder volution und ihrer eine ungerade Zahl, was die Wahl wesentlich erleichterte. Machtergreifung. Ernst August selbst konnte sich seines Titels nicht allzu Emilie Terre lange erfreuen, er starb ein Jahr später. Seinem Sohn Georg und dessen Nachfolgern jedoch gelang dank Heirats- und somit Erbfolgepolitik eine Rangerhöhung großen Ausmaßes. Von 1714 bis 1837 waren sie nicht nur Kurfürsten, später Könige von Hannover, sondern auch Könige von England, Schottland und Irland sowie des damit verbunde- Februarrevolution nen Kolonialreiches u.a. in Indien und Nordamerika. Die 1917 in Petrograd: Sieben war Geschichte. Lenin und Revolutionsgarden. Harald Potempa Ausstellungen • Berlin • Bonn • Leipzig Massenerschießungen. Der Holocaust zwischen Ostsee und Schwarzem Meer Topographie des Terrors Niederkirchnerstraße 8 10963 Berlin Tel.: 0 30 / 25 45 09 0 www.topographie.de bis 19. März 2017 täglich 10.00 bis 20.00 Uhr Eintritt: frei Ab morgen Kameraden! Streitkräfte und deutsche Einheit Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Willy-Brandt-Allee 14 53113 Bonn Tel.: 02 28 / 91 65 0 www.hdg.de/bonn bis 28. Februar 2017 Dienstag bis Freitag 9.00 bis 19.00 Uhr Samstag und Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr Eintritt: frei Ab Morgen Kameraden! Armee der Einheit Zeitgeschichtliches Forum Leipzig Grimmaische Straße 6 04109 Leipzig Tel.: 03 41 / 22 20 0 www.hdg.de/leipzig März bis September 2017 Dienstag bis Freitag 9.00 bis 18.00 Uhr Samstag und Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr Eintritt: frei • Dresden • Mannheim Blutiger Boden – Die Tatorte der NSU Militärhistorisches Museum der Bundeswehr Olbrichtplatz 2 01099 Dresden Tel.: 03 51 / 82 32 80 3 www.mhmbw.de bis 7. Mai 2017 Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr Montag 10.00 bis 21.00 Uhr Eintritt: 7,00 Euro (für alle Ausstellungen) ermäßigt: 4,00 Euro für Bundeswehrange­ hörige Eintritt: frei Barock – Nur schöner Schein? Reiss-EngelhornMuseen Museum Zeughaus C 5 68159 Mannheim Tel.: 06 21 / 29 33 15 0 www.barock2016.de bis 19. Februar 2017 Dienstag bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr Eintritt: 12,50 Euro ermäßigt: 10,50 Euro Kamerun und Kongo. Eine Spurensuche und Phantom Geographie von Andréas Lang Deutsches Historisches Museum Unter den Linden 2 10117 Berlin Tel.: 0 30 / 20 30 40 www.dhm.de bis 26. Februar 2017 Deutscher Kolonia­ lismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart bis 14. Mai 2017 täglich 10.00 bis 18.00 Uhr Eintritt: 8,00 Euro ermäßigt: 4,00 Euro Falkenstein zieht in den Krieg. Perspektiven auf den Weltenbrand Militärhistorisches Museum der Bundeswehr – Flugplatz Berlin-Gatow Am Flugplatz Gatow 33 14089 Berlin Tel.: 0 30 / 36 87 26 01 www.mhm-gatow.de bis 2018 Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr Eintritt: frei 30 • Ingolstadt Nord gegen Süd. Der Deutsche Krieg 1866 Bayerisches Armee­ museum Neues Schloss Paradeplatz 4 85049 Ingolstadt Tel.: 08 41 / 93 77 22 2 www.armeemuseum.de bis April 2017 Dienstag bis Freitag 9.00 bis 17.30 Uhr Samstag, Sonntag, Feiertag 10.00 bis 17.30 Uhr Eintritt: 8,00 Euro ermäßigt: 6,00 Euro • Nürnberg Karl IV. 1316 *700 2016 Bayerisch-Tschechische Landesausstellung Germanisches Nationalmuseum Kartäussergasse 1 90402 Nürnberg Tel.: 09 11 / 13 31 0 www.gnm.de bis 5. März 2017 Dienstag bis Sonntag 9.00 bis 18.00 Uhr Mittwoch bis 21.00 Uhr Eintritt: 10,00 Euro ermäßigt 8,00 Euro Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016 Militärgeschichte Heft 1/2017 Service Zeitschrift für historische