Militärgeschichte - Zentrum für Militärgeschichte und

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Zeitschrift für historische Bildung
C 21234
ISSN 0940 - 4163
Heft 4/2015
Militärgeschichte
Militärgeschichte im Bild: Friedrich der Große mit seiner Suite und Generalität vor der Schlacht bei Leuthen 1757,
unvollendetes Gemälde von Adolph von Menzel (1859/1867).
Gründung Bundeswehr und NVA
Russland und Polen
Palästinafront 1916
Trauma Zweiter Weltkrieg
Militärgeschichtliches Forschungsamt
MGFA
Impressum
Editorial
Militärgeschichte
Zeitschrift für historische Bildung
Herausgegeben
vom Zentrum für Militärgeschichte und
Sozialwissenschaften der Bundeswehr
durch Oberst Dr. Hans-Hubertus Mack und
Oberstleutnant Dr. Frank Hagemann (V.i.S.d.P.)
Produktionsredakteur der aktuellen
Ausgabe:
Oberstleutnant Dr. Harald Potempa
Redaktion:
Friederike Höhn B.A. (fh)
Hauptmann Ariane Huth M.A. (aau)
Major Dr. Jochen Maurer (jm)
Oberstleutnant Dr. Harald Potempa (hp)
Major Dr. Klaus Storkmann (ks)
Mag. phil. Michael Thomae (mt)
Bildredaktion: Dipl.-Phil. Marina Sandig
Lektorat: Dr. Aleksandar-S. Vuletić
Karten: Yvonn Mechtel, Dipl.-Ing. Bernd Nogli
Layout/Grafik:
Maurice Woynoski / Medienwerkstatt D. Lang
Anschrift der Redaktion:
Redaktion »Militärgeschichte«
Zentrum für Militärgeschichte und
Sozialwissenschaften der Bundeswehr
Postfach 60 11 22, 14411 Potsdam
E-Mail: ZMSBwRedaktionMilGeschichte@
bundeswehr.org
Homepage: www.zmsbw.de
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Druck:
SKN Druck und Verlag GmbH & Co., Norden
ISSN 0940-4163
der 12. November 1955 gilt als der
Geburts­tag der Bundeswehr: Die ersten
101 Freiwilligen erhielten ihre Ernen­
nungsurkunden. Von funktionieren­
den eigenen Streitkräften aber war die
Bundesrepublik Deutschland an die­
sem Tag noch meilenweit entfernt. Ab
Januar 1956 wurden Mannschaften, Unteroffiziere sowie Offiziere ausgebil­
det, im Laufe der nächsten Jahre wurden Einheiten, Verbände und Großver­
bände aufgestellt und der NATO als einsatzbereit gemeldet. Ähnliches ge­
schah ab dem 1. März 1956 in der DDR mit der Aufstellung der Nationalen
Volksarmee im Bündnis des Warschauer Vertrages. Dieter H. Kollmer und
Rüdiger Wenzke beleuchten die Anfangsjahre beider deutscher Armeen vor
dem Hintergrund der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Rahmenbedingungen.
In der letzten Ausgabe der Militärgeschichte wurde damit begonnen, am
Beispiel Serbiens und Rumäniens die eher »vergessenen« Fronten des Welt­
krieges 1914–1918 vorzustellen. Dieses Vorhaben setzt Marcel Serr mit
­seinem Beitrag in diesem Heft fort. Er »entführt« Sie zur Palästinafront des
Ersten Weltkrieges sowie zu den Geschehnissen in der Levante insgesamt.
Die Levante umfasst unter anderem die derzeit in der öffentlichen Aufmerk­
samkeit im Mittelpunkt stehenden Staaten Syrien, Israel, Jordanien, Libanon,
Teile des Irak und der Türkei sowie die palästinensichen Gebiete westlich des
Jordan und den Gaza-Streifen. Hier waren deutsche und österreichischungari­sche Truppenteile zu Lande, zu Wasser und in der Luft zur Unterstüt­
zung des verbündeten Osmanischen Reichs eingesetzt. Der Autor stellt dabei
u.a. Bezüge vom Ersten Weltkrieg zur gegenwärtigen Situation in dieser
­Region her.
Ähnlich aktuelle Bezüge bietet auch der historische Rückblick von Helmut
Schuhart, der einen Blick auf die über tausendjährigen wechselhaften Bezie­
hungen zwischen Polen und Russen wirft.
Während und vor allen Dingen nach allen Kriegen leiden Menschen an
Traumata. Traumata wurden in der Vergangenheit zumeist anders benannt,
nicht erkannt, verdrängt, vergessen bzw. verschwiegen. Auch heute ist dies
noch teilweise der Fall. Traumata kamen und kommen oft erst nach Jahr­
zehnten wieder hoch und beschäftigen derzeit unter anderem das Personal
in der Altenpflege. Von Traumata sind Soldaten und Zivilbevölkerung in
Kriegen gleichermaßen betroffen. Katrin Hentschel widmet sich aus sozial­
wissenschaftlich-psychologischer Sicht dieser Thematik am Beispiel des
Zweiten Weltkrieges und seiner langen psychischen Nachwirkungen auf
Kriegsgefangene, Verwundete, Vergewaltigte, Flüchtlinge und Ausge­
bombte.
Eine gewinnbringende Lektüre dieses Heftes wünscht Ihnen
Ihr
Dr. Harald Potempa
Oberstleutnant
Inhalt
Doppelte Militärgeschichte?
Die Gründung von Bundeswehr und NVA
als deutsche Nachkriegsarmeen vor 60 Jahren
4
Service
Das historische Stichwort:
Eumenes von Kardia
22
Neue Medien 24
Lesetipps26
Die historische Quelle
28
Geschichte kompakt
29
Ausstellungen30
Oberstleutnant Dr. Dieter H. Kollmer, geb. 1964
in Hamburg, Projektleiter Bundeswehrgeschichte
im Forschungsbereich »Militärgeschichte nach
1945« am ZMSBw
Leitender Wiss. Dir. Dr. Rüdiger Wenzke,
geb. 1955 in Baruth/Mark,
Leiter des Forschungsbereiches »Militärgeschichte
nach 1945« am ZMSBw
Militärgeschichte
im Bild
Adolph Menzels
»Leuthen-Fragment« Russen und Polen
Verfeindete Brüder
31
10
Kapitänleutnant d.R. a.D. Helmut Schuhart,
geb. 1944 in Georgenswalde (Ostpreußen),
Oberstudienrat i.R.
Die Palästinafront
Der Erste Weltkrieg in der Levante
14
Marcel Serr M.A., geb. 1984 in Ludwigshafen
am Rhein, Wissenschaftlicher Assistent am Deutschen Evangelischen Institut für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes (DEI) in Jerusalem,
Doktorand an der School of Political Sciences
(Universität Haifa/Israel)
Trauma Zweiter Weltkrieg
Weltkrieg.
Zerstörungsbilder in der Realität und im Kopf
Kapitänleutnant d.R., Dipl.Päd. Katrin
­ entschel B.sc., geb. 1976 in Potsdam,
H
Wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZMSBw
Am 3. Dezember 1757, kurz vor der
Schlacht bei Leuthen, hielt Friedrich II.
eine Ansprache an seine Generale. Mit der
monumentalen Umsetzung dieses Ereig­
nisses im Maße von 3,18 x 4,24 Meter
wollte Adolph von Menzel (1815–1905)
seinen Kritikern beweisen, dass er nicht
bloß Genremalerei liefere. Das Werk blieb
unvollendet: Angesichts aktuellerer Themen, allen voran die Einigungskriege, war
Historienmalerei nicht mehr gefragt.
Foto: bpk/Nationalgalerie/SMB/Klaus Göken
Weitere Mitarbeiter dieser Ausgabe:
18
Kapitänleutnant Leonie Hieck M.A.,
ZMSBw
Ralf Höller, Bonn;
Prof. Dr. Jürgen Kloosterhuis, Direktor
­Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kultur­
besitz, Berlin;
Stefan E.A. Wagner, Doktorand, Friedrich
­Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
pa/dpa/Alfred Hennig
Gründung Bundeswehr und NVA
5Rückzug der serbischen Armee im Herbst 1915.
5Bundeskanzler Konrad Adenauer besucht am 20. Januar 1956 erstmals gemeinsam mit dem Bundesminister für Verteidigung Theodor
Blank die angetretenen Soldaten in Andernach.
Doppelte Militärgeschichte?
Die Gründung von Bundeswehr und NVA
als deutsche Nachkriegsarmeen vor 60 Jahren
A
ls die Waffen ab dem 8. Mai
1945 in Europa schwiegen,
schien es nicht vorstellbar, dass
es jemals wieder deutsche Soldaten ge­
ben würde. Nachdem sich aber sehr
schnell nach Ende des Zweiten Welt­
kriegs im Wechselspiel der politischen
Kräfte zwei antagonistische Machtblö­
cke herausbildeten, war es nur noch
eine Frage der Zeit, wann west- und
ostdeutsche Streitkräfte an die Seite ih­
rer jeweiligen Besatzungsmächte tre­
ten würden.
Auf dem Weg zu westdeutschen
Streitkräften
Bereits im Jahre 1950 – kurz nach Be­
ginn des Koreakrieges – hatte Bundes­
kanzler Konrad Adenauer eine Beteili­
4
gung der Bundesrepublik Deutschland
an der Verteidigung Westeuropas ge­
fordert. Dementsprechend beauftragte
er ehemalige Wehrmachtoffiziere, ei­
nen zukünftigen westdeutschen Ver­
teidigungsbeitrag auszuplanen. Eines
der Ergebnisse war die im Oktober
1950 während einer Klausurtagung in
dem gleichnamigen Kloster entwor­
fene »Himmeroder Denkschrift«, die
die inhaltliche und strukturelle Grund­
lage für zukünftige bundesdeutsche
Streitkräfte schuf.
Adenauer ging es dabei jedoch nicht
so sehr um die Streitkräfte an sich, son­
dern vielmehr um die politische Be­
deutung eines Beitrags an der gemein­
schaftlichen Verteidigung des Westens
gegen ein weiteres Vordringen des
Kommunismus. Der Koreakrieg wurde
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015
letztlich zum Katalysator des Adenau­
erschen Ansinnens. Für ihn war eine
Armee zugleich aber auch ein Mittel
zum Zweck der Staatsräson: die militä­
rische Integration sollte die Tür zur
bundesdeutschen Souveränität öffnen.
Darüber hinaus traute der Kanzler der
politischen Beständigkeit seiner Lands­
leute nur bedingt. Die Integration in
die westliche Staatengemeinschaft bot
daher aus seiner Sicht auch die Mög­
lichkeit, die demokratischen und
marktwirtschaftlichen Strukturen
Westdeutschlands weiter zu festigen
und damit gleichzeitig die bundes­
deutsche Position für Freund und
Feind kalkulierbarer zu machen. In Er­
gänzung zum amerikanischen »Double­
containment« wollte Adenauer durch
die Westintegration »Deutschland vor
SZ Photo/dpa
sich selbst schützen«. Vor diesem Hin­
tergrund berief er den christlichen Ge­
werkschafter Theodor Blank zum »Be­
auftragten des Bundeskanzlers für die
mit der Vermehrung der alliierten Trup­
pen zusammenhängenden Fragen«,
dem späteren ersten Verteidigungs­
minister. Die dazugehörige Behörde
wurde in das Bundeskanzleramt inte­
griert und von der Presse »Amt Blank«
getauft.
Die Umsetzung der Pläne Adenauers
bewegte sich in den 1950er Jahren in
einem steten Spannungsfeld zwischen
außenpolitischen und innenpolitischen
Anforderungen und Widerständen. So
erklärte sich Bonn zunächst damit ein­
verstanden, deutsche Soldaten in eine
von Frankreich geforderte Europa­
armee zu integrieren, um in diesem
Prozess den südwestlichen Nachbarn
die Angst vor einem vermeintlich
neuen deutschen Militarismus zu neh­
men. Kurioserweise scheiterte dieser
Versuch der so genannten Europäi­
schen Verteidigungsgemeinschaft (EVG)
im Sommer 1954 an der französischen
Nationalversammlung. Infolgedessen
waren die politisch Verantwortlichen
in den westlichen Hauptstädten ge­
zwungen, so schnell wie möglich eine
Alternative für den dringend benötig­
ten bundesdeutschen Verteidigungs­
beitrag in der Mitte Europas zu erar­
beiten. Ziel des neuen Versuchs war es,
durch die Nutzung der bundesdeut­
schen Ressourcen eine Optimierung
der westeuropäischen Verteidigungs­
anstrengungen und eine Entlastung
der jeweiligen Staatshaushalte zu er­
zielen. Die Regierungen befürworteten
daher unter gegebenen politischen und
vertragsrechtlichen Voraussetzungen
eine schnellstmögliche, gleichberech­
tigte Aufnahme der Bundesrepublik
Deutschland in die 1949 gegründete
North Atlantic Treaty Organization
(NATO). Die sicherheitspolitischen Be­
denken Frankreichs angesichts rein
bundesdeutscher Streitkräfte als Teil
der NATO konnten während der im
Spätherbst 1954 geführten Verhand­
lungen im Rahmen der Londoner
Neunmächtekonferenz ausgeräumt
werden, u.a. auch deshalb, weil die
Bundesregierung einen generellen Ge­
waltverzicht bei der Verfolgung west­
deutscher Interessen akzeptierte. Ob­
wohl Adenauer das Scheitern der EVG
als »schwarzen Tag für Europa« be­
kungen und eine Manifestierung der
deutschen Teilung durch die Aufrüs­
tung hatten aus den »besten Soldaten
der Welt« (so die Einschätzung der
Alliier­ten nach dem Zweiten Welt­
krieg) ein dem Militär wenig zu­
geneigtes Volk werden lassen.
Die Gründung der Bundeswehr
5Gewerkschaftsjugend demonstriert
1955 auf dem Königsplatz in München
gegen die Wiederbewaffnung.
zeichnete und US-Außenminister John
Foster Dulles die Entscheidung der
Pari­ser Nationalversammlung als eine
»Krise von katastrophalen Ausmaßen«
wertete, führte eben dieser Vorgang
dazu, dass die verteidigungspoliti­
schen Positionen Bonns und der NATO
substanziell gestärkt wurden. Die ver­
hältnismäßig schwache Stellung der
Bundesrepublik in der geplanten EVG
wurde durch mehr Eigenständigkeit
und Gleichberechtigung im Rahmen
der NATO ersetzt. Das westliche Bünd­
nis wurde an der Nahtstelle zum War­
schauer Pakt durch die Streitkräfte sei­
nes neuen Mitgliedes stabilisiert und
verstärkt.
Innenpolitisch stieß die Absicht zur
Aufstellung von Streitkräften aller­
dings auf eine breite Opposition. In
verschiedenen Umfragen sprachen
sich damals über zwei Drittel der Be­
völkerung der Bundesrepublik dage­
gen aus. Öffentlich zum Ausdruck
wurde diese Ablehnung durch die
»Ohne mich«-Bewegung und die Pauls­
kirchenbewegung gebracht. Eigene
Streitkräfte als Grundpfeiler der Inte­
gration in das westliche Bündnis schie­
nen von Anfang an ein wenig geliebtes
Kind der westdeutschen Demokratie
zu sein. Insbesondere die Folgen des
Zweiten Weltkriegs und die Verbre­
chen, die in deutschem Namen durch
Soldaten der Wehrmacht begangen
worden waren, aber auch die Furcht
vor negativen ökonomischen Auswir­
Mit der Ratifizierung der Pariser Ver­
träge durch den Deutschen Bundestag
und ihrem Inkrafttreten am 5. Mai 1955
trat die Bundesrepublik Deutschland
endgültig der NATO bei. Die Vorgaben
des westlichen Bündnisses stellten in
den kommenden Jahren eine der größ­
ten Herausforderungen für die junge
Bundesrepublik dar. Nicht nur, dass
bei Vollbeschäftigung eine Streitmacht
von rund 500 000 Mann aufgestellt
werden sollte, diese musste auch mit
modernstem Gerät ausgestattet, in Ka­
sernen untergebracht und in die Bünd­
nisstrukturen eingefügt werden.
Dies war aber noch Zukunftsmusik,
als mit der Ernennung der ersten 101
freiwilligen Soldaten am 12. November
1955 die neuen Streitkräfte gegründet
wurden. Nicht zufällig war dies der
200. Geburtstag des preußischen Hee­
resreformers Gerhard von Scharn­
horst, der bis zum heutigen Tag für
wichtige Grundwerte der Bundeswehr
steht: ein bürgerliches Offizierkorps,
Zukunftsvisionen, Bildung und Men­
schenrechte. Den Namen »Bundes­
wehr« erhielten die jungen Streitkräfte
nach umfangreichen Diskussionen im
Bundestag am 22. Februar 1956, nach­
dem in der Öffentlichkeit zeitweise die
Bezeichnung der neuen Streitkräfte als
»Wehrmacht« durchaus geläufig gewe­
sen war. Bereits Mitte Juli 1955 hatte
der Deutsche Bundestag gegen die
Stimmen der Opposition das Freiwilli­
gengesetz verabschiedet, das die Ein­
stellung von 6000 Freiwilligen gestat­
tete. Einstimmig hingegen billigte der
Bundestag wenige Wochen später das
Gesetz über den Personalgutachteraus­
schuss, der über die Wiederverwen­
dung von ehemaligen Offizieren der
Wehrmacht vom Oberst aufwärts ent­
scheiden würde. Die ersten Wehr­
pflichtigen hingegen konnten erst nach
der Verabschiedung des Wehrpflicht­
gesetzes durch den Deutschen Bundes­
tag Ende 1956 eingezogen werden. Das
von den Parlamentariern heftig disku­
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015
5
SZ Photo/UPI
Gründung Bundeswehr und NVA
5Überführung von Teilen des Bundesgrenzschutzes (BGS) in die Bundeswehr: Großer
Zapfenstreich in Bonn am 10. Juli 1956.
tierte Gesetz legte die Dauer des Wehr­
dienstes zunächst auf ein Jahr fest. Um
den Aufwuchs der Bundeswehr zu be­
schleunigen, wurden zudem 9572 frei­
willige Beamte des Bundesgrenzschut­
zes (BGS) auf der Grundlage des am
30. Mai 1956 verabschiedeten »2. Ge­
setzes für den Bundesgrenzschutz« in
die Bundeswehr übernommen.
Die Grundrechte des Grundgesetzes
bilden bis heute die Grundlage für das
innere Gefüge der Bundeswehr mit der
»Inneren Führung« als Kern. Die In­
nere Führung stellte das Verhältnis
zwischen den Soldaten auf die rechts­
staatlichen Grundlagen einer sich ent­
wickelnden Zivilgesellschaft. Der da­
raus resultierende »Staatsbürger in
Uniform« wurde zum Markenzeichen
der Streitkräfte im demokratischen
westdeutschen Staat. Einen militä­
rischen Eid auf den obersten Befehls­
haber gab es nicht mehr. Nach dem
1956 angenommenen so genannten
Soldatengesetz hat der Soldat der Bun­
deswehr seitdem die Pflicht, der Bun­
desrepublik treu zu dienen und das
»Recht und die Freiheit des deutschen
Volkes tapfer zu verteidigen«. Entge­
gen der Zusagen von Bundeskanzler
Adenauer an die NATO, die Bundes­
wehr innerhalb von drei Jahren aufzu­
stellen, sollte es jedoch noch bis Mitte
der 1960er Jahre dauern, bis ihr Aufbau
endgültig abgeschlossen war.
6
Aufbau der ostdeutschen
­Streitkräfte
Die offizielle Gründung der Natio­
nalen Volksarmee (NVA) Anfang 1956
war weder die Entscheidung gewähl­
ter Volksvertreter noch der Beginn des
Streitkräfteaufbaus im Osten Deutsch­
lands. Sie bildete vielmehr die logische
Konsequenz aus dem jahrelangen Be­
mühen der SED, ihre Herrschaft zwi­
schen Elbe und Oder mit einer regu­
lären Armee militärisch abzusichern.
Der Kalte Krieg sowie die politischen
und militärischen Entwicklungen im
Westen spielten dabei durchaus eine
wichtige Rolle. Sie waren allerdings
nicht die allein bestimmenden Fak­
toren. Vielmehr hatten die ostdeut­
schen Kommunisten mit Hilfe ihrer so­
wjetischen Ratgeber aus Gründen der
eigenen Machterhaltung dafür gesorgt,
dass in der SBZ/DDR frühzeitig die
Grundlagen künftiger Streitkräfte ge­
legt wurden. Es entstand 1948/49 in
Form von Kaderformationen ein mili­
tärischer Nukleus, der sich danach
weiter unter dem Deckmantel der Poli­
zei zu einer 100 000-Mann-Truppe ent­
wickelte. Stalins Diktum »Volksarmee
schaffen – ohne Geschrei« wurde zur
militärpolitischen Leitlinie der SED.
