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Zeitschrift für historische Bildung
Oliver Eckstein
Heft 4/2016
Militärgeschichte
Militärgeschichte im Bild: »Tornados« der Bundeswehr über Piacenza 1999.
Nordostafrika 1914­‑1918
Unternehmen »Mammut« 1943
6. Juni 1944 – Küste als Kulturlandschaft?
Strafvollzug der Wehrmacht
ZMS
Militärgeschichtliches Forschungsamt
MGFA
Zentrum für Militärgeschichte
und Sozialwissenschaften der
Bundeswehr
Impressum
Militärgeschichte
Zeitschrift für historische Bildung
Herausgegeben
vom Zentrum für Militärgeschichte und
Sozialwissenschaften der Bundeswehr
durch Oberst Dr. Hans-Hubertus Mack und
Oberst Dr. Frank Hagemann (V.i.S.d.P.)
Produktionsredakteur der aktuellen
Ausgabe:
Oberstleutnant Dr. Harald Potempa (hp)
Redaktion:
Hauptmann Chris Helmecke M.A. (ch)
Friederike Höhn B.A. (fh)
Hauptmann Ariane Huth M.A. (aau)
Major Dr. Jochen Maurer (jm)
Oberstleutnant Dr. Harald Potempa (hp)
Oberstleutnant Dr. Klaus Storkmann (ks)
Bildredaktion: Dipl.-Phil. Marina Sandig
Lektorat: Dr. Aleksandar-S. Vuletić
Karten: Daniela Heinicke
Layout/Grafik:
Maurice Woynoski / Carola Klinke
Anschrift der Redaktion:
Redaktion »Militärgeschichte«
Zentrum für Militärgeschichte und
Sozialwissenschaften der Bundeswehr
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E-Mail: ZMSBwRedaktionMilGeschichte@
bundeswehr.org
Homepage: www.zmsbw.de
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E-Mail: [email protected]
© 2017 für alle Beiträge beim
Zentrum für Militärgeschichte und
Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw)
Druck:
SKN Druck und Verlag GmbH & Co., Norden
ISSN 0940-4163
Editorial
Liebe Leserin,
lieber Leser,
mit »Heimweh« betitelte Freddy
Quinn vor 60 Jahren seine erste
Single, auf der er die Gefühle eines
Fremden u.a. mit den Worten
»brennend heißer Wüstensand,
fern so fern dem Heimatland« besang.
Brennend heiß war der Wüstensand in Nordostafrika tagsüber
während des Ersten Weltkrieges
ganz sicher. Björn Opfer-Klinger beschreibt die Situation in dieser
nicht nur damals heiß umkämpften Region, in der verschiedene
Mächte an den Küsten des Roten Meeres, des Horns von Afrika bzw.
des Indischen Ozeans sehr handfeste Interessen verfolgten. Schließlich war dieses Gebiet mit dem Suezkanal die Lebensader des Britischen Weltreiches. Sand in den Augen hatte die deutsche Führung,
als sie versuchte, mit geringen Mitteln die einheimischen Muslime
gegen die britische Kolonialherrschaft aufzuwiegeln, um das Empire
zu schwächen.
Pherset Rosbeiani stellt einen ähnlichen Versuch der Deutschen
Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges im Irak vor. Das eher
unbekannte Unternehmen »Mammut« spielte sich im Sand des »wilden Kurdistan« ab und verlief sich mangels geeigneter Vorbereitungen auch dort.
Sandig waren die Strände bei den Unternehmen »Overlord« und
»Neptun« in der Normandie am 6. Juni 1944. Jörg Echternkamp geht
auf die historischen Ereignisse ein, entführt die Leserschaft aber vor
allen Dingen in die jetzige Kulturlandschaft vor Ort und geht auf
Spurensuche.
Auf dem weichen Sand des blutigen Unrechts hatte die Wehrmacht
ihren Strafvollzug aufgebaut. Peter Lutz Kalmbach widmet sich ihm
unter dem Titel »Zwischen Ausmerzung und Bewährung«.
Sand in die Augen des NS-Regimes streuten einige Verantwortliche
des Amts Ausland/Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht, als
sie den evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer als Mitarbeiter
gewannen und Geheimaufträge ausführen ließen. Die historische
Quelle kündet davon.
Ich wünsche Ihnen eine gewinnbringende Lektüre und Ihnen und
Ihren Familien ein gesundes, glückliches und friedvolles 2017.
Ihr
Oberstleutnant Dr. Harald Potempa
Inhalt
Nordostafrika zwischen
den Fronten des
Ersten Weltkrieges
4
Das historische Stichwort:
The American Way 1917
22
Neue Medien 24
Lesetipps26
Die historische Quelle
28
Geschichte kompakt
29
Ausstellungen30
Dr. Björn Opfer-Klinger, geb. 1972 in
Wolfshagen, Schulbuchredakteur für Geschichte
beim Ernst Klett Verlag, Leipzig; freier Wissenschaftspublizist mit Schwerpunkt neuzeitliche
Geschichte Südosteuropas und Nordafrikas
Subversion gegen das Empire:
Das Unternehmen »Mammut«
1943
Militärgeschichte
10
im Bild
Nie wieder Auschwitz – die
Bundesrepublik und der
Kosovo-Einsatz 1999 Dr. Pherset Rosbeiani, geb. 1966 in Erbil,
Universität Salahaddin, Arbil
Normandie, 6. Juni 1944 –
eine Küste als
Kulturlandschaft heute?
Service
14
Zwei ECR-Tornados über Piacenza im Frühjahr 1999: Rückkehr von einem Einsatzflug
der Operation Allied Force.
Foto: Oliver Eckstein
Prof. Dr. Jörg Echternkamp, geb. 1963 in
Herford, Wissenschaftlicher Direktor am
Zentrum für Militärgeschichte und
Sozialwissenschaften der Bundeswehr
Zwischen
»Ausmerzung«
Trauma Zweiter
Weltkrieg.und
Zerstörungsbilder
in derDer
Realität und im Kopf
»Bewährung«.
Strafvollzug der Wehrmacht
Dr. Peter Lutz Kalmbach, geb. 1976 in Stade,
Lehrbeauftragter für Rechtsgeschichte
an der Universität Bremen
18
31
Weitere Mitarbeiter dieser Ausgabe:
Dr. Maja Bächler, Dozentin Führungsakademie
der Bundeswehr, Hamburg;
Major Hans-Peter Kriemann, ZMSBw;
Emilie Terre M.A., ZMSBw;
Dr. Roger Töpelmann, Evangelisches Kirchenamt für die Bundeswehr, Berlin.
SZ Photo/Scherl
Nordostafrika 1914‑1918
5Deutsche Hilfstruppen an der Suez-Front, 1917.
Nordostafrika zwischen den
Fronten des Ersten Weltkrieges
Ä
thiopien (Abessinien), Darfur
und Somalia sind Landesnamen, die wir immer wieder mit
internationalen Krisen und internen
Konflikten verbinden: im Zuge des europäischen Imperialismus oder im Zusammenhang mit den Stellvertreterkriegen der Supermächte während des
Kalten Krieges, aber zumeist nicht als
Kampfgebiete im Ersten Weltkrieg. Im
deutschsprachigen Raum ist die Region, in der sich diese Länder befinden,
von der Forschung bislang kaum beachtet worden, lag sie doch 1914/18
schein­bar fernab von den deutschen
Ope­rationsgebieten. Tatsächlich scheint
der Nordosten des afrikanischen Kontinents für das Deutsche Kaiserreich in
der Rückschau von untergeordneter
Bedeutung gewesen zu sein. Die afrikanische Sicht auf den Ersten Weltkrieg ist eine völlig andere: Besonders
das Jahr 1916 wurde zu einem wichti-
4
gen Wendepunkt für viele der dortigen
Akteure.
Am Vorabend des
Ersten Weltkrieges
In den Jahren vor Beginn des Ersten
Weltkrieges hatten sich im Nordosten
des afrikanischen Kontinents eine
ganze Reihe von Konfliktherden herausgebildet, die 1914 ein solches Ausmaß annahmen, dass diese Region sowohl für die deutschen als auch die
türkischen Kriegspläne ins Blickfeld
geriet.
Da ist zunächst Somalia zu nennen,
das seit dem Bau des Suezkanals in
Ägypten erheblich an strategischer Bedeutung für die europäischen Kolonialmächte gewonnen hatte. Großbritannien, Frankreich und Italien begannen
im ausgehenden 19. Jahrhundert, an
der somalischen Küste koloniale Stützpunkte einzurichten. Gegen diese zu-
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016
nehmende europäische Expansion
regte sich bei mehreren somalischen
Nomadenclans unter Führung des
Scheichs der Sufi, einer mystisch-asketischen Richtung des Islam, Mohammed Abdullah Hassan, religiös und
antikolonial geprägter Widerstand.
Dieser wurde so stark, dass die Briten
zu Beginn des Ersten Weltkrieges praktisch nur noch die größeren Küstenorte
kontrollieren konnten.
Westlich von Somalia hatte sich zu
diesem Zeitpunkt Abessinien als eine
eigenständige afrikanische Regionalmacht gegenüber dem Druck der europäischen Kolonialherren behauptet.
Das alte Kaiserreich mit seinen weit
mehr als zehn Millionen Einwohnern
erlebte unter der Herrschaft Meneliks II. (1889‑ 1913) eine beeindruckende Phase des Aufschwungs und
der Expansion. Dieses heterogene Vielvölkerreich bestand aus einer Reihe
von feudalen Teilkönigreichen. Mene-
punkt nahm der britisch-abessinische
Gegensatz zu. Einerseits strebte die
britische Kolonialverwaltung nach der
Kontrolle über den abessinischen
Oberlauf des Blauen Nils, andererseits
hatte sie beständig mit einem ausgeprägten illegalen Waffenhandel im
abessinisch-sudanesischen Grenzgebiet zu kämpfen.
Für die anglo-ägyptische Verwaltung
im Sudan war dies umso störender, als
sie sich auch im Westen des Landes
nicht absolut sicher fühlen konnte.
Zwischen dem französischen Kolonialgebiet des heutigen Tschad und dem
Sudan lag das Sultanat Darfur. Der
dort herrschende Sultan Ali Dinar galt
aus britischer Perspektive jedoch als
wenig verlässlich, umso mehr, als er
immer stärker Kontakte zum muslimischen Sufi-Orden der Senussi-Bruderschaft knüpfte. Diese puritanische
mus­limische Reformbewegung stand
in ideologischer Nähe zum arabischen
Wahabismus, einer puristisch-traditionalistischen Strömung des Islam, und
hatte sich in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts in den Oasen der Ostsahara ausgebreitet. Nachdem Italien
1911/12 im Krieg mit dem Osmanischen Reich in Libyen einmarschiert
war, stellten sich die Senussi an die
Spitze des antikolonialen Widerstandes im Osten des Landes, der Cy-
lik II. war es gelungen, sein Land im Innern zu festigen und auf einen ambitionierten Modernisierungskurs zu
führen. Gleichzeitig erreichte er durch
geschickte Pendeldiplomatie zwischen
den rivalisierenden Kolonialmächten
einerseits sowie militärischen Erfolgen
gegen Italien andererseits die Bewahrung der Unabhängigkeit Abessiniens.
Er dehnte sein Einflussgebiet sogar
weit nach Osten und Südosten aus. In
seinen letzten Herrschaftsjahren war
Menelik II. allerdings infolge mehrerer
Schlaganfälle regierungsunfähig, was
zu inneren Machtkämpfen führte. Als
sein Nachfolger wurde schließlich sein
noch sehr junger Enkel Iyasu V. eingesetzt, der sich aus Sicht der Ententemächte zu einem wachsenden Unsicherheitsfaktor entwickelte. Besonders
die britische Diplomatie beobachtete
Abessinien mit zunehmender Sorge.
Die Vorherrschaft der Briten
Großbritannien hatte seit dem Bau des
Suezkanals seine Macht in Ägypten
immer weiter zu einem faktischen Protektorat ausgebaut. Durch die militärische Niederschlagung des Mahdi-Aufstandes im Sudan Ende der 1890er
Jahre dehnte Großbritannien sein Einflussgebiet bis an die Grenzen Abessiniens aus. Spätestens ab diesem ZeitMittelmeer
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britisch
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Kolonien und Protektorate
europäischer Staaten
in Nordostafrika 1914
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© ZMSBw
07830-02
renaika. Weitere Gegenwehr leisteten
darüberhinaus andere, tripolitanische
Stämme.
Einen Sonderfall stellte Ägypten dar.
Es war formal ein autonomes Land unter der Oberhoheit des osmanischen
Sultans in Istanbul. Offiziell regierte
der Khedive (Vizekönig) Abbas II.
Hilmi Pascha als Vertreter des Sultans,
tatsächlich kontrollierte jedoch der britische Generalkonsul sämtliche Schlüsselpositionen des Landes. Dies rief seit
der Jahrhundertwende den politischen
Widerstand ägyptischer Nationalisten
gegen diese Art von Fremdherrschaft
hervor. Zwar gingen viele Oppositionspolitiker der Nationalpartei Hizb
al-Watami und der konstitutionellen
Reformpartei Hizb al-Islah wegen der
zunehmenden Verfolgung ins Exil.
Dessen ungeachtet barg Ägypten ein
großes soziales und politisches Unruhepotenzial. Dieses wurde nicht zuletzt dadurch angeheizt, dass die ägyptische Wirtschaft mehr und mehr
zugunsten der Importbedürfnisse
Großbritanniens umgestaltet wurde.
Dazu gehörte auch die intensive Anpflanzung von Baumwolle am oberen
Nil für den Export. Neben dem 1902
fertiggestellten (alten) Assuan-Staudamm war es dieser forcierte Baumwollanbau, der eine zunehmende Störung des natürlichen Rhythmus des
Nils mit entsprechenden ökologischen
Folgen verursachte, was wiederum indirekt infolge zunehmender Ernterückgänge des Getreides zu wachsenden sozialen Protesten unter den
ägyptischen Nilbauern führte.
Die deutsch-jungtürkischen
Träume für Nordostafrika
Ursprünglich hatte die außereuropäische Welt in den deutschen Kriegsszenarien allenfalls eine marginale Rolle
gespielt. Das änderte sich allerdings im
Laufe der Julikrise 1914. Angesichts
des drohenden Zweifrontenkrieges
konkretisierten sich im Deutschen
Reich nun die bislang eher verschwommenen Ideen von einer forcierten »inneren Zersetzung« der Ententemächte.
Dazu zählte die mögliche Instrumentalisierung sozialrevolutionärer oder nationalistischer Bewegungen im Russischen Reich (Georgien, Finnland) und
Großbritannien (Irland). Ein noch viel
bedeutenderer Nährboden zur Destabilisierung der gegnerischen Kolonialmächte schien aus deutscher Perspektive jedoch die islamische Bevölkerung
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016
5
Sammlung Stefan Noack
Nordostafrika 1914‑1918
5Der fiktive Kriegsroman »1906« von
Ferdinand Grautoff sorgte bei seinem
Erscheinen für einige Furore und
wurde zum Bestseller.
in Nordafrika und Indien zu sein. Ein
solches Szenario hatte der 1905 erschienene Zukunftsroman »1906. Der Zusammenbruch der Alten Welt« entworfen, der zu den meistverkauftesten
Büchern seiner Zeit zählte. Darin schilderte der Leipziger Journalist Ferdinand Grauthoff unter dem Pseudonym
»Seestern« einen 1906 ausbrechenden
»Großen Krieg« zwischen den europäischen Mächten, an dessen Ende sich
unter Führung der Senussi die Muslime in Nordafrika erhoben und die
französischen, britischen und italienischen Kolonialherren vertrieben.
Zugleich führte das Oberhaupt der
äthiopischen Kirche einen »Vernichtungskrieg« gegen den »weißen Mann«
im südlichen Afrika an.
Das tatsächliche Problem für die Akteure im Sommer 1914 war nur, dass für
eine antikoloniale Revolutionierung
der islamischen Welt weder konkrete
Pläne noch geeignete Spezialisten oder
die nötigen Kommunikationswege in
die gegnerischen Kolonien vorhanden
waren. Auch bestanden keine Kontakte
zu tatsächlichen oder angeblichen Revolutionären und antikolonialen Bewegungen vor Ort. Allerdings hofften die
deutschen Stellen, dass die Begeisterung des Orient­bewunderers Kaiser
Wilhelm II. und verschiedener Diplomaten den zwangsläufig zutage tretende Improvisationscharakter dieser
Revolutionierungsstrategie aufwogen.
6
Große Hoffnungen wurden dabei auf
die türkische Regierung gesetzt, die im
Laufe des Herbstes 1914 das Osmanische Reich auf deutscher Seite in den
Krieg führte. Für die deutschen Revolutionierungsideen war wichtig, dass
die Verbündeteten über wertvolle Beziehungen zu den Senussi in Nordafrika und anderen politischen Kräften
verfügten. Von operativer Bedeutung
war hier besonders die Teşkilât-i
Mahsusa, eine vom türkischen Kriegsminister Enver Pascha gegründete Spezialorganisation, die beispielsweise für
geheime Operationen in Libyen, Ägypten und Arabien eingesetzt wurde.
Aus deutscher Perspektive lag es
nahe, diese panislamischen Ideen zu
nutzen. Treibende Kraft hierfür wurde
die eigens dafür gegründete »Nachrichtenstelle für den Orient« unter der
Leitung des Islamwissenschaftlers
Max von Oppenheim, die bald viele
namhafte Orientalisten und For­
schungs­reisende in ihre Tätigkeit einband. Letztlich aber blieb sie bei vielen
Operationen auf die Kooperation mit
der Teşkilât-i Mahsusa angewiesen.
Die deutschen und türkischen Revolutionierungsideen waren zwar hoch
ambitioniert, doch kam auch hier der
Improvisationscharakter zu Tage, was
sich an einem Mangel an Strategie sowie an unzureichenden personellen
und materiellen Mitteln zeigte. Besonders das Deutsche Reich verfügte über
nur wenige orienterfahrene Spezialisten. Hinzu kam das nicht minder große
Problem der Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten. Die Entfernungen waren riesig. Alle wichtigen
Telegrafenleitungen befanden sich in
der Hand von Gesellschaften aus gegnerischen Staaten. Auch der Einsatz
der neuen Funktechnik und die Einrichtung einer Großfunkanlage am
Bos­
po­
rus im Jahr 1916 sollten das
Kom­mu­nikationsproblem nicht lösen
können.
Die Realisierung der Revolutionierungspläne
Eine zentrale Rolle für die deutschen
und jungtürkischen Pläne spielte von
Anfang an Ägypten. Als der Erste Weltkrieg begann, hielt sich der Khedive
Abbas II. gerade in Istanbul auf. Spätestens als im November 1914 das Osmanische Reich offen in den Konflikt eintrat, wurde Abbas II. von den Briten als
zu großes Sicherheitsrisiko eingestuft
und wenige Wochen später unter dem
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016
Vorwand, mit antibritischen Nationalisten in Kontakt zu stehen, abgesetzt.
Ägypten wurde als eigenständiges Sultanat unter britisches Protektorat gestellt. Als Sultan installierte die britische Regierung einen Neffen des
abgesetzten Abbas II., Hussein Kamil I.