Bildung Vorschau Das Jahr 2017 steht voll und ganz im Zeichen der fünfhundertjährigen Geschichte der Reformation. Das kommende Heft wird sich daher diesem so eng mit der Militärgeschichte verbundenen Thema in Gestalt des Titelbildes, der historischen Quelle und eines Großbeitrages widmen: Ruth Slecnzka gewährt am Beispiel zweier brandenburgisch-preußischer »evangelischer Ritter« und Kriegsführer einen Einblick in diese so bedeutende geschichtliche Periode. Ein zum größten Teil fiktives Buch über das Wirken eines globalen Geheimdienstnetzwerkes der Nazis sollte dazu führen, dass Walter Nicolai, ein bereits im Jahr 1920 pensionierter deutscher Geheimdienstoffizier des Ersten Weltkriegs, im Jahre 1945 durch den sowjetischen Geheimdienst verhaftet wurde. Der KGB hatte sich vom »Mythos Nicolai« sichtbar anstecken lassen und wollte diesem auf den Grund gehen. Christian Stachelbeck geht dieser Geschichte mit Blick auf den militärischen Nachrichtendienst in den Kriegsaufzeichnungen von Oberst Walter Nicolai nach. Heutzutage oftmals nur noch als kostspieliges Hobby oder beim Sport anzutreffen, waren Pferde noch im Ersten Weltkrieg das Rückgrat für Armeen weltweit. In Friedenszeiten suchte das Militär darüberhinaus, sich mit Pferden auch im sportlichen Wettkampf zu messen. Marcell Kellner geht in seinem Beitrag der Geschichte des bis heute längsten Distanzrittes von über 570 Ki­ lo­metern nach. Bei seinen Vorgesetzten galt er als leistungsfähiger militärischer Führer, aber auch als scharfer Kritiker; im damaligen Deutschland war er einer der bekanntesten Panzerführer; bei seinem Gegner galt er als bester Panzerpraktiker der deutschen Armee; wegen politischer Äußerungen wurde er entlassen. Chris Helmecke zeigt auf, wer der heute nur wenig bekannte General­ oberst Rudolf Schmidt eigentlich war. fh, ch, jm Militärgeschichte im Bild Nie wieder Auschwitz – die Bundesrepublik und der KosovoEinsatz 1999 I ch habe nicht nur gelernt: Nie wieder Krieg. Ich habe auch gelernt: Nie wieder Auschwitz.« Mit diesen Worten fasste Bundesaußenminister Joschka Fischer im Mai 1999 seine Schlussfolgerungen aus der deutschen Geschichte und die sich daraus ergebenen Konsequenzen deutschen außenpolitischen Handelns zusammen. Das gerade wiedervereinigte Deutschland befand sich in einer Zwickmühle: Einerseits verlangten die Lehren aus der NS-Vergangenheit einen besonders verantwortungsbewussten Umgang mit militärischer Gewalt, die Schuld am Holocaust andererseits ein besonders striktes Eintreten gegen »ethnische Säuberungen« und Völkermord. Die Bundesrepublik Deutschland hatte in der Völkergemeinschaft aber auch ein gestiegenes internationales Gewicht erlangt, dem es mit wachsender Verantwortung gerecht zu werden galt. All dies erklärt den nach 1990 sehr behutsamen Out-of-Area-Einsatz deutscher Soldaten. Angesichts der Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien entschied die Bundesrepublik Deutschland, dass sich deutsche Soldaten ab dem 24. März 1999 an einem friedens­ erzwingenden Kampfeinsatz der NATO, und zwar ohne UN-Mandat, beteiligen sollten – der Operation »Allied Force«. Mit zunehmenden Gewalttaten der UÇK (Befreiungsarmee des Kosovo) war der Konflikt im Kosovo im Februar 1998 erneut eskaliert und es folgten massive Übergriffe serbischer Sicherheitskräfte gegen die albanische Bevölkerung. Die Drohungen westlicher Mächte und Russlands sowie die UN-Resolution 1160 (Verhängung eines Waffenembargos gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, bestehend aus Serbien und Montenegro) vom 31. März 