Tatsächlich entwickelte sich die 1952
geschaffene »Kasernierten Volkspoli­
zei« (KVP) in der ersten Hälfte der
1950er Jahre zu einer relativ starken
bewaffneten Kraft, auch wenn sie von
einer regulären, einsatzbereiten Koali­
tionsarmee in vielen Bereichen noch
weit entfernt war. Mitte des Jahrzehnts,
angesichts internationaler Entwick­
lungen wie der Aufnahme der Bundes­
republik Deutschland in die NATO im
Mai 1955, schien die Gelegenheit güns­
tig, nochmals die Furcht vor den »im­
Führungspersonal im Bundesministerium für Verteidigung
und in der Bundeswehr (Auswahl, 1955/57)
Funktion/Amt
Dienstgrad und Name
letzter Wehrmachtdienstgrad
Bundesminister für
Verteidigung
Theodor Blank
(ab 7.6.1955)
Oberleutnant der Reserve
Franz Josef Stauß
(ab 16.10.1956)
Oberleutnant der Reserve
Beamteter Staatssekretär
Dr. Josef Rust
–
Generalinspekteur
General Adolf Heusinger
(ab 1.6.1957)
Generalleutnant
Inspekteur des Heeres
Generalleutnant Hans Röttiger
(ab 1.6.1957)
General der Panzertruppe
Inspekteur der Luftwaffe
Generalleutnant Josef Kammhuber (ab 6.6.1957)
Generalmajor
Inspekteur der Marine
Vizeadmiral Friedrich Ruge
(ab 1.6.1957)
Vizeadmiral
Inspekteur des Sanitäts- Generalstabsarzt Dr. Theodor
dienstes
Joedicke (ab 25.8.1957)
Oberstarzt
Befehlshaber des
Generalleutnant Hans-Joachim
Kommandos der
von Horn (ab 18.11.1957)
Territorialen Verteidigung
Generalleutnant
Quelle: Rudolf J. Schlaffer und Marina Sandig, Die Bundeswehr 1955 bis 2015. Sicherheitspolitik und Streitkräfte in der Demokratie, Freiburg i.Br. 2015, S.236 – 238.
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015
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07682-04
bpk/Herbert Hensky
5Die kasernierte Volkspolizei (KVP) paradiert auf der Mai-Demonstration 1952 in Ost-Berlin.
perialistischen Kriegstreibern« im Wes­
ten zu schüren und endlich offiziell
eine Armee zur Verteidigung des »Ar­
beiter-und-Bauern-Staates« DDR zu
schaffen. Nachdem in Westdeutsch­
land die ersten Freiwilligen in die Bun­
deswehrkasernen eingezogen waren,
schien für die SED der richtige Zeit­
punkt gekommen, die KVP in reguläre
Streitkräfte zu überführen.
Der Volkskammerbeschluss vom
18. Januar 1956
Am 18. Januar 1956 wurde das »Gesetz
über die Schaffung der Nationalen
Volksarmee und des Ministeriums für
Nationale Verteidigung« und der »Be­
schluss über die Einführung der Uni­
formen für die Nationale Volksarmee«
kurzfristig auf die Tagesordnung der
10. Sitzung der laufenden 2. Wahlperi­
ode der DDR-Volkskammer gesetzt,
nachdem die Vorlagen bereits zuvor
vom SED-Politbüro, von den »sowje­
tischen Genossen« in Moskau und der
DDR-Regierung gebilligt worden wa­
ren. Es sei aus »technischen Gründen«
nicht möglich gewesen, so entschul­
digte sich Volkskammerpräsident Jo­
hannes Dieckmann bei den Abgeord­
neten, die Drucksachen rechtzeitig zur
Verfügung zu stellen. Gut vorbereitet
begründete dagegen KVP-General­
oberst Willi Stoph den Gesetzentwurf
zur Schaffung von Streitkräften: An­
gesichts der »Aufstellung einer west­
deutschen Söldnerarmee und der Ein­
beziehung Westdeutschlands in den
aggressiven Nordatlantikpakt« genüge
es nicht, nur Friedensbeteuerungen ab­
zugeben, sondern es sei nunmehr not­
wendig, »Maßnahmen« zu treffen,
welche die Verteidigungsfähigkeit der
DDR gewährleisteten. Daraus ergäben
sich das Recht und die Pflicht, eine Ar­
mee zur Erhaltung des Friedens und
zum Schutz des Territoriums der DDR
und seiner Bevölkerung zu schaffen.
Die »Nationale Volksarmee« sollte
aus Land-, Luft- und Seestreitkräften
bestehen und die fortschrittlichen na­
tionalen Traditionen des deutschen
Volkes verkörpern. Der Name für die
»neuen« Streitkräfte war dabei Pro­
gramm und von der SED festgelegt
worden. Der Begriff »national« sollte
dabei die Verwurzelung in den Tradi­
tionen des deutschen Volkes und den
Gegensatz zur »Amerikanisierung«
der westdeutschen Streitkräfte ausdrü­
cken. Und die Bezeichnung »Volks­
armee« war gewählt worden, um die
personelle Zusammensetzung der
Streitkräfte als wahre »Armee des
Volkes« zu glorifizieren, in der es keine
»Klassenschranken« und keinen Stan­
desdünkel mehr gebe.
Die Abgeordneten der Volkskammer
brachten nach der Rede Stophs erwar­
tungsgemäß weder Bedenken noch
Fragen zu der weitreichenden Proble­
matik der Schaffung einer regulären
Armee zum Ausdruck. Alle Redner
entsprachen mit ihren Beiträgen dem
vorgegebenen Muster, dass die Heimat
wegen der vorgeblichen westlichen Be­
drohung militärisch verteidigt werden
müsse. Insofern verwundert es nicht,
dass die Abgeordneten der nach Ein­
heitslisten gewählten höchsten Volks­
vertretung der DDR das Gesetz über
die Schaffung der NVA noch am selben
Tag einstimmig verabschiedeten. Es
trat mit seiner Verkündung in Kraft. Ei­
nen Tag später, am 19. Januar 1956,
wurde Generaloberst Stoph von Minis­
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015
7
Gründung Bundeswehr und NVA
Deutsche Militärgeschichte nach
1945: Parallel oder verflochten?
Führung der NVA (Auswahl), März 1956
Funktion/Amt
Dienstgrad und Name
letzter Wehrmachtdienstgrad
Minister für Nationale
Verteidigung der DDR
Generaloberst Willi Stoph
Unteroffizier
1. Stellvertreter des Ministers
Generalmajor Heinrich
Dollwetzel
–
Stellvertreter des Ministers und
Chef des Hauptstabes
Generalleutnant Vincenz Müller
Generalleutnant
Stellvertreter des Ministers und
Chef der Politischen Verwaltung
Generalmajor Friedrich Dickel
–
Stellvertreter des Ministers und
Chef für Technik und Bewaffnung
Oberst Erwin Freyer
–
Chef des Militärbezirks
Pasewalk
Generalmajor Hermann
Rentzsch
Hauptmann
Chef des Militärbezirks
Leipzig
Generalmajor Fritz Johne
–
Chef der Luftstreitkräfte
Generalmajor Heinz Bernhard
Zorn
Major i.G.
Chef der Luftverteidigung
Oberst Gerhard Bauer
Leutnant
Chef der Seestreitkräfte
Konteradmiral Fritz Scheffler
Unteroffizier
Quelle: Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten Organe der DDR.
Im Auftrag des MGFA hrsg. von Thorsten Diedrich u.a., Berlin 1998, S. 429.
terpräsident Otto Grotewohl zum
Minis­ter für Nationale Verteidigung
der DDR und damit zum obers­ten
­Militär der DDR berufen.
Glaubt man der zeitgenössischen
DDR-Propaganda, so rief die Verkün­
dung des Gesetzes zur NVA-Grün­
dung am 18. Januar 1956 ein breites
und zustimmendes Echo in der DDRBevölkerung hervor. Eine Flut organi­
sierter Stellungnahmen und Zustim­
mungen, in denen Betriebsbelegschaf­
ten, Schulklassen, Funktionäre und
Wissenschaftler die Armeegründung
begrüßten, füllte die Tageszeitungen.
Abseits der öffentlichen Propaganda
und eingeforderter Zustimmungser­
klärungen erhielten die Partei- und
Staatsorgane in internen Berichten je­
doch auch Kenntnis darüber, wie diffe­
renziert die Reaktionen der Bevölke­
rung auf den Gründungsakt der NVA
in Wirklichkeit waren. Die meisten
Menschen in der DDR standen dem
Streitkräfteaufbau im Osten eher skep­
tisch, wenn nicht sogar ablehnend ge­
genüber. Sie befürchteten Auswir­
kungen auf den Lebensstandard, eine
Vertiefung der Spaltung Deutschlands,
eine Erhöhung der Kriegsgefahr in Eu­
ropa und nicht zuletzt die Wiederkehr
des Militarismus. »Volksarmee einver­
standen – aber ohne uns«; »Wir wollen
nicht auf unsere Brüder schießen«;
»1945 haben wir geschworen, nie wie­
der eine Waffe in die Hand zu nehmen,
8
© ZMSBw
07681-04
und lehnen es auch heute ab« und
»Ganz gleich, ob ich in Westdeutsch­
land oder in der DDR Soldat bin, ich
nehme in keinem Falle wieder eine
Knarre in die Hand«, waren Sätze, wel­
che die Ansichten vieler DDR-Bürger
widerspiegelten. Wenn sich auch man­
che der Ablehnungsgründe gegenüber
der NVA in den folgenden Jahren ab­
schwächten, blieb die Volksarmee Zeit
ihres Bestehens für die meisten DDRBürger weiterhin eher ein notwendiges
Übel.
Im Frühjahr 1956 erhielten die ost­
deutschen Streitkräfte formal einen
gleichberechtigten Status im War­
schauer Pakt. Die DDR-Streitkräfte
wurden von Anfang an als Koalitions­
armee, als Armee an der Seite der in
Deutschland stationierten sowjeti­
schen Truppen auf- und ausgebaut.
Die geplante Gesamtstärke der Armee
belief sich anfangs auf 120 000 Mann.
Sie wurde jedoch noch im Verlauf des
Jahres 1956 angesichts der demonstra­
tiv beibehaltenen »Freiwilligkeit« des
Wehrdienstes auf 90 000 reduziert.
Das Ministerium für Nationale Ver­
teidigung nahm offiziell am 1. März
1956 in Strausberg seine Tätigkeit auf.
Die meisten der bereits bestehenden
KVP-Dienststellen wurden in der Re­
gel zu NVA-Einheiten umgewandelt.
Der 1. März wurde später alljährlich
als »Tag der Nationalen Volksarmee«
feierlich begangen.
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015
Genau wie in der Bundeswehr galt es
auch im Osten, eine Vielzahl von Auf­
gaben gleichzeitig zu lösen. Personelle
Engpässe, mangelnde Sachkenntnis,
Zeitdruck sowie technische und mate­
rielle Unzulänglichkeiten führten zu
Problemen, Verzögerungen und Rei­
bungsverlusten. Dennoch herrschte in
den Streitkräften beider deutscher
Staaten eine gewisse Aufbruchsstim­
mung, die trotz aller Schwierigkeiten
die wichtigsten Aufgaben meistern
half. Nicht zuletzt leistete die jeweilige
Führungsmacht – die USA und die
UdSSR – eine große Unterstützung
beim militärischen Aufbau
Sowohl die Bundesrepublik als auch
die DDR propagierten ihre Streitkräfte
allerdings als die einzig legitime deut­
sche Armee und Fortsetzerin bester
Traditionen der deutschen Militärge­
schichte. In der jeweiligen Öffentlich­
keit galt die Gründung der jeweils
ande­ren Armee zudem als Ausdruck
­einer aggressiven Grundhaltung und
der Kriegsbereitschaft. Die Suche nach
Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten
war verpönt. Vielmehr stellte man die
Unterschiede in den Mittelpunkt und
sprach sich beispielsweise gegenseitig
jegliche nationale Identität ab. Propa­
gandabegriffe wie »Aggressions- und
Revanchearmee« für die Bundeswehr
und »Satellitentruppe Moskaus« für
die NVA prägten von Anfang an das
Bild von der anderen, vermeintlich
kriegslüsternen Seite. Der verglei­
chende historische Blick auf die »Grün­
dungsgeschichten« beider Streitkräfte
offenbart heute – fern aller zeitgenös­
sischer Propaganda – durchaus manch
interessante Erkenntnis.
So bildeten die offiziellen Grün­
dungsakte beider Streitkräfte im No­
vember 1955 und im Januar 1956 we­
der im West- noch im Ostteil Deutsch­
lands den tatsächlichen Beginn des mi­
litärischen (Wieder-)Aufbaus. Freilich
besaß die DDR hier einen gehörigen
»Vorsprung«, wie bereits weiter oben
beschrieben. Aber auch in der Bundes­
republik gab es seit den frühen 1950er
Jahren Institutionen, Organisationen
und Personen, die dabei halfen, den
Aufbau regulärer Streitkräfte rechtzei­
tig mitvorzubereiten. Das »Amt Blank«
generierte sich seit 1950 quasi zum
bpk/Herbert Hensky
5Angehörige des ersten Mechanisierten Regiments der NVA leisten den Fahneneid,
30. April 1956.
Vorgänger des späteren Bundesminis­
teriums für Verteidigung. Der 1951 ge­
schaffene paramilitärische BGS bildete
1955/56 in der Bundesrepublik das be­
deutendste Personalreservoir für die
Bundeswehr. Er wurde allerdings bei
der offiziellen Gründung des Militärs
nicht wie die KVP in der DDR als Vor­
läufer nahezu geschlossen in dieses
überführt, sondern er blieb auch nach
Gründung der Bundeswehr erhalten.
Während es für die herrschende SED
im Ulbricht-Staat ausreichte, sich für
die Schaffung von regulären Streitkräf­
ten von den Volksvertretern einen
knappen Gesetzestext bestätigen zu
lassen, hielt man es im anderen Teil
Deutschlands, in der Bundesrepublik,
angesichts der Erfahrungen aus der
Weimarer Republik und der NS-Zeit,
für unerlässlich, die Wehrverfassung
sowie die Rolle des Militärs in der par­
lamentarischen Demokratie breit zu
diskutieren und letztlich gesetzlich zu
verankern. Ganz im Gegensatz zu ih­
ren ostdeutschen »Kollegen« hatten
die Parlamentarier des Bundestages,
insbesondere durch den Bundestags­
ausschuss für Verteidigung, auch die
Möglichkeit und das Recht, die Perso­
nalstärke und Struktur der Bundes­
wehr zu kontrollieren und mitzube­
stimmen. Zusätzlich wurde im April
1957 die Institution des nur dem Parla­
ment verantwortlichen Wehrbeauftrag­
ten eingeführt. Er gilt seitdem als »Hilfs­
organ« des Bundestages bei der Aus­
übung der parlamentarischen Kontrolle
und stellt damit eine in der deutschen
Militärgeschichte einmalige Instanz
dar. Jeder Soldat kann sich mit Be­
schwerden oder Eingaben unmittelbar
an ihn wenden.
Der kurze Blick auf die Gründungs­
jahre beider deutscher Armeen zeigt
trotz mancher Parallelität und Gemein­
samkeit ganz klar signifikante Unter­
schiede. Ob sich diese Feststellung für
beide Streitkräfte auch vor dem Hin­
tergrund neuer, u.a. technologischer
Herausforderungen und Entwicklun­
gen in den 1970er und 1980er Jahren
belegen lässt, soll ein neues Projekt des
Zentrums für Militärgeschichte und
Sozialwissenschaften der Bundeswehr
(ZMSBw) klären helfen. Die Geschichte
von Bundeswehr und NVA wird darin
in einer vergleichenden und gegebe­
nenfalls auch verflochtenen Perspek­
tive untersucht, ohne dass die sys­
tembedingten Unterschiede nivelliert
werden. Das interdisziplinär angelegte
Projekt einer deutsch-deutschen Mili­
tärgeschichte von 1970 bis 1990 zielt
darauf ab, die bereits begonnenen,
lange Zeit aber getrennten Forschungs­
stränge zur Geschichte der Bundes­
wehr und der NVA im Sinne einer ge­
meinsamen, in die Entwicklung der
Bündnisse eingebundenen, deutschen
Militärgeschichte nach 1945 zusam­
menzuführen. Die beiden deutschen
Staaten und ihr Militär im Ost-WestKonflikt, das Verhältnis von Militär
und Gesellschaft in der Bundesrepu­
blik und in der DDR, auch aus soziolo­
gischer Sicht, sowie Wirtschafts- und
Rüstungsfragen, Strukturen und Prä­
gungen der jeweiligen militärische
Elite und die Untersuchung von Bun­
deswehr und NVA als militärische
Großorganisationen stellen wichtige
Untersuchungs- und Themenfelder
des Projekts dar. Geplant sind in den
kommenden Jahren mehrere Bände in
einer eigenständigen Reihe, die der
Diskussion um die deutschen Militär­
geschichte nach 1945 sowohl in der
Wissenschaft als auch in der interes­
sierten Öffentlichkeit neue Impulse
verleihen sollen.
 Dieter H. Kollmer / Rüdiger Wenzke
Literaturtipps
Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970–
2000. Hrsg. von Frank Bösch, Göttingen 2015.
Grundkurs deutsche Militärgeschichte, Bd 3: Die Zeit nach
1945. Armeen im Wandel. Im Auftrag des MGFA hrsg. von
Klaus-Volker Neugebauer, München 2008.
Rüdiger Wenzke, Ulbrichts Soldaten. Die Nationale Volks­
armee 1956 bis 1971, Berlin 2013.
Martin Rink, Die Bundeswehr 1950/55–1989, München
2015.
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015
9
ullstein bild – Reuters/Sergei Karpukhin
Russen und Polen
Russen und
Polen.
Verfeindete
Brüder
5Gedenkstätte Katyń bei Smolensk, Russland: Mahnwache eines polnischen Soldaten, 2010. Bei Katyń wurden 1940 tausende
­polnische Offiziere durch NKWD-Angehörige ermordet.
P
olen und Russen blicken jeweils
auf eine über 1000-jährige Natio­
nalgeschichte zurück. Dass Nach­
barschaft oft Feindschaft hervorbringt,
ist nicht ungewöhnlich, die Heftigkeit,
Dauer und Unversöhnlichkeit im pol­
nisch-russischen Fall aber schon. Dar­
über zu berichten, ist nicht nur von all­
gemeinbildendem Interesse, sondern
hat angesichts der Ukraine-Krise auch
tagespolitische Bedeutung, denn es geht
um eine Vergangenheit, die Gefühle
und Gedanken der beiden Völker ge­
prägt hat und die bis heute nachwirkt.
Zur Entstehung der
polnisch-­russischen Rivalität
Nicht Feindschaft, sondern brüder­
liche Verbundenheit stand am Anfang.
Eine Legende berichtet von den Brü­
dern Čech, Lech und Rus, die einst auf
der Suche nach Siedlungsland auszo­
gen und sich dort niederließen, wo
heute ihre »Nachkommen« leben,
nämlich die Tschechen, die Polen und
die drei heutigen ostslawischen Völker
der Russen, Ukrainer und Weißrussen.
Was immer an früher Gemeinsamkeit
vorhanden gewesen sein mag: Tren­
nendes stellte sich schon früh ein. Die
gemeinsame slawische Ursprache fä­
cherte sich in das Ostslawische der
Russen, Ukrainer und Weißrussen und
das Westslawische der Tschechen und
Polen auf. Folgenreich war auch eine
andere Entwicklung: Beide Völker
nahmen zwar den christlichen Glau­
ben an, aber während sich der polni­
sche Fürst Mieszko I. (960–992) im Jahr
10
966 für das römisch-katholische Chris­
tentum entschied, wählte der Kiewer
Großfürst Wladimir I. (960–1015) im
Jahr 988 für sich und sein ostslawisches
Großreich, die so genannte Kiewer
Rus, das oströmisch-byzantinische
Glaubensbekenntnis.
Zur politisch-militärischen Konfron­
tation Polens mit dem Moskauer Russ­
land kam es erst spät und zwar im
Bunde mit dem Großfürstentum Li­
tauen. Dieser ursprünglich kleine Staat
war seit dem 13. Jahrhundert zu einem
breiten Flächenstaat expandiert, der
sich von der Ostsee bis in die Nähe des
Schwarzen Meeres erstreckte. Das war
eine Folge der wiederholten verhee­
renden Mongoleneinfälle seit 1237, die
zum Zerfall der Kiewer Rus geführt
und Litauen die Chance der großräu­
migen Expansion eröffnet hatten. Mit
dem langsamen, aber stetigen Aufstieg
der Moskauer Fürsten und Groß­
fürsten erwuchs den Litauern jedoch
im Laufe der Zeit ein machtpolitischer
Rivale, der nun Anspruch auf die alten
»russischen« Territorien erhob. Iwan
III. (1440-1505) war der erste Moskauer
Fürst, der sich 1478 den programma­
tischen Titel »Herrscher von ganz Rus­
sland« zulegte. Diese Entwicklung be­
traf nun auch Polen, denn dieses war
seit 1386 in Personalunion mit Litauen
verbunden. Bedingt durch den Mos­
kauer Druck, erweiterten die beiden
Staaten 1569 in Lublin ihren Bund zur
Staatenunion. Damit war eine Konstel­
lation entstanden, die die osteuropä­
ische Geschichte für lange Zeit prägen
sollte.