Nach Hussein Kamils Tod im Jahr 1917
wurde dessen Bruder Ahmad Fuad I.
sein Nachfolger auf dem Thron. Von
beiden erzwang die britische Regierung die Umstellung der ägyptischen
Wirtschaft auf die Bedürfnisse der eigenen Kriegswirtschaft. Die Preise für
Baumwolle wurden gezielt gedrückt,
während die wachsende Zahl kaufstarker britischer Soldaten im Land die
Nahrungsmittelpreise steigen ließ. Beides führte zu einer Verarmung breiter
Bevölkerungsschichten in Ägypten und
im Sudan. Dieser soziale und politische
Sprengstoff, so die Hoffnungen in Berlin und Istanbul, musste explodieren,
wenn es gelang, militärisch über den
Suezkanal hinweg vorzustoßen. Allerdings scheiterte ein solcher, schlecht
vorbereiteter Versuch der osmanischen
Armee Anfang Februar 1915. Bereits
hier zeigte sich, dass es den deutsch-osmanischen Verbündeten nicht möglich
war, in Ägypten einen nennenswerten
bewaffneten Widerstand gegen die britische Herrschaft zu entfachen. Angesichts der wenig später beginnenden
Schlacht um Gallipoli und des Vordringens britisch-indischer Truppen in Mesopotamien war es dem Osmanischen
Reich fortan auch nicht mehr möglich,
größere Offensivoperationen in Richtung Suezkanal zu unternehmen.
Damit waren die Träume der deutschen und jungtürkischen Strategen,
die britische Herrschaft in Ägypten
zum Einsturz zu bringen, aber nicht
gänzlich zerplatzt. Zudem waren viele
Geheimoperationen im Gange oder in
Vorbereitung, um doch noch Aufstände am Nil zu entfachen. Vor allem
wurde versucht, Propagandamaterial
nach Ägypten einzuschleusen, um auf
diese Weise die antibritische Stimmung in der islamischen Bevölkerung
zu schüren. Deren Aufstandspotenzial
wurde allerdings völlig falsch eingeschätzt. Der im November 1914 auf
deutsches Drängen vom osmanischen
Sultan und Kalifen durch den Scheich
al-Islām ausgerufene Ğihād (= Heiliger
Krieg) fand in Ägypten ebenso geringen Widerhall wie in anderen islamischen Regionen Afrikas und Asiens.
Und auch die erhofften Rebellionen
unter den ägyptisch-sudanesischen
ullstein bild
5Deutsch-türkische Waffenbrüder: Stellung am Suezkanal mit einer 7,5-cm-KruppFeldkanone, 1915.
oder den indischen Truppen des britischen Empire blieben aus. Darüber hinaus scheiterten in den Anfangsmonaten des Krieges nicht zuletzt angesichts
des unprofessionellen Vorgehens und
der mangelnden Koordination zwischen deutschen und türkischen Akteuren auch alle Versuche, den Suezkanal durch Sabotageakte, Verlegen von
Minen oder die gezielte Versenkung
von Schiffen zu sperren.
Nicht minder erfolglos gestaltete sich
der Versuch, die nationalistische Diaspora der Ägypter im Ausland für die
Revolutionspolitik einzuspannen.
Zwar wurden besonders zu den Exil­
ägyptern in der Schweiz intensive Kontakte aufgebaut, doch merkten diese
wahrscheinlich ziemlich schnell, dass
das Deutsche Reich keine klare, langfristige Ägyptenpolitik verfolgte. Ein
naturgemäß wichtiger Partner wäre
der abgesetzte Khedive Abbas II. gewesen, auch wenn dieser von manchen
Beobachtern als unzuverlässig eingestuft wurde. Er stand jedoch in einem
sehr schlechten Verhältnis zum einflussreichen jungtürkischen Großwesir
Muhammad Said Halim Pascha. Der
Großwesir war ein Enkel des Begründers der ägyptischen Khedivendynastie, Mehmet Ali Pascha, und hatte sich
zeitweise selbst Hoffnung auf den
Thron in Ägypten gemacht. Ganz
allge­mein zeigte sich die türkische Regierung auch nicht bereit, ägyptische
Politiker und Revolutionäre als gleichberechtigte Partner in ihre Operationen
einzubinden. Die deutsche Diplomatie
wiederum konnte sich nicht dazu
durchringen, in Istanbul auf mehr Kooperationsbereitschaft gegenüber den
Ägyptern zu pochen.
Hoffnungen durch die
Senussi-Bewegung
Die größten Erfolge erzielten die
deutsch-jungtürkischen Geheimoperationen bei der Kooperation mit den Senussi, die immerhin über ein militärisches Potenzial von mehreren tausend
Bewaffneten verfügten. Mehrmals
wurden 1914/15 Geheimmissionen
sowie Kriegsgerät und kleinere Abteilungen osmanischer Soldaten zur Unterstützung der Senussi-Beduinen eingeschleust. Tatsächlich kam es im
November 1915 dann auch zu gezielten Angriffen der Senussi-Verbände
gegen die britischen Stützpunkte in
Westägypten. Der Zeitpunkt dafür war
günstig: Die italienische Kolonialmacht hatte sich seit Ende 1914 in Libyen wieder weitgehend auf wenige
Küstenstützpunkte zurückziehen müssen und Großbritannien musste seine
militärische Präsenz in Ägypten angesichts der zwischenzeitlichen Rückschläge an der Gallipoli- und Mesopotamien-Front deutlich reduzieren. Zu
einem Brennpunkt der Kämpfe gestaltete sich der Küstenort Sallum, den die
Senussi eroberten und von wo sie zeitweise in Richtung des ägyptischen
Küstenortes Marsa Matruh vorstießen.
Weitere Angriffsziele waren mehrere
Oasen in der westägyptischen Wüste:
Siwa, Bahariya, Farafra und Dachla.
Auch der Sultan von Darfur, Ali Dinar,
schloss sich nun dem »Heiligen Krieg«
gegen die Briten an. Der Aufruf war
nicht ganz ohne Folgen geblieben.
Parallel zu diesen Ereignissen intensivierte Ende 1915 das deutsche Reichskolonialamt seinen Plan, die Volksstämme im südlichen Sudan mittels
finanzieller Unterstützung gegen die
dortige schwache anglo-ägyptische Besatzung aufzuwiegeln. Anfang 1916
wurde eine geheime Mission unter
dem Kommando des Hauptmanns
Othmar von Stotzingen in Richtung Jemen in Marsch gesetzt. Dort sollte eine
Funkstation eingerichtet und über
Abessinien Geldmittel in den Südsudan geschleust werden. Die am 5. Juni
1916 beginnende arabische Revolte im
Hedschas gegen das Osmanische
Reich, die von Großbritannien unterstützt wurde, führte allerdings zum
Abbruch der Operation.
Hoffnungen in Abessinien?
Zu diesem Zeitpunkt hätte vielleicht
allein noch ein Kriegseintritt Abessiniens für die britische Stellung in Ägypten und am strategisch wichtigen Suezkanal gefährlich werden können.
Allerdings wurde die militärische
Stärke Abessiniens besonders von
deutscher Seite stark überbewertet.
Walter Zechlin, der vor dem Krieg
deutscher Gesandter in Addis Abeba
gewesen war und später als Konsul in
Tétouan die deutschen Revolutionierungsversuche in Marokko steuerte,
schätzte 1912 die Schlagkraft der abessinischen Streitkräfte auf mindestens
200 000 Mann. Allerdings bestand ein
Großteil dieser Truppen aus Soldaten
der feudalen Teilkönigreiche, die der
abessinische Kaiser bei Bedarf einfordern konnte. Der Anteil der mit modernem Kriegsgerät ausgerüsteten Armeeverbände war deutlich geringer.
Darüber hinaus fehlte eine Instanz
ähnlich einer Intendantur in den europäischen Armeen, die für Offensivoperationen über größere Entfernung zur
Versorgung der Truppen nötig gewesen wäre. Dennoch besaß die abessinische Armee sicherlich das Potenzial,
bei einem militärischen Eingreifen gegen den anglo-ägyptischen Sudan eine
ernstzunehmende Rolle zu spielen.
Hin­zu kam die Möglichkeit, durch eine
Blockade des Blauen Nils die sozioökonomische Situation in Ägypten erheblich zu verschlechtern.
Bereits im November 1914 war eine
geheime deutsche Mission unter Lei-
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016
7
Nordostafrika 1914‑1918
tung des Ethnologen Leo Frobenius
nach Abessinien aufgebrochen, um
den jungen Herrscher Iyasu V. zum
Kriegseintritt zu bewegen. Der Weg
endete jedoch in der italienischen Kolonie Eritrea, wo der Mission die Weiterreise untersagt wurde. Als dann wenig später Italien auf Seite der Entente
in den Krieg eintrat, war auch dieser
Weg für Geheimoperationen versperrt
und die letzte neutrale Telegrafen­
leitung nach Abessinien stand den
Deutschen und ihren Verbündeten
nicht mehr zur Verfügung. Fortan basierte die Kommunikation zwischen
Berlin und der deutschen Gesandtschaft in Addis Abeba allein auf einzelnen Boten, denen es gelegentlich gelang, das Rote Meer zwischen dem
osmanischen Jemen und Eritrea an Briten, Franzosen und Italienern vorbei
zu überqueren.
Umsturz und zerplatzte Träume
ullstein bild
Trotz dieser Schwierigkeiten entwickelte sich zwischen dem deutschen
Gesandten in Abessinien, Lorenz Jensen, und Iyasu V. ein zunehmend gutes
Verhältnis. Die diplomatischen Vertreter der Entente vor Ort argwöhnten
wahrscheinlich nicht zu Unrecht, dass
Iyasu V. politisch stärker den Mittel-
mächten zuneigte, auch wenn unklar
blieb, ob dieser tatsächlich über eine
offene Parteinahme nachgedacht hatte.
Sicher ist, dass unter der Herrschaft
von Iyasu V. zunehmend mehr Waffenlieferungen zur antibritischen bzw. antifranzösischen Aufstandsbewegung in
Somalia gelangten. Die Ententemächte
reagierten darauf mit einem Waffen­
embargo gegen Abessinien. Aus den
deutschen Gesandtschaftsberichten
lässt sich außerdem herauslesen, dass
Groß­britannien sich intensiv darum
be­mühte, die antiroyalistische Opposition in Abessinien durch Geldzuwendungen für sich zu gewinnen. Verhäng­
nis­voll wurde für Iyasu V. schließlich
seine eigene Integrationspolitik gegenüber den überwiegend muslimischen
Landesteilen im Osten und Südosten
des christlichen Kaiserreichs. Nicht zuletzt mit Unterstützung der britischen
Gesandtschaft verbreitete sich 1916 das
Gerücht, Iyasu V. wolle zum Islam konvertieren. Auch wenn dieses Gerücht
letztlich einer realen Grundlage entbehrte, stärkte doch seine Verbreitung
die Opposition im Lande, die sich gegenüber dem jungen, oft eigenwilligen
Herrscher gebildet hatte. Am 27. September 1916 kam es schließlich zum
Sturz des Königs. Die höchsten Kirchenvertreter und mehrere Minister er-
klärten den jungen Herrscher für abgesetzt. Zentraler Kopf des Umsturzes
war Kriegsminister Habte Giyorgis.
Als neue Herrscherin wurde Iyasus
kinderlose Tante Zauditu eingesetzt;
zum vorläufigen »bevollmächtigten
Regenten« und zukünftigen Thronerben erhoben die Putschisten den
18-jährigen Sohn eines einflussreichen
Provinzgouverneurs und entfernten
Neffen Iyasus, Tafari Makonnen, der
später als der letzte äthiopische Kaiser
Haile Selassie I. bekannt werden sollte.
Die deutschen Staatsbürger im Land
wurden interniert.
Am 27. Oktober 1916 unterlagen die
rund 80 000 Mann starken loyalistischen Truppen, die unter dem Kommando von Iyasus Vater, auf Addis
Abeba vorrückten, in der Schlacht bei
Segale der Armee der Putschisten.
Iyasu V. selbst flüchtete in das autonome Sultanat Awsa, das ihm Asyl gewährte. Aus der Danakilwüste heraus
führte er noch einige Zeit einen Kleinkrieg gegen die neue Regierung, bis er
1921 in Gefangenschaft geriet.
Abessinien fiel im Spätsommer 1916
somit als militärischer Verbündeter für
die Mittelmächte aus. Der neue Regent,
Tafari Makonnen, blockierte allerdings
fortan jegliche Sondierungen von britischer Seite im Hinblick auf eine Beteiligung abessinischer Truppen im Kampf
gegen das Osmanische Reich und lockerte stattdessen allmählich die Internierungsbedingungen für die deutschen Staatsangehörigen im Land.
Ende und Nachspiel
Ein Angehöriger des Senussi-Ordens in der türkischen Armee, 1915.
8
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016
Zu diesem Zeitpunkt war die
deutsch-türkische Revolutionierungspolitik allerdings ohnehin gescheitert.
In Berlin musste man einsehen, dass es
nicht gelungen war, auch nur halbwegs tragfähige nachrichtendienst­
liche Strukturen in Nordostafrika aufzubauen, geschweige denn, dort nen­nens­
werten Einfluss zu gewinnen.
Jegliche Geheimaktivitäten und Propagandaaktionen in Ägypten wurden
fortan den türkischen Verbündeten
überlassen, deren Einfluss angesichts
der militärischen Rückschläge zunehmend schwand.
Spätestens Anfang 1917 zeichnete
sich ab, dass Großbritannien als Sieger
aus dem Konflikt um diese Region hervorgehen würde. Seit März 1916 hatte
eine kleine anglo-ägyptische Interventionstruppe den militärischen Bewegungsraum des Darfur-Sultans Ali Di-
pa/akg-images
nar eingeschränkt. Am 23. Mai wurde
die Darfur-Hauptstadt El Fashir erobert. Ali Dinar zog sich mit seinen
letzten Getreuen auf das Jebel-Marra-Plaeteau zurück, fiel dort aber in
Kämpfen am 3. November 1916. Das
Fur-Sultanat wurde schließlich 1917 als
Provinz in den anglo-ägyptischen Sudan eingegliedert.
Auch der Aufstand der Senussi verlor seit Sommer 1916 immer mehr an
Boden. Gegen die technische und zahlenmäßige Überlegenheit der angloägyptischen Truppen kamen die meist
nur leicht bewaffneten Reiterkrieger
nicht an. Es kam zu Spaltungen der Bewegung, sodass Scheich Ahmad
asch-Scharif zunehmend von seinem
jungen Cousin Sayyid Mohammed Idris an den Rand gedrängt wurde. Jener
schloss am 12. April 1917 einen Friedensvertrag mit Großbritannien ab.
Darin konnte er einen Teil des Senussi-Einflusses in der Region bewahren.
1951 wurde er als Idris I. erster König
Libyens.
Ahmad asch-Scharif führte mit einer
schwindenden Anzahl von Anhängern
einen Guerillakrieg weiter. Im August
1918 wurden aber schließlich die letzten Reste seiner Senussi-Krieger im
kleinen tripolitanischen Küstenort
Misrata eingekesselt. Ahmad aschScharif gelang dank eines deutschen
U-Bootes die Flucht.
Wenige Wochen später war der Erste
Weltkrieg zu Ende, dennoch kehrte in
Nordostafrika keine Ruhe ein. Großbritannien wähnte sich mit dem Ende
der osmanischen Herrschaft im Nahen
Osten als nunmehr unangefochtene
Hegemonialmacht in der Region. Diese
Vormachtstellung stand jedoch auf wackeligen Füßen. Der antikoloniale Derwisch-Widerstand in Somalia konnte
zwar bis 1920 niedergeschlagen werden, doch blieb die Gesamtregion ein
Unruheherd. Die britische Herrschaft
über Ägypten hatte während des Krieges sozioökonomische Konflikte geschürt. Als die Londoner Regierung
dann 1919 Ägypten die Teilnahme an
den Pariser Friedensverhandlungen in
Gestalt einer eigenen Delegation verwehrte, wurden die nationalistischen
Proteste so stark, dass Großbritannien
1922 die weitgehende Selbstständigkeit und 1936 die Souveränität Ägyptens zugestehen musste. Aber auch in
Abessinien konnte die britische Politik
aus dem Putsch von 1916 keinen Vorteil ziehen. Die Hoffnungen auf einen
wachsenden Einfluss im Land blieben
Iyasu V. bestieg als 16-Jähriger den Kaiserthron von Abessinien. Nach seiner Absetzung 1916 amtierte er noch bis 1921 als Gegenkaiser. 1935 kam er unter ungeklärten Umständen zu Tode.
ebenfalls unerfüllt. Fatale Folgen dort
hatte etwa die Veröffentlichung der
Geheimverträge der Entente durch die
sowjetische Regierung 1917, darunter
auch des italienisch-britischen Abkommens als Teil des Londoner Vertrages
vom 26. April 1915: In diesem hatte
Großbritannien Italien den kolonialen
Erwerb Abessiniens zugesichert. Die
britisch-italienische Blockade des Beitritts Abessiniens zum Völkerbund tat
ein Übriges zum Schwinden des britischen Einflusses in der Region. Sicherlich hatte auch niemand geahnt, dass
der scheinbar schwache, junge und unerfahrene Regent Tafari Makonnen
sich bald zu einem geschickten Diplo-
maten und ehrgeizigen Reformer entwickeln würde. Aus europäischer Perspektive letztlich wenig beachtet,
waren im Ersten Weltkrieg für die Geschichte Nordostafrikas einige folgenreiche Weichen neu gestellt worden.
 Björn Opfer-Klinger
Literaturtipps
Jay Spauding and Lidwien Kapteijns, An Islamic
Alliance. Ali Dinar and the Sanusiyya, 1906‑1916,
Evanston 1994.
Eloi Ficquet and Wolbert G.C. Smidt (Eds..), The Life and
Times of Lij Iyasu of Ethiopia, Münster 2014.
Russell McGuirk, The Sanusi’s Little War, London 2007.
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016
9
Subversion gegen das Empire:
Das Unternehmen »Mammut« 1943
5Schwarzes Gold: Die Sabotageakte der Operation »Mammut« sollten sich vor allem gegen die Ölförderung der Briten wenden.
Z
u Beginn des Zweiten Weltkriegs
standen der Nahe und der Mittlere Osten – im Unterschied zu
1914 – nicht im unmittelbaren Fokus
deutscher Expansions- und Eroberungsinteressen. Hitler und die Führungsstäbe des Oberkommandos der
Wehrmacht (OKW) sowie des Oberkommandos des Heeres (OKH) waren
sehr stark auf die Führung kontinentaler Feldzüge in Europa fixiert und hatten daher die globale Perspektive nur
am Rande im Blick.
Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs
war das Gebiet des heutigen Irak Teil
des Osmanischen Reiches gewesen.
Durch die Friedensverträge von 1919
und der frühen 1920er Jahre sowie der
Beschlüsse des Völkerbundes stand das
Gebiet unter britischer Mandatsherrschaft. Erst 1932 wurde der Irak formal
zwar unabhängig, befand sich de facto
aber immer noch unter dem Einfluss
Großbritanniens. Im April 1941 erfolgte
ein Militärputsch, sodass der mit dem
Deutschen Reich sympathisierende
Raschid Ali al Gailani Ministerprä­
sident wurde. Einen Monat später geriet seine deutsch-freundliche Regierung in Konflikt mit den Briten, die
Durchmarschrechte für ihre indischen
Truppen durch das Gebiet des Irak beanspruchten. Die neue irakische Regie­
10
rung verkündete die Neutralität und
den sofortigen Abzug aller britischen
Truppen aus ihrem Land. So kam es
schließlich zum Krieg zwischen dem
Irak und dem Britischen Empire. Zwar
dauerte der Waffengang nur einen Monat, der Irak verlor und seine Regierung stürzte. Allerdings stellte sich nun
auch die Frage, ob das Deutsche Reich
den Irak unterstützen würde, zumal
die irakische Regierung Hilfeersuchen
an Berlin gerichtet hatte.