1998 hatten den später wegen Völkermordes angeklagten Präsidenten der Republik Serbien, Slobodan Milošević, nicht zum Einlenken bewegen können. Bis Juni 1998 waren bereits 140 000 Asylbewerber aus dem Kosovo nach Deutschland geströmt. Auch deshalb forderte Deutschland die glaubhafte Androhung militärischer Gewalt, um der humanitären Katastrophe im Kosovo frühzeitig Einhalt zu gebieten. Nachdem sich die Lage im Kosovo verschärft hatte, verabschiedete der UN-Sicherheitsrat am 27. September 1998 die Resolution 1199. Darin stellte er eine »Bedrohung des Friedens und der Sicherheit in der Region« fest, sprach sich aber nicht für die Anwendung militärischer Gewalt aus. Da die NATO-Staaten der Überzeugung waren, Milošević nur durch eine glaubhafte Drohkulisse aufhalten zu können, beschloss der NATO-Rat die »Activation Warning«, mit der die Mitgliedstaaten aufgefordert wurden, verbindliche Kräftezusagen für eine eventuelle phasenweise auszuweitende Luftoperation zu machen. Deutschland musste sich entscheiden. Eine Kräftezusage zog einen militärischen Einsatz ohne UN-Mandat nach sich. Obendrein war soeben ein neuer Bundestag gewählt worden, die neue Regierung unter Gerhard Schröder hatte sich aber noch nicht konstituiert. Die glaubhafte Androhung militärischer Gewalt und damit die Abwendung einer humanitären Katastrophe war ohne deutsche Zustimmung oder gar mit der deutschen Ablehnung der auf die »Activation Warning« folgenden »Activation Order« kaum möglich. Deutschland wollte zudem in der NATO kein Signal geben, das geeignet gewesen wäre, den Zusammenhalt im Bündnis und dessen Glaubwürdigkeit, Funktion und Zweck infrage zu stellen. Also stimmten die Regierung Kohl (CDU/CSU/FDP) nach Rücksprache mit der designierten Regierung Schröder (SPD/Grüne) und der Bundestag am 16. Oktober 1998 mit großer Mehrheit der »Activation« Order schließlich zu. Nachdem Belgrad zunächst eingelenkt hatte, überwachte die NATO ab Oktober 1998 die Kosovoresolution des UN-Sicherheitsrates. Nach dem erneuten Aufflammen der Gewalt im Januar 1999 kam es zu den Verhandlungen von Rambouillet im Februar und März, an deren Ende ein Friedensvertrag zwischen der Bundesrepublik Jugoslawien und der Führung der Kosovo-Albaner stehen sollte. Nach dem Scheitern der Verhandlungen – Jugoslawien lehnte eine Unterzeichnung des Vertrages ab – begann die NATO am 24. März 1999, auf der Grundlage der nach wie vor gültigen »Activation Order« mit der Operation »Allied Force«, an der sich insgesamt 14 Nationen mit über 900 Flugzeugen beteiligten. Während der 78 Tage andauernden Luftangriffe auf vorwiegend militärische Ziele im Gebiet der Bundesrepublik Jugoslawien und des Kosovo wurden 28 000 Bomben abgeworfen bzw. Flugkörper verschossen. Deutschland beteiligte sich mit acht ECR (Electronic Combat and Recon­ naissance)- und sechs RECCE-(Recon­ naissance)-Tornados, die vom italienischen Piacenza aus operierten und der NATO für diesen Einsatz unterstellt worden waren. Die ECR-Tornados verschossen insgesamt 244 HARM-Flugkörper (High Speed Anti Radiation Missile). Ihre Aufgabe bestand darin, die alliierten Luftfahrzeuge vor der jugoslawischen Luftverteidigung am Boden zu schützen. Damit beteiligten sich deutsche Soldaten erstmals nach Ende des Zweiten Weltkrieges aktiv an einem bewaffneten Kampfeinsatz. Im Juni 1999 zeigte sich Milošević schließlich verhandlungsbereit. Nach der Unterzeichnung des militärtechnischen Abkommens erteilte der Nordatlantikrat am 10. Juni 1999 den Einsatzbefehl für die Kosovo Force (KFOR), die eine sichere Rückkehr der