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015
Die Polen in Russland
Innerhalb des west-östlichen Ringens
um die politische und territoriale Vor­
macht in Osteuropa gab es eine Phase,
in der die polnische Seite die Oberhand
zu gewinnen schien. Es handelt sich
um die Zeit nach dem Tode Iwans IV.
im Jahre 1584. Dieser hatte durch einen
langen und sieglosen Eroberungsfeld­
zug ins Baltikum Russland an den
Rand des Ruins gebracht. Und da au­
ßerdem seine innenpolitische Herr­
schaft zu einem Terrorregime gewor­
den war, entspannten sich nach seinem
Tode politische Kämpfe und soziale
Unruhen. Polnische Adlige und Aben­
teurer mischten sich in der Hoffnung
auf Titel und Besitztümer ein. Höhe­
punkt polnischer Machtentfaltung war
die Besetzung Moskaus zwischen 1610
und 1612 in der Regierungszeit König
Sigismunds III. Wasa (1566–1632) und
die Wahl seines Sohnes Władysław
zum Zaren, nachdem vorher ausrei­
chende Bedingungen zum Schutz der
russischen Selbstständigkeit ausgehan­
delt worden waren. Aber nicht nur Wi­
derstände in Russland selbst, sondern
auch Sigismund trugen dazu bei, dass
die unterschriebenen Vereinbarungen
nicht verwirklicht wurden. Sigismund
selbst wollte nun plötzlich an Stelle sei­
nes Sohnes Zar werden – und das schuf
eine neue, für die russische Seite unan­
nehmbare Situation. Ein amtierender
polnischer König auf dem Zarenthron
hätte machtpolitisch bedeutet, dass
Moskau mit Polen-Litauen in Personal­
union vereinigt worden wäre. Un­
Andersartigkeit und seinen politischen
Ambitionen, blieb bestehen. Das nega­
tive polnische »Russlandbild« kommt
in einem Schreiben des Königs Sigis­
mund II. August (1520–1572) an die
englische Königin Elisabeth I. aus dem
Jahre 1569 deutlich zum Ausdruck. Si­
gismund bittet darin um ein englisches
Handelsembargo gegen Moskau mit
der Begründung: »Als Feind aller Frei­
heit unter dem Himmel, wird der Mos­
kowiter immer mächtiger [...] So wird
er befähigt, sich für die Unterwerfung
aller anderen Fürsten vorzubereiten
[...] Wir wissen genau, dass Eure Maje­
stät sich darüber im klaren sein muss,
wie grausam und stark dieser Feind ist,
wie tyrannisch er seine Untertanen be­
handelt, und wie sklavisch sie sich ihm
fügen müssen.«
Die Russen in Polen
Der Szenenwechsel könnte drastischer
nicht sein: Aus dem Triumph der Polen
über Russland zu Beginn des 17. Jahr­
hunderts wurde der vernichtende,
dauerhafte Triumph der Russen über
Polen Ende des 18. Jahrhunderts. Im
Endergebnis eines sich von 1772 bis
1795 hinziehenden Dramas teilten Rus­
sland, Preußen und Österreich das pol­
nische Reich vollständig untereinander
auf und löschten es als souveränen
Staat von der Landkarte. Treibende
Kraft war die russische Zarin Katha­
rina II. (1762–1796), die auch die größte
Nutznießerin der Teilungen war: 60
Prozent der Fläche und 50 Prozent der
polnischen Bevölkerung fielen an
Russ­land. Damit hatte das Zarenreich
in der Person Katharinas das histo­
rische Ziel der Moskauer Fürsten er­
reicht, nämlich die Rückeroberung al­
ler ehemaligen Gebiete der Kiewer
Rus. Nur in Galizien verblieben noch
orthodoxe Ukrainer unter jetzt öster­
reichischer Fremdherrschaft.
Auch andere Staaten waren und sind
von stärkeren Nachbarn umgeben und
haben dennoch ihre staatliche Existenz
behauptet. Im Falle Polens müssen also
Besonderheiten vorliegen, die diesen
Zusammenbruch erklärlich machen.
Eine davon war die ungewöhnliche
Staatsverfassung. Die »Republik P
­ olen«
war eine Angelegenheit ausschließlich
des Kriegeradels, der »Szlachta«. Er al­
lein hatte neben wirtschaftlichen Privi­
legien auch umfassende politische
Freiheits- und Teilhaberechte. Zudem
gelangte der polnische König seit 1573
nicht mehr durch Erbfolge auf den
Thron, sondern durch die Wahlent­
scheidung einer dazu einberufenen
Vollversammlung der Adligen. Der
polnische Adelsstand folgte damit ei­
nerseits dem demokratischen Ideal der
absoluten Rechtsgleichheit untereinan­
der und anderseits dem politischen
Ideal der unbedingten Teilhabe an al­
len Entscheidungsprozessen gemäß
dem Motto: »Nichts über uns ohne
uns!« Die Radikalität dieses Denkens
kommt im Grundsatz des »liberum
veto« deutlich zum Ausdruck: Das
ullstein bild - Heritage Images/The Art Collector
ullstein bild – SPUTNIK
denkbar war auch, dass ein Katholik,
der als polnischer König nicht zur Or­
thodoxie konvertieren konnte, auf den
Thron der »rechtgläubigen« Zaren ge­
kommen wäre. Das überstieg die Kon­
zessionsbereitschaft auch derjenigen
Russen, die ansonsten einer Anpas­
sung an westliche Vorbilder nicht ab­
geneigt waren. Der daraus erwach­
sende Widerstand wuchs sich zu einem
allgemeinen Volksaufstand aus, der
die Polen aus Moskau vertrieb und zur
Wahl eines Zaren aus den eigenen Rei­
hen führte. Dieser hieß Michail und
wurde der Begründer der RomanowDynastie (ab 1762 Romanow-HolsteinGottorp), die das Russische Reich bis
1917 regierte.
Aus russischer Sicht waren die Polen
Invasoren, die den Kern russischer
staatlicher Existenz und russischen
Glaubens bedrohten. Sie hatten sich
nicht nur durch Arroganz, Raub und
Gewaltakte verhasst gemacht, sondern
auch dadurch, dass man sie verdäch­
tigte, die russische Orthodoxie schwä­
chen oder gar in den »Schoß« der ka­
tholischen Kirche zurückführen zu
wollen. Aber sowohl die Selbstherr­
schaft der Zaren als auch die russischorthodoxe Glaubenslehre waren für
die Mehrheit der Russen unantastbare
Traditionen. So bildete sich in Russ­
land ein negatives Bild von Polen im
Besonderen und vom »gottlosen« Wes­
ten im Allgemeinen heraus.
Aus polnischer Sicht markiert diese
Episode einen Triumph über den rus­
sischen Feind, der mit seinen territoria­
len Ansprüchen und als selbsternannte
Schutzmacht für die orthodoxen Chris­
ten auf polnisch-litauischem Boden
existenzbedrohlich geworden war.
Eine polnische Briefmarke der Zwi­
schenkriegszeit erinnert an die Erobe­
rung Moskaus und zeigt zu Füßen der
siegreichen polnischen Feldherrn die
berühmte russische Zarenkrone, die
»Mütze Monomachs«, von der es heißt,
sie sei ein Geschenk des byzanti­
nischen Kaisers Konstantin IX. Mono­
machos (1042–1055) an den Kiewer
Großfürsten Wladimir II. (1113–1125)
gewesen. Die Krone zu Füßen der Po­
len lässt den kritischen Betrachter aber
auch an die verspielte Chance denken,
sie »aufzuheben« und auf ein pol­
nisches Fürstenhaupt zu setzen. Dieser
Sieg war jedoch nur ein kurzfristiger,
und die Furcht vor Russland, seiner
5Bogdan Chmel’nickij (1595–1657, Abb. l.), Hetman der Dnjepr-Kosaken, ging 1654
ein Bündnis mit dem russischen Zar Alexei I. (1629–1676, Abb. r.) gegen die Herrschaft Polen-Litauens in der Ukraine ein.
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015
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Russen und Polen
Die Teilungen Polens 1772 – 1795
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KAISERREICH
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Memelgebiet
E
KAUNAS
Gdynia
Ostpreußen
Allenstein
3
WARSCHAU
Łódż
M. Ostrau
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Chelm
3
Kátowice
Kraków
Oświęcim
(Auschwitz)
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Nowy Saçz
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Pripeć
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Kgr. Ungarn
Włodzimierz
1772 an Russland (1),
Österreich (2) und
Preußen (3)
Dubno
Przemyśl
Dn
1793 an Russland (1)
und Preußen (3)
Tarnopol
tr
ies
Stanisławów
1795 an Russland (1),
Österreich (2) und
Preußen (3)
Teilungen
Munkács
c
Verfassungsreform von 1791. Sie hatte
Ideen der Gewaltenteilung und der
Volksouveränität aufgenommen und
aus dem Wahlkönigtum ein Erbkönig­
tum gemacht, um die Kontinuität der
Staatsmacht zu stärken. Das nahm Ka­
tharina II. zum Anlass, die polnischen
Reformen in Anspielung auf die revo­
lutionären Vorgänge in Frankreich als
»französische Pest an der Weichsel« zu
diffamieren, die russische Armee ein­
marschieren zu lassen und anschlie­
ßend (zusammen mit Österreich und
Preußen) Polen in Gänze aufzuteilen.
Natürlich können Verfassungseigen­
tümlichkeiten nicht allein den nahezu
200 Jahre dauernden staatlichen Ab­
stieg Polens bis zu seiner gänzlichen
staatlichen Auslöschung erklären. Es
kam ein Bündel politisch-militärischer
Katastrophen »biblischen« Ausmaßes
hinzu: 1654/55 ein Einfall der Russen
und zwischen 1655 und 1657 eine Inva­
sion der Schweden. Und schließlich
war schon 1648 in der polnischen
Ukraine ein Aufstand der Dnjepr­
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015
Grenze Polens
vor 1772
h
07680-04 Quelle: N. Davies, Im Herzen Europas, München 2002, S. 279.
Nein eines einzigen Adligen im polni­
schen Reichstag reichte aus, ihn be­
schluss­unfähig zu machen! Solange ge­
nug politische Vernunft in der Adels­kas­te
waltete, die persönlichen Interessen
gegebenenfalls den gesamt­staat­lichen
Notwendigkeiten unterzuordnen, be­
wahrte die polnische Adelsdemokratie
ihre politische Handlungsfähigkeit.
Als das nicht mehr der Fall war, wurde
sie zu einem Sargnagel der Nation.
Russland nutzte diese besonderen Um­
stände als Hebel der Einmischung. Es
unterstützte zum einen zielstrebig die
Kräfte und die jeweiligen Interessen­
gruppen, die aus Eigennutz keine Ver­
änderung der bestehenden Verhält­
nisse wünschten. Und es trat zum
­anderen als Schutzmacht für die tat­
sächlich oder vorgeblich verfolgten or­
thodoxen Glaubensangehörigen auf
polnisch-litauischem Boden auf. In bei­
den Fällen nahm Russland ein Inter­
ventionsrecht in Anspruch. Die Skru­
pellosigkeit dieser Politik belegt die
russische Reaktion auf die polnische
Kiew
Równe
Luck
Lwów
2
Spiss (Zips)
1769 ung.
WIEN
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I
Pinsk
Tomaszów
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Mgft. Mähren
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Erzhzm. Österreich
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Bydgoszcz
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PREUSSEN
BERLIN
Wilno
Königsberg
DANZIG
1793
0
50
100
150
200 km
Kosa­ken unter dem Anführer Bogdan
Chmel‘nickij ausgebrochen. Im Ab­
wehrkampf gegen Polen suchten die
Kosaken den Schutz der Moskauer Za­
ren. 1654 leisteten sie in Perejaslavl den
Vertretern des damaligen Zaren Alexei
I. (1629–1676) den Treueeid – ein bis
heute in seiner Bedeutung umstrittener
Vorgang. Denn während die Ukrainer
Chmel‘nickijs Kosakenstaat als frühe
Form eines ukrainischen National­
staates sehen und der Akt von 1654 als
vorübergehendes Beistandsabkommen
bewertet wird, interpretieren die Rus­
sen das Geschehen als Unterwerfung
und »Wiedervereinigung« der Ukraine
mit Russland. Im Zarentitel »Selbst­
herrscher von ganz Groß- und Klein­
russland« kommt dieser neue An­
spruch zum Ausdruck. Polen, innenund außenpolitisch geschwächt,
musste die Oberherrschaft des Zaren
über die Kosaken hinnehmen und ihn
zudem als Garanten für die Religions­
freiheit der übrigen Orthodoxen auf
polnisch-litauischem Boden anerken­
ullstein bild - CTK
5Sarkophag mit den Überresten des 2010 ums Leben gekommenen polnischen Präsidenten Lech Kaczyński und seiner Frau, 2012.
nen. Die Ukraine selbst wurde entlang
des Dnjepr geteilt. Einschließlich der
Stadt Kiew gingen damit für Polen
233 000 Quadratkilometer fruchtbaren
Landes mit 1,6 Millionen Menschen an
den Moskauer Gegner verloren.
Für Polen war die Bilanz dieser Zeit
verheerend. Zu den Gebietsverlusten
an Russland in der Ukraine und an
Schweden im Baltikum kamen schwer­
wiegende materielle und bevölke­
rungsmäßige Einbußen. Ähnlich wie
Deutschland nach dem Dreißigjäh­
rigen Krieg war Polen großflächig ver­
wüstet und bevölkerungsmäßig stark
geschrumpft, die Städte als Zentren
von Handel und Wandel zerstört und
ihrer wirtschaftlichen Funktion be­
raubt. Es brauchte nahezu ein Jahrhun­
dert, ehe Stadt und Land wieder den
»Vorkriegszustand« erreicht hatten.
Das waren keine günstigen Vorausset­
zungen dafür, sich gegenüber einem
immer stärker werdenden Gegner er­
folgreich zu behaupten.
Der polnisch-russische Konflikt zeigt
im Rückblick bis ins 17. Jahrhundert
ein Hin und Her und Auf und Ab, ehe
der Stern des einen unaufhaltsam zu
Gunsten des anderen sank. Seit dem
18. Jahrhundert gerieten Initiative und
Vorteil ganz auf die russische Seite.
Alle polnischen Aufstände gegen die
russischen Interventionen und Inva­
sionen sowie gegen das Joch der spä­
teren Fremdherrschaft, namentlich die
von 1830 und 1863, wurden blutig nie­
dergeschlagen. Die polnischen Rebel­
len wurden eingekerkert, erschossen
und zu Zehntausenden nach Sibirien
deportiert. Man demütigte die Nation,
indem man nach dem Aufstand von
1863 den Namen »Königreich Polen«
von der Landkarte löschte und durch
die Bezeichnung »Weichselgebiet« er­
setzte. Zudem erfolgte eine Russifizie­
rung des gesamten öffentlichen Le­
bens. Unter dem Einfluss des aufblü­
henden russischen Nationalismus ver­
stieg man sich sogar dazu, den Polen
abzusprechen, »wahre« Slawen zu
sein. Alles in allem waren das für die
Polen Vorgänge leidvoller Erinnerung
und für die Russen Quell negativer As­
soziationen, die vermutlich bis heute
im russischen Polenbild mitschwin­
gen.
Die Vergangenheit in der
­Gegenwart
Der letzte Szenenwechsel führt in die
Gegenwart. Eines der Symbole für die
polnisch-russische Feindschaft, die bis
heute nicht vergehen will, ist Katyń.
Wo immer man in Polen weilt: Die
Wahrscheinlichkeit ist groß, eine
Katyń-Gedenkstätte zu finden. An die­
sem russischen Ort sowie an zwei wei­
teren waren im Frühjahr 1940 über
20 000 polnische kriegsgefangene Be­
rufs- und Reserveoffiziere sowie viele
andere inhaftierte Polen einzeln durch
Kopfschuss hingerichtet und in Mas­
sengräbern verscharrt worden. Tat­
motiv war, jene zu liquidieren, die als
Träger des polnischen Nationalbe­
wusstseins galten und damit als poten­
zielle Gefahr für das erklärte Ziel, nie
wieder einen polnischen Nationalstaat
entstehen zu lassen. Aber auch die Tat­
leugnung machte und macht dieses
Geschehen zu einem Trauma für Polen
und zu einer Schande für Russland –
und im gewissen Sinne auch für die
westlichen Alliierten USA und Groß­
britannien, denn sie deckten lange wi­
der besseres Wissen die Lüge. Die Tä­
ter stritten die Tat bis in die 1990er
Jahre ab und bringen es bis heute nicht
fertig, die Polen von der Aufrichtigkeit
und Echtheit ihres Bedauerns zu über­
zeugen. Der tragische Absturz einer
der beiden polnischen Regierungsma­
schinen bei Smolensk 2010 mit 96 töd­
lich verunglückten Passagieren, darun­
ter der polnische Staatspräsident Lech
Kaczyński und seine Ehefrau, hat die­
ses andauernde Spannungsverhältnis
in aller Polemik und Brisanz neu auf­
brechen lassen. Das beleuchtet schlag­
lichtartig, wie tief diese »Todfeind­
schaft« nach wie vor sitzt.
Es gibt aber auch auf russischer Seite
eine »Vergangenheit in der Gegen­
wart«. Hier wurde beispielweise nicht
vergessen, dass das nach dem Ersten
Weltkrieg neu entstandene Polen dem
bürgerkriegsgeschwächten bolsche­
wistischen Russland mit militärischer
Gewalt eine Grenze aufgezwungen
hatte, die ausgedehnte weißrussischwestukrainische Gebiete einbezog. Be­
zeichnend für die russische Sicht der
Dinge ist auch, dass der russische
Staatspräsident Wladimir Putin im
Jahr 2005 den 4. November als »Tag der
Einheit des Volkes« zum Nationalfeier­
tag machte, weil an diesem Tag vor da­
mals 393 Jahren die letzten Polen, mili­
tärisch geschlagen, den besetzten
Kreml räumen mussten!
Das heutige freie und unabhängige
Polen lebt in einer Gegenwart, die nach
wie vor durch die Erinnerung an den
stalinistisch-kommunistischen Terror
der Kriegs- und der Nachkriegszeit ge­
prägt ist. Das belegen die allgegenwär­
tigen Gedenkstätten und Erinnerungs­
tafeln. Die »alte« und die »junge« Ver­
gangenheit erklären die besondere
Empfindlichkeit gegenüber Russland
und den ausgeprägten Willen der
­Polen von heute, ihre neuerrungene
Freiheit um jeden Preis zu bewahren.
 Helmut Schuhart
Literaturtipps
Norman Davies, Im Herzen Europas. Geschichte Polens,
München 2000.
Manfred Alexander, Kleine Geschichte Polens, Stuttgart
2003.
Günther Stökl und Manfred Alexander, Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart
2009.
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015
13
Palästinafront 1916
Die Ausgangslage
Anfang des 20. Jahrhunderts war das
Osmanische Reich die vorherrschende
Macht im Nahen Osten. Hatte das
Reich einst eine erstrangige militä­
rische Bedrohung für Europa darge­
stellt, waren seine expansiven Tage zu
diesem Zeitpunkt jedoch längst Ge­
schichte. Die Wirtschaft des Imperi­
ums blieb agrarisch geprägt. Hinzu
kamen innere Schwierigkeiten: Die
­
Völker des multiethnischen Reiches
entwickelten nationale Identitäten, der
Widerstand wuchs. Auch Reformver­
suche durch die Bewegung der Jung­
türken konnten den Abwärtstrend des
Großreiches nicht umkehren. Militä­
rische Niederlagen und territo­
riale
14
Die Palästinafront
Der Erste Weltkrieg in der Levante
bpk
D
er 11. Dezember 1917 markierte
das Ende einer Ära in Palästina.
An diesem Tag betrat der briti­
sche General Sir Edmund Allenby Jeru­
salem und beendete die 400-jährige
Herrschaft des Osmanischen Reiches
über eine Stadt, die für alle drei mono­
theistischen Weltreligionen eine heraus­
ragende Rolle spielt. Obgleich nur ein
Nebenschauplatz des Ersten Welt­
krieges war die Einnahme Jerusalems
ein bedeutender Erfolg für Großbritan­
nien. Angesichts dreier verlustreicher
und frustrierender Kriegsjahre an der
Westfront war der Sieg im Nahen Osten
ein willkommenes Kontrastprogramm.
Im Gegensatz zu den europäischen
Schützengräben, die in langen, verlust­
reichen Abnutzungsschlachten im Stel­
lungskrieg verharrten, konnte in der
Levante ein konventioneller Bewe­
gungskrieg geführt werden, in dem die
Kavallerie noch einmal eine gewichtige
Rolle spielte. Daher verwundert es
nicht, wenn bedeutende Teile der bri­
tischen Führung zu der Überzeugung
gelangten, dass der Krieg gegen die
Mittelmächte im Heiligen Land (mit-)
entschieden werde.
Neben dieser militärhistorischen Be­
deutung hat der Erste Weltkrieg im
Nahen Osten auch eine nachhaltige po­
litische Komponente. Denn die heutige
regionale Staatenwelt ist im Wesent­
lichen eine Folge des Krieges. Auch die
Instabilität der Region, die geprägt ist
von Jahrzehnte währenden Konflikten,
wurzelt in den Ereignissen dieses Kon­
fliktes und der unmittelbaren Nach­
kriegszeit.
5Eroberung Jerusalems durch britische Truppen am 11. Dezember 1917.
Einbußen häuften sich: 1911/12 er­
oberten italienische Truppen Libyen;
im Ersten Balkankrieg 1912/13 gingen
die Territorien auf dem Balkan verlo­
ren. Diese Niederlagen spiegelten den
Zustand der osmanischen Armee wi­
der. Modernisierungsversuche mit Hilfe
des Deutschen Reiches kamen zu spät.
Ägypten war eine politische Anoma­
lie im Osmanischen Reich: Konstitutio­
nell eigentlich seit 1517 Teil des Reiches
hatten die Briten das Land 1882 be­
setzt, um die Kontrolle des Suezkanals
zu sichern. Als schnellste Verbindung
nach Fernost war der 1869 eingeweihte
Kanal eine lebenswichtige Versor­
gungsader des britischen Empires.
Mit dem Beginn des Ersten Welt­
krieges in Europa entschied die Hohe
Pforte, die Regierung in Konstantino­
pel (heute: Istanbul), dem Bündnis der
Mittelmächte – Deutsches Reich und
Österreich-Ungarn, ab 1915 auch Bul­
garien – gegen die Entente – Großbri­
tannien, Frankreich, Russland – beizu­
treten. Damit wurde der Nahe Osten
Schauplatz des Ersten Weltkrieges. Die
Kriegsziele des Osmanischen Reiches
in der Levante konzentrierten sich auf
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015
die Rückeroberung Ägyptens. Doch
dabei handelte es sich um nur eine
Front von vielen. Im nordöstlichen
Kaukasien und östlichen Mesopota­
mien sollten lange zuvor verlorene Ge­
biete zurückerobert werden; im Wes­
ten zielte die Hohe Pforte – auf die
Rückeroberung der seit 1912/13 verlo­
renen Gebiete auf dem Balkan. Dage­
gen waren die militärischen Ziele
Großbritanniens in der Levante zumin­
dest anfangs rein defensiv: die Siche­
rung der britischen Herrschaft über
Ägypten und den Suezkanal.