Das Deutsche Reich und der Irak
Schon zuvor waren in Deutschland
ausgesprochene Befürworter von Interventionen im Orient aktiv geworden
und hatten alte Hoffnungen aus der
Zeit vor 1918 wiederbelebt. Zu nennen
sind hier insbesondere Oskar Ritter von
Niedermayer, Otto Werner von Hentig,
beide Anführer einer riskanten, aber
letztlich nicht ganz so erfolgreichen Expedition nach Afghanistan 1915/16,
aber auch der frühere Reichskanzler
und NS-Diplomat Franz von Papen.
Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop stand einem entsprechenden
Engagement wohlwollend gegenüber.
Diese Kräfte konnten sich mit ihren Ansichten aber gegen den Primat von Hitlers einseitig orientiertem Rasse- und
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016
Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion nicht durchsetzen. Zwar erließ
Hitler am 23. Mai 1941 die Weisung
Nr. 30 über die Kriegführung im Mittleren Osten und die Unterstützung der
»arabischen Freiheitsbewegung«, in
der u.a. stand, dass die »arabische Freiheitsbewegung [...] im Mittleren Orient
unser natürlicher Bundesgenosse gegen England« sei und dass in «diesem
Zusammenhang [...] der Erhebung des
Irak besondere Bedeutung« zukomme.
Auch stärke sie »über die irakischen
Grenzen hinaus die England feindlichen Kräfte im Mittleren Orient«, störe
»die englischen Verbindungen« und
binde »englische Truppen sowie englischen Schiffsraum auf Kosten anderer
Kriegsschauplätze«.
Faktisch blieb die Weisung jedoch
ohne Folgen für die deutsche Kriegführung, denn der Diktator genehmigte lediglich den Einsatz einiger weniger
Staffeln von Kampfflugzeugen der Typen Me 110 und He 111, vor allem als
»Heroische Geste« für die aufständische irakische Regierung. Die Briten
verfügten ihrerseits über Luftwaffenverbände im Irak (u.a. einige Jagdflugzeuge des Typs Hawker Hurricane)
und schlugen rasch zurück. Die deutschen Verbände erhielten keinen Ersatz für ihre Verluste und wurden da-
pa/akg-images/Paul Almasy
Unternehmen »Mammut« 1943
folgsaussichten von Sabotageaktionen
in Irakisch-Kurdistan diskutiert hatte.
Bei dieser Besprechung war auch Müller zugegen. Mit großer Wahrscheinlichkeit wurde er von seinen späteren
Vorgesetzten aufgefordert, seine Überlegungen zu diesem Thema ausführlich zu Papier zu bringen.
Den Hintergrund für die darauffolgende Ausarbeitung eines Diversionsunternehmens gegen britische militärische Einrichtungen und vor allem
Anlagen der Ölförderung bildete die
strategische Lage im Herbst 1942, als
die deutschen Kräfte in das Kaukasusgebiet vordrangen und sich ihnen somit, zumindest als theoretische Option,
ein weiterer Vormarsch, nun nach Süden in Richtung Orient anbot. Die Niederlage in der Schlacht von Stalingrad
im Winter 1942/43 entzog derlei Hoffnungen jedoch jegliche Grundlage.
»Mammut«: Hoffnungen
Unbeeindruckt von der sich abzeichnenden Niederlage in Stalingrad, verfügte Oberst Lahousen am 14. Januar
1943 die Aufstellung des Unternehmens »Mammut«, die vom Leiter der
Irak und Umgebung Ende 1942
Krim
Sarabus
Krasnodar
SOWJETUNION
Constanza
Tuapse
Groznyj
Schwarzes Meer
K a
u k
a s
u s
Istanbul
Batumi
britische Kolonien und
Mandatsgebiete
unter britischem Schutz
von den westlichen Alliierten
besetzte Gebiete
sowjetisch
sowjetisch besetzte Gebiete
deutsch besetzte Gebiete/
Frontverlauf 18.11.1942
neutrale Staaten
wichtige Erdölgebiete und
-leitungen
Kaspisches
Meer
Tiflis
Baku
TÜRKEI
Erzurum
Mossul
Erbil
TEHERAN
Kirkuk
Zypern
Tripolis
Beirut
Mittelmeer
Syrien
Homs
Rutba
a
äst
in
ÄGYPTEN
Haditha
Damaskus
Haifa
KAIRO
Euphrat
Hamadan
is
Tigr
Nach dem Scheitern des »Irak-Abenteuers« von 1941 beschränkten sich die
deutschen militärischen Aktivitäten
nunmehr auf Kommandoaktionen des
Amts Ausland/Abwehr im OKW unter
der Führung von Admiral Wilhelm
Canaris (1887‑1945). Direkt zuständig
für das Unternehmen »Mammut« war
die Abwehr Abt. II (Sabotage und Zersetzung) unter der Führung des im
März 1938 nach dem sogenannten Anschluss Österreichs aus dem österreichischen Bundesheer in den Dienst der
Wehrmacht übernommenen Obersten
und späteren Generalmajors Erwin Edler von Lahousen-Vivremont. Er hatte
von Juni 1935 bis März 1938 den Evidenz- und Informationsdienst, also den
militärischen Geheimdienst im Verteidigungsministerium der Republik Österreich geleitet und führte die Abwehr
Abt. II vom 1. Januar 1939 bis zum
Kriegsende. Lahousen war für eine
ganze Reihe von Geheimdienstunternehmen verantwortlich, die allerdings
nur in wenigen Fällen erfolgreich verliefen. Die meisten dieser Operationen
bzw. Sabotageaktionen scheiterten an
technischen, personellen oder organisatorischen Unzulänglichkeiten wie
auch aufgrund selten vorhersehbarer
und kalkulierbarer Umstände.
Die operative Planung, Vorbereitung
und der Einsatz von Abwehr-Spionagetrupps an ausgewählten Zielorten,
so auch für den Nahen und Mittleren
Osten, führte die Gruppe 2 der Abwehr
Abt. II durch. Ihr Leiter war der in militärischer Spionage- und Sabotagearbeit sehr erfahrene Oberstleutnant,
später Oberst, Putz. Ihm unterstanden
mehrere Referate, die je nach der geografischen Lage der Zielorte, sämtliche
Kriegsschauplätze in Europa und in
Übersee fachlich bearbeiteten. Nicht
nur sollte vor allem Großbritannien
durch geheimdienstliche Aktionen
und einer ganzen Reihe vielfältiger Diversionshandlungen weitestgehend
geschädigt werden, sondern letztlich
die britische Vorherrschaft im Nahen
Pal
»Mammut«: Planungen
und Mittleren Osten beendet werden –
aus heutiger Sicht ein reichlich ambitioniertes Ziel.
Aufgrund der sich ausweitenden
Kommandounternehmen während des
Krieges musste die Gruppe 2, Sabotage
und Zersetzung, der Abwehr Abt. II
vergrößert und zugleich den unterschiedlichen Erfordernissen hinsichtlich der einzelnen Kommandounternehmen angepasst werden. Bislang
hatte sie alle geheimdienstlichen Operationen in den überseeischen Gebieten zu verantworten und zu führen.
Nun wurden daraus neue Referate gebildet, wobei das Referat 2 für den Irak
zuständig war. Dessen Leiter war Ende
1942 Hauptmann Misenky, der direkte
Vorgesetzte von Leutnant Gottfried Johannes Müller, der am 5. Dezember
1942 eine Denkschrift für ein Unternehmen »Said Schahswar« (das spätere
Unternehmen »Mammut«) im Nord­
irak verfasst und danach bei seinen
Vorgesetzten eingereicht hatte.
Die Anregung zu dieser Denkschrift
war bereits am 21. Oktober 1942 erfolgt, als Gruppenleiter Putz, mit dem
ihm unterstellten Referatsleiter und
weiteren Mitarbeitern eventuelle Er-
Nil
her rasch aufgerieben, eine von Hitler
erhoffte Volkserhebung blieb aus. Die
irakische Armee wurde dann schnell
von den britischen Truppen besiegt
und die irakische Regierung gestürzt.
In der Folge besetzten die Briten auch
noch Syrien, das bis dahin unter der
Kontrolle des französischen Vichy-Regimes gestanden hatte.
IRAN
BAGDAD
IRAK
AMMAN
Transjordanien
Ahvaz
Basra
SAUDI-ARABIEN
Quellen: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg,
Bd 6: Der globale Krieg, Stuttgart, 1990;
Bernd Philipp Schröder, Irak 1941, Freiburg i.Br. 1980.
KUWAIT P e r s .
Golf
© ZMSBw
07826-03
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016
11
Unternehmen »Mammut« 1943
Abwehr, Admiral Wilhelm Canaris, bestätigt wurde. Das Unternehmen
wurde im Februar 1943 durch den
Chef des OKW, Generalfeldmarschall
Wilhelm Keitel, freigegeben. Als Ziele
wurden u.a. genannt: Nachschubstörung der feindlichen Truppen, Sabotageakte, Unterbrechung von Telefon­
leitungen, Durchführung besonderer
Ab­wehrmaßnahmen. Sogar die »Schaf­
fung von Auffangplätzen für andere
Unternehmungen« war vorgesehen.
All diese Maßnahmen erfolgten mit
ausdrücklicher Kenntnis und Billigung
durch den Abteilungsleiter Lahousen.
Müller hielt sich aufgrund einer
1935/36 unternommenen Orientreise,
die ihn bis in die Gegend von Sulaimaniya im Nordosten Iraks geführt hatte,
für ausreichend kompetent, das Unternehmen »Mammut« erfolgreich leiten
zu können. Allerdings gab es aber auch
aufgrund der dünnen Personaldecke
wohl kaum eine Alternative. Denn die
Abwehr besaß keine Mitarbeiter, die
über ähnliche Erfahrungen verfügten.
Der Mangel an qualifiziertem Personal
machte sich auch beim weiteren Vorgehen bemerkbar. Zudem baute das Unternehmen »Mammut« auf dem Infor-
mationsstand Müllers über die Lage in
Südkurdistan Mitte der 1930er Jahre
auf. Daher ist es nicht überraschend,
dass Hauptadressat des Unternehmens
der kurdische Scheich Mahmud Barzinji war. Barzinji hatte bis 1931 eine
ganze Reihe von Aufständen gegen die
britische Mandatsmacht verübt und
hier durchaus zumindest zeitweise Erfolge verbuchen können. Müller hatte
ihn nach eigenen Angaben bei seiner
Orientreise Mitte der dreißiger Jahre
selbst getroffen. In der Abwehr erhielt
der Scheich die interne Bezeichnung
»Mammut«. Dabei handelte es sich um
eine Verballhornung des Vornamens
»Mahmud«, woraus sich auch der
Deckname »Mammut« der Operation
erklärt.
Die in Barzinji gesetzten Hoffnungen
entsprachen im Jahre 1943 keineswegs
mehr den realen Tatsachen. Der Scheich
hatte sich nach einer ganzen Reihe von
Niederlagen im Kampf gegen die britische Mandatsmacht, spätestens aber
mit dem Scheitern des Gailani-Putsches
Mitte 1941 aus dem politischen und militärischen Leben der Widerstandsbewegung in Südkurdistan zurückgezogen. Er lebte, überwacht von den Briten,
im Hausarrest in Bagdad. Seinen Platz
als unbestrittener Führer der Kämpfer
in Südkurdistan hatte bereits Scheich
Ahmad Barzani und später auch dessen jüngerer Bruder Mustafa eingenommen. Auch andere regionale kurdische Anführer wollte die deutsche Seite
mit Hilfe von Empfehlungsschreiben
für die Mitwirkung am Unternehmen
»Mammut« gewinnen. Es blieb unklar,
ob die kurdischen Anführer im Ernstfall für das Deutsche Reich Partei ergreifen würden.
In seiner Denkschrift war Müller nur
von der Hoffnung ausgegangen, er
werde sich mit ein paar Dutzend Männern in den Kurdengebieten des Irak
längere Zeit gegen die britisch-arabische Übermacht halten können. Er
wolle dabei so viele Sabotageakte gegen Ölpipelines und die Infrastruktur
verüben können wie nur möglich. Ursprünglich hatte er offenbar sogar geglaubt, er könne die irakischen Ölquellen für das Deutsche Reich sichern und
die Herrschaft des Empire zumindest
im Irak erschüttern.
Sonderunternehmen »Mammut«: Die
Aufstellungsverfügung vom 14. Januar
1943 ist im Bundesarchiv, Abt. Militär­
archiv überliefert. BArch, RW 5/271,
Bl.1.
12
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016
»Mammut«: Scheitern
Das ganze Unternehmen endete im
Grunde genommen bereits kurz nach
dem Fallschirmabsprung der Gruppe I
am 17. Juni 1943. Denn alle vier Agenten wurden am 28. Juni, also nach nur
elf Tagen, durch die irakische Polizei in
Erbil festgenommen. Ihre Gefangennahme bildete jedoch nur den Abschluss einer Serie von Pannen, die das
Unternehmen begleitet hatten: In der
Frühe des 17. Juni westlich von Mossul, 200 Kilometer vom eigentlichen
Landeplatz bei Ranya entfernt, abge-
pa/CPA Media
Am 6. März 1943 ging bei Ausland/
Abwehr II/Ost die Meldung von der
Kriegs-Organisation der Abwehr im
Ausland (KO) Istanbul ein, dass jetzt
mit Ramzi Nafi‘ Raschid Agha ein geeigneter Informant und Kontaktmann
gefunden worden sei. Dieser junge
kurdische Idealist war wichtig für die
Durchführung der Operation »Mammut«. Er stammte aus Erbil und wollte
durch seine Zusammenarbeit mit der
Abwehr ein Zeichen zur Abspaltung
Irakisch-Kurdistans von der durch die
Briten in Bagdad eingesetzten arabischen Zentralregierung setzen. Noch
im März 1943 wurden etwa ein Dutzend deutsche Mitarbeiter der Abwehr
auf die »Mammut«-Gruppen I, II und
III aufgeteilt. Dazu gehörten auch die
Gefreiten Georg Heinrich Adalbert Konieczny und Friedrich Wilhelm Hoffmann. Ende April schließlich traf
Ramzi vom KO Istanbul über die Außenstellen Sofia und Wien in Bodental
(Krain) ein, wo die an dem Unternehmen Beteiligten ausgebildet wurden.
Diese Ausbildung gestaltete sich
schwieriger als erwartet. Zusätzliche
Sonderlehrgänge waren notwendig,
weswegen der ursprünglich vorgesehene Termin des Unternehmens am
20. Mai 1943 verschoben werden
musste. Am 14. Juni schließlich wurde
die »Mammut«-Gruppe I auf dem Hof
des Bendler-Blockes in Berlin feierlich
verabschiedet, wobei die kurdische
Fahne gehisst wurde. Einen Tag später
begann die erste Flugetappe der
Gruppe I in Rangsdorf: Leutnant Müller, die Gefreiten Konecny und Hoffmann sowie Ramzi. Zeitgleich verlegte
das Personal der Funker-Gegenstelle
nach Sarabus auf die Krim. Am 16. und
17. Juni flog die Gruppe von Sarabus
nach Irakisch-Kurdistan und wurde in
der Nähe des Dorfes Kharab Quba per
Fallschirm abgesetzt.
5Das Ziel: Scheich Mahmud Barzinji
(1878‑1956) hatte sich bereits mehrfach gegen die britischen Mandatsträger aufgelehnt und sollte dies nun ein
weiteres Mal mit deutscher Unterstützung versuchen.
setzt, waren die vier Abwehragenten
ohne Funkausrüstung und konnten
keinen Kontakt mit ihrer Gegenstelle
auf der Krim aufnehmen. Da eine
Flucht über die noch weiter entfernte
türkische Grenze aussichtslos erschien,
beschlossen die Agenten, sich nach Erbil, dem Heimatort Ramzis, durchzuschlagen, um dort in den Untergrund
zu gehen. Die Gruppe führte nun nicht
mehr der sichtlich entnervte Leutnant
Müller, sondern der kurdische Informant Ramzi als einziger Landeskundiger. Nach einem fünftägigen Fußmarsch vom Landeplatz über Mossul
am Tigris gelangten die Agenten
schließlich in die Nähe Erbils. Die drei
Deutschen versteckten sich ab dem
23. Juni in einer Höhle nördlich der
Stadt, während Ramzi versuchte, Hilfe
aus seinem Heimatort zu holen. Verraten wurden die Agenten schließlich
durch kurdische Schmuggler. Die irakische Polizei verhaftete die Deutschen
am 28. Juni 1943. Einen Tag später
stellte ich Ramzi den Behörden des
Irak, nachdem sein Vater und seine
Verwandten inhaftiert worden waren.
Da die Planer der Abwehr von einem
nachhaltigen Erfolg dieser ersten
Gruppe ausgingen, obwohl nach ihrer
Landung überhaupt kein Funkkontakt
mit ihr zustande gekommen worden
war, wurde zur Unterstützung die
Gruppe II in Bereitschaft gehalten, die
noch von Müller aufgestellt worden
war. Die Ausbildung dieser Gruppe II
wurde sogar noch bis in den August
1943 fortgesetzt, obwohl die Abwehr
durch ein dechiffriertes Funktele-
gramm vom 23. Juli 1943 nun unzweifelhaft wusste, dass alle Mitglieder der
Gruppe I festgenommen worden waren. Sogar die Entsendung einer
Gruppe III, der auch zivile deutsche
Spezialisten als V-Leute der Abwehr,
darunter die angehende Ärztin Maria
Effinger, angehören sollten, war geplant. Die Vermittlung von Wissen und
die Leistung medizinischer Hilfe sollten Hand in Hand mit der Aufstachelung der kurdischen Klans gegen die
britische Mandatsmacht gehen.
Das Scheitern der Sabotageaktion
»Mammut« noch in der Frühphase war
angesichts der dafür bereitgestellten
geringen materiellen und personellen
Mittel durchaus nicht überraschend.
Hier zeigte sich in besonderer Weise
die mangelnde personelle Ausstattung,
planerische Beliebigkeit und Konzeptionslosigkeit wie auch die Realitätsferne
solcher Kommandounternehmen.
Ramzi erhielt eine lebenslange Gefängnisstrafe, wurde jedoch aus Krankheitsgründen 1947 entlassen und starb
zwei Jahre später im Alter von 31 Jahren an den Folgen der Haft. Gottfried
Johannes Müller, Friedrich Wilhelm
Hoffmann und Georg Heinrich Adalbert Konieczny überlebten ihre Kriegsgefangenschaft, u.a. im berüchtigten
britischen Wüstenlager im Kloster Emmaus in Palästina. Müller hat 1974 in einem spannenden, im Stile der Abenteuerromane Karl Mays geschriebenen
Erlebnisbericht »Im brennenden Orient« seine Sicht der Dinge dargelegt.
Darin bekundete er, wohl durchaus
ehrlich gemeinte Reue wegen seiner
manipulativen Einflussnahme auf den
jungen Ramzi und bedauerte dessen
frühen Tod. Er selbst hat sich in seinen
folgenden Lebensjahren karitativen
Aufgaben zugewandt und 1957 die
Bruderschaft von Salem e.V. gegründet,
die sich für die Betreuung von Waisenkindern und die Aussöhnung einst verfeindeter Völker und Religionen einsetzt.