Flüchtlinge gewährleisten und die erreichte Friedensregelung für das Kosovo militärisch absichern sollte. Hans-Peter Kriemann Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016 31 ZMSBw Neue Publikationen des ZMSBw neue PUBLIKATIONEN Abonnement Matthias Rogg, Kompass Militärgeschichte. Ein historischer Überblick für Einsteiger. Jahresabonnement: 14,00 Euro inkl. MwSt. Hrsg. vom ZMSBw, Freiburg i.Br., Berlin, Wien: Rombach 2013, X, 384 S., 19,80 Euro und Versandkosten (innerhalb Deutschlands, ISBN 978-3-7930-9732-7 Geschichte ohne Grenzen? Europäische Dimensionen der Militärgeschichte vom 19. Jahrhundert bis heute. Im Auftrag des ZMSBw hrsg. von Jörg Echternkamp und HansHubertus Mack, München: De Gruyter Oldenbourg 2016, 368 Seiten, Preis: 39,95 €, des Die Garnisonkirche Potsdam. Zwischen Mythos und Erinnerung. Im Auftrag ISBN 978-3-11-041118-8 ZMSBw hrsg. von Michael Epkenhans und Carmen Winkel, Freiburg i.Br., Berlin, Wien: Rombach 2013, 120 S., 10 Euro ISBN 978-3-7930-9729-7 Auslandsabonnementpreise auf Anfrage) Kündigungsfrist: 6 Wochen zum Ende des Bezugszeitraumes. Kontakt zum Bezug der Zeitschrift: Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr z.Hd. Frau Christine Mauersberger Postfach 60 11 22, 14471 Potsdam Tel.: 0331/9714 599, Fax: 0331/9714 509 Mail: [email protected] Die Betreuung des Abonnements erfolgt über die Firma SKN Druck und Verlag, Stellmacher Straße 14, 26506 Norden, die sich mit den Interessenten in Verbindung setzen wird. »Vom Einsatz her denken!« Bedeutung und Nutzen von Militärgeschichte zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Mit Beiträgen von Donald Abenheim, Eberhard Birk, Bernhard Chiari, Antje Dierking, Axel F. Gablik, Winfried Heinemann, Hans-Hubertus Mack und Zwischen Bündnistreue undPeter Andreas Popp. Im Auftrag des ZMSBw hrsg. von Dieter H. Kollmer, Potsdam: staatlichen Eigeninteressen. Mit Unterstützung desZMSBw MGFA:2013, 107 S. (= Potsdamer Schriften zur Militärgeschichte, 22), 9,80 Euro Die Streitkräfte der DDR und ISBN der 978-3-941571-26-6 ČSSR 1968 bis 1990. Im Auftrag des ZMSBw hrsg. von Oliver Bange, Potsdam: ZMSBw 2016 (= Potsdamer Schriften zur Militärgeschichte, 26), 169 S., 16,90 Euro ISBN 978-3-941571-32-7 Abonnement Jahresabonnement: 14,00 Euro inkl. MwSt. und Versandkosten (innerhalb Deutschlands, Auslandsabonnementpreise auf Anfrage) Kündigungsfrist: 6 Wochen zum Ende des Bezugszeitraumes. Die Völkerschlacht bei eLeipzig der Z itschrift: zugBedeutungen e B Verläufe, Folgen, m zu t k ta n Ko1813 – 1913 – 2013. hte und Im Auftrag des ZMSBw schicvon ärgehrsg. it il M r fü m u ntr Hofbauer und Martin ZeMartin Bundeswehr der Rink n e ft a h c s n e Oldenbourg r ozialwissDe Gruyter SMünchen: Mauersberge e n ti s ri 2016 (= Beiträge zur Militärgeh C u m .Hd. Fra77), X + 390 zschichte, 14471 Potsda 4 509 2, Seiten, 2 1 1 0 6 h c a ostf49,95 €, PPreis: x: 0331/971 a F , 9 9 5 4 1 7 eswehr.org d n 0331/9 u b ISBN r@ Tel.: 978-3-11-046488-7 e rg e rsb eMaue Mail: Christin www.zmsbw.de www.mgfa.de Piraterie in der Geschichte. Mit Beiträgen von Robert Bohn, Martin Hofbauer, Teresa Modler, Gorch Pieken und Martin Rink. Im Auftrag der Deutschen Kommission für Militärgeschichte sowie des ZMSBw hrsg. von Martin Hofbauer, Potsdam: ZMSBw 2013, V, 85 S. (= Potsdamer Schriften zur Militärgeschichte, 21), 9,80 Euro ISBN 978-3-941571-25-9 SKN über die Firma t lg o rf e ts n e des Abonnem 06 Norden, Die Betreuung , Stellmacher Straße 14, 265 en wird. ag setz Druck und Verl teressenten in Verbindung www.zmsbw.de In n die sich mit de