Die Offensiven gegen den
Suezkanal
Mit dem Kriegsausbruch im Nahen
Osten etablierten die Briten ihre Vertei­
digungslinie entlang des 160 km lan­
gen Suezkanals. Mit der Ankunft von
zusätzlichen Truppen aus Indien, Aus­
tralien und Neuseeland im Dezember
1914 verfügten sie über 70 000 Solda­
ten.
Die osmanische Armee konzentrierte
dagegen 65 000 Mann in Palästina und
Syrien. Mitte Januar 1915 rückten
20 000 Soldaten in den Sinai vor. Am
2./3. Februar starteten sie den Angriff
auf den Suezkanal. Mit Booten ver­
suchten sie im Sturmangriff über den
Kanal zu setzen, wurden jedoch rasch
vom britischen Maschinengewehr­
feuer gestoppt. Schnell wurde die Aus­
sichtslosigkeit des Unterfangens klar.
Die Überwindung des Kanals bei
vollem gegnerischem Beschuss hätte
selbst eine ausgezeichnet ausgebildete
und disziplinierte Truppe vor eine
große Herausforderung gestellt. Da­
von waren die eingesetzten osma­
nischen Soldaten jedoch weit entfernt.
Bereits am Morgen des 4. Februar stell­
ten die Briten fest, dass die gegne­
rischen Truppen auf dem Rückzug
­waren. Sie verzichteten auf einen Ge­
genangriff und konzentrierten sich da­
rauf, den Kanal wieder für die zivile
Schifffahrt zu öffnen.
Die Briten rechneten mit einem zwei­
ten Angriff. Doch im Frühjahr 1915
konzentrierten sich die Kriegshand­
lungen im Nahen Osten auf die Darda­
nellen, wo die Entente-Mächte eine
Großoffensive auf die Gallipoli-Halb­
insel unternahmen. Anschließend rich­
tete sich die Aufmerksamkeit der os­
manischen Kriegführung auf russische
Operationen im Kaukasus. Dies gab
den Ägyptischen Expeditionsstreit­
kräften der Briten unter dem Kom­
mando von Sir Archibald Murray Zeit,
die Verteidigung zu optimieren.
Erst im Juli 1916 setzten sich die os­
manischen Truppen unter der Füh­
rung des bayrischen Generals Fried­
rich Kress von Kressenstein ein zweites
Mal gen Suezkanal in Bewegung. Dank
der Hilfe von deutschen Offizieren wa­
ren die Streitkräfte besser ausgebildet
und ausgerüstet als zuvor. Gut vorbe­
reitet auf den Angriff, gelang es den
britischen Streitkräften dennoch, die
Offensive der Osmanen abzuwehren
und diesen eine empfindliche Nieder­
lage beizubringen. Dieser Sieg mar­
kierte den Wendepunkt an der Palä­
stinafront: Von nun an war die briti­
sche Herrschaft in Ägypten nicht mehr
in Gefahr. Die militärische Initiative
ging auf die Briten über.
Die Arabische Revolte
Parallel bedeutete der Beginn der Ara­
bischen Revolte im Juni 1916 die Eröff­
nung einer weiteren Front für die Hohe
Pforte in der Hedschas-Provinz auf der
arabischen Halbinsel. Trotz ihrer
schlechten Ausrüstung und wankel­
mütigen Kampfbereitschaft konnten
die Araber durch Guerillaangriffe eine
gehörige Anzahl osmanischer Truppen
Die Palästinafront ab 1916
RUSSISCHES
REICH
Kaspisches
Meer
RUMÄN.
Schwarzes Meer
BULG.
KONSTANTINOPEL
Angora
Kämpfe
März 1915 bis
Januar 1916
Ersindschan
OSMANISCHES
Harput
REICH
Iskenderun
Aleppo
Tibni
Deir es-Zor
Damaskus
Kerkuk
Jerusalem
Suezkanal
Nil
Kairo
Enseli
rat
Alexandria
Quelle: Wegweiser zur Geschichte: Naher
Osten, 2. Aufl., Paderborn 2009, S. 54.
NEDSCHD
2.2.15
Golf von
Aden
Täbris
Mossul
Ramadi
Gaza
ÄGYPTEN
(brit.)
Van
Musch
Eup
h
Beirut
Baku
Erzurum
Meskene
Hamam
Zypern
Vormarsch der Mittelmächte
Vormarsch der Entente
Türkische Abwehrstellungen
Kars
Tigris
Mittelmeer
Tiflis
Kaukasusfront im
September 1915
PERSIEN
Bagdad
Sultanabad
Kut-al-Amara
September
1915
Basra
KUWAIT
(brit.)
© ZMSBw
07683-02
Persischer
Golf
binden, die andernfalls gegen die
Briten an der Palästinafront eingesetzt
worden wären.
Der britische Hochkommissar von
Ägypten, Sir Henry McMahon, hatte
die Araber unter Führung von Hussein
ibn Ali, dem Scherifen von Mekka,
zum Aufstand gegen die osmanische
Herrschaft bewegen können, indem er
ihnen die britische Unterstützung für
die Errichtung eines arabischen Groß­
reiches von der Arabischen Halbinsel
bis in die Levante versprach. Neben
den Gesprächen mit den Arabern stand
Großbritannien jedoch zugleich in ge­
heimen Verhandlungen mit Frank­
reich, die im April 1916 zum Abschluss
des sogenannten Sykes-Picot-Abkom­
men führten. Entgegen den Abspra­
chen mit den arabischen Verbündeten
wurde die Levante darin in eine fran­
zösische und eine britische Einfluss­
sphäre aufgeteilt. Darüber hinaus er­
klärten die Briten im November 1917
im Rahmen der Balfour-Deklaration,
dass man die »Errichtung einer natio­
nalen Heimstätte des jüdischen Volkes
in Palästina« mit »Wohlwollen« be­
trachtete.
Der britische Vormarsch durch
den Sinai
Währenddessen rückten die Briten im
Sinai vor und drängten die gegne­
rischen Truppen bis Ende Dezember
1916 auf die neue Frontlinie Beer
Scheva–Gaza zurück. Im Frühjahr 1917
bereiteten sich beide Kriegsparteien
auf die Schlacht um Gaza vor, dem Tor
nach Palästina. Die britischen Nach­
schublinien wurden bis an die Belas­
tungsgrenze beansprucht. Der osma­
nische Kommandant von Gaza hatte
derweil den Befehl erhalten, die Stadt
bis zum letzten Mann zu halten.
Die Briten starteten zwei große Fron­
talangriffe auf Gaza (26. März und 19.
April). Beide wurden durch die sich
unerbittlich verteidigenden Osmanen
zurückgeschlagen. Neben der über­
dehnten Versorgungslinie wurden die
britischen Offensiven durch Schwä­
chen auf der Kommando-Ebene ge­
hemmt. General Murray befehligte die
Truppen von seinem Kommandopo­
sten bei El Arish und war daher zu weit
von den Kampfgeschehnissen entfernt.
Nach zwei Niederlagen in Folge wurde
er als Befehlshaber abberufen.
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015
15
bpk
Palästinafront 1916
handlungen nahe den religiös bedeu­
tenden Stätten zu vermeiden. Sechs
Wochen nach Beginn seiner Offensive
hatte Allenbys Entschlossenheit Groß­
britannien einen wichtigen Sieg be­
schert.
Die Entscheidung
5Deutsches und türkisches Militär vor dem Bahnhof in Jerusalem 1917.
Daraufhin überdachte das britische
Oberkommando die bisherige strate­
gische Ausrichtung, denn es war er­
sichtlich geworden, dass die Einnahme
Palästinas mehr Truppen benötigte als
gedacht. Entgegen skeptischen Stim­
men, die dafür plädierten, alle verfüg­
baren Ressourcen an der Westfront zu
konzentrieren, setzte sich Premiermi­
nister David Lloyd George mit der
Überzeugung durch, dass die militä­
rische Pattsituation an der Westfront
durchbrochen werden könnte, wenn
man an anderen Fronten gegen die
Verbündeten des Deutschen Reiches
Fortschritte erzielen würde. Siege an
diesen Kriegsschauplätzen würden
nicht nur die britische Moral stärken,
sondern ein militärischer Durchbruch
könnte zur Niederlage der Mittel­
mächte beitragen.
Allenby ante portas
Ende Juni 1917 übernahm Sir Edmund
Allenby das Kommando an der Paläs­
tinafront. Lloyd George hatte ihm mit
auf den Weg gegeben, dass die bri­
tische Regierung die Eroberung Jerusa­
lems noch vor Weihnachten erwarte.
Um dieses Ziel zu erreichen, plante
­Allenby einen Überraschungsangriff
gegen die schwache Flanke der tür­
kischen Linie bei Beer Scheva. Unbe­
merkt vom Gegner verlegten die Briten
einen Großteil der Fronttruppen von
Gaza nach Beer Scheva. Am 31. Okto­
ber starteten die britischen Streitkräfte
16
den Angriff. Die Überraschung glückte
und die Wüstenstadt fiel nach kurzem
Kampf. Von der Flanke rückten die
Briten nun gegen Gaza vor. Die Osma­
nen gerieten in Panik und zogen sich
von der Gaza–Beer Scheva-Linie zu­
rück. So marschierten die britische Ar­
mee am 6./7. November in Gaza ein.
Allenby ließ die fliehenden gegne­
rischen Truppen umgehend verfolgen.
Er wollte ihnen keine Zeit lassen, er­
neut Verteidigungspositionen zu be­
ziehen. Doch die osmanische Nachhut
konnte ein vollständiges Desaster ver­
meiden und den britischen Vormarsch
abbremsen, sodass sich die Mehrheit
der osmanischen Truppen rund 12 km
südlich von Jaffa sammeln und eine
neue Verteidigungslinie errichten
konnte. Erneut kam es zur Schlacht.
Dabei konnten die Briten einen wich­
tigen Eisenbahnknotenpunkt einneh­
men und dadurch den Bahnverkehr
nach Jerusalem unterbrechen. Wenig
später eroberten sie Jaffa.
Allenby setzte den Vormarsch nach
Jerusalem umgehend fort, der jedoch
beschwerlich war: Die Osmanen hatten
die Straßen zerstört; außerdem setzte
der Winterregen ein, sodass Fahrzeuge
und Artillerie große Schwierigkeiten
hatten. Derweil organisierte der vom
Deutschen Reich entsandte General
Erich von Falkenhayn die Verteidi­
gung Jerusalems. Nach erbitterten
Kämpfen gelang den Briten am 7./8.
Dezember der Durchbruch. Die Tür­
ken räumten die Stadt, um Kampf­
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015
Angesichts des Friedens von Brest-­
Litowsk an der Ostfront im März 1918
und der Verlegung frei gewordener
deutscher Truppen nach Frankreich,
drängte London auf die Entscheidung
an der Palästinafront. Ungeachtet der
logistischen Schwierigkeiten setzte Al­
lenby daher die Kampfhandlungen im
Februar 1918 fort: Die Briten wandten
sich zunächst der östlichen Flanke zu
und sicherten das Jordantal. Anschlie­
ßend setzten sie Ende März und Ende
April zu zwei Überfällen auf Amman –
östlich des Jordans – an. Diese schei­
terten zwar, machten den Gegner aber
glauben, dass weitere britische Offen­
siven jenseits des Jordans bevorstün­
den. Ganz wie Allenby sich erhofft
hatte, verstärkte daher die osmanische
Armee massiv ihre Defensivstellung
östlich des Jordans auf Kosten ihrer
Truppen in Palästina.
Entsprechend wandte sich Allenby
wieder der Front in Palästina zu. Die
Kavallerie sollte am Mittelmeer durch
die Front brechen und dann weit hinter
feindliche Linien vorstoßen. Wieder
setzte Allenby auf die Täuschung des
Gegners: Die Briten gaukelten den Tür­
ken einen erneuten Angriff östlich des
Jordans vor. Um die Verlegung eines
Großteils der Truppen ans Mittelmeer
zu verbergen, wurden die Zelte einfach
stehen gelassen und 15 000 PferdeAttrap­pen aufgestellt.
Die Schlacht in der Sharon-Ebene am
Mittelmeer begann am 19. September
1918. Die osmanische Front kapitu­
lierte bald aufgrund des überraschen­
den britischen Ansturms. Wie geplant
brach die britische Kavallerie durch die
gegnerischen Reihen. Entscheidend
war dabei die Aktivität der britischen
Luftwaffe, die strategische osmanische
Stellungen angriff und die Kommuni­
kation zwischen der Front und dem
Hauptquartier in Nazareth unterbrach.
Aufgrund fehlender Befehle brach die
osmanische Front sehr schnell zusam­
men. Innerhalb von 36 Stunden war es
den Briten gelungen, die gegnerischen
bpk
Truppen an der Küste zu umfassen.
Die osmanischen Kräfte in Palästina
waren damit in Auflösung begriffen.
Das Ende
Im dritten Anlauf eroberten die bri­
tischen Truppen am 25. September
Amman. Noch bevor die Osmanen
eine neue Verteidigungslinie etablieren
konnten, ließ Allenby weiter vorrü­
cken. Bereits am Morgen des 30. Sep­
tember standen die Briten kurz vor Da­
maskus. Der Gegner zog sich weiter
zurück. 19 000 osmanische Soldaten
befanden sich nun auf der Flucht; die
Artillerie war beinahe vollständig ver­
loren, Transportmittel existierten nicht
mehr. An eine geordnete Verteidigung
war nicht mehr zu denken.
Die Briten setzten ihren Vorstoß nun
nach Aleppo fort. Allenby geriet aus
London unter Druck, den Osmanen
endlich den Todesstoß zu versetzen.
Mit der wohl letzten größeren Kavalle­
rie-Aktion in der Geschichte ordnete
Allenby daher den Sturm auf Aleppo
an. Doch bei Ankunft der Briten hatten
die Osmanen die Stadt bereits ge­
räumt. Am 30. Oktober unterzeichnete
das Osmanische Reich einen Waffen­
stillstand an Bord des britischen
Kriegsschiffes »Agamemnon« im
­Hafen von Moudros (Limnos). Damit
endete der Erste Weltkrieg in der
­Levante.
Zeitgleich hatten die Entente-Mächte
auch in Mitteleuropa entscheidende
Siege erringen können. Nach dem
Durchbruch der sogenannten Sieg­
fried-Linie Ende September 1918
drängte die deutsche Oberste Heeres­
leitung auf einen Waffenstillstand.
Auch in Mesopotamien waren die
Briten auf dem Vormarsch und näher­
ten sich Mossul. Auf dem Balkan brach
die bulgarische Front Mitte September
1918 zusammen. Dadurch verlor Kon­
stantinopel seine Kommunikationsli­
nie nach Berlin.
Die Folgen
Die Niederlage an der Palästinafront
führte zum vollständigen Zusammen­
bruch des Osmanischen Reiches. Im
Vertrag von Sèvres, dem Friedensver­
trag zwischen Entente und der Hohen
Pforte, sollte das Reich zerschlagen
und der Einfluss Konstantinopels auf
5General Sir Edmund Allenby reitet an der Spitze seiner Truppen in Jerusalem ein.
die anatolischen Kerngebiete be­
schränkt werden. Die türkischen Na­
tionalisten um Mustafa Kemal wollten
dies nicht hinnehmen. Der folgende
Türkische Befreiungskrieg (1919 bis
1923) gegen die Entente, vor allem aber
gegen Griechenland führte schließlich
zur Entstehung der modernen Türkei.
Im Rahmen des Krieges kam es zu mil­
lionenfachen Zwangsumsiedlungen
zwischen Griechenland und der
Türkei, die bis heute die Beziehungen
beider Länder belasten.
Die arabischen Territorien des Osma­
nischen Reiches wurden auf der Kon­
ferenz von San Remo (1920) zwischen
Großbritannien und Frankreich aufge­
teilt. Der Völkerbund festigte die an­
glo-französische Dominanz im Nahen
Osten durch die Erteilung von soge­
nannten Mandaten an die imperialen
Mächte. Damit entstand die franzö­
sische Herrschaft über den Libanon
und Syrien. Großbritannien kontrol­
lierte Ägypten, Transjordanien, Palä­
stina und den Irak. Während Ägypten
noch bis in die 1950er Jahre das Zen­
trum britischer Interessen im Nahen
Osten bleiben sollte, erwies sich Paläs­
tina als nicht kontrollierbar. Schon ab
den 1920er Jahren spitzten sich die
Auseinandersetzungen zwischen Ju­
den und Arabern zu und mündeten
schließlich im offenen Krieg. Überfor­
dert und frustriert legte Großbritan­
nien am 14. Mai 1948 sein Mandat nie­
der. Am selben Tag rief David Ben
­Gurion den Staat Israel aus. Einen Tag
später begann mit dem Einmarsch aller
arabischen Nachbarstaaten der Israe­
lische Unabhängigkeitskrieg (1948/49).
Dies markiert den Beginn des israe­
lisch-arabischen Konflikts.
Die Araber fühlten sich von den
Briten betrogen: Während Hussein
selbst die Hedschas-Provinz als König­
reich erhielt, wurde seinen Söhnen Ab­
dullah und Feisal die Herrschaft über
(Trans-)Jordanien und Irak übertragen.
Letztlich sollte sich die haschemitische
Dynastie nur in Jordanien behaupten
können. Bereits zwischen 1919 und
1925 eroberte Ibn Saud das Königreich
Hedschas und etablierte 1932 sein
neues Königreich Saudi-Arabien. 1963
wurde die Haschemiten-Dynastie im
Irak durch die Baath-Partei gestürzt.
Die moderne politische Staatenwelt
des Nahen Ostens ist damit eine di­
rekte politische Folge des Ersten Welt­
krieges. Die Instabilität, die diese Re­
gion fortan charakterisieren sollte,
wurzelt in den Entscheidungen und
Weichenstellungen der unmittelbaren
Nachkriegszeit.
 Marcel Serr
Literaturtipps
Anthony Bruce, The Last Crusade. The Palestine Campaign
in the First World War, London 2013.
Roger Ford, Eden To Armageddon. World War I in the
Middle East, London 2009.
James Barr, A Line in the Sand. Britain, France and the
Struggle for the Mastery of the Mid-dle East, London 2011.
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015
17
Trauma Zweiter Weltkrieg –
Zerstörungsbilder in der Realität
und im Kopf
D
er Zweite Weltkrieg hinterließ
zahlreiche sichtbare und an­
dere, auf den ersten Blick nicht
sofort erkennbare Spuren. Allein die
Bombenangriffe während des Zweiten
Weltkriegs forderten rund 800 000 Tote
unter der deutschen Zivilbevölkerung.
Etwa ein Viertel der deutschen Kinder
wuchsen nach dem Zweiten Weltkrieg
ohne Vater auf. Die deutschen Gefal­
lenen ließen etwa 1,7 Mio. Frauen als
Witwen zurück. 2,5 Mio. Kinder wur­
den zu Halbwaisen sowie fast 100 000
Kinder zu Vollwaisen. Über zwölf Mil­
lionen Deutsche waren vertrieben wor­
den oder angesichts der vorrückenden
alliierten Truppen auf der Flucht. Auch
unter den Heimatvertriebenen befan­
den sich etwa zwei Millio­nen Kinder
und Jugendliche. Nach dem Zweiten
Weltkrieg waren bis zu zwölf Millio­
nen »Displaced Persons« – ehemalige
Zwangsarbeiter und ausländische KZInsassen – unterwegs, die nach Kriegs­
ende auf der Suche nach einer neuen
Heimat waren. Millionen von Fami­
lien waren zerrissen oder auf der Suche
nach Familienangehörigen und schick­
ten sich gegenseitig Lebenszeichen. Als
erschütterndes Gesamtausmaß wird
die Zahl der Opfer des Zweiten Welt­
krieges, Soldaten wie Zivilbevölke­
rung, auf etwa 65 Millionen geschätzt.
Überlebende, Vertriebene und Heim­
kehrer waren nach diesen schreck­
lichen Erlebnissen und Erfahrungen in
der Kriegs- und Nachkriegszeit mit
Tod, Verwundung oder Vertreibung
und Vergewaltigung häufig traumati­
siert. Gleichzeitig war die Nachkriegs­
zeit für die Mehrzahl der deutschen
Bevölkerung verstörend und beunru­
higend, da kaum Orientierung und
Stabilität geboten wurden.
Susannes Mutter ist 1926 geboren. Sie
wollte immer Lehrerin werden. Am Tag
der Flucht versuchte sie noch, ihre Eltern
zu finden, verpasste sie aber und traf sie
erst sehr viel später wieder. Sie erzählte
18
5Deutsche Flüchtlinge in Danzig im April 1945.
viel von ihrer Angst vor den russischen
Soldaten während der Flucht – von ihrer
Angst vor Vergewaltigung. Sie erzählte
vom Krieg, vom Alltag, vom Mangel. Sehr
belastend für sie war, alle ihre männlichen Freunde durch den Krieg zu verlieren: »Meine Freunde sind gefallen, die
Jungen in meinem Alter mussten im letzten Kriegsjahr noch zum Militär. Es ist
kaum einer wiedergekommen. Die Jungen aus der Tanzstunde waren weg. Sie
rissen sich noch drum, Soldat zu werden,
sie durften dann schneller Abitur machen. Alle, praktisch alle, sind nicht wiedergekommen.«
Sehr geprägt wurde Susannes Mutter von
der ersten Zeit nach der Flucht, die sie mit
ihren Eltern in einem Flüchtlingslager verbrachte. Sie fühlte sich dort nie wohl.