 Pherset Rosbeiani
Literaturtipps
Bernd Lemke, Der Irak und Arabien aus der Sicht deutscher Kriegsteilnehmer und Orientreisender 1918 bis
1945, Frankfurt am Main 2012.
Pherset Rosbeiani, Das Unternehmen »Mammut«. Ein
politisch-militärisches Geheimdienstunternehmen in
Südkurdistan in den Jahren 1942/43 und seine Vorgeschichte, Berlin 2012.
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016
13
ullstein bild – mirrorpix
Küste als Kulturlandschaft?
5D-Day-Veteranen in der Normandie, 5. Juni 2014.
Normandie, 6. Juni 1944 – eine
Küste als Kulturlandschaft heute?
S
oviel Prominenz in nur einer Woche hatte das normannische Küstendorf Courseulles-sur-Mer nie
zuvor erlebt: Am Montag, den 12. Juni
1944 betrat Winston S. Churchill französischen Boden, am Mittwoch folgte
General Charles de Gaulle, am Freitag
schließlich ließ es sich der britische König George VI. nicht nehmen, seinen
Soldaten zum Erfolg zu gratulieren.
Wenige Tage zuvor, im Morgengrauen
des 6. Juni, hatten 1200 Kriegsschiffe
und 7500 Flugzeuge Großbritannien
verlassen, um mit 150 000 Briten,
US-Amerikanern, Franzosen, Polen
und Kanadiern und vielen anderen an
der französischen Küste des Ärmelkanals zu landen.
Die Landung selbst, die »Operation
Neptun«, bildete nur den ersten Akt
des weitaus größeren Unternehmens
»Overlord«; nicht des größten amphibischen Unternehmens des Zweiten
Weltkrieges, sondern desjenigen mit
der größten strategischen Bedeutung.
Auch wenn die Kämpfe in der Normandie, in denen unter anderem Caen,
14
Lisieux und Le Havre in Schutt und
Asche gelegt wurden, zwölf Wochen
und nicht drei dauerten, wie die Alliierten kalkuliert hatten: Am 25. August
waren die Alliierten bis Paris vorgerückt, die Wehrmacht kapitulierte, und
General de Gaulle zog einen Tag später
in die Hauptstadt ein.
Keine Frage, die Küstenlandschaft
hat der »Operation Neptun« ihren
Stempel aufgedrückt. Doch auch das
Gegenteil ist richtig: Die Kämpfe an
der Küste haben tiefe Spuren in der
Landschaft hinterlassen. Die Region
kann deshalb als ein Paradebeispiel für
die Wechselbeziehung von Mensch
und Raum gelten. Lässt sich deshalb
auch von einer »Kulturlandschaft«
sprechen? Dieser unscharfe Begriff bezeichnet in der Lesart der UNESCO
»Kulturgüter«, die »gemeinsame
Wer­ke von Natur und Mensch« darstel­
len. Sie sind »beispielhaft für die Ent­
wick­
lung der menschlichen Gesellschaft [...] unter dem Einfluss der
physischen Beschränkungen und/oder
Mög­lich­keiten, die ihre natürliche Um-
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016
welt aufweist, sowie der von außen
und innen einwirkenden aufeinander
folgenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Kräfte«.
Artefakte von Verteidigung
und Angriff
Utah Beach, Omaha Beach, Gold Beach, Juno Beach und Sword Beach: So
lauteten die Namen der fünf Landungsstrände. Noch heute weisen
Schilder mit diesen Namen den Touristen den Weg von der Küstenstraße D
in den Départements Calvados und
­Manche, vorbei an Bauernhöfen, Kirchen und Kühen zum jeweiligen Landungsabschnitt. Doch nicht die Strände
allein faszinieren den Besucher. Das
militärische Unternehmen hat zahlreiche Spuren hinterlassen, die bis heute
den etwa 80 km langen Küstenabschnitt prägen. Einige sind schon von
Weitem zu sehen, andere werden erst
entdeckt, wenn man über sie stolpert,
wieder andere lassen sich nur mit dem
Fernglas erkennen wie der Munitions-
Landung am D-Day,
6. Juni 1944
Cherbourg
Bolbec
Seinebucht
Le Havre
Ste.
Mère-Eglise
Carentan
Nor m andi e
Quinéville
Caen
Lisieux
St. Lô
Ste.
Mère-Eglise
1. US-Armee
1
Pointe
du Hoc
Grandcamples-Bains
re
Vi
Carentan
La Cambe
Isignysur-Mer
2
OM
A
2. brit. Armee
HA
G
OLD
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ViervilleJU N O
sur-Mer
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3
4
Saint LaurentOR
D
sur-Mer Colleville- PortArromanchesLonguessur-Mer
enBernières5
Courseullesles-Bains
Bessin sur-Mer
sur-Mer
sur-Mer
Tag
Lion-sur-Mer
e szie
Bayeux
l D-Day
Ouistreham
Grenze US-brit. Streitkräfte
N o r m a n d i e
Mulberry-Häfen »A« und »B«
Gooseberries 1–5
Luftlandeeinsatzräume
Denkmäler/Soldatenfriedhöfe (2016)
© ZMSBw
07829-02
Schützen herausragte. Drittens existierten auch in der Normandie sogenannte Festungen: Schwerere Artillerie
und Flak sollten in Cherbourg und Le
Havre die Alliierten daran hindern, die
Hafenstädte aus logistischen Gründen
einzunehmen.
Anders als in einem Museum indes
sind viele militärische Artefakte begehbar. Wer nicht an Platzangst leidet und
unterirdische dunkle Gänge nicht
fürchtet, kann durch einen Schlitz zwischen meterdickem Beton bis zum Horizont des Ärmelkanals schauen, beinahe so wie die deutschen Soldaten im
Juni 1944. Die Stellungen sind unterschiedlich gut erhalten. Die Batterie
von Longues-sur-Mer beispielsweise
ist die einzige Anlage dieser Art, in der
die aus deutscher Produktion stammenden Kanonen noch vorhanden
sind. Allerdings wurde das Niveau des
umgebenden Erdhügels abgesenkt, damit die Touristen nicht mehr ohne Weiteres auf die Kasematten steigen können – was die Konturen der Bunker
noch verschärft. Wenngleich an anderen Stellen, etwa an der Pointe du Hoc,
zur Sicherheit der Besucher Metallgitter angebracht und Aussichtsplattformen angelegt wurden, besitzt der
Raum der Landungsstrände insgesamt
doch ein hohes Maß an historischer
Authentizität.
Die Bunker ducken sich in die Dünenlandschaft. Die befestigten Stellungen scheinen mit ihrer natürlichen
Umwelt verschmolzen, so sehr passen
sie sich den geografischen Bedingungen an. Was 1944 der Tarnung diente,
Caen
0
Or
ne
AH
UT
bunker, dessen Betonoberfläche das
satte Grün einer umzäunten Weide unterbricht. Spricht man stellvertretend
von den Landungsstränden (Les Plages du Débarquement), ist daher weit
mehr gemeint als die Küstenlinie.
Welche militärhistorischen Spuren
hat der Krieg hinterlassen? Dem Besucher springen auf der einen Seite die
massiven Überreste des »Atlantikwalls« ins Auge. Zwischen 1942 und
1944 hatten Wehrmacht und Organisation Todt dieses Verteidigungssystems
von Nord-Norwegen bis nach Südfrankreich geplant und teilweise angelegt. Es sollte das »Dritte Reich« vor einer »Invasion« der Alliierten schützen.
Nur hier in der Normandie wurde der
Atlantikwall, der Militärhistorikerinnen und -historikern als Höhepunkt
militärischer Küstenbefestigung gilt,
auf die Probe gestellt. Die NS-Propa­
ganda suggerierte mit dem Begriff
»Wall« ein durchgängiges und dichtes
Hindernis. Tatsächlich handelte es sich
um eine mehr oder weniger dichte, auf
den Küstenstreifen beschränkte Abfolge von teils halbfertigen Stellungen
an der rund 4000 km langen Atlantikküste. Die französische Übersetzung
»Mur de l’Atlantique« (AtlantikMauer) führt erst recht in die Irre.
Wie in einem Freilichtmuseum können zwischen den normannischen
Dörfern drei unterschiedliche Komponenten dieser Verteidigungsanlage besichtigt werden. Erstens finden sich
zwischen der Mündung der Seine und
der Pointe de Saire rund dreißig mehrere Kilometer auseinanderliegende
Küstenartillerie-Batterien, die wieder­um aus vier bis sechs teils in Kasematten geschützten Kanonen, Bunkern
für Munition und Personal sowie Beobachtungs- und Feuerleitständen, zumeist Hochbunkern aus Stahlbeton, bestehen. Die Batterien waren mit
Stacheldraht und Minen, mit Flugbzw. Panzerabwehrkanonen (Flak bzw.
Pak) gesichert. Musealen Wert besaßen
bereits 1944 jene Kanonen, die aus dem
Ersten Weltkrieg stammten; bei anderen handelte es sich um Beutewaffen
aus Tschechien, der Sowjetunion oder
Frankreich.
Zweitens wimmelt es in Strandnähe
von rund 200 ehemaligen Widerstands­
nestern (WN). Die leicht bewaffneten
WN verfügten über Pak und Maschinengewehre, die häufig aus einem in
die Erde eingelassenen Betonbau bedient wurden, dessen oberster Teil mit
einem kreisförmigen Loch für den
10 km
sorgt bis heute für Überraschungen,
wie etwa der nur von oben zu entdeckende Zugang eines unterirdischen
Munitionsbunkers. Zudem haben die
Kampfhandlungen, vor allem die
schweren Bombardierungen, zu noch
heute sichtbaren Zerstörungen geführt. Die Ruinen der Kirche von
St. Manvieu-Norrey, wo alliierte Luft­
angriffe den Gegenangriff deutscher
Verbände der 12. SS-Panzerdivision
abwehrten, dienen seit langem als
Denk­
m al. Einer Kraterlandschaft
gleich lässt auch die Pointe du Hoc mit
ihren Bombentrichtern und Bunkertrümmern die Wucht der Luftangriffe
vom Juni 1944 erahnen.
Auf der anderen Seite sind neben
diesen Verteidigungsanlagen der
Deutschen jene Artefakte zu nennen,
welche die Allierten zu logistischen
Zwecken geschaffen haben. Mulberry A und B: So heißen die beiden
künstlichen Nachschubhäfen am
Omaha Beach und am Gold Beach, an
denen nach der Landung Transportschiffe, unabhängig vom Tidenhub,
anlegen sollten. Insbesondere der im
Juni 1944 errichtete Hafen vor Arromanches-les-Bains mit seinen riesigen
Pontons auf einer Fläche von knapp
1000 Hektar erinnert heute an die gewaltigen Anstrengungen der Alliierten, Menschen und Material an Land
zu bringen. Seit Kriegsende scheint
sich hier wenig verändert zu haben.
Nur durch eine Taucherbrille können
derzeit die militärhistorischen Relikte
bestaunt werden, die sich unter Wasser
befinden. Diese historischen Artefakte
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016
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Küste als Kulturlandschaft?
Gedenken und Versöhnung
Hoc wurde am 6. Juni 1944 von Army
Rangern eingenommen, nachdem sie
von der US Air Force heftig bombardiert worden waren. Die Kampfhandlungen prägen die landschaftliche Gestaltung auch heute noch.
gen – darunter die Brüder von Frederick Niland, den Steven Spielberg als
den Soldaten James Ryan bekannt gemacht hat. Ganz anders die deutsche
Kriegsgräberstätte bei La Cambe: Die
nüchterne Anlage mit ihren dunkel gehaltenen Kreuzen und Grabsteinen
steht in Kontrast zu den Begräbnisstätten der Siegermächte. Hier ruhen über
21 000 gefallene Soldaten der Wehrmacht, darunter Angehörige der Waffen-SS. Seit dem deutsch-französischen
Vertrag von 1954 über die Kriegsgräberstätten ist der Volksbund Deutsche
Kriegsgräberfürsorge für La Cambe
zuständig.
Schließlich stößt der Besucher in beinahe jedem Dorf auf ein Museum.
Manche befinden sich in öffentlicher
Trägerschaft, andere in privaten Händen. Ein nichtstaatliches aber städtisches Haus hat sich zum Leitmuseum
der Region entwickelt und über­re­
gionale Bedeutung gewonnen: das
Mémorial von Caen. Am 6. Juni 1988
vom französischen Staatspräsidenten
François Mitterrand eingeweiht, ruht
der moderne Betonbau auf den Resten
eines Bunkers, der in die Ausstellung
einbezogen ist. Der auffällige Einschnitt, der das steinerne Gebäude
scheinbar halbiert, steht für die Bresche, die »Neptun« in den Atlantikwall
geschlagen hat. Hier informieren sich
Schulklassen auf dem abschüssigen
Sammlung Jörg Echternkamp
Eine zweite historische Bedeutungsschicht durchzieht den gesamten
Raum zwischen Utah Beach im Westen
und Sword Beach im Osten. Seit den
1950er Jahren markiert eine Vielzahl
von Denkmälern die Orte des historischen Geschehens. Sie rufen jeweils
das Schicksal bestimmter Gruppen von
Soldaten ins Gedächtnis. Ein hochaufragendes Lothringer Kreuz beispielsweise erinnert in Courseullessur-Mer an die erwähnte Rückkehr de
Gaulles am 14. Juni 1944. Im kollektiven Gedächtnis wird der Beteiligung
französischer Soldaten eine große symbolische Bedeutung beigemessen. Namentlich die Männer des Kommandos
»Kieffer«, das in den Reihen der Briten
bei Colleville landete, gelten als Helden. Zu den ungewöhnlichen, neueren
Monumenten gehört das Denkmal der
kanadischen Inuit, ein Symbol aus aufeinander getürmten Steinen in Form
eines Menschen, in Bernières-sur-Mer.
Zu den geschichtspolitisch besonders bedeutsamen Erinnerungsorten
zählen die weiträumigen Soldatenfriedhöfe. Wer hat nicht die endlosen
Reihen weißer Kreuze und David­
sterne auf makellos grünem Rasen vor
Augen, die so typisch für den US-amerikanischen Soldatenfriedhof in Colleville-sur-Mer sind? Hier wurden
1956 die sterblichen Überreste von
rund 9400 Gefallenen zusammengetra-
5Die deutschen Stellungen am Pointe du
pa/AP Images/David Vincent
von deutscher wie von alliierter Seite
sind freilich noch nicht alles, was die
Landungsstrände zu einer Kulturlandschaft macht.
Weg über einen spiralförmigen Parcours, der sie geradewegs in die Hölle
des Zweiten Weltkriegs hinabzuführen
scheint, über dessen Vorgeschichte seit
1918. Hier debattieren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über die
Militärgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Hier treffen sich schließlich die Staatsmänner und -frauen aus aller Welt, um
den Beginn der Befreiung und die Versöhnung ehemaliger Kriegsgegner zu
feiern. Betritt der Besucher die große
Eingangshalle, fällt der Blick auf eine
große Fotografie vom Fall der Berliner
Mauer – ein Bild, das hier vielleicht
nicht zu erwarten gewesen wäre. Die
Landung der Alliierten als Beginn eines gesamteuropäischen Befreiungsprozesses: eindringlicher könnte man
die einfache Botschaft des Mémorial
kaum ausdrücken.
Denkmäler, Friedhöfe, Museen:
Diese Teile der Erinnerungsgeschichte
machen den Küstenstreifen zu einem
historischen Raum im doppelten Sinn.
Hier sind zum einen die Überreste eines militärhistorischen Großereignisses zu besichtigen, zum anderen zugleich zahlreiche Versuche, diesem
Ereignis eine Bedeutung zuzuschreiben. Weil der Raum Authentizität verspricht, Deutungsangebote bereithält
und auf beiden historischen Ebenen international angelegt ist, eignet er sich
hervorragend als Bühne für Gedenkund Versöhnungszeremonien, nicht
nur für die Veteranen. Mitten auf dem

Die künstliche Hafenanlage vor Arromanches-les-Bains an der Gold Beach
ist bei Ebbe bis heute zu sehen.
16
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016
rungspolitischen Wandel. Sie deuten
die Landung als ein europäisches,
wenn nicht weltweites Fanal der Freiheit. Auf einem anderen Blatt steht
freilich, ob die GIs tatsächlich für die
Befreiung der Europäerinnen und Europäer kämpften (oder nicht vielmehr
nur ihren »Job« machten und Befehle
ausführten) und die Alliierten auch die
Deutschen befreien wollten (und nicht
erst einmal ihre Entmachtung, Entmili-
Zum anderen sind die Landungsstrände symbolische Träger universeller Werte. Sie stehen für Frieden und
Freiheit und bilden einen Ort, der an
den solidarischen Kampf gegen Unterdrückung und Tyrannei erinnert, sich
für Versöhnungsfeiern anbietet und
den Erfahrungsaustausch über Generationen hinweg ermöglicht. Die Strände
verkörpern die Hoffnung auf Befreiung, vor allem in den Konzentrationsullstein bild – Alpeyrie
US-amerikanischen Soldatenfriedhof
fand beispielsweise 2014 die französisch-amerikanische Feier zum 70. Jahrestag der Landung statt.
Ein Irrtum wäre indes die Annahme,
dass sei schon immer so gewesen.
Zwar kümmerte sich bereits seit 1945
ein Komitee um die Gedenkveranstaltungen, seit 1947 sogar auf der Grundlage eines Gesetzes, das die Erinnerung wachhalten und den Tourismus
fördern sollte. Doch erst 1984 fanden
die Feiern weltweite Beachtung, als
US-Präsident Ronald Reagan zum
40. Ja­hrestag in die Normandie reiste.
Erst­mals seit 1954 ließ sich der französische Staatspräsident blicken, ebenso
die britische und die belgische Königin. Die Zahl prominenter Politikerinnen und Politiker stieg zu den Gedenkjahren 1994 und 2004 stetig an. Am
60. Jahrestag nahm erstmals ein deutscher Regierungschef, Bundeskanzler
Gerhard Schröder, an der internationalen Zeremonie teil. Die Feiern am
6. Juni 2014 bildeten den vorläufigen
Höhepunkt eines globalen Gedenkaktes und rückten den Küstenstreifen in
das Rampenlicht der Weltöffentlichkeit. Wohl ein letztes Mal nahmen Veteranen teil – die mündlich überlieferte
Erinnerung geht in die kulturelle Erinnerung über.
Sinnstiftung: Einheit in Freiheit
Die Landungsstrände, wie sie sich uns
heute präsentieren, sind das Ergebnis
einer jahrzehntelangen Wechselwirkung von Natur und Kultur, die längst
ihre eigene Vergangenheit hat. Auch
diese »Geschichte zweiten Grades«
(wie der französische Historiker Pierre
Nora sie nennt) lässt sich untersuchen,
was die Normandie für die Geschichtswissenschaft zu einem spannenden
Forschungsfeld macht. Der Küstenstreifen zeugt in besonderem Maße
von der historischen Dynamik des
Raumes. Einschnitte in die Dünenlandschaft und der Bau von Straßen veränderten bereits 1944 die Küste; der
künstliche Hafen beeinflusste das Erscheinungsbild des Meeres. Das Mémorial von 1988, die privat finanzierten neun Meter hohen Skulpturen
(»Les Braves« – Die Tapferen) am
Strand von Omaha Beach 2004, das
2013 eröffnete Panoramakino »Arromanches 360«: Diese Beispiele stehen
für die allmähliche Überformung der
Natur nach 1944/45 mit Erinnerungsorten aller Art und für einen erinne-
5Bundeswehrsoldaten auf dem Soldatenfriedhof La Cambe, 7. Juni 2014.
tarisierung und Entnazifizierung anstrebten). Der Raum war und ist jedenfalls veränderlich, die natürliche
Landschaft zugleich eine kulturelle,
von menschlichen Eingriffen geformte.
Der Gedanke, sie als ein Kulturgut einzuordnen und als Weltkulturerbe zu
begreifen, liegt da nicht fern.
Und tatsächlich: Am 7. April 2014 hat
die Ständige Delegation Frankreichs
bei der UNESCO den Antrag eingereicht, die Landungsstrände der Normandie auf die Liste des Weltkulturerbes zu setzen. Dazu wurden an der
Küste eine Kern- und eine Pufferzone
festgelegt. Zwei Argumente werden
ins Feld geführt: Zum einen stellen die
Landungsstrände ein herausragendes
Beispiel zwischen einem offensiven
und einem defensiven militärischen
System dar. Die Stellungen des Atlantikwalls und die baulichen Maßnahmen der Alliierten waren mit der natürlichen Umgebung eng verbunden
und haben diese nachhaltig geprägt.
lagern und unter den Widerstandskämpfern. Die Überwindung des
At­lan­tikwalls steht für den Beginn der
Befreiung zahlreicher europäischer
Völker durch den Sieg über den Totalitarismus.
Die historische Allianz der beteiligten
Staaten und die europäische Integration seit 1945 werden hier in einen Wirkungszusammenhang gestellt. Die
Landungsstrände stellen die Menschenrechte nicht nur symbolisch dar,
sie dienen auch als Ort ihrer Vermittlung in der Gegenwart. Diese Argumente entsprechen den Aufnahmekriterien IV und VI der UNESCO. Dem
militärhistorischen Ereignis des 6. Juni
1944 wurde seit den 1980er Jahren eine
symbolpolitische Bedeutung zugeschrieben. Mit der Klassifizierung als
Weltkulturerbe würde die Küste ein
Gütesiegel erhalten, das sie unter den
Schutz der Vereinten Nationen stellt.
 Jörg Echternkamp
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016
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Strafvollzug der Wehrmacht
Bundesarchiv Bild 146-2007-0126
Zwischen »Ausmerzung«
und »Bewährung«.
Der Strafvollzug der Wehrmacht
5Verhandlung vor einem Kriegsgericht, Oktober 1941.
D
er Zweite Weltkrieg war wenige
Tage alt, als einige schlesische
Jugendliche Zeugen eines für sie
verstörenden Geschehens wurden: Am
Morgen des 3. September 1939 wurden in einer Sandgrube nahe des alten
deutsch-polnischen Grenzflusses
Prosna deutsche Soldaten exekutiert –
durch deutsche Soldaten. Die den Hingerichteten vorgeworfenen Vergehen
bleiben im Dunkel der Geschichte wie
ihre Namen; aber die Hinrichtung war
Auftakt einer in der deutschen Justizwie Militärgeschichte beispiellosen
Entwicklung.
Wehrmachtjustiz
Im Januar 1934 hatten die deutschen
Streitkräfte eine eigene Justizorganisation erhalten. Fortan unterstanden ihre
18
Soldaten nicht mehr der zivilen Gerichtsbarkeit, wie in der Weimarer Republik, sondern den Militärgerichten.
Durch das von der NS-Regierung erlassene Gesetz über die Einführung einer Militärgerichtsorganisation begann der Aufstieg eines Justiz­apparates, der sich fundamental von seinen
historischen Vorbildern unterschied. In
mehreren Phasen formte sich dieser
Justizzweig, der justizielle sowie polizeiliche Kompetenzen vereinte und
über Jahre hinweg selbst die Befugnisse der politischen Sondergerichte
und des Volksgerichtshofes übertraf.
Bis 1939 schuf die Wehrmachtjustiz
ihre Grundstruktur: Neben den Gerichten entstand ein Straf- und Vollzugsapparat, bestehend aus Arrestund Festungshaftanstalten sowie
Gefängnissen. Zeitgleich arbeiteten Ju-
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risten, die in steigender Zahl eingestellt wurden, an Vorschlägen für neue
Strafgesetze sowie für ein neues Strafverfahrensrecht. Diese Überlegungen
zielten darauf, in einem kommenden
Krieg über eine Justiz zu verfügen, die
sich ausschließlich an militärischen Belangen orientierte. Insoweit argumentierten die maßgeblichen Akteure bereits mit einem »totalen Krieg«, zu dem
Richter durch unverhältnismäßig harte
Urteile beizutragen hätten. Diese Ausrichtung bedeutete eine Abkehr von
der Praxis des Ersten Weltkrieges. Die
Strafjustiz der Jahre 1914 bis 1918
wurde als Negativbeispiel ausgegeben.
Sowohl die militärische Führung als
auch Vertreter der Justiz attestierten
ihr eine Mitschuld an der Niederlage
1918: Gegenüber deutschen Soldaten
waren seinerzeit 48 Todesurteile – aus
Strafen
Die Todesstrafe wurde wegen ihrer als
abschreckend einstuften Wirkung als
»Rückgrat« des Strafsystems ausgewiesen. Dementsprechend wurde ihre
Anwendung zunehmend angeordnet –
sich von Jahr zu Jahr nahezu verdoppelnd. Sträflinge konnten zu Arbeiten
SZ Photo/Scherl
Sicht der Kritiker viel zu wenige – vollstreckt worden. Der Vollzug von Freiheitsstrafen wiederum wurde als nicht
abschreckend und stattdessen als Anreiz abgetan, sich durch das Begehen
von Straftaten dem Frontdienst zu entziehen. Um derartige Milde in Zukunft
zu verhindern, sollte die neue Kriegsjustiz auf weit auslegbare Tatbestände,
strenge Strafen sowie ein vereinfachtes
Verfahrensrecht zugreifen können.
Letzteres sollte insbesondere gewährleisten, dass Prozesse mit großem
Tempo vorangetrieben wurden. Auch
die personelle Ausstattung der Militärjustiz wurde großzügiger geplant, die
Zusammenarbeit mit Polizeiorgani­
sationen ausgebaut und jedes Kriegsgericht motorisiert, um schnelle Ortswechsel zu ermöglichen.
So verfügte die Wehrmacht am
1. September 1939 über neue Möglichkeiten, die Rechtsprechung ihrer Gerichte nach Belieben auszuüben und
auch bei geringfügigen Anlässen die
Todes- oder eine Zuchthausstrafe auszusprechen. Die Zahl der zu verfolgenden Delikte umfasste nunmehr nicht
nur klassische militärische Vergehen,
wie Fahnenflucht, Befehlsverweigerung oder Wachvergehen, sondern betraf auch Handlungen, die als »seelisch
zersetzend« für den Durchhaltewillen
der Bevölkerung angesehen wurden.
Durch die ab Herbst 1939 erlassenen
Kriegsgesetze wurden Tatbestände geschaffen, die jede Form der Unbotmäßigkeit unterdrücken sollten – die
»Wehrkraftzersetzung« ist das bekannteste Beispiel.
Wenn es dem Interesse der Streitkräfte entsprach, konnten die Militärgerichte auch Verfahren gegen deutsche wie ausländische Zivilisten
durch­führen. Von dieser Möglichkeit
machte die Wehrmacht in unterschiedlicher Weise Gebrauch. Teilweise gab
sie Fälle an deutsche, manchmal auch
an landeseigene Strafgerichte besetzter
Gebiete ab. Zu einer intensiven Zusammenarbeit kam es ab 1940 mit den Sondergerichten, ab 1941 auch mit dem
Volksgerichtshof.
5Guillotine und Strick: In der Hinrichtungsstätte der Untersuchungshaftanstalt PragPankraz wurden die Todesurteile vollstreckt.
herangezogen werden, die dem Regime nützlich waren und direkt der
Kriegführung dienten.
Von Militärgerichten zu Freiheitsstrafen verurteilte Zivilisten behielt die
Wehrmacht nur selten in ihren eigenen
Haftanstalten, stattdessen wurden sie
in der Regel den zivilen deutschen Justizbehörden übergeben. Diese hatten,
nach ersten Anläufen im Jahre 1938,
zur Jahreswende 1940/41 ihren Strafvollzug zunehmend in den Dienst der
Rüstungsindustrie gestellt. Wurden
Zivilisten in den besetzten Gebieten
verurteilt, konnten kürzere Freiheitsstrafen dort vollstreckt werden, um
auf­wendige Transporte ins Reichsgebiet zu vermeiden.
Der Vollzug von Freiheitsstrafen für
Wehrmachtangehörige gestaltete sich
unterschiedlich: Zuchthausstrafen
führten stets zu einer Entlassung aus
den Streitkräften. Die Verurteilten verloren ihre Hoheits- und Rangabzeichen
und wurden und an die zivile Justiz in
Deutschland übergeben. Als »ehrlose
Zuchthäusler«, die nicht mehr ihrer
Wehrpflicht genügten, wurde ihr Überleben auf ein nutzbringendes Minimum reduziert. Als besondere Strafschärfung erfolgte statt der Einweisung
in ein reguläres Zuchthaus zumeist
eine Inhaftierung unter entwürdigenden Bedingungen in einem Straflager.
Dort waren die Gefangenen in um-
zäunten Baracken zusammengepfercht
und mussten harte Zwangsarbeit leisten. Als Zeichen ihrer »schweren
Schuld« wurden ihnen die Köpfe kahlrasiert. Die auszehrenden Arbeiten bestanden etwa im Trockenlegen von
Mooren oder im Zerkleinern von Steinen. Wie in einem Konzentrationslager
wurden hier als loyale Unterstützer
der Wachleute Häftlinge mit einer kriminellen Vergangenheit eingesetzt, die
ihre Mithäftlinge gegen Vergünstigungen zusätzlich überwachten und schikanierten.
Der Alltag in einem Wehrmachtgefängnis war zwar ebenfalls auf harte
Arbeit und schikanösen Drill ausgelegt, galt aber als, verglichen mit dem
Zuchthaus, mildere Strafe. 1940 existierten acht Haftanstalten auf dem Gebiet des Deutschen Reiches; im Laufe
des Krieges folgten noch etliche
»Kriegswehrmachtgefängnisse« in den
besetzten Gebieten unter der Gewalt
lokaler Wehrmachtbefehlshaber sowie
der Heeresgruppen. Diese im Ausland
befindlichen Anstalten dienten sowohl
als Anlaufstelle für die Weiterleitung
von Häftlingen ins Reich als auch zur
Vollstreckung von Freiheitsstrafen von
nur wenigen Monaten.
Die Wehrmacht hatte ihren Haftanstalten eine Struktur gegeben, die einer
militärischen Einheit ähnelte: Die Einteilung der Häftlinge erfolgte kompa-
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Strafvollzug der Wehrmacht
Ab 1941: Bewährungsbataillone
Diese, als »Bewährungstruppe 500« bekannte Erweiterung des Vollzuges entstand unter dem Eindruck steigender
Personalverluste und sollte Tausende
von Verurteilten für Kampfeinsätze
nutzbar machen. Abgesehen von Unteroffizieren und Offizieren, die man
aufgrund ihrer Vorgesetzteneigenschaft nicht zu einer Fronteinheit kommandieren konnte, weil der Strafmakel
Anlass zu Ungehorsam geboten hätte,
erschlossen sich so noch zehntausende
weitere Häftlinge zum direkten
Kampf­einsatz: Die Wehrmacht löste
über diese Sondereinheiten auch das
Problem von Häftlingen, die nicht zu
einer Gefängnis-, sondern zu einer
Zuchthausstrafe verurteilt worden waren. Zu den Sondereinheiten konnten
nämlich auch jene versetzt werden, die
wegen der Verurteilung als »wehrunwürdig« galten – insbesondere »Zuchthäusler«. Bereits ab Juni 1941 wurden
diese Bewährungseinheiten an der Ostfront eingesetzt. Mindestens bis 1943
wurde dort von den Kommandeuren
ihr »Kampfwert« als hoch eingeschätzt
– weil insbesondere die verurteilten
Offiziere, Feldwebel und Unteroffiziere durch den Anreiz, Strafmilderung zu erhalten oder gar ihren Eintrag
im Strafregister zu tilgen, besonders
motiviert kämpften.
Die Aufstellung bewaffneter Häftlingsbataillone war die Weiterentwicklung ähnlicher Vorläufer aus dem Ersten Weltkrieg. Anfang 1918 hatten die
bpk
nie- und zugweise; den Wachtmeisterdienst versahen Unteroffiziere des
Heeres. Im Gegensatz zu den zivilen
Gefängnissen waren sie nur selten den
Produktionsstandorten der Rüstungsindustrie angegliedert. Die tägliche
Arbeit umfasste dennoch schwere körperliche Tätigkeiten, wie etwa Kohlen­
schaufeln. Nachmittags war infanteristische Grundausbildung befohlen. Für
die Inhaftierten war grundsätzlich eine
Teilverbüßung der Strafe und eine anschließende gnadenweise Aussetzung
zugunsten eines Einsatzes in einer
Kampfeinheit vorgesehen. Diese
»Strafaussetzung zur Bewährung« war
anfangs, 1939 bis 1941, nur fragmentarisch durch eine bei Kriegsbeginn gewährte Amnestie geregelt und folgte
einem groben Schema: Nach monatelangem harten Vollzug sollten die Delinquenten besondere Tapferkeit an einer Front unter Beweis stellen, um
dadurch einen gnadenweisen Erlass
der (Rest-)Strafe zu erreichen. Gefangene hingegen, die als renitent und
»unbelehrbar« eingestuft wurden, sollten statt einer Bewährung in eine
Straflagerkompanie überstellt werden,
die jedem Wehrmachtgefängnis angegliedert war, wo sie ohne Aussicht auf
Abmilderung der Bedingungen zu
schwersten Arbeiten herangezogen
wurden, wie in den (Zuchthaus-)
Straflagern der zivilen Justizverwaltung. Diese Behandlung wurde erst im
Frühjahr 1941 grundlegend verändert,
als es zur Errichtung von Bewährungsbataillonen kam.
österreichisch-ungarischen Streitkräfte
Tausende von als unzuverlässig gel­
tenden sowie gerichtlich verurteilten
Armeeangehörigen in Arbeitskommandos zusammengefasst, um sie im
Frontbereich zu Schanzarbeiten heranzuziehen.
Das Prinzip der Bewährungsbataillone wurde zunehmend zum wesent­
lichen Faktor des militärischen Strafvollzuges. Neben den Sonder­kampf­einheiten mit ihren »Bewäh­rungs­schüt­
zen« traten ab Frühjahr 1942 weitere
Sonderbataillone: Als bewegliche Heeresgefängnisse wurden Feld-Straflager
und Feld-Strafgefangenenabteilungen
aufgestellt. In ihnen fand zunehmend
der Strafvollzug der verurteilten Soldaten statt. Die Straflager waren dabei für
Häftlinge vorgesehen, die als »unbelehrbar« eingestuft wurden. Für sie waren nicht nur besonders harte und gefährliche Arbeitseinsätze vorgesehen,
sondern sie wurden auch an extrem
unwirtlichen Teilen der Ostfront ein­
gesetzt, wie etwa im nördlichen Norwegen. Für die Feld-Straflager ist
nachgewiesen, dass es immer wieder
Misshandlungen durch das Wachpersonal gab; auch kleinere Vergehen wurden in der Regel standgerichtlich ab­
geurteilt und mit der Todesstrafe
sanktioniert. Gefangene, welche die
dortigen Torturen überlebten, wurden
nach sechs Monaten entweder als »unverbesserlich« in ein Konzentrationslager überstellt, wo sie als sogenannte
unerziehbare Wehrfeinde »ausgemerzt« werden sollten, oder sie gelangten in den Vollzug einer Feld-Strafgefangenenabteilung, wo gegebenenfalls
eine Aussetzung der Strafe zwecks
Einsatz in einem Bewährungsbataillon
angeordnet werden konnte. Alle StrafSonderverbände wurden wie die Be­
wäh­rungs­truppe an der Ostfront eingesetzt.
1942‑1944: Verschärfung
Durch die steigende Konzentration der
Gefangenen in Verbänden veränderte
sich der militärische Strafvollzug ab
1942 zunehmend. Die Gefängnisse
wurden immer mehr zu Drehscheiben
für die Weiterleitung an die verschiedenen Strafabteilungen an der Front.
Dort wurden nur noch die Untersuchungshaft durchgeführt, kurze Strafen verbüßt sowie insbesondere Häft5Reichsarbeitsdienst-Lager Esterwegen
am Fullener Moor.
20
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016
ten Ersatz für die Bewährungsbataillone 999. Zunehmend wurden außerdem Gefangene aus dem Bereich der
zivilen Justiz angefordert. Obwohl das
Justizministerium darauf verwies, dass
der erhebliche Teil der von Häftlingen
ausgeführten Arbeiten besonders
kriegswichtigen Rüstungsprogrammen diente, erzwang Himmler die
Überstellung tausender Häftlinge aus
den Haftanstalten des Reichsjustizministeriums für militärische Strafeinheiten. Zugleich erfolgte die Erweiterung
der Bewährungstruppe 500 um weitere
Einheiten, die – allerdings unter gänzlichen anderen Nummerierungen –
nunmehr auch an der Westfront eingesetzt wurden. Dorthin gelangten nicht
mehr nur Verurteilte, sondern sogar
Untersuchungsgefangene, deren Prozess noch ausstand. Nachdem bereits
in den vorherigen Kriegsjahren auch
zunehmend Todesurteile gnadenhalber in Freiheitsstrafen mit möglicher
Bewährung umgewandelt worden waren, trat 1944 eine weitere Form des
Strafvollzuges hinzu: Nunmehr konnten Todesstrafen vorübergehend ausgesetzt werden. Die Delinquenten
musste für drei Monate in einem Bewährungsbataillon »Bewährungswillen« zeigen, um anschließend entweder begnadigt oder hingerichtet zu
werden.
Zusammenbruch
Die letzten Monate des Krieges waren
durch stetige Überprüfungen sämtlicher Haftorte geprägt, um jeden Gefangenen auf seine Be­wäh­rungs­tauglich­
keit hin zu überprüfen. Zugleich
erfolgte die Aussetzung von Urteilen
der Militärgerichte, die auf eine Freiheitsstrafe lauteten, in der Regel sofort
zum Zwecke der Bewährung, sodass
selbst auf eine Teilverbüßung der Freiheitsstrafe verzichtet wurde.
Die sogenannte Auskämmung der
Haftanstalten nach wehrfähigen Insassen steigerte sich in den letzten Kriegswochen zur Groteske. Befördert durch
Hoffnungen der NS-Führung, man
könne mit Bestraften noch Massenheere personell auffüllen, wurden
auch gänzlich Hinfällige sowie Untaugliche uniformiert und bewaffnet.