Noch Mitte der 60er-Jahre sagte eine
Nachbarin über ihre Familie: »Das ist ja
alles Pack aus dem Osten.« Dieser Satz
verfolgt Susannes Mutter bis heute und
sie sagt: »Viele andere haben auch unter
dem Krieg gelitten, aber manche haben
wenigstens ihr Zuhause behalten und den
Ort, an dem sie aufgewachsen sind.« (B.
Alberti, Seelische Trümmer, München 2010)
Der Zweite Weltkrieg hinterließ gra­
vierende materielle Zerstörungen: Die
Bomben vernichteten mindestens drei
Millionen Wohnungen im gesamten
Deutschen Reich, was einen Verlust
von etwa 20 Prozent des Gesamtwohn­
raums, in Großstädten sogar bis zu 60
Prozent, bedeutete. Ganze Dörfer und
Städte, Infrastruktur sowie Versor­
gungseinrichtungen waren dem Erd­
boden gleichgemacht oder stark be­
schädigt. Wohnraummangel, Krank­
heiten und Hungersnot waren in der
Nachkriegszeit Alltag – die Menschen
blickten einer unsicheren Zukunft ent­
gegen.
Aber welche Erinnerungen, Erleb­
nisse, Bilder dieser Zerstörung sind bei
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015
den Überlebenden dieser Kriegs- und
Nachkriegszeit heute noch oder erneut
präsent und welche Auswirkungen ha­
ben die Erlebnisse auf die weitere per­
sönliche Entwicklung gehabt? Was be­
deutet es, wenn »Bombenhagel«,
»Flucht oder Vertreibung« und »Feuer­
sturm« seit mehr als 70 Jahre nicht en­
den wollen und die (Zerstörungs-)Bil­
der auch heute noch wiederkehren, in
Träumen oder plötzlich und unerwar­
tet – ohne an Intensität verloren zu ha­
ben. Welche Auswirkungen können
diese Erlebnisse der Kriegs- und Nach­
kriegsgeneration heute noch haben?
Isolde sitzt zusammengesunken auf einem Stuhl und malt sich – als kleines Mädchen – sie malt das Trauma ihres Lebens –
jetzt – Jahrzehnte nach den schrecklichen
Erlebnissen: »Trauer kann man nicht
lösen, blinde Flecken verdecken Geschichte, Qual entbindet sich nicht, mein
Mund ist verschlossen, verriegelt, Atemnot. Gewalterfahrung lähmt, die Worte
bleiben in meinen Fingern stecken,
Scham, Schuldgefühle, meine Finger verkrampfen. Ach könnte ich mich verkriechen im Bauch meiner Mutter und
neu werden.«
Isoldes Lebenstrauma ist fest mit dem
letzten Jahr des Krieges verknüpft. »Von
unserer Wohnung aus konnten wir sehen,
wie immer mehr Soldaten über die
Chaussee fortzogen. Es blieb kaum jemand zurück, der uns und unsere Städte
verteidigen konnte. Dabei hatte man uns
immer versprochen, dass unsere Soldaten
uns schützen würden.« Und immer hatte
es auch grausige Warnungen gegeben.
»Wir waren auf das Schlimmste gefasst,
denn man erzählte sich, dass die Russen
Zettel an ihre Soldaten verteilt hätten,
auf denen stand, die deutschen Frauen
seien Freiwild.« Was das bedeutete,
musste sie leidvoll und schmerzhaft erfahren. (I. Jacobs, Freiwild, Berlin 2008)
bpk/Museum Berlin-Karlshorst/Timofej Melnik
Trauma Zweiter Weltkrieg
Nachwirkungen bis heute
Innerhalb der letzten Jahrzehnte sind
diverse wissenschaftliche Studien zu
diesem Themenbereich erschienen.
Dabei wurden verschiedene Gruppen
von Betroffenen untersucht, etwa Op­
fer von Flucht und Vertreibung sowie
von Vergewaltigungen oder von Bom­
benangriffen. Die Betroffenen berichte­
ten häufig von mehrfachen trauma­
tischen Erfahrungen (z.B. Vergewalti­
gungen, Bombenangriffe, Miterleben
des Todes naher Angehöriger). Gleich­
zeitig wirkten sich die in der Kriegsund Nachkriegszeit herrschenden
Lebens­bedingungen als zusätzlich be­
lastende Faktoren aus, die eine Bewäl­
tigung der traumatischen Erlebnisse
erschwerten oder verhinderten.
»Man hat uns schon in ganz jungen
Jahren beigebracht: Darüber spricht man
nicht, das erzählt man nicht! Schau nach
vorn! Sei froh, dass du noch lebst. Vergiss
alles! Und das haben die meisten von uns
getan. Um zu überleben und nicht am
Rande stehen zu bleiben ein Leben lang,
muss man sich anpassen.« (M. Grundmann u.a., Kriegskinder in Deutschland
zwischen Trauma und Normalität, Berlin
2009)
Kriegskinder waren häufig mehrfa­
chen Belastungen ausgesetzt. Zum ei­
nen durch die Abwesenheit des Vaters
sowie durch die gleichzeitig einge­
schränkte Verfügbarkeit der Mutter als
ständige Bezugsperson. Diese hatte
Aufgaben zur Sicherung des Lebens­
unterhalts übernommen oder litt selbst
unter traumatischen Erfahrungen.
Zum anderen belastete die Kriegs­
kinder das Erleben von Bombenangrif­
fen oder Kinderlandverschickungen
und die damit verbundene Trennung
von den Eltern oder anderen Bezugs­
personen.
Diese Belastungen sowie die Lang­
zeitfolgen des Zweiten Weltkriegs the­
matisieren mehrere Studien aus dem
Jahre 2007. Zahlreiche Untersuchun­
gen betonen, dass nicht nur direkte
Kriegseinwirkungen (z.B. Fronterfah­
rungen oder Bombenangriffe), sondern
auch Kriegsfolgeerscheinungen wie
Zerstörungen, Trennung oder Verlust
von Bezugs­personen, emotionale Ver­
nachlässigung, Heimatverlust oder
Mangel­ernährung weitreichende und
lang­fris­tige Folgen hatten. Auch die
Städtebombardierungen, die Nächte in
den Luftschutzbunkern, verkohlt hin­
terlassene Städte und verschüttete, tote
oder verstümmelte Menschen wurden
von den Zeitzeugen als belastend er­
lebt. Je nach Alter zum Zeitpunkt des
Geschehens oder der Häufigkeit und
auch der Art dieser Erlebnisse re­sul­
tierten daraus unterschiedlichste Stö­
rungen. Körperliche und psychosoma­
tische Leiden sowie psychische Belas­
tungen konnten vorübergehend sein,
sich über den Krieg hinaus hartnäckig
halten oder erst zeitlich verzögert.
Außer­dem berichteten die Betrof­fenen
von wiederkehrenden belas­
tenden
Träumen zum erlebten dramatischen
Ereignis, Angstausbrüchen und Ag­
gressionen. Gleichzeitig wird von einer
Verstärkung der Beschwerden bei ähn­
lichen Ereignissen oder Bedingungen
gesprochen (Witterungslagen wie z.B.
Schnee, einschlägige Geräusche wie
Feuerwerksdetonationen), bei be­
stimmten Jahres- und Gedenktagen,
Festumzügen, angesichts von Stachel­
drahtzäunen oder Uniformen. Ebenso
traten Zwangsgedanken oder Zwangs­
handlungen auf. Als besonders heftige
oder resignierende Reaktionen zeigen
sich Selbsttötungsgedanken (z.B. we­
gen Überlebensschuldgefühlen).
Bei Kindern traten nach den trauma­
tischen Erlebnissen während der
Kriegsjahre psychisch bedingte
Sprachstörungen, Asthma, Depressio­
nen oder Schlafwandeln auf. Beobach­
tete Reaktionen auf traumatische Er­
fahrungen konnten sich ebenso als
unter­drückter Schmerz, innere Leere,
suchtartige Suche nach Ablenkung
oder unkontrollierte Wut äußern. Viel­
fach wurde Erlebtes auch verdrängt
oder verschwiegen. Als Reaktion auf
traumatische Erfahrungen im Kindes­
alter kann der Erwachsene an Erschöp­
fung und körperlicher Krankheit lei­
den – sozusagen eine allgemein akzep­
tierte Form seelischen Leids –, ohne die
»wahren Ursachen« thematisieren zu
müssen. Auch Existenz- und Identitäts­
unsicherheiten konnten die Folge von
traumatischen Erfahrungen sein.
Zeitzeugen von Bombenangriffen be­
richten Jahrzehnte nach diesen Erleb­
nissen, dass die »Gänsehaut immer
noch spürbar« und »die Angst in der
Nacht« nach wie vor vorhanden sei.
Die Bilder der Bombennächte, in denen
der Himmel dunkelrot gefärbt war,
sind bei einigen Zeitzeugen auch Jahr­
zehnte nach dem Erleben präsent und
werden als »das Schlimmste, was er­
lebt wurde«, genannt. In diesem Zu­
sammenhang werden brennende
Städte beschrieben, in denen das Feuer
wütete und man über Leichen steigen
musste, die »ganz klein zusammenge­
schrumpft waren von den Phosphor­
bomben«. Dabei wird herausgestellt,
dass diese Erlebnisse die ersten Begeg­
nungen mit Toten überhaupt waren
und dass es für das erlebte Entsetzen
keine Worte gibt, weshalb Verstummen
die einzige Lösung war. Wenn es um
die Auswirkungen der traumatischen
Erlebnisse bis in die Gegenwart geht,
berichten Zeitzeugen beispielsweise
auch davon, dass sie »bis heute« nicht
grillen, diesen Geruch nach verbrann­
tem Fleisch, verbrannter Kohle und
verkohltem Holz nicht ertragen kön­
nen, da es «damals genauso gerochen
hätte« und dieser Geruch die schreck­
lichen Bilder wieder heraufbeschwöre.
Auch noch Ende der 1990er Jahre
beschrei­ben »Kriegskinder« ihre Er­
lebnisse an die Kriegs- und Nach­
kriegsjahre sehr eindrücklich und plas­
tisch.
Doris (Jg. 1939): »Das Schlimmste war für
mich immer, wenn der Luftschutzwart die
Stollentüre endgültig schloss. Dann
konnte niemand mehr hinein oder heraus. Ich fühlte mich eingeschlossen und
bekam häufig Asthmaanfälle.«
Rolf (Jg. 1931): »Auf der Allee wunderte
ich mich über die vielen Figuren, bis ich
merkte, dass es sich dabei um verkohlte
Leichen handelte. Es war furchtbar. Das
Elternhaus war zerstört, überall Trümmer
und Brände sowie Leichen. Leichen, Leichen: Das schlimmste Bild hatte ich im
Garten des Krankenhauses vor mir. Hier
sammelte man die Leichen. Ich glaube, es
waren Hunderte. Für mich ein Anblick,
den ich nie in meinem Leben vergaß. Wochenlang wachte ich nachts immer wieder auf und hatte diese Bilder vor mir, die
mich in Angst und Schrecken versetzten.«
(M. Dörr, Der Krieg hat uns geprägt, Bd 1,
Frankfurt a.M. 2007)
Trauma und Traumaforschung
Ursprünglich stammt der Begriff
Trauma aus dem Griechischen und be­
deutet Wunde. Zuerst verstand man
unter diesem »Wundbegriff« eine me­
chanische Verletzung der Haut, ent­
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015
19
Trauma Zweiter Weltkrieg
20
jede traumatische Situation eine psy­
chische Traumatisierung zur Folge ha­
ben. Nach der traumatischen Situation
greift die traumatisierte Person auf zur
Verfügung stehende Abwehr- und Be­
wältigungsmechanismen zurück (trau­
matische Reaktion). Bei einigen Perso­
nen kann die traumatische Reaktion
einen chronischen Verlauf nehmen
­
und in einen traumatischen Prozess
münden. Charakteristisch für diesen
traumatischen Prozess sind u.a. emotio­
nale Taubheit, Vermeidung von Rei­
zen, die an das Trauma erinnern, oder
Übererregungsphänomene (Schlafstö­
rungen, Wutausbrüche, Schreckhaftig­
keit). Gleichzeitig können sich nicht
steuerbare Erinnerungen an das Ereig­
nis aufdrängen (Intrusionen), die als
»Flashbacks« (Wiedererleben der trau­
matischen Situation im Wachzustand)
oder als Alpträume auftreten.
In der Wissenschaft wurde lange Zeit
diskutiert, ob die Erlebnisse eines Welt­
krieges dauerhafte Schäden bei gesun­
den Menschen verursachen können.
Dabei spielten immer wieder folgende
Kernthemen eine Rolle: Gab es über­
haupt einen Zusammenhang zwischen
einem Trauma und etwaigen Sympto­
men? Angenommen es gäbe einen, wie
wäre dieser zu erklären? Wirkte sich
das Trauma unmittelbar auf den Kör­
per aus, sodass Symptome als Aus­
druck einer organischen Störung ver­
standen werden konnten? Oder wirkte
das Trauma ausschließlich auf psychi­
scher Ebene? Und immer wieder
tauchte die Frage auf, ob es sich hierbei
überhaupt um eine Krankheit im ei­
gentlichen Sinn handelte. Hieraus wird
schon ersichtlich, dass dieses Thema –
unter verschiedenen Perspektiven –
durchaus bereits seit dem späten 19.
Jahrhundert eine Rolle
spielte.
dass die psychischen Folgen und das
persönliche Belastungserleben eine
eher unter­geord­nete Bedeutung hatten
und somit weniger thematisiert wur­
den. Zudem brachten die zu bewälti­
genden Aufgaben Ablenkung von den
traumatischen Erlebnissen: Es wurde
bis zur Erschöpfung gearbeitet und
nach vorn geschaut, um die belasten­
den Erlebnisse nicht mehr thematisie­
ren zu müssen und sie aus der eigenen
Gedanken- und Gefühlswelt zu ver­
bannen.
Dennoch sind gerade für die Kriegs­
generation die erlittenen Traumatisie­
rungen eine wichtige historisch-bio­
grafische Bedingung, die untrennbar
mit den Lebenswegen jedes Einzelnen
verknüpft sind und auch 70 Jahre nach
Kriegsende mit körperlichen und psy­
chischen Folgen oder Beeinträchtigun­
gen einhergehen können. Klinische Be­
obachtungen aus den Jahren 2005/06
zeigen, dass die Folgen der trauma­
tischen Erfahrungen häufig erst im hö­
heren Alter artikuliert und im Zusam­
menhang mit aktuellen psychischen
oder körperlichen Belastungen bzw.
Beschwerden gesehen werden. Denn
in diesen Lebensphasen kann es zum
Zusammenbruch der jahrzehntelang
funktionierenden Bewältigungsme­
chanismen kommen und damit einher­
gehend zu einer Traumareaktivierung
– beispielsweise durch kritische Le­
bensereignisse wie Verlust wichtiger
Bezugspersonen (Lebenspartner) oder
Verrentung, Funktionseinbußen oder
chronische Krankheit.
Im Zweiten Weltkrieg schwer belas­
tete oder traumatisierte Kinder hatten
nach einem erfolgreichen und unauf­
fälligem Erwachsenenleben nach dem
60. Lebensjahr in akuten physischen
Auftreten im Alter
Gerade in der Endphase
des Zweiten Weltkrieges
und in den Nachkriegsjah­
ren stand der tägliche
Kampf um das Überleben
an erster Stelle: es musste
sich um Wohnraum, mini­
male medi­zini­sche Versor­
gung, Ernährung, ­Klei­dung,
Ausbildungsmöglichkeiten
gekümmert werden, so­ 5Ausgebombte auf der Straße 1945.
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015
bpk
standen durch eine äußere Verletzung.
Ab den 1880er Jahren wurde der Be­
griff Trauma auch zunehmend im
Sinne einer seelischen Verwundung
verwendet. Er weitete sich mithin auf
die seelische Verfassung aus. Verschie­
dene Umstände (z.B. die zunehmende
Industrialisierung) spielten hierbei eine
Rolle, aber besonders die Herausbil­
dung von Psychiatrie und Psychologie
als akademische Wissenschaften.
Trauma ist dem heutigen Verständnis
nach eine Extremform von Stress und
mit einer erheblichen Bedrohung der
körperlichen oder psychischen Unver­
sehrtheit des Menschen verbunden.
Das Erleben wird durch intensive
­Gefühle von Furcht, Hilflosigkeit, Ent­
setzen sowie Todesangst durch ange­
nommene oder reale Todesbedrohung
begleitet. Gleichzeitig wird die Situa­
tion meist als unkontrollierbar emp­
funden. Dabei kann das Ereignis di­
rekt selbst erlebt werden (z.B. bei einem
Bombenangriff verschüttet zu werden)
oder jemand kann Beobachter dieses
Ereignisses sein, ohne direkt daran be­
teilgt zu sein.
Nach den Richtlinien der internatio­
nalen statistischen Klassifikation der
Krankheiten und verwandter Gesund­
heitsprobleme (ICD-10) zur Diagnose
psychischer Störungen wird Trauma
definiert als: »ein belastendes Ereignis
oder eine Situation außergewöhnlicher
Bedrohung oder katastrophenartigen
Ausmaßes (kurz oder langanhaltend),
die bei fast jedem eine tiefe Verzweif­
lung hervorrufen würde«. In der Lite­
ratur wird der Begriff Trauma als »ein
Ereignis im Leben des Subjekts [ver­
standen], das definiert wird durch
seine Intensität [...] die Unfähigkeit des
Subjekts, angemessen zu reagieren,
und die Erschütterung, die es in der
psychischen Organisation des Subjekts
hervorruft«. Dabei wird davon ausge­
gangen, dass eine psychische Trauma­
tisierung aus drei Komponenten be­
steht: der traumatischen Situation, der
traumatischen Reaktion und dem trau­
matischen Prozess. Das Erleben der
traumatischen Situation, die mit den
normalen Ressourcen der Person nicht
zu bewältigen ist, ist ausschlaggebend
für eine psychische Traumatisierung.
Während der traumatischen Situation
ist die Person Gefühlen von extremer
Hilflosigkeit, Ohnmacht und Entsetzen
ausgeliefert. Allerdings muss nicht
Bedrohungssituationen unvermittelt
wieder ihre kriegsbedingten Erfah­
rungen realitätsnah vor Augen. Viele
der heute noch Lebenden erfuhren
diese Traumata in Kindheit und Ju­
gend – und damit teilweise auch in
Entwicklungsphasen mit höherer An­
fälligkeit für seelische Verletzungen
und noch nicht voll ausgereiften Be­
wältigungs- sowie Anpassungsfähig­
keiten. Die Folgen des Aufwachsens im
Krieg für die Persönlichkeitsentwick­
lung, die Gestaltung sozialer Bezie­
hungen oder die Ausdifferenzierung
von Bewältigungsfähigkeiten spielen
dabei eine große Rolle für die Ressour­
cen, die später bei der Bewältigung des
Alterungsprozesses auch mobilisiert
werden müssen.
Insbesondere im Alter spielen die
Rückschau auf das eigene Leben sowie
die Beschäftigung mit früheren Erfah­
rungen eine Rolle, was die Alterspsy­
chologie zunehmend beschäftigt. Der
Alterungsprozess ist verbunden mit
dem Verlust von Bezugspersonen, dem
beruflichen Status, einer – auch daraus
resultierenden – Verringerung sozialer
Interaktionen sowie einer Vielzahl kör­
perlicher Beschwerden und daraus
entstehender Funktionseinbußen. Die
im Alter erlebten Verluste von wich­
tigen Bezugspersonen können an
frühere traumatische Erfahrungen und
dabei erlebte Verluste erinnern. Auch
die verstärkte Beschäftigung mit dem
eigenen Leben, befördert durch die ge­
ringer werdende Anregung von außen
(z.B. nach Verrentung und Auszug von
Kindern), kann zu einer Reaktivierung
des erlebten Traumas und posttrauma­
tischen Störungen führen.
Begleiterkrankungen im Zusammen­
hang mit diesen posttraumatischen
Störungen sind u.a. affektive Stö­
rungen, Angststörungen, Persönlich­
keitsstörungen, Einschränkungen der
psychosozialen Funktionsfähigkeit so­
wie Substanzmissbrauch. Bei psychi­
schen und physischen Problemen oder
Erkrankungen Älterer sollte also auch
immer die Möglichkeit früherer Trau­
matisierungen in Kriegs- und Nach­
kriegszeit mit bedacht werden.
Psychische Abwehr belastender trau­
matischer Erlebnisse kann mit zuneh­
mendem Alter zusammenbrechen. Die
heutige ältere Generation der Zeitzeu­
gen des Zweiten Weltkriegs kann im
hohen Alter von bis dahin gut abge­
wehrten traumatischen Erfahrungen
und belastende Erinnerungen wieder
eingeholt werden.