Ein Zeitzeuge beschrieb einen Eindruck solcher Strafsoldaten, die in diesem Fall aus einem Arbeitslager in der
Papenburger Moorlandschaft kamen:
»Ein großer Teil dieser Leute erkrankte
schon bei den ersten Ausmärschen. Die
ullstein bild – Archiv Gerstenberg
linge mit Unteroffiziers- oder Offi­
ziersrang inhaftiert. Außerdem ent­
standen auf der Ebene von Divisionen
teilweise eigene Vollzugsformen: sogenannte Strafvollstreckungszüge. Sie
wurden vor allem dort eingerichtet, wo
es keine Wehrmachthaftanstalten in
der Nähe gab und wo auch keine Strafoder Bewährungsbataillone eingesetzt
waren. So fungierten etwa die Strafvollstreckungszüge an der italienischen Front als Straf- und Bewährungsverbände eigener Art: Die Gefangenen wurden teilweise unbewaffnet
zu Arbeiten herangezogen; es kamen
aber auch Kampfeinsätze mit Infanteriebewaffnung in Betracht. Um ausreichende Kampfstärken zu erreichen,
wurden Verurteilte auch aus dem eigenen Divisionsbereich heraus an benachbarte Vollstreckungszüge überstellt.
Daneben wurden zunehmend auch
in den anderen Wehrmachtteilen Sonderformationen für Inhaftierte sowie
zur Bewährung aufgestellt. Die Kriegsmarine unterhielt beispielsweise eigene kleine Bewährungseinheiten im
Ostseeraum, die allerdings rein infanteristisch eingesetzt wurden. Das
Reichsjustizministerium sowie die
zum Teil von diesem unabhängig existierenden Justizverwaltungen deutscher Zivilkommissariate im besetzten
Ausland überstellten zunehmend auch
verurteilte reichs- und volksdeutsche
Zivilisten an die Wehrmacht, um den
personellen Bedarf der Bewährungseinheiten zu bedienen. Dabei gelangten deutsche Zivilisten mit Gefängnisstrafen in die Bewährungstruppe 500,
während für Zuchthausgefangene eine
eigene Formation aufgestellt wurde,
zunächst als »Afrika-Brigade 999«,
später allgemein als Bewährungsbataillon 999 bezeichnet. Schließlich wurden selbst ausländische Wehrmachtsfreiwillige, die Haftstrafen verbüßten,
regelrecht angehalten, sich für Bewährungseinsätze zu melden.
Ab Sommer 1944 kam es schließlich
zu einer weiteren starken Veränderung
des militärischen Strafvollzugsystems.
Infolge seiner Ernennung zum Befehlshaber des Ersatzheeres übernahm
Heinrich Himmler auch die Befehlsgewalt über die Wehrmachtgefängnisse.
Zunehmend wurden nun verurteilte
Wehrmachtangehörige sogenannten
SS-Bewährungsformationen überstellt.
Insbesondere die »Sturmbrigade Dirlewanger« übernahm ab Herbst 1944
tausende Inhaftierte sowie den gesam-
5Zwei Soldaten des Bewährungsbataillons 999 während ihrer Ausbildung in
Belgien, 1942. Ihre Uniformen bestehen zum Teil aus holländischer Beute.
meisten hatten Wassersucht, dick geschwollene Beine und Bäuche, während sie im Übrigen buchstäblich nur
mit Haut überspannte Skelette waren.
Selbst die Ärzte erschauerten beim Anblick dieser ›Moorgerippe‹ [...] Die
Vorstellung, dass Hitler mit solchen
Leuten noch den Krieg gewinnen
wollte, erschien uns allen grotesk und
gespenstisch.«
Die letzten Bewährungsbataillone
und Gefangenenabteilungen wurden
im April 1945 aufgerieben. Die Zahl
der dort zu Tode Gekommenen ist unbekannt und wird vermutlich nie aufgeklärt werden können. Gesichert ist
hingegen, dass die Militärjustiz rund
400 000 Gefängnis- und mehrere zehntausend Zuchthausstrafen aussprach –
gegen Soldaten wie gegen Zivilisten.
 Peter Lutz Kalmbach
Literaturtipps
Manfred Messerschmidt, Die Wehrmachtjustiz
1933‑1945, Paderborn u.a. 2005.
Ulrich Baumann und Magnus Koch (Hrsg.), »Was damals
Recht war ...«. Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der
Wehrmacht, Berlin 2008.
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016
21
D
ullstein bild-S
Service
Das historische Stichwort
The American Way 1917:
Wilson zwischen Isolationismus,
Imperialismus und Idealismus
nal gespalten, nicht zuletzt deswegen,
weil im US-amerikanischen »melting
pot« sowohl deutsche Einwohner als
auch jene aus den Entente-Ländern
dicht nebeneinander lebten.
US-Präsident Woodrow Wilson
musste Überzeugungsarbeit leisten,
um die USA aus ihrer Grundhaltung
des Isolationismus zu lösen. Dieser basierte im Wesentlichen auf der Monroe-Doktrin von 1823, als der damalige
Präsident James Monroe die Nichteinmischung der USA in europäische Angelegenheiten als außenpolitische Maxime formulierte. Diese Doktrin
harmonisierte zunächst mit der Idee
des »Manifest Destiny«, die sich seit
den 1840er Jahren ausbreitete. Das
»Manifest Destiny« beinhaltet, dass die
neuamerikanischen Bevölkerungen
dazu verpflichtet seien, ihre Ideen von
Freiheit und Demokratie auf weniger
privilegierte Nachbarn, also zum Beispiel die indigene Bevölkerung der
USA im Westen des nordamerikanischen Kontinents, auszudehnen. Dies
wurde nicht als Eroberung, sondern als
Zivilisierung verstanden. Das »Manifest Destiny« bietet als Teil des US-amerikanischen Gründungsmythos wichtige Hinweise darauf, wie sich die USA
im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert als Nation selbst verstanden.
Die außenpolitische Doktrin Monroes und der innenpolitische Gründungsmythos des »Manifest Destiny«
bildeten bis zum Ersten Weltkrieg keinen Widerspruch. Dies änderte sich
jedoch in und mit der Aufforderung
Wilsons in seiner Rede vor dem
US-amerikanischen Kongress am
2. April 1917, dem Kriegseintritt der
bpk
ie Kriegserklärung der USA an
das Deutsche Reich am 6. April
1917 erscheint vielen als Konsequenz einer sich fortwährend verschlechternden Stimmung zwischen
den zwei Staaten seit Februar 1915, als
der uneingeschränkte U-Bootkrieg der
Deutschen erste negative Auswirkungen auf den US-amerikanischen Seehandel hatte. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die Entwicklung der Beziehungen komplexer
verlief. Denn bereits im Mai 1915, nach
der Versenkung des Passagierdampfers »Lusitania«, schränkte die deutsche Führung den U-Bootkrieg wieder
ein. Die Stimmung in den USA war
auch 1915 alles andere als eindeutig für
oder gegen die Kriegserklärung an das
Deutsche Reich. Vielmehr war die Bevölkerung in dieser Frage tief emotio-
5Washington D.C., vor dem Kongressgebäude, April 1917: US-Präsident Wilson hält eine Rede an die Menge.
22
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016
Spanisch-Amerikanischen Krieg von
1898 bereits gegeben. Umso wichtiger
war nun die idealistische, anti-imperiale Haltung Wilsons in dem Sinne,
dass er öffentlich jeden Eroberungswillen ablehnte.
Die Neutralität der USA, sprich ihr
Isolationismus, sei angesichts der Bedrohung des Weltfriedens und der
Freiheit der Bevölkerungen, nicht länger möglich, so Wilson. Den Kriegseintrittplänen des Präsidenten half, dass
das Deutsche Rreich im Januar 1917
den uneingeschränkten U‑Bootkrieg
wieder aufgenommen und mit dem sogenannten Zimmermann-Telegramm
viele Sympathien in den USA verspielt
hatte. Der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Arthur Zimmermann, hatte
leichtfertig versucht, Mexiko als Bündnispartner gegen die USA zu gewinnen
und den Mexikanern dafür ihre im Mexikanisch-Amerikanischen Krieg von
1848 an die USA verlorenen Gebiete
angeboten. Diese Depesche war abgefangen worden, Wilson nahm in seiner
Rede direkten Bezug darauf. Für Wilson stellte der Isolationismus also nicht
länger eine politische Handlungsoption dar. Erklärtes Kriegsziel war die
Implementierung seiner politischen
Vorstellungen im von Krieg gebeutelten Europa.
Hier sprach der Idealist Wilson, der
sich auch in seiner Rede immer wieder
gegen imperialistische Bestrebungen
der »preußischen« Gegner wendete.
Dass diese Rede letztlich den Grundstein für die US-amerikanisches Außenpolitik im 20. und 21. Jahrhundert
legen würde, die durchaus als imperialistische Sicherung von Einflusssphären angesehen werden kann, hat Wilson sicher nicht im Sinn gehabt. Er war
der tiefsten Überzeugung, dass dieser
Weltkrieg ein »War That Will End War«
sein würde, wie der Schriftsteller H.G.
Wells 1912 titelte. Dass Wilsons Auffassung von der Universalität »US-amerikanischer« Werte wie Freiheit und Demokratie durch das Bedürfnis nach
nationaler Sicherheit und Prosperität
geprägt war und auf Werten einer
christlich geprägten, weißen Ostküstenoberschicht beruhte, stand 1917
nicht im Widerspruch zu seinem Idealismus.
Mit seinem am 18. Januar 1918 verkündeten 14-Punkte-Programm, das
die Grundlage für die Gründung eines
Völkerbundes bilden sollte, gilt Wilson
als ein Mitbegründer der wissenschaftlichen Disziplin der Internationalen
bpk
USA zuzustimmen. Darin wird deutlich, dass Wilson das ursprünglich innenpolitische Konzept des »Manifest
Destiny« auf die US-amerikanische
Außenpolitik übertrug: »The world
must be made safe for democracy. Its
peace must be planted upon the tested
foundations of political liberty. We
have no selfish ends to serve. We desire
no conquest, no dominion.«
Wilson betonte nicht nur seine missionarische Überzeugung als Überbringer von Freiheit und Demokratie auf
der Basis politischer Freiheit, sondern
auch, dass die Kriegsbeteiligung der
USA allen Ansprüchen eines gerechten
Kriegs genügen würde, da der Krieg
nicht aus Selbstsucht und Eroberungswillen geführt werde. Hier finden sich
bereits in Grundzügen die Ideen der
»responsibility to protect«, die stark
von den christlichen Werten der damaligen politischen Eliten und dem Missionsgedanken geleitet waren.
Im weiteren Verlauf seiner Rede hob
Wilson hervor, dass sich dieser Krieg
der USA nicht gegen die deutsche Bevölkerung richte, sondern allein gegen
das autokratische System Preußens.
Damit versuchte er gleichzeitig, die
Vorurteile und Verdächtigungen, die
sich nun gegen die deutschstämmige
Bevölkerung in den USA richteten, zu
entschärfen.
Neben der isolationistischen Grundhaltung eines Teils der Bevölkerung
bestand eine zweite Schwierigkeit für
Wilsons Kriegseintrittpläne darin, die
US-Amerikaner als Angehörige einer
gemeinsamen Nation und nicht primär
als französisch-stämmige, deutschstäm­mige oder russisch-stämmige Einwohner anzusprechen. Hier hatte das
nationalistische 19. Jahrhun­dert zwar
bereits erste Einigungstendenzen hervorgebracht, doch erinnerte der europäische Krieg die US-amerikanischen
Bevölkerungsgruppen wieder an ihre
unterschiedliche Herkunft. Der Krieg
war also bereits vor 1917 in den USA
ein wichtiges Thema.
Vor allem um daraus resultierende
innenpolitische Konflikte zu vermeiden, hatte Wilson noch bis zum Februar 1917 auf der Neutralität der USA
bestanden. Um weitere innenpolitische
Debatten zu unterbinden, musste Wilson auch denjenigen den Wind aus den
Segeln nehmen, die jegliche Einmischung in die Angelegenheiten anderer Länder als Imperialismus ansahen
und daher ablehnten. Eine solche Diskussion hatte es im Anschluss an den
5Woodrow Wilson (1856‑1924), der
28. US-Präsident (1913‑1921) an
seinem Schreibtisch, 1918.
Beziehungen sowie als Vertreter des
Idealismus – in Abgrenzung zum Realismus. Wilsons Denken beruhte damit
zum einen auf der Erwartung des Philosophen Immanuel Kant, dass Demokratien eher zum Frieden tendierten
als autokratische Systeme, und zum
anderen auf der Annahme, dass die Institutionalisierung von Beziehungen
zwischen Demokratien – z. B. durch einen Völkerbund – die gewaltsamen
Konflikte zwischen Staaten überwinden könne. Er erkannte darüber hinaus, dass die neue Stärke der USA nach
dem Niedergang des Britischen Empire auch eine neue Verantwortung für
diese mit sich brachte. Die USA lösten
im Zuge des Ersten Weltkriegs die Briten von ihrer Vormachtstellung auf
wirtschaftlichem, militärischen, technischen und ideologischen Gebiet ab
und übernahmen damit die Rolle, die
sie bis heute innehaben.
Wilson wollte die Macht der Nationalstaaten und der zwischenstaatlichen
Kriege mit der Schaffung des Völkerbunds einhegen: »There must be, not a
balance of power, but a community of
power; not organized rivalries, but an
organized common peace.« Aber obgleich der Idealismus Wilsons letztlich
an der realen Politik scheiterte und auf
den Ersten ein Zweiter Weltkrieg folgte,
wurde mit der Gründung der Vereinten Nationen 1945 an seine Ideen angeknüpft. Die ursprüngliche Idee des
­»Manifest Destiny« ist dabei erhalten
geblieben.
Maja Bächler
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016
23
Service
Neue Medien
Erster Weltkrieg
Z
ugegeben, in den letzten drei Jahren
kam man kaum am Ersten Weltkrieg vorbei. Überall wimmelte es von
neuen Büchern und Zeitschriften, von
Filmen und Internetportalen, von Comics und Fernsehsendungen, die jeden
Aspekt des Krieges ausgeleuchtet haben sollten. Und dennoch gibt es immer noch etwas zu entdecken, das sich
zu entdecken lohnt: Der YouTubeChannel »The Great War« veröffentlicht jede Woche eine neue Episode, die
den Ersten Weltkrieg in jener Woche
vor 100 Jahren nachverfolgt. Die Beiträge decken alle wichtigen militärische und politische Ereignisse ab, erklären Zusammenhänge und Hintergründe. Dazu werden Originalvideos
aus dem Archiv von Pathé-Film, Fotografien und eigens produzierte Karten
und Grafiken eingesetzt. Moderiert
wird die Sendung von Indiana Neidell,
dem es – gemeinsam mit dem Team
hinter den Kulissen – gelingt, auch
komplizierte Themen informativ und
unterhaltsam zu gestalten. Neben der
wöchentlichen Episode werden in Spezialausgaben auch einzelne Aspekte
YouTube-Kanal »The Great War Channel«, https://www.
youtube.com/user/TheGreatWar
wie Uniformen, Waffen und Kuriositäten aus dem Krieg vorgestellt. Übrigens: Wer nicht mehr die Zeit hat, sich
alle Videos anzusehen, um jetzt noch
einzusteigen, kann auf die sogenannten Recaps zugreifen. Hier sind die Ereignisse mehrerer Monate in etwa siebenminütigen Videos nochmals zusammengefasst.
Der Kanal zeichnet sich durch eine
außergewöhnlich starke Einbindung
von Zuschauerinteressen aus: In der
Serie »Out of the Trenches« beantwortet Neidell regelmäßig eingesandte
24
Fragen, dazu gibt es auch über Facebook, Twitter und Instagram die Möglichkeit, mit den Machern in Kontakt
zu treten, und bei Reddit diskutieren
die mittlerweile mehr als 450 000 Abonnenten über die einzelnen Episoden
hinaus über die Ereignisse des Krieges,
ihre Familiengeschichten und ihr In­
teresse an den Geschehnissen vor
100 Jahren. Leider wird der Kanal seit
2015 nur noch auf Englisch produziert.
Doch die etwa 100 Videos des deutschen Ablegers »Der Erste Weltkrieg»
sind natürlich weiterhin verfügbar.
fh
!
Comics & Graphic Novels
Rechtsextremismus
D
ie Neonazi-Szene bildete sich in
den 1980er Jahren in Westdeutschland aus. Waren bis dahin sogenannte
Alt-Nazis in rechtsextremen Parteien
und Gruppierungen bestimmend gewesen, fand nun ein Generationenwechsel statt: Junge Männer ohne eigene Erfahrung oder Erinnerung an
die NS-Zeit eigneten sich deren Parolen und Ideen an. Die Neonazis zeichneten sich auch von Beginn an durch
ein erhöhtes Gewaltpotenzial aus. Eine
der Hochburgen der Neonazis ist bis
heute Dortmund-Dorstfeld – einst geprägt durch Bergbau, nach dessen
Ende perspektivlos geworden.
Hier wächst Nils Overkamp in den
1980er Jahren auf und hier spielt auch
die Geschichte, die er in seinem autobiografischen Comic »Drei Steine« erzählt. Als 13-jähriger Schüler beobachtet Nils, wie an seiner Schule junge
Männer von Alt-Nazis für ihre Ideen
begeistert werden; bald werben Jungen
aus seiner Klasse für die neonazistische »Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei« (FAP) und grölen rechtsex­
treme Parolen im Unterricht. Nils bietet
Nils Oskamp, Drei Steine, Stuttgart 2016.
ISBN 978-395798-646-7; 144 S., 19,99 Euro
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016
ihnen Paroli und muss bald um sein
Leben fürchten.
Der Titel »Drei Steine« bezieht sich
auf die jüdische Tradition, als Zeichen
des Gedenkens kleine Steine auf Grabsteine zu legen. Drei solcher Steine
steckt sich Nils eher beiläufig in die
Hosentasche, als er auf dem Nachhauseweg an einem von Neonazis verwüsteten jüdischen Friedhof vorbeifährt
und die zerstörten Grabstätten besucht. Diese drei Steine begleiten ihn
auf seinem Kampf gegen die Neonazis
und stehen sinnbildlich für Nils‘ eigenen Umgang mit Gewaltanwendung.
Das Comic zeichnet sich durch seine
klare, ohne Umschweifen und Schönrederei erzählte Botschaft aus: dem
Rechtsextremismus keinen Platz einräumen, Zivilcourage zeigen, selbst
nicht zum Täter werden. Das Thema ist
leider immer noch hochaktuell, die
rechtsextreme Gewalt hat seit Nils‘ Jugend nicht nachgelassen, wie ein dem
Comic beigefügter Aufsatz deutlich
macht. Daher eignet sich das Comic
insbesondere für den Einsatz im Schul­
unterricht. Hierzu können über die
Seite www.dreisteine.com pädagogische Begleitmaterialien und Hintergrundinformationen abgerufen werden
fh
Soldat Schwejk/Švejk
J
neue
osef Schwejk ist ein rheumatischer
Kerl, der im multikulturell geprägten Prag der Habsburgermonarchie
Hunde mit gefälschten Stammbäumen
verkauft. Als 1914 der Krieg beginnt,
wird er wegen defätistischer Aussagen
festgenommen und für irre erklärt.
Dem Militärdienst entgeht er so zwar
nicht, doch mit seiner Mischung aus
Bauernschläue und Blödheit gelingt es
ihm, eine vergleichsweise angenehme
Stellung als Offiziersdiener zu erhalten. Als solcher führt Schwejk seinen
ganz eigenen Kleinkrieg gegen den
bürokratischen Irrsinn und die Willkür des k.u.k.-Militärapparats. Sein
stumpf-pedantisches Ausführen von
Be­fehlen, seine einfältige Korrektheit
und sein übertriebener Gehorsam treiben alle um ihn herum zur Weißglut,
entlarven schließlich die Sinnlosigkeit
des Krieges und entblößen das Militär
in seiner Lächerlichkeit.
Jaroslav Hašek, Die Abenteuer des braven Soldaten
Schwejk. Lesung mit Helmut Qualtinger, Berlin 2016.
ISBN 978-3-86231-733-2; 1 Audio-CD, ca. 4 h 44 min,
10 Euro
In der Tradition des Schelmenromans schilderte der Prager Autor und
Satiriker Jaroslav Hašek die »Geschichte des braven Soldaten Schwejk«
und schuf damit einen Klassiker der
Nachkriegsliteratur. Hašek, geboren
1883, diente im Ersten Weltkrieg selbst
in einem Infanterieregiment an der
Ostfront, geriet in russische Gefangenschaft und wechselte die Seiten. Er
wurde »Politarbeiter« und Mitglied
der Kommunistischen Partei Russlands. Nach seiner Rückkehr 1920 nach
Prag begann er die Niederschrift des
»Soldaten Schwejk«. Dieser wurde zunächst als Fortsetzungsroman für wenig Geld in Gasthäusern verkauft; die
letzten Teile allerdings blieb Hašek seinen Lesern schuldig: Er starb 1932 im
Alter von 39 Jahren an Tuberkulose.
Trotzdem wurde der unvollendete
Roman zu einem Welterfolg: Zahlreichen Übersetzungen folgten Bühnen­
adaptionen und später Verfilmungen,
u.a. mit Heinz Rühmann und Fritz Muliar. Auch der österreichische Kabarettist Helmut Qualtinger hat sich mit
dem Text auseinandergesetzt: Seine
Version des »Schwejk« las er 1982 für
den Bayerischen Rundfunk ein. Jetzt
erscheint sie in gekürzter Fassung auf
Audio-CD in der Reihe »Große Werken
– Große Stimmen« des Deutschen Audioverlages. Qualtinger setzt die klassische deutsche Übersetzung von Grete
Reiner aus dem Jahre 1926 meisterhaft
um. Seine Figuren sprechen einmal
viel zu schnell, einmal hoch, gerne versoffen, schnoddrig, nuschelnd. Die szenenhafte Anlage des Romans, der nicht
unbedingt immer einer stringenten
Handlung folgt, kommt dem Hörbuch
zugute: So lassen sich einzelne Episoden auch wunderbar einzeln hören –
bei einer Gesamtlaufzeit von mehr als
viereinhalb Stunden durchaus zu empfehlen.
Der böhmisch-deutsche Dialekt, den
Grete Reiner den Figuren in den Mund
legte, gibt dem Text eine ganz eigene
Note. Bertolt Brecht fand ihn urkomisch und setzte ihn mit »Schweyk im
Zweiten Weltkrieg« fort. Kurt Tucholsky hingegen bezeichnete die
Übersetzung als »unmöglich«. Tatsächlich ist sie sehr weit weg vom tschechischen Original, weswegen der
deutsch-tschechische Dichter Antonín
Brousek das Buch neu übersetzte und
mit einem Anhang versah. Dieser erklärt u.a. Ortsnamen und militärische
Fachbegriffe des Ersten Weltkrieges.
Die Neuausgabe ist nicht minder erschreckend-komisch, macht aber bereits im Titel die Unterschiede deutlich: Aus dem »braven Soldaten
Schwejk« wird »der gute Soldat Švejk
im Weltkrieg«.
Ob nun zum Hören oder zum Lesen:
Beide Neuerscheinungen laden zur
Entdeckung oder zur neuerlichen Auseinandersetzung mit dem unvergleichlichen »Soldaten Schwejk/Švejk« aus
dem untergegangenen Vielvölkerreich
ein. Sie sorgen dafür, dass der Roman
auch nach beinahe hundert Jahren
nicht in Vergessenheit geraten wird,
und machen deutlich, dass Figuren
wie der Feldkurat Katz, der Oberleutnant Lukáš oder der Geheimpolizist
Bretschneider letztlich überzeitliche
Phänomene sind.
fh/hp
Jaroslav Hašek, Die Abenteuer des guten Soldaten
Švejk im Weltkrieg. Neuübersetzung, Stuttgart 2016.
ISBN 978-3-15-020411-5; 1008 S., 18,95 Euro
Lebensläufe
W
o finden sich zuverlässige Informationen zu Personen der deutschen Geschichte? Die Bayerische Akademie der Wissenschaften gab von
1875 bis 1912 die Allgemeine Deutsche
Biographie (ADB) in 55 Bänden nebst
Register heraus. Seit 1953 erscheint in
diesem Hause die Neue Deutsche Biographie (NDB). Sie wird immer wieder
aktualisiert und umfasst 25 Bände.
Beide Werke, die ADB und die NDB,
sind inzwischen auch unter dem Namen Deutsche Biographie online verfügbar. Sie verzeichnen insgesamt ca.
93 000 Personen. Zudem ist die Seite
mit Personenangaben aus einschlägigen Forschungsinstitutionen angereichert worden. Somit kann auf die
Deutsche Nationalbibliothek, das Bundesarchiv, das Deutsche Literaturarchiv, das Deutsche Museum, das Deutsche Rundfunkarchiv u.v.a. zugegriffen werden. hp
www.ndb.badw-muenchen.de
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016
25
Service
Lesetipp
Jugend erforscht Geschichte
Barock
»Projekt« Europa
J
W
T
ugendliche für Geschichte zu begeistern ist manchmal schwierig. Wie es
gelingen kann, zeigt ein regionales
Projekt aus Freiburg im Breisgau: Über
Jahre hinweg haben Schülerinnen und
Schüler Biografien von Menschen, die
selbst als Kinder und Jugendliche in
der Region der Verfolgung durch die
Nazis ausgesetzt waren, recherchiert.
Die Jugendlichen fahndeten nach Zeitzeugen sowie in Archiven und stellten
eine beeindruckende Ausstellung auf
die Beine, die nun als Katalog veröffentlicht wurde.
Unter den porträtierten Personen befindet sich beispielsweise Feldwebel
Erwin Dold, der als Jagdflieger 1943
abgeschossen und verwundet wurde.
Danach wurde er als Wachmann in
zwei KZ-Außenlagern eingesetzt und
der SS unterstellt. Als Lagerkommandant ab März 1945 nutzte Dold seine
begrenzte Macht, um die Gefangenen
bis zur Befreiung vor Übergriffen zu
schützen.
Kurt Lion (geb. 1926) wurde 1940 wegen seiner jüdischen Herkunft in ein
Lager in Frankreich deportiert und
schloss sich nach geglückter Flucht der
Résistance an. Nach der Landung der
Alliierten in der Normandie wurde er
1944 als Unteroffizier in die »Free
French Airforce« aufgenommen.
Anton Reinhardt (geb. 1927), als Sinto
mehrfach verhaftet und von Zwangssterilisierung bedroht, gelang zwar
1944 die Flucht in die Schweiz, doch
nach Ablehnung seines Asylantrags
wurde er nach Deutschland abgeschoben. Erneut gelang ihm die Flucht aus
einem Lager, bevor er im März 1945 von
einer Volkssturmeinheit aufgegriffen
und als Deserteur standrechtlich zum
Tode verurteilt und erschossen wurde.
Die Täter wurden Ende der 1950er Jahre
zunächst zu Haftstrafen verurteilt, das
Urteil aber in zweiter Instanz aufgehoben und zur Bewährung ausgesetzt. Die
Forschungsleistung der Freiburger
Schüler wirft so auch ein erschreckendes Licht auf die Justiz der Bundesrepublik in den Nachkriegsjahren.
ks
ussten meine Großeltern bei ihrer Hochzeit im Jahre 1930, dass
sie in gerade in einer Zwischenkriegszeit bzw. im Zeitalter der Weltkriege
lebten? Nein, denn Epochen werden
erst im Nachhinein erstellt und benannt.
Nämliches galt für die Zeit zwischen
1580 und 1770, die wir heute als Barock
bezeichnen. Das vorzustellende Buch,
ein Ausstellungskatalog, widmet sich
dieser Epoche in sieben Abschnitten:
Was ist Barock?, Raum, Körper, Wissen, Glaube, Ordnung und Zeit.
Militärisch sind vom Ausgang des
16. bis zum 18. Jahrhundert eine ganze
Reihe von Entwicklungen zu beobachten, die natürlich nicht von gesellschaftlichen Prozessen abgekoppelt betrachtet werden können: Aus den nur
in Kriegszeiten angeworbenen Armeen
wurden stehende Heere; die Möglichkeit, etwas »von der Pike auf« zu lernen, war durch das Steinschlossgewehres mit Bajonett nicht mehr gegeben.
Festungsbau, Lineartaktik, Exerzieren
und Kriegskunst folgten geometrischen Regeln, die zu einem beherrschenden Teil der Epoche wurden, so
etwa bei Residenzen, Gärten und Tänzen. Die »neu« entdeckten Kontinente
erforderten militärisches Engagement
zu Lande und zu See. An militärischen
Konflikten herrschte kein Mangel, da­
runter der Dreißigjährige Krieg, der
Spanische Erbfolgekrieg, der Nor­
dische Krieg und der Siebenjährige
Krieg. Sie spiegelten sich in den zeitgenössischen Drucken, Flugblättern und
Büchern wider. Die Wissenschaft
schließlich leistete auch hier ihre Beiträge, mit Isaac Newtons Erkenntnissen zur Schwerkraft ließen sich die
Flugbahnen von Kanonenkugeln und
Granaten berechnen.
Davon erzählt das vorliegende Buch
und macht die skizzierten Entwicklungen anhand der Objektfotos sehr anschaulich. Meine Großeltern hätten es
sicher gerne mit mir durchblättert.
hp
Monika Rappenecker (Hrsg.),
Nazi-Terror gegen Jugendliche. Verfolgung, Deportation und Gegenwehr in
der Region Freiburg, UbstadtWeiher 2016. ISBN 978-389735-917-8; 319 Seiten mit
365 Abbildungen, 24,80 Euro
26
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016
Alfried Wieczorek,
Christoph Lind und
Uta Coburger (Hrsg.),
Barock. Nur schöner
Schein?, Regensburg
2016. ISBN 978-37954-3111-2; 232 S.,
34,95 Euro
o Hell and Back – so beschreibt der
renommierte britische Historiker
Ian Kershaw die Geschichte Europas in
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Es ist eine Epoche, die von Krieg bestimmt war und in der Europa sich fast
selbst zerstörte.
Kershaw verdeutlicht in dramaturgischer Weise die Extreme des Zeitalters
der Weltkriege. Das instabile europäische Staatensystem und der Zweite
Weltkrieg haben ihre Wurzeln im Ersten Weltkrieg, für dessen Entstehen
Kershaw – im Gegensatz zur Schlafwandler-These von Christopher Clark
– eine entscheidende Rolle beim Deutschen Reich sieht.
Doch auch in den dunkelsten Schatten ist immer Licht zu finden, deshalb
endet dieser erste Teil eines auf zwei
Bände angelegten Werkes nicht 1945,
sondern 1949. Der Kampf ums Überleben in den Ruinen des Krieges zeigt in
Ansätzen, dass es nicht beim »Höllensturz« geblieben ist, und bietet eine
erste Vorschau auf einen Austritt aus
der Hölle, der uns voraussichtlich im
zweiten Band erwarten wird.
Kershaws Werk ist eine äußert gelungene Symbiose von Darstellungen großer Linien und Zusammenhängen sowie von immer wieder eingefügten
persönlichen Erfahrungen, die einen
nahen Einblick in das Leben und die
Geschichten einzelner Menschen geben. Dadurch entsteht ein greifbareres
sowie breites – und nicht nur west­
europäisch zentriertes – Bild des damaligen Europas.
Sprachlich ist dieses Werk brillant –
nüchterne Analyse und ergreifende Erzählung zugleich. Für den interessierten Leser bietet es einen sehr
verständlichen Überblick, um diejenigen Kräfte besser zu verstehen, die in
der jüngeren Vergangenheit unsere
heutige Welt geformt haben. »Höllensturz« ist nicht nur Historie, sondern
auch ein Appell an die Idee eines Europas und eine Ansage gegen nationalstaatlichen Egoismus – ein Thema,
wie es aktueller
nicht sein kann.
ch
Ian Kershaw, Höllensturz. Europa 1914 bis
1949, München 2016.
ISBN 987-3-421-04722-9;
768 S., 34,99 Euro
Wahrheitssuche
Krise der Demokratie
Adenauers Widersacher
W
D
A
er hat am 27. Februar 1933 den
Reichstag angezündet? Diese
scheinbar einfache Frage erhitzt seit
83 Jahren die Gemüter. War es Marinus
van der Lubbe, der niederländische
Einzeltäter, den die Nationalsozialisten
zunächst – und erfolglos – als Werkzeug einer angeblichen kommunistischen Verschwörung darstellten? Oder
waren es die Nationalsozialisten selbst,
um sich so einen Anlass zum »Durchgreifen« gegen Kommunisten und alle
anderen politischen Gegner zu verschaffen? Mitwisser aus Gestapo und
SA sagten 1945/46 unter Eid aus, ein
Berliner SA-Trupp habe den Reichstag
in Brand gesetzt. Dagegen setzte sich
in den 1950er Jahren die These von der
Alleintäterschaft van der Lubbes
durch, die zunächst durch den Hobbyhistoriker und Verfassungsschutzbeamten Fritz Tobias und den »Spiegel«
vertreten, dann von renommierten
Historikern wie Hans Mommsen und
dem Institut für Zeitgeschichte übernommen wurde und bis heute vielerorts unbestritten verbreitet wird.
Brauchte es erst den zeitlichen und
räumlichen Abstand eines jungen Historikers aus den USA, um die alten Mythen zu erschüttern? Offenbar ja: Benjamin Carter Hett diskutiert auch die
These, ein Kommando der SA habe die
Aktion im Auftrag des Berliner Gauleiters Joseph Goebbels, aber ohne Wissen
Adolf Hitlers durchgeführt. Mindestens so wichtig wie der Blick auf den
Tathergang sind aber Hetts kontrovers
aufgenommene Forschungen zur Geschichte der Geschichte des Reichstagsbrands. Sie zeigen, wie sehr die Einzeltäterthese von Politikern und Medien
gegen Zweifler durchgesetzt werden
sollte, deckt »Quellenfälschungen, erfundene Beweise und Erpressungsversuche« auf. Eine Geschichte wie ein
Krimi, 1933 und in der Bundesrepublik
der 1960er Jahre.
ks
Benjamin Carter Hett,
Der Reichstagsbrand.
Wiederaufnahme eines
Verfahrens, Reinbek bei
Hamburg 2016. ISBN
978-3-498-03029-2;
640 Seiten, 29,95 Euro
emokratien werden immer wieder
durch verschiedenste innere und
äußere Bedrohungen unter Druck gesetzt: Aktuell wird Europa etwa durch
schwache Finanzmärkte, Flüchtlingsströme oder auch politische Rechtsrücke herausgefordert. Doch gerade
diese Phänomene sind nicht neu. Die
Zeit zwischen den Weltkriegen stellte
eine der stärksten Prüfungen dar, an
deren Ende insbesondere die deutsche
Demokratie den Kampf verlor.
Verlorener Krieg, revisionistische
und antiparlamentarische Bestrebungen, Wandel des Staatswesens, Inflation, Agrarkrise, Wirtschaftskrise, Aufstieg des Faschismus – Boris Barth
identifiziert eine lange Liste der wichtigsten politischen, wirtschaftlichen
und gesellschaftlichen Destabilisierungsfaktoren der Zwischenkriegszeit
in den verschiedenen Ländern Europas. Dieser weite Blick verdeutlicht,
dass die Krise ganz Europa betraf und
auch mehr beinhaltete als nur den bekannten Versailler Vertrag oder die
Wirtschaftskrise.
Barth betrachtet auch die Defizite, die
in ihrer Bedeutung für eine Destabilisierung bislang häufig – wie etwa die Agrarkrise – unterschätzt wurden. Für ihn
hat das Gesamtpaket aus einer schwachen Nachkriegsordnung und all den
einwirkenden Faktoren solch eine des­
truktive Dynamik entwickelt, dass die
politischen Handlungsträger macht­los
erschienen. Der Aufstieg der Dik­ta­turen
liegt nicht an deren Stärke, sondern an
der Schwäche der Demokratie.
Barths Werk vereint mehrere Vorteile
für die Leser: Die knapp gehaltene
Überblicksdarstellung findet das richtige Maß zwischen thematischer sowie
räumlicher Weite der Darstellung und
einer dennoch analytischen Tiefe. Dazu
ist es noch leicht verständlich geschrieben. Ob die Krise wirklich so hoffnungslos war, wie beschrieben, davon
können sich die Leser in einer kurzweiligen Lektüre selbst überzeugen.
ch
Boris Barth, Europa nach
dem Großen Krieg.
Die Krise der Demokratie
in der Zwischen­kriegszeit
1918‑1938, Frankfurt a.M. 2016.
ISBN 978-3-593-50521-3;
361 S., 34,95 Euro
ls »Kämpfer für Frieden, deutsche
Ehre und Freiheit« würdigt der
Grabstein auf dem Freiburger Hauptfriedhof den dort ruhenden Altkanzler
Joseph Wirth. Im Mai 1921 wurde der
erst 41-jährige Zentrumspolitiker zum
bis heute jüngsten Kanzler gewählt.
Seiner Nominierung war eine partei­
interne Kampfabstimmung gegen den
Kölner Oberbürgermeister Konrad
Adenauer vorausgegangen, Quell einer jahrzehntelangen erbitterten Gegnerschaft der beiden Protagonisten des
politischen Katholizismus. Wirth blieb
bis November 1922 Reichskanzler;
weltweit bekannt wurden er und sein
Außenminister Walter Rathenau durch
den Rapallo-Vertrag mit Sowjetrussland. Als »Erfüllungspolitiker« gegenüber den Alliierten wurden sie aber
auch Ziel des rechtsextremen Hasses.
Nach der Ermordung Rathenaus klagte
Wirth am 25. Juni 1922 im Reichstag –
auf die Abgeordneten der Deutschna­
tionalen zeigend – leidenschaftlich an:
»Da steht der Feind, der sein Gift in die
Wunden des Volkes träufelt. Da steht
der Feind – und darüber ist kein Zweifel: dieser Feind steht rechts!«
Weniger bekannt und spannend sind
die Dokumente aus der zweiten Nachkriegszeit: Wirth kämpfte in der CDU
gegen die auf Westintegration zielende
Politik seines alten Widersachers Adenauer. Für ihn bedeutete Adenauers
Kurs eine Absage an die deutsche Einheit. Wirth scheute sich nicht, Kontakt
zu Politikern aus der DDR aufzunehmen und sogar vor der deren Parlament, der Volkskammer, zu reden. Die
Bundesbehörden verweigerten Wirth
seine Pensionsansprüche als Reichminister und Reichskanzler bis zu seinem
Tod 1956. Ob diese für die Bundesrepublik peinliche »Rentenstrafe« eine
Form Adenauerscher Vergeltung für
1921 war oder eine Retourkutsche für
Wirths aktuelle Deutschlandpolitik, sei
dahingestellt. Wirths spannendes,
prinzipientreues politisches Leben ist
eine Entdeckung durch die Leser wert.
ks
Bernd Braun/Ulrike HörsterPhilipps, In jeder Stunde
Demokratie. Joseph
Wirth. Ein politisches
Portrait in Bildern und
Dokumenten,
Freiburg ­i.­Br. 2016.