»Die Geschehnisse sind in einem drin wie
eingebrannt […] Man versucht, die Narben nicht anzuschauen ... Im Alter fangen
die jeweiligen Narben zeitweise an zu
schmerzen. Man fühlt sich genötigt, gelegentlich davon zu sprechen.«
»Es ist heute üblich, bei jedem tiefgreifenden, schreckensvollen Ereignis von
traumatischer Wirkung auf die Betroffenen zu sprechen. Damals waren solche
Begriffe unbekannt, aber dennoch hat
der Krieg […] mein ganzes Leben beeinflusst, meine Gefühlsweklt entscheidend
geprägt und wird wohl nie aufhören, in
der Erinnerung immer wieder Schatten
auf mein Gemüt zu werfen – und aus Gesprächen weiß ich, dass es unzähligen Altersgefährten ebenso geht.« (M. Dörr,
Der Krieg hat uns geprägt, Bd 2, Frankfurt a.M. 2007)
Schon kurz nach Kriegsende gab es
erste Untersuchungen zu Kriegsfolge­
schäden in Europa und Deutschland,
beispielsweise Langzeitstudien über
die Lebenssituation von Nachkriegs­
kindern. Im Bereich der psychoanaly­
tisch geprägten Forschung wurden
­einige Studien unmittelbar nach 1945
initiiert. Sie alle belegen erhebliche
Entwicklungsschäden auf Grund von
Kriegsbedingungen, Kriegsverlauf
und Kriegsverhältnissen.
1947/48 wurden mit der »DarmstadtStudie« die Reaktionen von etwa 1800
Darmstädter Kindern und Jugend­
lichen auf den Bombenangriff vom 11.
September 1944 untersucht. Im Rah­
men der Untersuchungen sprach nicht
eines der Kinder von sich aus von sei­
nen persönlichen Erlebnissen während
des Bombenangriffs oder während der
Flucht. Das Hauptaugenmerk ihrer
eher nüchternen und unemotionalen
Schilderungen lag auf aktuellem Man­
gelerleben (Lebensmittel, Wohnraum,
Material). Sogar auf direkte Nachfra­
gen zu den Bombenangriffen kamen
nur zögerliche und stockende Antwor­
ten vonseiten der Kinder. Oft wurden
auch nur zusammenhanglos Eindrü­
cke berichtet, ohne Empfindungen an­
zusprechen, was auf eine mangelhafte
Verarbeitung des Erlebten schließen lässt.
Wichtige aus dieser Zeit immer wie­
der berichtete Erfahrungen sind: Ȇber
die schrecklichen und leidvollen Erfah­
rungen und damit verbundene Emo­
tionen wurde von Erwachsenen nicht
gesprochen. Die zurückgekehrten
Männer fragten nicht nach den Erfah­
rungen ihrer Frauen in den Kriegsund Nachkriegsjahren, die Frauen
wollten nicht wissen, was ihre Männer
im Krieg erlebt und getan hatten. Also
wurde gegenüber dem jeweiligen Ehe­
partner und den Kindern geschwie­
gen. Das Schweigen in den Familien
und die daraus resultierende fehlende
Trauerarbeit gaben erwartete Verhal­
tensweisen vor. Die Botschaft der Er­
wachsenen an die Kinder lautet: »Euer
Leid ist gering im Vergleich zu un­
serem Leid, ist nichts besonderes.«
Gleichzeitig erlebten die Kinder und
Jugendlichen zahlreiche ähnliche
Schicksale anderer in ihrem Umfeld:
Viele hatten keinen Vater mehr oder
wussten nichts über dessen Verbleib.
Andere waren auch ausgebomt oder
aus ihrer Heimat vertrieben worden.
Die eigenen schrecklichen Erfahrungen
waren sozusagen »normal« für die da­
maligen Kriegs- und Nachkriegsjahre.
Diese kollektive Leiderfahrung kann
den individuellen Abwehrprozess mit
unterstützt haben.«
Auch wenn persönliche Abwehrstra­
tegien bei zahlreichen Betroffenen
jahre- oder jahrzehntelang funktioniert
haben, unterstreichen verschiedene
Studien und Befunde zum Belastungs­
erleben und -empfinden der Kriegsund Nachkriegsgeneration, dass ein
Krieg noch lange, nachdem er vorbei
ist, nachwirkt – in unterschiedlichen
Formen mit den verschiedensten Aus­
wirkungen in unterschiedlichen Stär­
ken. Manchmal tritt diese Wirkung
dann auch völlig unerwartet und nach
einigen Jahrzehnten Latenzzeit auf,
woraus sich auch die Möglichkeit zeit­
verzögert auftretender Belastungsre­
aktionen im hohen Alter ergibt.
Katrin Hentschel
Literaturtipps
Svenja Goltermann, Die Gesellschaft der Überlebenden.
Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen
im Zweiten Weltkrieg, München, 2009.
Miriam Gebhardt, Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs,
München, 2015.
Sabine Bode, Nachkriegskinder. Die 1950er Jahrgänge und
ihre Soldatenväter, Stuttgart, 2011.
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015
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Service
Das historische Stichwort
Eumenes
von ­Kardia
D
er Grieche Eumenes von Kardia
ist einer derjenigen Feldherren
in der Geschichte, denen von
der Nachwelt wenig bis gar keine Auf­
merksamkeit geschenkt wird. Dies
liegt zum Teil daran, dass sein Kampf
erfolglos blieb, aber auch daran, dass
er und sein vergebliches Bemühen um
den Zusammenhalt des einstigen Ale­
xanderreiches im Schatten erfolgrei­
cherer Persönlichkeiten standen.
Dabei deutete zum Beginn der Karri­
ere des Kardianers, dessen Biografie
der Grieche Plutarch im 2. Jahrhundert
n.Chr. verfasste, nichts auf eine derar­
tig aktive Laufbahn im Zeichen militä­
rischer Konflikte hin: Geboren Ende
der 360er Jahre v.Chr., avancierte
Eume­nes unter dem makedonischen
König Philipp II. zuerst zum Gramma­
teus, also zu einer Art Sekretär des ehr­
geizigen Monarchen. Unter Philipps
Sohn Alexander dem Großen wurde er
zum Archigrammateus, d.h. zum Vor­
steher der Königlichen Kanzlei ernannt.
Als solcher erlebte er den gewaltigen
Eroberungszug Alexanders hautnah
mit – wenngleich er auch niemals
selbst die Waffe erhob: Seine Schlacht­
felder waren die Welt der Sendschrei­
ben und diplomatischen Noten, der
Königsbriefe und der geheimen Depe­
schen. Nur ein einziges Mal, anlässlich
des Indienfeldzuges 326 v.Chr., über­
trug Alexander ihm ein militärisches
Kommando, das jedoch nur aus dem
Befehl über 300 Reiter und der Aufgabe
bestand, die Kapitulation zweier Städte
entgegenzunehmen. Bei der Massen­
hochzeit von Susa wurde Eumenes mit
einer persischen Aristokratin namens
Artonis vermählt. Anders als die mei­
sten anderen der Generale Alexanders
verstieß er seine Ehefrau später nicht;
zusammen mit Seleukos Nikator sollte
Eumenes tatsächlich einer der wenigen
sein, die ihrer von Alexander zuge­
dachten Gemahlin die Treue hielten.
Als Alexander der Große 323 v.Chr.
starb, einigten sich die Mächtigen des
Reiches auf eine prekäre Nachfolgere­
22
gelung: Alexanders Bruder Philipp
­Arrhidaios sollte so lange herrschen,
bis Alexanders eigener Sohn mündig
war, um selbst die Nachfolge antreten
zu können. Da Philipp Arrhidaios als
schwachsinnig galt, übernahm ein ma­
kedonischer Adliger namens Perdik­
kas fortan stellvertretend im Namen
der Familie Alexanders die Regie­
rungsgeschäfte. Doch zahlreiche Satra­
pen, Statthalter der Zentralgewalt in
den Provinzen des riesigen Reiches,
hielten sich nicht an Perdikkas’ Anwei­
sungen und forcierten mit eigenwil­
ligen Aktionen die Abspaltung und
Autarkisierung ihrer Territorien. An
der Spitze dieser Separatisten standen
Männer wie Ptolemaios, der Ägypten
zu seiner Domäne machte – und Anti­
gonos »Monophthalmos« (»der Einäu­
gige«), der in Kleinasien seine Macht­
basis aufzubauen wusste. Eumenes
von Kardia stellte sich in diesem sich
langsam zuspitzenden Konflikt inner­
halb der Machthaber des Reiches auf
die Seite der Zentralgewalt – auf die
Seite des Perdikkas und somit auch auf
die Seite der Familie Alexanders.
Zunächst vertraute Perdikkas dem
bis dato militärisch nahezu vollkom­
men unerfahrenen Kardianer den
Oberbefehl über die loyalistischen
Truppen in Kleinasien an. Obwohl
Eume­nes selbst bis dahin nie gekämpft
hatte, stellte er sein hohes militärisches
Talent unter Beweis, als er im Mai 320
v.Chr. eine feindliche Armee unter
dem Kommando des Makedonen Kra­
teros zerschlug. Einen weiteren gegne­
rischen Anführer, Neoptolemos, tötete
Eumenes sogar im Kampf Mann gegen
Mann – für jemanden, der bis zu die­
sem Zeitpunkt vor allem als Schreiber
tätig gewesen war, eine herausragende
Leistung, umso mehr, da ein Teil seiner
eigenen Truppen vor der Schlacht noch
zum Feind desertiert war. Doch Eume­
nes besiegte auch diese Kontingente.
Eumenes’ glänzender Erfolg stellte
sich jedoch im Hinblick auf das Kriegs­
geschehen als bedeutungslos heraus,
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015
da Perdikkas zwischenzeitlich in Ägyp­
ten einem Mordkomplott zum Opfer
gefallen war. Die Stimmung im Reichs­
heer schwang innerhalb kürzester Zeit
um, und nach einer Kon­ferenz der ma­
kedonischen Reichs­aristokratie im sy­
rischen Triparadeisos bemäch­tigten
sich die Angehörigen der vormals auf­
ständischen Satrapen der wichtigen
Posten in der Reichsverwaltung. Anti­
gonos Monophthalmos, der Erzfeind
des Kardianers, schaffte es, den Posten
eines obersten Strategen des makedo­
nischen Heeres zu erringen und Eume­
nes zum Reichsfeind erklären zu las­
sen. Eumenes, der unter Perdikkas
­einer der wichtigsten Männer im Ma­
kedonenreich gewesen war, stand nun
inmitten eines unerbittlichen Kampfes,
in dem er nahezu keinen Verbündeten
mehr hatte. 319 v.Chr. erlitt er eine
vernichtende Niederlage, als Antigo­
nos bei Orkynia g
­ egen ihn in die Offen­
sive ging: 8000 seiner Männer fanden
den Tod oder desertierten zum Feind.
An der Spitze einiger weniger Getreuer
schaffte es Eumenes gerade noch zu
entkommen; von den Truppen des An­
tigonos wurde er in der Festung Nora
eingeschlossen und belagert. Als der
Einäugige von Eumenes forderte, sich
ihm unterzuordnen, erwiderte er: »Ich
sehe niemanden für höher an als mich,
solange ich noch Herr meines Schwer­
tes bin« (Plut. Eumenes 10, nach Übers.
Ziegler-Wuhrmann). Verhandlungen
der Kontrahenten brachten kein Ergeb­
nis und Antigonos hob die Belagerung
der Feste nicht auf.
Doch den Kardianer konnte auch
dieser Schicksalsschlag nicht lange be­
hindern. Da der einäugige Anführer
des Reichsheeres der Belagerung im
Folgenden nicht beiwohnte, gelang es
Eumenes mittels eines Tricks, aus der
umzingelten Bergfestung zu entkom­
men. In Kilikien warb er neue Truppen
an und erzielte einen herausragenden
Erfolg, nachdem er Alexanders ein­
stige Elitetruppe, die Argyraspiden
(»Silberschildner«), in seinen Dienst
genommen hatte. Die Art und Weise,
wie er die Veteranen zahlreicher Feld­
züge und Schlachten auf seine Seite zu
ziehen vermochte, beeindruckte antike
ebenso wie neuzeitliche Historiker.
Der preußische Geschichtswissen­
schaftler Johann Gustav Droysen etwa
schrieb in seinem Standardwerk, der
»Geschichte des Hellenismus«:
genden Heereszüge des Eumenes
wurde der leere Thron Alexanders im­
mer wieder aufgestellt. Die Idee, die
Eumenes entwickelte – der Kult eines
leeren Thrones unter der faktischen
Herrschaft der Militärs im Hinter­
grund –, wurde im Reich so beliebt,
dass sich neben den Argyraspiden
viele weitere Truppeneinheiten für die
Sache des Eumenes anwerben ließen.
Als der Krieg zwischen den auftän­
dischen Satrapen (Provinzstatthalter) –
allen voran Antigonos und Ptolemaios
– und dem letzten Vertreter von der
Idee der Herrschaft der Familie Ale­
xanders des Großen, Eumenes von
Kardia, wieder begann, konnte jener
auf eine stattliche Streitmacht von
35 000 Infanteristen, 6000 Reitern und
125 Kampfelefanten zurückgreifen. Im
östlichen Mittelmeerraum kreuzten
überdies verbündete Flotteneinheiten.
Foto: Wagner
»›So lasst uns denn‹, schloss er
[Eume­nes], ›ein königliches Zelt er­
richten, und drinnen einen goldenen
Thron, darauf wir das Diadem legen
und das Zepter und den Kranz und al­
len anderen Schmuck des glorreichen
Königs [des verstorbenen Alexanders];
dann wollen wir Führer jeden Morgen
ins Zelt treten und ihm das Morgenop­
fer bringen, uns dann um den Thron
setzen zur Beratung und die Be­
schlüsse fassen in seinem Namen, als
ob er unter uns lebe und sein Reich
durch uns verwalte‹« (Droysen II.,
Nachdr. 2008, S. 323).
Eumenes schuf also, um die rang­
höchsten Anführer seines Heeres zur
Kooperation zu bewegen, einen Kult
um die Person Alexanders des Großen
– dadurch sollten die Männer daran er­
innert werden, wem ihre eigentliche
Loyalität galt. Im Verlauf der fol­
Antigonos, der Hauptgegner des
Eume­nes, verzichtete zunächst auf den
Kampf zu Land und wandte sich der
Ausschaltung eben dieser gegneri­
schen Flotte zu. Bei Rhossos (in Kili­
kien) konnte er die meisten der Schiffs­
kommandanten des Eumenes dazu
bewe­gen, die Seite zu wechseln. Hier
zeigte sich zum ersten Mal ein Pro­
blem, mit dem Eumenes in der Folge
noch in viel drastischerem Ausmaß
konfrontiert werden sollte: die schwan­
kende Loyalität seiner Truppen.
Als sich die beiden Heere des einäu­
gigen Antigonos und des Eumenes
schließlich in der Ebene von Paraita­
kene, weit im Osten des Reiches, ge­
genüberstanden, kam es zunächst zu
keiner Entscheidung. Antigonos atta­
ckierte jedoch wenig später erneut –
und Peukestas, ein Untergebener des
Eumenes, zog seine Truppen vom
Schlachtfeld ab und desertierte. Der
Ausgang der Schlacht war wiederum
unklar – es hatte keinen eindeutigen
Sieger gegeben, und Eumenes hatte
noch alle Chancen, den berechtigten
Machtanspruch der Familie Alexand­
ers des Großen durchzusetzen. Doch
angesichts des geflohenen Peukestas
und aufgrund der Tatsache, dass ihre
Frauen und Kinder durch einen un­
glücklichen Zufall in die Gewalt der
Feinde geraten waren, entschlossen
sich die Anführer der Argyraspiden
dazu, ihren Feldherrn Eumenes an An­
tigonos auszuliefern, der seine Hin­
richtung anordnete. Eumenes starb –
im Feld unbesiegt – 316 v.Chr., und so
war der letzte loyale Heerführer im
ehemaligen Alexanderreich, ein fä­
higer und gewandter Feldherr, letzten
Endes an der Illoyalität seiner Unterge­
benen gescheitert. In der Folgezeit
sollte der Einfluss der bedrohten Ar­
geadenfamilie auf die Herrschaft des
Reiches immer weiter schwinden, bis
schließlich, gegen Ende des 4. Jahrhun­
derts v.Chr., die siegreichen Generale
das Reich unter sich aufgeteilt und die
Familie Alexanders des Großen ermor­
det hatten.
Stefan E.A. Wagner
Literaturtipp
5Kampfelefant mit Turm, Besatzung und Elefantenjüngern, Rom, Museo Nazionale
Etrusco di Villa Giulia.
Christoph Schäfer, Eumenes von Kardia und der Kampf um
die Macht im Alexanderreich, Frankfurt a.M. 2002.
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015
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Service
!
S
Neue Medien
Comics & Graphic Novels
eit Dezember 1979 hielten bis zu
120 000 Mann der Roten Armee
Afgha­nistan besetzt. Um – militärische
– Hilfe bei seinem nördlichen Nach­
barn hatte das erst kurz ­zuvor, im
April 1978, an die Macht gekommene
sowjetfreundliche Militärregime geru­
fen, da es sich mit einem wachsenden
gewaltsamen Widerstand konfrontiert
sah. Dieser Widerstand setzte sich
nach der sowjetischen Intervention
fort. Geführt wurde nunmehr ein »Hei­
liger Krieg« (Dschihad) gegen die
­Besatzer und deren afghanische Stell­
vertreter. Basen für den Widerstand
waren zum einen die unzugänglichen
Gebirgsregionen Afghanistens, zum
anderen das Nachbarland Pakis­tan, wo
sich in der Grenzstadt Peshawar ein
Zentrum des Widerstandes herausge­
bildet hatte.
Unterstützung erfuhr der Wider­
stand in vielfältiger Form durch den
Westen. Unter der Bekämpfung der
Aufständischen durch die Rote Armee
hatte dann vor allem die Zivilbevölke­
rung zu leiden. Mehrere Millionen
Flüchtlinge und eine Million Tote bis
zum Februar 1989, dem Ende der Be­
satzung, waren die Folge.
Von Pakistan aus operierte seit 1980
auch die Organisation »Médecins sans
Emmanuel Guibert/Didier Lefèvre/Frédéric Lemercier,
Der Fotograf, Zürich: Edition Moderne 2015.
ISBN 978-3-03731-142-4; 264 S., 39,00 Euro
24
Frontièrs« (MSF, Ärzte ohne Grenzen),
deren Arbeit in Afghanistan der Foto­
graf Didier Lefèvre dokumentieren
sollte. Von Peshawar aus macht sich
Lefèvre im August 1986 gemeinsam
mit einer Gruppe von Ärzten und Pfle­
gepersonal auf einen gefahrvollen
Weg: Ins Innere Afghanistans gelangen
können Sie nur als Anhängsel einer Ka­
rawane, bestehend aus einhundert
Eseln, zwanzig Pferden und »einer
Hundertschaft Männer«. Die Aufgabe
dieser und vieler anderer Karawanen:
Waffen zu schmuggeln – all dies unter
größten körperlichen Strapazen und
unter Beschuss durch sowjetische
Truppen. Unterwegs durchquert das
Personal von MSF und mit ihm Lefèvre
die unterschiedlichsten Stammesge­
biete, behandelt afghanische Kinder
und Erwachsene sowie immer wieder
auch im Kampf verletzte Mudschahed­
din – unter nach westlichen Standards
primitivsten medizinischen Bedin­
gungen. Auf den beschwerlichen Rück­
weg nach Pakistan macht sich der Foto­
graf dann alleine – begleitet nur von
vier unfähigen afghanischen (»Reise«-)
Führern, die schließlich das Weite su­
chen. Dem Tod springt er nur knapp
von der Schippe und gelangt mit letz­
ter Kraft zurück nach Peshawar.
Aus Didier Lefèvres Erlebnissen hat
Emmanuel Guibert einen Comic ge­
macht, der nicht nur durch die beein­
druckend erzählte Geschichte besticht,
sondern auch oder vor allem durch die
zahlreichen Aufnahmen des Foto­
grafen, die alle in Schwarz-Weiß gehal­
ten sind und dadurch den farbigen Co­
mic auf interessante Weise brechen.
Die Fotos vermitteln einen bleibenden
Eindruck von Land und Leuten – und
von der Arbeit der MSF. Nicht zuletzt
sind die hier gezeigten Aufnahmen Do­
kumente einer Gesellschaft, die durch
sowjetische Besatzung, Herrschaft der
Taliban und nachfolgenden Isaf-Ein­
satz so heute vermutlich nicht mehr be­
steht. Besser als viele gelehrte Werke
nimmt einen diese Graphic Novel mit
in ein Stück Vergangenheit eines Lan­
des und seiner Menschen, das trotz al­
ler Medienpräsenz der letzten Jahre
eine Terra incognita geblieben ist. Das
Verdienst von Zeichner und Fotograf
sowie des Verlages kann daher nicht
genug gewürdigt werden.
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015
mt
Zeitungen im 17. Jahrhundert
W
eder die »Frankfurter Allge­
meine« noch die »Süddeutsche«
sind gemeint, wenn der Graf von Kent
in Friedrich Schillers »Maria Stuart«
ausruft: »Hättet ihr den Jubel des
Volkes gesehen, als diese Zeitung sich
verbreitet« (2. Aufzug, 1. Auftritt).Viel­
mehr bezeichnete das Wort eine »Neu­
igkeit« und übertrug sich erst später
auf die uns bekannte gedruckte Vari­
ante. Welche Fülle von Nachrichten die
ersten Zeitungen in sich trugen, davon
kündet die vorliegende Internetseite,
die aus einem Forschungsprojekt des
Deutschen Instituts für Pressefor­
schung und der Staats- und Universi­
tätsbibliothek Bremen hervorging.
Mehr als 600 Zeitungen, zumeist aus
einer oder zwei Seiten bestehend, sind
nun in digitalisierter Form öffentlich
zugänglich. Es kann nach Titel, Jahr
bzw. Jahrzehnt und Druckort ausge­
wählt und gesucht werden. Der Zeit­
strahl beginnt bislang mit dem Eintrag
1581–1590 und endet 1781–1790. Das
Projekt befindet sich im Aufbau, die
Einträge sollen einmal 1551 anfangen
und 1850 schließen.
Diese frühen Zeitungen bildeten ne­
ben Korrespondenzen und Erzäh­
lungen im Wesentlichen die einzigen
Informationsmittel der damaligen Zeit.
Sie berichteten aber schon 1610 nach ei­
genem Bekunden darüber, »was sich
begeben und zugetragen hat in Deuts.vnd Welschland, Spannien, Nieder­
land, Engelland, Franckreich, Vngern,
Österreich, Schweden, Polen«. Die
Nachrichtenverbreitung und der Infor­
mationsstand der damaligen Zeit, un­
ter anderem während des Dreißigjäh­
http://brema.suub.uni-bremen.de/zeitungen17
neue
rigen Krieges mit seinen Schrecken,
wird somit fassbar. Möglicherweise
müssen so einige Vorstellungen über
die finstere Frühe Neuzeit korrigiert
werden. Die Seite macht einen hoff­
nungsvollen Anfang.
So ganz neu sind Diskussionen über
das Urheberrecht auch nicht: Verleger
wehrten sich schon 1666 gegen Raub­
drucke.
hp
25 Jahre Wiedervereinigung –
Portal des Bundesarchivs
P
rivatreisen nach dem Ausland kön­
nen ohne Vorliegen von Vorausset­
zungen […] beantragt werden. Die
Geneh­migungen werden kurzfristig
erteilt. Die zuständigen Abteilungen
Paß- und Meldewesen der Volkspoli­
zeikreisämter in der DDR sind ange­
wiesen, Visa zur ständigen Ausreise
unverzüglich zu erteilen, ohne daß da­
bei noch geltende Voraussetzungen
für eine ständige Ausreise vorliegen
müssen.« – »Gilt das auch für Westber­
lin?« – »Also, doch, doch. Die ständige
Ausreise kann über alle Grenzüber­
gangsstellen der DDR zur BRD bzw.
zu Westberlin erfolgen.« – »Wann tritt
das in Kraft?« – »Das tritt nach meiner
Kenntnis ... ist das sofort, unverzüg­
lich.« Diese Worte des kürzlich ver­
storbenen Günther Schabowski, Mit­
glied des Politbüros des Zentralkomi­
tees der SED, setzten den Prozess der
Vereinigung der beiden deutschen
Staaten in Gang und beendeten die seit
dem Ende des Zweiten Weltkrieges be­
stehende Teilung Deutschlands. Zwi­
schen November 1989 und Oktober
1990 fand in kürzester Zeit ein enor­
mer Umwälzungsprozess statt, der das
Ende der DDR besiegelte und mit dem
http://wiedervereinigung.bundesarchiv.de/
Beitritt der ostdeutschen Gebiete zur
Bundesrepublik am 3. Oktober 1990
zur staatlichen Einheit führte.
Anlässlich des 25. Jahrestages der
deutschen Wiedervereinigung hat das
Bundesarchiv ein umfangreiches On­
line-Portal eingerichtet, das anhand
von Bildern, Tonaufnahmen, Akten
und Filmen die Ereignisse nachzeich­
net. Durch die Ankündigung der Auf­
hebung der Reisebeschränkungen
durch Schabowski wurde noch in der­
selben Nacht die Berliner Mauer (zu­
mindest in Teilen) eingerissen; die ge­
teilte Stadt Berlin – Brennpunkt des
Kalten Krieges – lag sich vor dem Bran­
denburger Tor in den Armen. Doch bis
zur politischen Einheit war es noch ein
weiter Weg. Mittels der Akten wird
Einblick in den Entscheidungsfin­
dungsprozess gewährt, den die Regie­
rungen beider Länder miteinander
und mit den Siegermächten des Zwei­
ten Weltkrieges führten und der von
Gewerkschaften, Parteien und Bürger­
initiativen begleitet wurde. In Porträts
werden die wichtigsten Akteure vorge­
stellt. Besonders hervorzuheben sind
die kleinen virtuellen Ausstellungen,
die zu zentralen Fragen erstellt wur­
den. In technisch wie optisch anspre­
chender Form kann man sich hier über
den Fall der Mauer, die ersten freien
Volkskammer-Wahlen in der DDR
vom 18. März 1990 und die daraus her­
vorgegangene Regierung unter Lothar
de Maizière, aber auch über die Ge­
schichte des deutschen Nationalfeier­
tags und die Situation des Gesund­
heitswesens in den sogenannten
Neuen Ländern 1989 bis 1994 informie­
ren.
fh
www.gda.bayern.de/findmitteldatenbank
Bayerisches Hauptstaatsarchiv
Abt. IV (Kriegsarchiv)
B
ayern mag so manchem »Nord­
licht« spanisch vorkommen. Im
Falle der Findmitteldatenbank des Ba­
yerischen Hauptstaatsarchivs stimmt
es sogar. Schließlich ist sie neben Eng­
lisch, Französisch und Italienisch eben
auch auf Spanisch benutzbar.
Dank der Förderung durch die Deut­
sche Forschungsgemeinschaft sind
die Findmittel zu 30 Beständen des
Kriegsarchivs (Abt. IV Bayerisches
Hauptstaatsarchiv), das das Schriftgut
der ehemaligen Bayerischen Armee
(1682–1918) verwahrt, mit 320 000 Ak­
ten, Amtsbüchern, Karten und Bildern
retrokonvertiert und online zur Verfü­
gung gestellt worden. Dies betrifft zum
größten Teil die Personalakten von Of­
fizieren und Unteroffizieren (194 500
Akten), die Truppenakten (70 800
Stück) sowie die Bilder (36 700 Stück).
Somit können beispielsweise Offizier­
personalakten, vom Generalfeldmar­
schall bis zum Fähnrich, online recher­
chiert werden, und dadurch lässt sich
gegebenenfalls der Großvater oder Ur­
großvater finden. Hinzu kommen etwa
10 700 Dienstvorschriften, die hier ver­
zeichnet sind.
Insgesamt ist somit gut die Hälfte der
50 Weltkriegsbestände des Kriegsar­
chivs in München online recherchier­
bar. Dies betrifft namentlich die Zeit
des Ersten Weltkrieges. In gar nicht
mehr so ferner Zukunft sollen die On­
linefindmittel der gesamten Staatli­
chen Archive Bayerns ausgebaut sein.
Das erleichert die Arbeit der Histori­ke­
rinnen und Historiker ungemein.
hp
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015
25
Service
Lesetipp
Preußen nach Napoleon
Südtirol 1916
Revolution in München 1918/19
D
D
Z
ie preußischen Staats- und Militär­
reformen, entstanden ab 1806/07,
sind mit den Namen Gneisenau,
Scharnhorst, Stein und Hardenberg
verbunden. Diese Reformen bilden
eine der drei Traditionssäulen der Bun­
deswehr. Was aber wurde aus den Mo­
dernisierungsideen und den Refor­
mern, nachdem Napoleon 1815 besiegt
worden war? Diesem Thema nähert
sich Jürgen Luh in seinem neuesten
Buch. Als roter Faden dient ihm dabei
das 1817 von Karl Friedrich Schinkel
vollendete allegorische Gemälde »Tri­
umphbogen«, aus dem in jedem Kapi­
tel ein anderer Ausschnitt als Aufhän­
ger dient. Es verweist auf die preußi­
sche Vergangenheit in Gestalt von Rei­
terstatuen Friedrichs des Großen und
des Großen Kurfürsten sowie auf die
Jahre 1814/15, als die Quadriga des
Brandenburger Tores nach Berlin zu­
rückgeholt und die Wagenlenkerin zur
Viktoria umgestaltet wurde. Über den
Reiterstandbildern des Gemäldes be­
findet sich ein antiker Triumphbogen,
im Hintergrund eine gotische Kirche
und die Stadt Berlin.
Luh beschreibt Preußens Situation ab
1805, den Hass auf Napoleon, aber
auch die Schwärmerei für ihn, das En­
gagement für die Befreiungskriege
und das Zurückdrängen der Ideen von
Freiheit, Selbstbestimmung, Bürgerbe­
teiligung sowie demokratischen Ansät­
zen nach 1815. Er führt frei nach dem
Motto Schillers: »Der Mohr hat seine
Schuldigkeit getan, der Mohr kann ge­
gen«, gekonnt aus, wie die Reformer
und Reformen angesichts von Restau­
ration und später des Nationalismus
scheiterten. Insgesamt: Ein wichtiges
Thema, das gut sowie leicht erzählt
wird und an dessen Idee, ein Bild als
Aufhänger zu nehmen, sich historische
Bildung visualisieren lässt.
hp
Jürgen Luh, Der kurze
Traum der Freiheit.
Preußen nach Napoleon,
München 2015.
ISBN 978-3-8275-0039-7;
239 S., 24,99 Euro
26
as Jahr 1916 ist mit dem verwir­
renden und verharmlosenden Be­
griff der »Materialschlachten« etiket­
tiert worden. Tatsächlich jedoch waren
die Masse des »geschlachteten Materi­
als« Soldaten, so bei Verdun, an der
Somme, oder aber im vorliegenden
Fall in Südtirol.
Gerhard Artl, Archivar am Österrei­
chischen Staatsarchiv – Kriegsarchiv,
hatte sich bereits 1983 in seiner Doktor­
arbeit mit der österreichisch-unga­
rischen Offensive in Südtirol 1916 be­
fasst. Für das vorliegende Buch wertete
er zusätzliche Literatur und Akten aus,
so etwa zu den Luftstreitkräften. Er
klärt dabei u.a. die Frage, wie es zu der
Gerhard Artl, Die »Strafexpedition«. ÖsterreichUngarns Südtiroloffensive
1916, Brixen 2015. ISBN
978-88-6563-127-0;
360 S., 25,00 Euro
italienischen Bezeichnung »Strafexpe­
dition« für diese Offensive gegen das
einst mit der Monarchie verbündete
und sich nun im Kreise der Gegner be­
findliche Italien kam. Artl behandelt
sein Thema in vier großen Kapiteln. Er
beleuchtet die Grundlagen für den Ent­
schluss des Armeeoberkommandos
zum Angriff auf Italien, analysiert die
Vorbereitungen und beschreibt die
drei Phasen der Offensive: Anfangser­
folge (15. bis 22. Mai), Verlangsamung
des Angriffs (23. bis 30. Mai) und Fest­
laufen (31. Mai bis 17. Juni).
In seiner Schlussbetrachtung spinnt
Artl einen Faden aus der Einleitung
fort: das Verhältnis zum deutschen
Bündnispartner. Er macht damit ein­
drucksvoll erneut deutlich, dass der
(Kriegs-)Einsatz deutscher Soldaten in
den letzten 300 Jahren immer im Rah­
men von Bündnissen erfolgte, das galt
einmal mehr für das Zeitalter der Welt­
kriege. Detailkarten, Fotos und Tabel­
len der Kriegsgliederung runden das
Buch ab, das einmal mehr den Stellen­
wert von Operationsgeschichtsschrei­
bung unterstreicht. Für das Verständ­
nis eines Krieges im Hochgebirge ist
sie unabdingbar.
hp
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015
wei Dinge sind der geneigten Le­
serschaft bekannt: Zum einen
stürzte Kurt Eisner (USPD) am 7. No­
vember 1918 in München die erste Mo­
narchie in Deutschland, und Bayern
wurde der erste Freistaat. Zum ande­
ren wurden die Tagebücher des getauf­
ten Romanisten mit jüdischen
Wurzeln,Victor Klemperer, aus der
NS-Zeit unter dem Titel »Ich will Zeug­
nis ablegen bis zuletzt« vor einigen
Jahren veröffentlicht und und sogar
verfilmt.
Doch was hat beides miteinander zu
tun? Klemperer schrieb als Münchner
Korrespondent unter dem Pseudonym
»A.B« (= Anti Bavaricus) für die Leip­
ziger Neuesten Nachrichten. Seine Ar­
tikelserie begann Anfang Februar 1919
und endete am 17. Januar 1920. In dem
Band sind sowohl seine tatsächlich ge­
druckten Beiträge als auch die unver­
öffentlichten Manuskripte publiziert.
Der habilitierte Romanist Klemperer
hatte sich 1915 als Kriegsfreiwilliger
gemeldet, diente bis März 1916 an der
Westfront und war nach einem Laza­
rettaufenthalt bis 1918 als Zensor im
Buchprüfungsamt der Presse-Abteilung
des Militärgouvernements Litauen in
Kowno und Leipzig eingesetzt. Er er­
weist sich in seinen Artikeln als wacher
und aufmerksamer Beobachter der
Verhältnisse in München. Er beschreibt
sehr genau die Radikalisierung der Re­
volution nach der Ermordung des Mi­
nisterpräsidenten Eisner, charakteri­
siert die Hauptakteure und schildert
die Niederschlagung der Revolution
durch die Truppen Franz von Epps.
Dabei kam es zu regelrechten Gefech­
ten, bei denen Artillerie und Flieger
eingesetzt wurden. Klemperer registriert
auch aufmerksam den einsetzenden
Antisemitismus, nicht von ungefähr
wurde München einige Jahre später
zur »Hauptstadt der Bewegung«.
hp
Victor Klemperer, Man
möchte immer weinen
und lachen in einem.
Revolutionstagebuch 1919.
Mit einem Vorwort von
Christopher Clark und einem
historischen Essay von
Wolfram Wette, Berlin 2015.
ISBN 978-3-351-03598-3;
263 S., 19,95 Euro
Mein Kampf
Widerstand im Dritten Reich
Tagebuch Zweiter Weltkrieg
A
I
N
ngeblich war er völlig selbstlos
und widmete seine ganze Kraft
dem Deutschen Reich. Die Rede ist von
Hitler. Bevor er ab 1933 die Bezüge
eines Reichskanzlers und ab 1934 zu­
sätzlich die des Reichspräsidenten
­erhielt, benötigte der mittel- sowie stel­
lenlose Weltkriegsveteran und abge­
lehnte Kunststudent vor allen Dingen
eines: Geld. Sven Felix Kellerhoff schil­
dert ausgiebig, wie Hitler einerseits
massive Zuwendungen von gut be­
tuchten Münchner Honoratioren be­
kam und andererseits hoffte, mit sei­
nem Buch »Mein Kampf« umfang­
reiche Einnahmen zu erzielen, was ihm
bei einer Gesamtauflage von über
zwölf Millionen auch gelang.
So ganz nebenbei knackt Kellerhoff
noch eine ganze Reihe von Hitlers selbst­
gestrickten Mythen, wie etwa eine Ant­
wort König Ludwigs III. von Bayern
auf Hitlers Einstellungsersuchen bei
einem bayerischen Regiment 1914 oder
sein angeblich langer Dienst als Front­
kämpfer in der ersten Linie, was ihm
sein Eisernes Kreuz erster Klasse ein­
brachte, das er fortwährend trug.
Kellerhoff identifiziert genau, welche
Quellen der eifrige Leser Hitler be­
nutzte, wie »Mein Kampf« bei der Lite­
raturkritik zunächst durchfiel, welche
nachträglichen Änderungen ange­
bracht wurden und welche verhee­
rende Wirkung dieses vorgeblich so
häufig gelesene Buch entfaltete, wobei
die Zahl der tatsächlichen Leserschaft
zumindest bis 1933 eher gering war.
Abschließend geht Kellerhoff auf die
juristische Situation 2015 ein und gibt
Ausblicke auf die Zeit nach Ablauf des
Urheberrechts für »Mein Kampf« . We­
nigstens ein Gutes bewirkten die Blei­
lettern des Buches noch: Mit ihnen
wurde die erste Ausgabe einer Zeitung
des demokratischen Neubeginns ge­
setzt: die Süddeutsche Zeitung.
hp
Sven Felix Kellerhoff, »Mein
Kampf«. Die Karriere eines
deutschen Buches, Stuttgart
2015. ISBN 978-3-60894895-0; 367 S., 24,95 Euro
m Jahr 2015 jährte sich das Ende des
Nationalsozialismus in Deutschland
zum 70. Mal. Unter den Publikationen
zu diesem Gedenken finden sich auch
die ersten beiden Bände der Reihe »Die
Deutschen und der Nationalsozialis­
mus«, herausgegeben vom Jenaer His­
toriker Norbert Frei. Die auf insgesamt
sieben Bände angelegte Reihe wendet
sich an ein jüngeres Publikum, dem
der Kontakt und Austausch mit Zeit­
zeugen aufgrund der biologischen Uhr
zunehmend verwehrt bleiben wird.
Markus Roth setzt sich im ersten Band
mit Verfolgung, Terror und Wider­
stand im Dritten Reich auseinander
und macht es sich zur Aufgabe, diese
Phänomene im Rahmen der alltäg­
lichen Lebenswelt der Deutschen in
dieser Zeit zu schildern.
Im Zentrum seiner Darstellung ste­
hen die wechselseitigen Beziehungen
und Abhängigkeiten im Dreieck von
Verfolgern, Verfolgten und der breiten
Masse der Bevölkerung. Wie wirkten
sich offene Zustimmung, Schweigen
oder demonstrative Ablehnung und
Widerstand auf die Dynamik des
Natio­nalsozialismus aus? Und wie ver­
änderte sich wiederum die Gesell­
schaft unter dem Eindruck von Terror
und Gewalt? Roth beschreibt anschau­
lich und beispielreich, wie der Applaus
oder die stille Hinnahme der Vielen so­
wie der Widerstand der Wenigen das
NS-Regime geprägt und in seiner Ent­
wicklung beeinflusst haben. Dabei fin­
den sowohl die großen Ereignisse und
Entwicklungen der Zeit, wie die
Reichskristallnacht im Rahmen der Ju­
denverfolgung, Berücksichtigung, als
auch kleine Gesten und Begebenheiten,
die ein Bild von Mitgefühl und Solida­
rität unter den Menschen zeichnen.
Insgesamt ein ansprechendes und
kompaktes Buch.
Leonie Hieck
Markus Roth, »Ihr wisst,
wollt es aber nicht wissen«. Verfolgung, Terror
und Widerstand im Dritten
Reich, München 2015. ISBN
978-3-406-67517-1; 296 S.,
16,95 Euro
eutral waren sie im Zweiten Welt­
krieg beide: die Schweiz und
Schweden. Trotzdem fühlten sich die
Zeitgenossen als Kriegsgeneration. Im
eidgenössischen Fall hat dies u.a. Max
Frisch in Tagebuchform beschrieben,
im königlich-schwedischen Fall Astrid
Lindgren.
Die Neutralität beider Länder war
bedroht, daher machten sie mobil und
sicherten ihr Territorium zu Lande, in
der Luft und Schweden auch zur See.
Um die Grenzen des Ostsee-König­
reiches tobte der Krieg: im September
1939 in Polen, von November 1939 bis
März 1940 in Finnland, im Jahre 1940
in Dänemark und Norwegen und ab
1941 in der Sowjetunion. Bei Lindgren
spiegelt sich die schwedische Zerris­
senheit wider: Sie sieht NS-Deutsch­
land als die Hauptbedrohung, zum an­
deren registriert sie sehr genau das
brutale Vorgehen der Sowjetunion un­
ter Stalin gegen Polen und Finnland.
Am finnisch-sowjetischen Winterkrieg
beteiligten sich offensichtlich auch
schwedische Freiwillige an der Seite
des skandinavischen Bruders. Und im
neutralen Schweden wusste man zum
Teil um die Judenverfolgung und den
beginnenden Holocaust, so auch
Astrid Lindgren. Allerdings muss hier­
bei erwähnt werden, dass Lindgren als
Journalistin an der Quelle saß. Sie ar­
beitete in der Abteilung für Briefzensur
des schwedischen Nachrichtendienstes
und hatte die deutsche Post aus den
besetzten Ländern bzw. aus Schweden
auf landeskritische Inhalte hin zu über­
wachen. Nicht zuletzt beschreibt sie ih­
ren Alltag, geht auf ihre Eheprobleme
ein und schildert die Einschränkungen
durch den Krieg sowie die Lebensmit­
telrationierungen. Trotzdem oder viel­
leicht gerade deswegen entstand zu
dieser Zeit auch das zauberhafte Buch
»Pippi Langstrumpf«.
hp
Astrid Lindgren,
Die Menschheit hat den
Verstand verloren.
Tagebücher 1939–1945,
Berlin 2015. ISBN 978-3550-08121-7; 573 S.,
19,99 Euro
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015
27
Service
Die historische Quelle
Bundesarchiv, Abt. Militärarchiv
»Geheim«: Das BMVg informiert den Minister über
Frankreichs Ausscheiden aus der NATO-Militärstruktur
Z
BArch, BW 1/73455/a, Bl. 30
u den jetzt offengelegten bislang geheimen Doku­
menten im Militärarchiv des Bundesarchivs gehört
auch ein am 30. März 1966 um 10.20 Uhr im Bundesminis­
terium der Verteidigung (BMVg) abgesandtes Fernschrei­
ben des Adjutanten an den zum Truppenbesuch in Mün­
chen und Neubiberg befindlichen Verteidigungsminister
Kai-Uwe von Hassel. Die Information für den Minister
war höchst eilig und brisant. Hinter den wenigen, knap­
pen Angaben des Fernschreibens stand eine der größten
Krisen der NATO-Geschichte: Der französische Staats­
präsident Charles de Gaulle hatte entschieden, dass
Frank­reich die militärische Struktur der NATO verlassen
sollte. Am 29. März gab die Regierung in Paris in einer di­
plomatischen Note (»aide mèmoire«) den Zeitplan be­
kannt: Bereits zum 1. Juli 1966 würde Frankreich seine
Truppen der Unterstellung (»Assignierung«) unter die
NATO entziehen und alle seine Offiziere aus den NATOHauptquartieren SHAPE, AFCENT, AFSOUTH und allen
nachgeordneten Stäben zurückziehen. Bis Ende März des
kommenden Jahres gab de Gaulle der NATO Zeit, alle auf
französischem Boden dislozierten alliierten Stäbe und
Truppen abzuziehen.