ISBN 978-3-86833-159-2;
216 S., 49,00 Euro
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016
27
Service
Die historische Quelle
Staatsbibliothek zu Berlin
Kurierausweis für Dietrich Bonhoeffer als V-Mann der Abwehr
D
as Blatt Papier wirkt unscheinbar, doch es berechtigte seinen Inhaber 1942 in offizieller Mission des Auswärtigen Amtes in das neutrale
Schweden zu reisen. Interessant ist vor allem die Person, auf die der Kurierausweis Nr. 474 ausgestellt
wurde: Dietrich Bonhoeffer (1903‑1945), einer der bedeutensten evangelischen Theologen, Publizisten,
Hochschullehrer, zudem Angehöriger der Bekennenden Kirche und Gegner Adolf Hitlers. Bonhoeffer war
entschlossen, den Diktator auszuschalten; er sah in ihm
buchstäblich den »Antichrist«. Und Widerstand war
dem Pfarrer dadurch möglich, da er während des Krieges im Amt Ausland der Abwehr, dem militärischen
Geheimdienst, beim Oberkommando der Wehrmacht
an einer Schaltstelle der Konspiration arbeitete. Bonhoeffer und seinem Chef Admiral Wilhelm Canaris oblagen die internationale Informationsbeschaffung über
die großen Vorgänge der Politik. Canaris verwendete
Bonhoeffer als »geeigneten V-Mann«, zudem konnte dieser so vor dem Militärdienst bewahrt werden. Zu dessen
wichtigsten Aufträgen gehörte die Reise nach Schweden
am 30. Mai 1942, für welche dieser Kurierausweis ausgestellt wurde. Dort sollte Bonhoeffer die Lage für einen
künftigen Frieden sondieren Dazu traf er seinen alten
Freund und Verbündeten im Kampf der anglikanischen
Kirche gegen Hitler, den englischen Lordbischof George
Bell. Doch dieser musste Bonhoeffer mitteilen, dass er vor
Reisebeginn mit Anthony Eden, dem Kriegs- und Außenminister im Kabinett Churchills, ausführlich gesprochen
und gefragt habe, was er tun solle, wenn in Schweden
von irgend einer Seite Friedensfühler ausgestreckt würden. Eden habe ganz schroff geantwortet, vor einem britischen Sieg würde über Frieden nicht gesprochen.
Gänzlich verschieden von der Haltung Edens zu den
Problemen des Krieges war die von Sir Stafford Cripps,
einem christlichen Sozialisten, den Bonhoeffer ebenfalls
traf. Dieser Informant sprach mit großer Besorgnis von der jetzigen und künftigen Macht
der Sowjetunion nach dem Sieg über Hitler,
die in Großbritannien fast überall unterschätzt
werde.
Seinem Freund Bell überreichte Bonhoeffer
wertvolle Informationen über den deutschen
Widerstand, darunter die Namen derer, die
im Amt Abwehr und in der Wehrmacht das
Attentat gegen Hitler und den Putschversuch
planten. Damit sollte der britischen Regierung
der Willen der Angehörigen des Widerstandes an einem Waffenstillstand nach dem Sturz
des Hitlerrregimes zum Ausdruck gebracht
werden. Eine solche Wende in den Allianzen
der kriegführenden Mächte, auch ein Bündnis
der westlichen Alliierten mit Deutschland gegen die Sowjetunion hätte die Kriegslage völlig verändert. Bell übergab die Informationen
an Eden, doch dieser war an weiteren Kontakten zu deutschen Widerständlern nicht interessiert. Auf der Konferenz in Casablanca beschlossen der britische Premierminister
Winston S. Churchill und US-Präsident Franklin D. Roosevelt im Januar 1943, das Deutsche
Reich bis zur bedingungslosen Kapitulation
zu bekämpfen.
Das Blatt Papier stammt aus dem Nachlass
Dietrich Bonhoeffers im Politischen Archiv
des Auswärtigen Amtes. Der Theologe wurde
1943 verhaftet und im April 1945 im KZ Flossenbürg ermordet.
Roger Töpelmann
Quelle: bpk/SBPK, Nachlass 299 Bonhoeffer
A61,5.
28
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016
Geschichte kompakt
22. März 1692
1917
Kurfürstentum Hannover
Februarrevolution
R
A
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016
29
pk/Adoc Photos
bpk
m Anfang stand die Sieben. Nach Jahrzehnten der
ussland Jahresende 1916: Blanke Not bis zum Hunger
Wirren, nach König und Gegenkönig bzw. Kaiser
hatten die Kriegsmüdigkeit und Unzufriedenheit besonders nach der gescheiterten Brussilow-Offensive
und Gegenkaiser regelte die von Kaiser Karl IV. 1356
derart gesteigert, dass die Situation im Winter eskalierte:
verfügte Goldene Bulle, wie die Thronfolge im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation vor sich gehen sollte. Der
Am 9. Januar 1917 fanden in vielen Teilen Russlands, vor allem in Petrograd und Moskau, Massendemonstrationen
König und künftige Kaiser war von sieben Fürsten des Reiches zu küren, also zu wählen, den Kur-Fürsten. Dieses wastatt, die sich in den folgenden Wochen in Hungermärschen
ren die Erzbischöfe von Köln, Mainz und Trier, der König
und Streiks fortsetzten. Am 23. Februar 1917 (8. März)
von Böhmen, der Pfalzgraf bei Rhein, der Markgraf von
schlossen sich Textilarbeiterinnen und Hausfrauen am Internationalen Frauentag den in den Ausstand getretenen FabBrandenburg und der Herzog von Sachsen. Während des
rikarbeitern der Petrograder Putilov-Werke an. Sie verlangDreißigjährigen Krieges, 1623 bzw. 28, kam eine weitere
ten in Protestzügen nach Brot. Dies uferte in Forderungen
Kurstimme für den Herzog von Bayern hinzu.
nach der Beendigung des Krieges und der Abdankung des
Gegen Ende des 17. Jahrhunderts strebten die meisten der
Zaren aus. Hieraus entwickelte sich die zweite Revolution
Fürstenhäuser des Reiches nach einer Rangerhöhung. Die
im Zarenreich nach 1905. In den darauffolgenden Tagen legKurfürsten wollten Könige werden, was den Sachsen (Wettin) in Polen gelang, womit die Brandenburger (Hohenzolten immer mehr ihre Arbeit in den Fabriken nieder, bereits
lern) in Preußen erfolgreich waren und die Bayern (Wittelsam 25. Februar wurde in der Hauptstadt von den Fabrikarbach) in Spanien scheiterten.
beitern der Generalstreik ausgerufen: Über 300 000 Menschen demonstrierten auf den Straßen der Hauptstadt. Das
Ernst August von Braunschweig-Calenberg (1629‑1698)
war zunächst für Kirchliches vorgesehen und wurde FürstRegime setzte, wie schon 1905, daraufhin das Militär ein,
bischof von Osnadas in die Menschenmassen feuerte und bis zu 150 Menbrück. Erst 1679 beschen erschoss. Dagegen verweigerten sich zunächst einkleidete er zusätzlich
zelne Soldaten, die sich stattdessen der Demonstration anschlossen. Schließlich wechselten ganze Regimenter die
ein weltliches Amt
Seite: Der bewaffnete Arm der herrschenden Autokratie verund wurde Fürst von
sagte den Gehorsam und zwang die Regierung am 27. FebCalenberg. Er unterstützte Kaiser Leoruar zum Rücktritt. Einen Tag später bildete sich eine »Doppold I. in wichtigen
pelherrschaft« zweier Machtzentren heraus: die Provisorischen Regierung unter Fürst Georgij J. Lwow und der ArbeiFragen u.a. in den Türkenkriegen sowie im
ter- und Soldatenrat. Über die künftige Staatsform sollte
Pfälzer Erbfolgekrieg,
eine Verfassungsgebende Versammlung letztlich im Herbst
führte notwendige Re1917 entscheiden. Doch dazu kam es nicht mehr.
formen in seinem Land
Am 1. März 1917 wurde Nikolaj II. von Dumapräsident
durch, vergrößerte
Michail V. Rodzjanko und Generalstabchef des Oberbefehlshabers der russischen Armee, Michail A. Alekseev, aufseine Herrschaft durch
gefordert, abzudanken. Am 2. März 1917 unterzeichnete
Erbverträge und erhielt eine von ihm lang
der Zar die Abdankungsurkunde für sich und seinen Sohn
angestrebte RangerhöAleksej. Die Herrschaft der Romanov-Dynastie wurde dahung: Unter dem offimit beendet.
ziellen Namen BraunDie Schwerfälligkeit der »Doppelherrschaft«, die Radikaschweig-Lüneburg,
lisierung der oppositionellen Kräfte angesichts der ungelösten Probleme wie die Landreform und vor allem die Fortinoffiziell Hannover,
setzung des Krieges samt seinen fortdauernden Niederlagen
wurde er am 22. März
Ernst August I. von Hannover,
ebneten den Bol1692 Kurfürst dieses
Kupferstich von Pierre Drevet.
schewiki den Weg
Territoriums. Das
bis zur OktoberreReich zählte nun neun Kurstimmen, nunmehr gab es wieder
volution und ihrer
eine ungerade Zahl, was die Wahl wesentlich erleichterte.
Machtergreifung.
Ernst August selbst konnte sich seines Titels nicht allzu
Emilie Terre
lange erfreuen, er starb ein Jahr später. Seinem Sohn Georg
und dessen Nachfolgern jedoch gelang dank Heirats- und
somit Erbfolgepolitik eine Rangerhöhung großen Ausmaßes. Von 1714 bis 1837 waren sie nicht nur Kurfürsten,
später Könige von Hannover, sondern auch Könige von
England, Schottland und Irland sowie des damit verbunde- Februarrevolution
nen Kolonialreiches u.a. in Indien und Nordamerika. Die
1917 in Petrograd:
Sieben war Geschichte.
Lenin und Revolutionsgarden.
Harald Potempa
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Massenerschießungen.
Der Holocaust
zwischen Ostsee und
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Eintritt: frei
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2017
Dienstag bis Freitag
9.00 bis 18.00 Uhr
Samstag und Sonntag
10.00 bis 18.00 Uhr
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Blutiger Boden – Die
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Dienstag bis Sonntag
10.00 bis 18.00 Uhr
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Geschichte und
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täglich
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Perspektiven auf
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Tel.: 0 30 / 36 87 26 01
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Dienstag bis Sonntag
10.00 bis 18.00 Uhr
Eintritt: frei
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• Ingolstadt
Nord gegen Süd. Der
Deutsche Krieg 1866
Bayerisches Armee­
museum
Neues Schloss
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Tel.: 08 41 / 93 77 22 2
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bis April 2017
Dienstag bis Freitag
9.00 bis 17.30 Uhr
Samstag, Sonntag,
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Eintritt: 8,00 Euro
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1316 *700 2016
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Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016
Militärgeschichte
Heft 1/2017
Service
Zeitschrift für historische Bildung
 Vorschau
Das Jahr 2017 steht voll und ganz im
Zeichen der fünfhundertjährigen Geschichte der Reformation. Das kommende Heft wird sich daher diesem so
eng mit der Militärgeschichte verbundenen Thema in Gestalt des Titelbildes, der historischen Quelle und eines
Großbeitrages widmen: Ruth Slecnzka
gewährt am Beispiel zweier brandenburgisch-preußischer »evangelischer
Ritter« und Kriegsführer einen Einblick in diese so bedeutende geschichtliche Periode.
Ein zum größten Teil fiktives Buch
über das Wirken eines globalen Geheimdienstnetzwerkes der Nazis sollte
dazu führen, dass Walter Nicolai, ein
bereits im Jahr 1920 pensionierter deutscher Geheimdienstoffizier des Ersten
Weltkriegs, im Jahre 1945 durch den
sowjetischen Geheimdienst verhaftet
wurde. Der KGB hatte sich vom »Mythos Nicolai« sichtbar anstecken lassen
und wollte diesem auf den Grund gehen. Christian Stachelbeck geht dieser
Geschichte mit Blick auf den militärischen Nachrichtendienst in den Kriegsaufzeichnungen von Oberst Walter Nicolai nach.
Heutzutage oftmals nur noch als
kostspieliges Hobby oder beim Sport
anzutreffen, waren Pferde noch im Ersten Weltkrieg das Rückgrat für Armeen
weltweit. In Friedenszeiten suchte das
Militär darüberhinaus, sich mit Pferden auch im sportlichen Wettkampf zu
messen. Marcell Kellner geht in seinem
Beitrag der Geschichte des bis heute
längsten Distanzrittes von über 570 Ki­
lo­metern nach.
Bei seinen Vorgesetzten galt er als
leistungsfähiger militärischer Führer,
aber auch als scharfer Kritiker; im damaligen Deutschland war er einer der
bekanntesten Panzerführer; bei seinem
Gegner galt er als bester Panzerpraktiker der deutschen Armee; wegen politischer Äußerungen wurde er entlassen. Chris Helmecke zeigt auf, wer der
heute nur wenig bekannte General­
oberst Rudolf Schmidt eigentlich war.
fh, ch, jm
Militärgeschichte im Bild
Nie wieder Auschwitz – die
Bundesrepublik und der KosovoEinsatz 1999
I
ch habe nicht nur gelernt: Nie wieder
Krieg. Ich habe auch gelernt: Nie wieder Auschwitz.« Mit diesen Worten
fasste Bundesaußenminister Joschka
Fischer im Mai 1999 seine Schlussfolgerungen aus der deutschen Geschichte und die sich daraus ergebenen
Konsequenzen deutschen außenpolitischen Handelns zusammen. Das gerade wiedervereinigte Deutschland befand sich in einer Zwickmühle: Einerseits verlangten die Lehren aus der
NS-Vergangenheit einen besonders
verantwortungsbewussten Umgang
mit militärischer Gewalt, die Schuld
am Holocaust andererseits ein besonders striktes Eintreten gegen »ethnische Säuberungen« und Völkermord.
Die Bundesrepublik Deutschland hatte
in der Völkergemeinschaft aber auch
ein gestiegenes internationales Gewicht erlangt, dem es mit wachsender
Verantwortung gerecht zu werden
galt. All dies erklärt den nach 1990 sehr
behutsamen Out-of-Area-Einsatz deutscher Soldaten. Angesichts der Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien entschied die Bundesrepublik Deutschland, dass sich deutsche Soldaten ab
dem 24. März 1999 an einem friedens­
erzwingenden Kampfeinsatz der
NATO, und zwar ohne UN-Mandat,
beteiligen sollten – der Operation »Allied Force«.
Mit zunehmenden Gewalttaten der
UÇK (Befreiungsarmee des Kosovo)
war der Konflikt im Kosovo im Februar 1998 erneut eskaliert und es folgten massive Übergriffe serbischer Sicherheitskräfte gegen die albanische
Bevölkerung. Die Drohungen westlicher Mächte und Russlands sowie die
UN-Resolution 1160 (Verhängung eines Waffenembargos gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, bestehend
aus Serbien und Montenegro) vom
31. März 1998 hatten den später wegen
Völkermordes angeklagten Präsidenten der Republik Serbien, Slobodan
Milošević, nicht zum Einlenken bewegen können. Bis Juni 1998 waren bereits 140 000 Asylbewerber aus dem
Kosovo nach Deutschland geströmt.
Auch deshalb forderte Deutschland
die glaubhafte Androhung militärischer Gewalt, um der humanitären Katastrophe im Kosovo frühzeitig Einhalt
zu gebieten.
Nachdem sich die Lage im Kosovo
verschärft hatte, verabschiedete der
UN-Sicherheitsrat am 27. September
1998 die Resolution 1199. Darin stellte
er eine »Bedrohung des Friedens und
der Sicherheit in der Region« fest,
sprach sich aber nicht für die Anwendung militärischer Gewalt aus. Da die
NATO-Staaten der Überzeugung waren, Milošević nur durch eine glaubhafte Drohkulisse aufhalten zu können, beschloss der NATO-Rat die
»Activation Warning«, mit der die Mitgliedstaaten aufgefordert wurden, verbindliche Kräftezusagen für eine eventuelle phasenweise auszuweitende
Luftoperation zu machen. Deutschland musste sich entscheiden. Eine
Kräftezusage zog einen militärischen
Einsatz ohne UN-Mandat nach sich.
Obendrein war soeben ein neuer Bundestag gewählt worden, die neue Regierung unter Gerhard Schröder hatte
sich aber noch nicht konstituiert. Die
glaubhafte Androhung militärischer
Gewalt und damit die Abwendung einer humanitären Katastrophe war
ohne deutsche Zustimmung oder gar
mit der deutschen Ablehnung der auf
die »Activation Warning« folgenden
»Activation Order« kaum möglich.
Deutschland wollte zudem in der
NATO kein Signal geben, das geeignet
gewesen wäre, den Zusammenhalt im
Bündnis und dessen Glaubwürdigkeit,
Funktion und Zweck infrage zu stellen.
Also stimmten die Regierung Kohl
(CDU/CSU/FDP) nach Rücksprache
mit der designierten Regierung Schröder (SPD/Grüne) und der Bundestag
am 16. Oktober 1998 mit großer Mehrheit der »Activation« Order schließlich
zu.
Nachdem Belgrad zunächst eingelenkt hatte, überwachte die NATO ab
Oktober 1998 die Kosovoresolution des
UN-Sicherheitsrates. Nach dem erneuten Aufflammen der Gewalt im Januar
1999 kam es zu den Verhandlungen
von Rambouillet im Februar und März,
an deren Ende ein Friedensvertrag
zwischen der Bundesrepublik Jugoslawien und der Führung der Kosovo-Albaner stehen sollte. Nach dem Scheitern der Verhandlungen – Jugoslawien
lehnte eine Unterzeichnung des Vertrages ab – begann die NATO am 24. März
1999, auf der Grundlage der nach wie
vor gültigen »Activation Order« mit
der Operation »Allied Force«, an der
sich insgesamt 14 Nationen mit über
900 Flugzeugen beteiligten. Während
der 78 Tage andauernden Luftangriffe
auf vorwiegend militärische Ziele im
Gebiet der Bundesrepublik Jugoslawien und des Kosovo wurden 28 000
Bomben abgeworfen bzw. Flugkörper
verschossen.
Deutschland beteiligte sich mit acht
ECR (Electronic Combat and Recon­
naissance)- und sechs RECCE-(Recon­
naissance)-Tornados, die vom italienischen Piacenza aus operierten und der
NATO für diesen Einsatz unterstellt
worden waren. Die ECR-Tornados verschossen insgesamt 244 HARM-Flugkörper (High Speed Anti Radiation
Missile). Ihre Aufgabe bestand darin,
die alliierten Luftfahrzeuge vor der jugoslawischen Luftverteidigung am Boden zu schützen. Damit beteiligten sich
deutsche Soldaten erstmals nach Ende
des Zweiten Weltkrieges aktiv an einem bewaffneten Kampfeinsatz. Im
Juni 1999 zeigte sich Milošević schließlich verhandlungsbereit. Nach der Unterzeichnung des militärtechnischen
Abkommens erteilte der Nordatlantikrat am 10. Juni 1999 den Einsatzbefehl
für die Kosovo Force (KFOR), die eine
sichere Rückkehr der Flüchtlinge gewährleisten und die erreichte Friedensregelung für das Kosovo militärisch
absichern sollte.
Hans-Peter Kriemann
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2016
31
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