Da sich fast alle höheren NATO-Stäbe in Frankreich be­
fanden und die starken französischen Streitkräfte ein
Eckpfeiler der NATO-Verteidigungsplanung waren, löste
de Gaulle ein politisches und militärisches Erdbeben aus.
Die Konsequenzen der in nur wenigen Monaten zu voll­
ziehenden Schritte waren schwerwiegend und tiefgrei­
fend. Supreme Headquarters Allied Powers Europe
(SHAPE) wurde bis März 1967 von Rocquencourt bei Pa­
ris ins belgische Casteau bei Mons verlegt. Das Haupt­
quartier Allied Forces Central Europe (AFCENT) wurde
zeitgleich von Fontainebleau ins südniederländische
Brunssum verlagert. Zunächst waren auch Aachen und
Trier im Gespräch gewesen. Das NATO Defence College
wurde von Paris nach Rom verlegt. Aus militärischer
Sicht entscheidender waren aber die Konsequenzen für
die Verteidigungsplanung insbesondere für den Süden
der Bundesrepublik Deutschland. Durch den Wegfall der
französischen 1. Armee, der bislang auch das II. deutsche
Korps im Verteidigungs-Fall unterstand, musste die
­Central Army Group (CENTAG) neu organisiert und
­disloziert werden. Das II. deutsche Korps hatte fortan die
Verteidigung des gesamten Raumes südlich der von
amerikani­schen Truppen
abgedeck­ten hessischen
und fränkischen Gebiete
alleine zu stemmen .
Das abgebildete Fern­
schreiben trägt den Ein­
gangsstempel des damals
noch in Neubiberg statio­
nierten Luftransportge­
schwaders 61 sowie die
grüne Paraphe (»H« mit
Datum) des Ministers von
Hassel. Zu sehen sind zu­
dem die Deklassifizie­
rungsmerkmale zur Of­
fenlegung des Doku­
ments.
Klaus Storkmann
3Fernschreiben des BMVg
an Bundesverteidigungsminister von Hassel vom
30. März 1966.
28
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015
Geschichte kompakt
1. März 1896:
20. Januar 1969:
Schlacht von Adua
Der Soldatenmord von Lebach
talien griff erst spät in den Wettlauf um die koloniale Auf­
teilung Afrikas ein. Im Februar 1885 besetzten seine Trup­
pen den Hafen Massaua am Roten Meer, der bis dahin zum
türkischen Einflussbereich gehörte. Vier Jahre später wurde
Asmara erobert und das Gebiet zur Kolonie Eritrea ausge­
baut. Einer weiteren Expansion stand das Kaiserreich
Äthio­pien entgegen: Im Vertrag von Wichale hatten sich
1889 beide Staaten ewige Freundschaft geschworen.
Der Vertrag war in zwei Fassungen ausgearbeitet worden.
Von einem italienischen Protektoratsanspruch war nur in
der italienischen, nicht jedoch in der äthiopischen Version
die Rede. Italien versuchte seinen Einfluss am Horn von
Afrika zu erweitern. Der äthiopische Kaiser Menelik II. hin­
gegen kaufte unterdessen in ganz Euro­pa Waffen. Woche
für ­Woche verließen bis zu 100 Karawanen den französi­
schen Hafen Djibouti in Richtung Äthiopien.
Als sich in Ostafrika ein Interessenausgleich Italiens
mit Großbritannien und Frankreich abzeichnete, ordnete
Menelik die Generalmobilmachung an. Ministerpräsident
Francesco Crispi übertrug den Oberbefehl über die italie­
nischen Truppen in Eritrea an General Oreste Baratieri,
­einen alten Mitstreiter Giuseppe Garibaldis bei dessen Eini­
gungsfeldzug 1860 in Italien.
Baratieries Truppen kamen rasch voran. Bald wurde die
Provinz Tigre der Kolonie Eritrea einverleibt, und Menelik
sendete erste Friedenssignale. Crispi rückte nicht von sei­
ner Maximalforderung ab: Menelik solle endlich das italie­
nische Protektorat über, wie es die Italiener nannten, Abes­
sinien anerkennen. Infolge der Weigerung Meneliks befahl
Crispi den weiteren Vormarsch. Doch Baratieri erkannte
die Risiken. Bislang hatten Befestigungen und Schützengrä­
ben die Äthiopier an einem siegreichen Vorgehen gehin­
dert. Der Verzicht darauf zugunsten einer offenen Feld­
schlacht machte den wichtigsten taktischen Vorteil der Ita­
liener zunichte.
Am 1. März 1896 traf Italiens Heer bei Adua nahe der
Grenze zu Eritrea auf Meneliks Streitmacht. In der bis da­
hin größten Schlacht auf afrikanischem Boden standen 9000
Italiener und 11000 afrikanische Askari viermal so vielen
Verteidigern gegenüber. Das war ein übliches Kräftever­
hältnis in Kolonialkriegen – bis auf die moderne Bewaff­
nung der Einheimischen: Repetiergewehre, Schnellfeuerka­
nonen und Gatlings.
Die Schlacht von Adua dauerte nur einen Tag. Am Abend
waren zwei Drittel der Italiener und eine große Anzahl As­
kari gefallen; 1865 weitere Soldaten gerieten in Gefangen­
schaft. Crispi reichte sofort nach Bekanntwerden des Desas­
ters seinen Rücktritt ein. Im Vertrag von Addis Abeba (26. Ok­
tober 1896) erlitt Italien keine territorialen Verluste, musste
aber Äthiopiens Unabhängigkeit anerkennen. Nach Adua
blieb Äthionien von den europäischen Kolonialmächten un­
be­helligt. Der Jahrestag der Schlacht ist dort bis heute Feier­
tag.
Ralf Höller
D
ie wachhabenden Soldaten in der »Standortmunitions­
niederlage« Landsweiler bei Lebach wurden von dem
heimtückischen Überfall auf ihr Wachlokal nachts um 3 Uhr
überrascht: Der Gefreite Dieter Horn, der Obergefreite
Arno Bales und der Unteroffizier Erwin Poth wurden noch
im Schlaf erschossen, der schwer verwundete Gefreite
Ewald Marx erlag später seiner Verletzung. Ein weiterer
Soldat überlebte schwer verwundet. Die beiden Täter ent­
wendeten drei G3, zwei P1 sowie 1000 Schuss Munition.
Der Militärische Abschirmdienst (MAD), Polizei und
Staatsanwaltschaft gingen bei ihren Ermittlungen zunächst
von einem vermutlich politisch, d.h. linksradikal moti­
vierten Überfall auf die Bundeswehr aus. Sie verdächtigten
die damals sehr aktive Außerparlamentarische Opposition
(APO) oder eine mögliche kommunistische Untergrund­
gruppe, die sich für e­ inen Guerillakampf im Fall eines even­
tuellen Krieges mit dem Ostblock zu bewaffnen suchte. Der
MAD hatte in seiner Analyse der möglichen Hintergründe
sogar erwogen, dass Sympathisanten der Bundeswehr oder
gar Angehörige der Streitkräfte mit dem Überfall auf gra­
vierende Sicherheitslücken in der Bewachung aufmerksam
machen wollten, dieses Erklärungmuster aber als äußerst
unwahrscheinlich verworfen und sich auf den besagten
linksradikalen politischen Hintergrund konzentriert.
Der Fall wurde aber nicht vom MAD, sondern durch »Ak­
tenzeichen XY … ungelöst« und durch eine von den Tätern
erpresste Wahrsagerin aus Remagen aufgeklärt. Das Motiv
überraschte Polizei wie MAD: Ein bis Dezember 1968 beim
Fallschirmjägerbataillon 261 in Lebach als Wehrpflichtiger
gedienter junger Mann und sein Freund hatten den Über­
fall auf das ihm gut bekannte Munitionslager geplant, um
sich Waffen und Munition für weitere Banküberfälle zu be­
schaffen. Dazu hatte der Wehrpflichtige zuvor bei einer
Übung in Baumholder eine P38 gestolen, sein Freund hatte
als Justizsekretär eine Pistole aus der Asservatenkammer
des Amtsgerichts Landau entwendet. An der Planung des
Überfalls beteiligt war zudem ein weiterer Freund, der zur
Tatzeit seinen Wehrdienst im Bundeswehrkrankenhaus Ko­
blenz ableistete. Das Motiv war der Wunsch der drei homo­
sexuellen Freunde, ein gemeinsames Leben außerhalb der
von ihnen als feindseelig empfundenen deutschen Gesell­
schaft in Südamerika oder der Südsee zu finanzieren.
Das im August 1970 ge­
sprochene Urteil des
Landgerichts Saarbrü­
cken lautete zweimal le­
benslänglich wegen
Mordes für die beiden
Täter und sechs Jahre
Haft für den Koblenzer
Wehrplichtigen wegen
Beihilfe zum Mord.
Historischer Verein Lebach e.V.
I
5Schlagzeile in der Bild-Zeitung
ks
vom 21. Januar 1969.
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015
29
• Aldersbach
Bier in Bayern
Bayerische Landes­
ausstellung 2016
Kloster Aldersbach im
Passauer Land
Freiherr-von-AretinPlatz
94501 Aldersbach
Tel.: 08 21 / 45 05 74 57
www.hdbg.de
29. April bis
30. Oktober 2016
täglich
9.00 bis 18.00 Uhr
Eintritt: 10.00 Euro
ermäßigt: 8.00 Euro
• Berlin
Who was a Nazi?
Entnazifizierung in
Deutschland nach 1945
Alliiertenmuseum
Clayallee 135 – Outpost
14195 Berlin-Zehlendorf
Tel.: 0 30 / 81 81 99 0
www.alliiertenmuseum.de
bis 29. Mai 2016
Donnerstag bis Dienstag
10.00 bis 18.00 Uhr
Eintritt: frei
Relikte des Kalten
Krieges.
Fotografien von Martin
Roemers
sowie
Immer Bunter.
Einwanderungsland
Deutschland
Deutsches Historisches
Museum
Unter den Linden 2
10117 Berlin
Tel.: 0 30 / 20 30 40
www.dhm.de
4. März bis 14. August
2016 (Relikte des
­Kalten Krieges)
21. Mai bis 16. Oktober
2016 (Immer bunter)
täglich
10.00 bis 18.00 Uhr
Eintritt: 8,00 Euro
(unter 18 Jahren Eintritt
frei)
Führungsdienste der
Luftwaffe
Militärhistorisches
­Museum
Flugplatz Berlin-Gatow
Am Flugplatz Gatow 33
14089 Berlin
Tel.: 0 30 / 36 87 26 91
www.mhm-gatow.de
30
Ausstellungen
Ständige Ausstellung
Hangar 7
Dienstag bis Sonntag
10.00 bis 18.00 Uhr
Eintritt: frei
• Bonn
Unter Druck! Medien
und Politik
bis 17. April 2016
sowie
Schamlos? Sexualmoral
im Wandel
Haus der Geschichte der
Bundesrepublik
Deutschland
Willy-Brandt-Allee 14
53113 Bonn
Tel.: 02 28 / 91 65 0
www.hdg.de
bis 14. Februar 2016
Dienstag bis Freitag
9.00 bis 19.00 Uhr
Samstag bis Sonntag
10.00 bis 18.00 Uhr
Eintritt: frei
• Dresden
60 Jahre Bundeswehr
sowie
ACHTUNG Spione
Militärhistorisches
­Museum der Bundes­
wehr
Olbrichtplatz 2
01099 Dresden
Tel.: 03 51 / 82 32 85 1
www.mhmbw.de
bis 31. März 2016
(60 Jahre Bundeswehr)
ab 18. März 2016
(ACHTUNG Spione)
Montag
10.00 bis 21.00 Uhr
Donnerstag bis Dienstag
10.00 bis 18.00 Uhr
Eintritt: 5,00 Euro
ermäßigt: 3,00 Euro
(für Bundeswehr-­
Angehörige Eintritt frei)
• Gotha
Die Ernestiner. Eine
Dynastie prägt Europa.
Thüringer Landesaus­
stellung in Gotha und
Weimar
Schloss Friedenstein
­Gotha sowie
Herzogliches Museum
Gotha
Parkallee 15
99867 Gotha
Tel.: 03 62 1 / 82 34 58 1
www.ernestiner2016.de
24. April bis
28. August 2016
Dienstag bis Sonntag
9.00 bis 17.00 Uhr
Eintritt (Kombiticket):
16,00 Euro
ermäßigt: 12,00 Euro
• Ingolstadt
Die Alpen in Krieg –
Krieg in den Alpen.
Die Anfänge der deut­
schen Gebirgstruppe
1915
Bayerisches Armee­
museum
Reduit Tilly im
­Klenzepark
Paradeplatz 4
85049 Ingolstadt
Tel.: 08 41 / 9 37 70
www.hdbg.de
bis 2017
täglich 9.00 bis 18.00 Uhr
Eintritt: 9,00 Euro
• Potsdam
UNI-FORM?
Körper, Mode und
­Arbeit nach Maß
Haus der Branden­
burgisch-Preußischen
Geschichte
Am Neuen Markt 9
14467 Potsdam
Tel.: 03 31 / 62 08 55 0
www.hbpg.de
15. April bis 24. Juli 2016
Dienstag bis Donnerstag
10.00 bis 17.00 Uhr
Freitag bis Sonntag
Eintritt: 6,00 Euro
ermäßigt: 4,00 Euro
• Stuttgart
100 Jahre Bibliothek für
Zeitgeschichte
Württembergische
Landes­bibliothek
Konrad-Adenauer-Str. 8
70173 Stuttgart
Tel.: 07 11 / 21 24 51 6
[email protected]
bis 5. März 2016
Montag bis Freitag
8.00 bis 20.00 Uhr
Samstag
9.00 bis 13.00 Uhr
Eintritt: frei
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015
Heft 1/2016
Service
Militärgeschichte
Zeitschrift für historische Bildung
 Vorschau
Im Frühling 1916 befand sich die Welt im
dritten Kriegsjahr, drei Jahre, die bereits
abertausenden Menschen das Leben geko­
stete hatten und doch war kein Ende in Sicht.
Die Kriegführung änderte sich: An allen
Fronten Europas kam es zu großen soge­
nannten Materialschlachten, deren Ausmaße
die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg bis
heute am nachhaltigsten prägen. Die Großof­
fensiven der Entente begannen am 1. Juli 1916
mit der Somme-Schlacht. Mit der 6. IsonzoSchlacht wurde der Kampf an der Italien­front
intensiviert, im Osten hatte die russische Ar­
mee bereits am 4. Juni die »Brussi­low«Offensive gestartet. Doch die Mittelmächte
hielten den Angriffen weiter stand. In
Deutschland und Frankreich ist es vor allem
die Schlacht von Verdun von Februar bis De­
zember 1916, die sich in das kollektive Ge­
dächtnis eingebrannt hat und zum Schre­
ckensbild des modernen Krieges wurde. Auf
beiden Seiten starben etwa 250 000 Soldaten.
Die Motive der Erinnerung, deren Auswir­
kungen und Formen in beiden Ländern stellt
Florian Reichenberger vor.
In einem zweiten Beitrag zu unserem
Schwerpunktthema Erster Weltkrieg verlas­
sen wir den europäischen Kriegsschauplatz
und blicken nach Asien: Gerhard Krebs
schreibt über Japans Rolle im Krieg 1914 bis
1918, das ganz eigene machtpolitische Ziele
in Ostasien verfolgte.
An der Somme kämpfte als einfacher Ge­
freiter auch Adolf Hitler. Doch wie wurde
aus ihm, dem Weltkriegsveteran und erfolg­
losen Maler der mächtigste Politiker und
Feldherr Europas? Mit einem neuen Blick
wendet sich Wolfram Pyta der Biografie
Adolf Hitlers zu und zeigt, welchen starken
Einfluss künstlerische und ästhetische Prin­
zipien auf Herrschaft und Kriegführung des
Diktators hatten.
Krieg bedeutet leider immer auch Gewalt
gegen Unschuldige, darunter insbesondere
auch die Vergewaltigung von Frauen und
Mädchen in besetzten oder eroberten Gebie­
ten des Feindes. Diesem schrecklichen, aber
bis heute viel zu wenig wahrgenommenen
Thema nähert sich Miriam Gebhardt an. Sie
schreibt über die Gewalt an Frauen in
Deutschland 1945.
fh/jm
Militärgeschichte im Bild
Adolph Menzels »Leuthen-Fragment«
W
»Ja, das müsste ein infamer Hundsfott
sein; nun wäre es die Zeit!«
Es ist der »Billerbeck-Moment«, der
dem »Leuthen«-Bild in überraschender
Weise die Konzentration auf einen
höchstdramatischen Augenblick ver­
leiht. Damit ist in Menzels großartig
modernem Gemälde ein historischer
Höhepunkt im Quellenkontext der ihm
in allen Einzelheiten vertrauten preu­
ßischen Militärgeschichtstradition ge­
fasst. Aber besagter Höhepunkt kon­
zentriert sich nicht nur auf Friedrich,
sondern auch auf dessen Offiziere. De­
ren Teilvorgänge dieser Militär­
ge­
schichts­tradition werden als Wirkun­
gen einer einzigen Ursache erkennbar,
von der sie sich freilich nicht loslösen,
sondern auf diese zurück verweisen.
Durch diese brillante Kombination von
erfundenem Detail und erforschter
Vergangenheit reagierte der Künstler
auf die zeitgenössische Kritik, die ihm
vorwarf, mit seiner Malerei keine dra­
matischen Geschichtssmomente zu ge­
stalten, sondern allenfalls historisches
Genre zu gestalten. »Leuthen« gab da­
rauf die Antwort im kühnen Versuch,
die von Menzel immer wieder sensibel
notierte Vielschichtigkeit des gemalten
Moments mit der historischen Ursache
einmal in vollen Einklang zu bringen.
bpk/Zander und Labisch
as kommt heraus, wenn sich ein
Militärhistoriker an die Interpre­
tation von Kunstwerken wagt – noch
dazu an eines vom Range des
»Leuthen«-Fragments, Adolph Men­
zels 1859 begonnenes, doch unvollen­
det gebliebenes Friedrich-Bild, das die
Rede des Königs an seine Offiziere vor
der großen Schlacht am 5. Dezember
1757 inszenierte? Zunächst eine mit
Menzelscher Akribie anhand von Uni­
formen und Porträtvorlagen durchge­
führte Untersuchung, wer im OffizierEnsemble des Gemäldes überhaupt zu
sehen ist, wer noch und wer nicht. Auf
einmal werden auch die unbemalt ge­
bliebenen Leinwandflächen des Bildes
lebendig, deren bislang völlig unbe­
achtet gebliebenen Kreidelinien digi­
taltechnisch nachzuzeichnen sind.
Man erkennt eine Figur mit offenem,
rufenden Mund. Also: Was ist auf die­
sem so grandios gescheiterten Kunst­
werk noch heute – zu hören? Klar: eben
nicht nur Fridericus Rex (Friedrich II.),
der seine tapferen Offiziere gerade
fragt, ob einer von ihnen angesichts
kommender Todesgefahren seinen Ab­
schied nehmen wolle, sondern auch
der brave Major Konstantin von Biller­
beck, der an dieser Stelle – historisch
verbürgt – dem Redner ins Wort fällt:
Warum in aller Welt hat Menzel die­
ses großartige Werk nicht zur Vollen­
dung gebracht? Die Antworten darauf
finden sich in den Überlieferungen des
Geheimen Staatsarchivs Preußischer
Kulturbesitz. Aus den Ministerialakten
und Hofjournalen geht hervor, dass
Menzel das Opfer einer Trendentwick­
lung wurde, die im Sog der Bismarck­
schen Reichsgründungspolitik stand.
Besonders die Einigungskriege (1864,
1866, 1870/71) boten den Historienund Schlachtenmalern nun aktuelle
Stoffe in Hülle und Fülle. Auf dem
Kunstmarkt waren jetzt Künstler ge­
fragt, die »moderne« Themen unter
den Vorzeichen einer nationalen Sinn­
stiftung zu behandeln verstanden.
Menzels Historienmalerei wurde von
dieser Entwicklung ins Abseits gestellt.
Seine »Zopfzeit«-Themen gerieten so
ins Hintertreffen, wie das ihnen zu­
grunde liegende systemkritische Kon­
zept von »Friedrich und den Seinen«
seinen politischen Kontext verlor und
deshalb mit den mittlerweile ange­
sagten Bildern von Königen, die ihre
Truppen siegreich in den Schlachten
führten nicht mehr konkurrieren
konnte. Die Katastrophe kam, als Men­
zel im Frühjahr 1867 über das immer
noch verlockende Ziel verhandelte, ei­
nen offiziellen Auftrag zur Werk-Voll­
endung für die im Aufbau befindliche
Nationalgalerie zu erhalten. Aber auf
wessen Betreiben und warum auch im­
mer die »Leuthen«-Bildfrage zwischen
dem 1. Juni und dem 13. August 1867
bei Hofe gegen Menzel entschieden
wurde: Am traurigen Ende dieser Ent­
wicklung kam sein Gemälde einfach
nicht mehr in Betracht und verstaubte
im Atelier, aus dem es bis zum Tode
Menzels im Jahre 1905 nicht wieder he­
rauskommen sollte.
Jürgen Kloosterhuis
Literaturtipp
5Adolph Menzel in seinem Atelier in der Sigismundstraße (1895).
Jürgen Kloosterhuis, Menzel militaris. Sein »Armeewerk«
und das »Leuthen«-Bild im militärhistorischen Quellenkontext, Berlin 2015.
Bezug über den Buchhandel (ISBN 978-3-923579-21-1)
oder Online-Shop: www.gsta.sph-berlin.de
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 4/2015
31
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