Geht die Ära der Antikonvulsiva zu Ende?

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Medical Tribune · Nr. 3 · Juni 2014 · Neurologie  Psychiatrie
Geht die Ära der Antikonvulsiva zu Ende?
Kausale Therapie und Stimulation: Der Forschungszug fährt in zwei Richtungen
BONN – In der Epilepsietherapie
werden Stimulationsverfahren
bald die Nase vorn haben, sagte
der eine. Keine Chance, an die Antiepileptika werden sie nicht heranreichen, erklärte der andere. Beim
Epilepsiekongress lieferten sich
zwei namhafte Experten einen
Schlagabtausch.
„Die Entwicklung neuer Antiepileptika findet gerade ihr Ende“, konstatierte Professor Dr. Andreas
Schulze-Bonhage vom Epilepsiezentrum der Universitätsklinik
Freiburg. Carisbamat hat sich als
nicht signifikant wirksam erwiesen. Im letzten Jahr kam heraus,
dass Retigabin – in Deutschland
seit 2012 wieder vom Markt – zu
Blauverfärbungen der Finger und
zu retinalen Pigmentstörungen
(sog. Blue-Person-Syndrom) führen kann, weshalb die Zulassung
eingeschränkt wurde.
Auch in der Pipeline sehe es düster aus. Die einzige Substanz, über
die nach Aussage von Prof. SchulzeBonhage überhaupt noch diskutiert
„Die Stimulationsverfahren
befinden sich im Gegensatz zu
Antiepileptika in rascher und
innovativer Entwicklung“
Prof. Schulze-Bonhage
werde, sei Brivaracetam, ein Abkömmling von Levetiracetam. Einer
aktuellen Studie zufolge wird mit
diesem Medikament in der „besten“
Behandlungsgruppe eine Anfallsreduktion von 12,7 % im Vergleich zu
Placebo erreicht.
Firmen, die Antiepileptika entwickelt haben, gingen vom Feld,
neue „Player“ sehe er dagegen nicht,
meinte der Kollege. Ein wichtiger
Grund hierfür sei auch, dass das
Screeningmodell der National Institutes of Health, mit dem Firmen
testen konnten, ob ihre neue Substanz als Antiepileptikum potenziell
infrage komme, eingestellt werden
soll. Alternativen seien nicht in Sicht.
Kongressbericht
52. Jahrestagung der DGfE
Ganz anders die Situation bei der
Hirnstimulation, hier tut sich was:
2010 wurde in Europa die Thalamusstimulation zugelassen, 2012 die
Trigeminusstimulation zertifiziert.
Die FDA in den USA hat 2013 die
responsive Neurostimulation zugelassen und in diesem Jahr erfolgte in der
EU die Zertifizierung der kardial getriggerten Vagusnervstimulation.
Prof. Schulze-Bonhage: „Man sieht
also, die Stimulationsverfahren befinden sich im Gegensatz zu Antiepileptika in rascher und innovativer
Entwicklung.“
Für die Stimulationsverfahren
sieht der Kollege im Vergleich zur
Pharmakotherapie folgende Vorteile:
 Sie weisen eine topographische
Spezifität auf, „es wird dort stimuliert, wo wir einen Effekt haben wollen“. Daraus resultiert,
dass keine systemischen und ggf.
nur geringe ZNS-spezifische Nebenwirkungen auftreten.
 Die Stimulation ist zeitlich steuerbar und sofort wirksam. Weder
gibt es eine Verzögerung durch
Resorption, noch durch Zirkulation.
 Interaktionen bei Kombination
mit Antiepileptika – Fehlanzeige.
 Und nicht zuletzt: Man muss keine Teratogenität befürchten.
„Das Bessere wird sich durchsetzen, und das Bessere ist die medikamentöse Therapie“, sagte Professor
Dr. Christian Bien vom Epilepsiezentrum Bethel.
Medikamente setzen
immer häufiger kausal an
Für ihn bedeuten Medikamente in
der Epilepsietherapie nicht zwangsläufig Antiepileptika, sondern auch
ursachenspezifische Wirkstoffe, wie
Everolimus als mTOR-Pathway-Inhibitor bei Tuberöser Sklerose oder
Immuntherapeutika bei Autoim-
munepilepsien. Bei Kindern mit
tuberöser Sklerose wird mit Everolimus nach elterlichem Report ein
Rückgang der Anfallshäufigkeit um
60 %, nach Video-EEG-Kontrolle
um 55 % erreicht. Behandelt man
Patienten mit Autoimmunepilepsie
mit Immuntherapeutika, kommt
man auf Anfallsfreiheitsraten von
70–100%. „Die Entwicklung wird
eher in diese Richtung gehen“, meinte der Kollege.
Vergleichsanalyse in
acht Punkten
Unter folgenden acht Aspekten verglich Prof. Bien die medikamentöse
Therapie mit der Stimulation.
 Transkutane Stimulation
Eine aktuelle Studie verglich die Effektivität der Vagusnervstimulation (VNS) bei
extratemporalen, kryptogenen Epilepsien
mit der der Epilepsiechirurgie. Was Anfallsfreiheit anging, war die VNS zwar dem
chirurgischen Eingriff eindeutig unterlegen
(7,9 % vs. 36,8 %). Dennoch: Mit keinem
Antiepileptikum werde man bei dieser Indikation knapp 8 % Anfallsfreiheit erreichen,
betonte Prof. Schulze-Bonhage. Mehr als
90 % Anfallsreduktion wurde unter der VNS
in 17,2 % und mehr als 75 % in 44,8 % der
Fälle erzielt.
In einer anderen Studie zeigte sich bei
Patienten mit therapieresistenter fokaler
Epilepsie unter der VNS eine klar bessere
Lebensqualität als unter rein medikamentöser Behandlung. Auch war eine Überlegenheit in Bezug auf die Anfallskontrolle
nachweisbar.
Erste Erfahrungen liegen zu den transkutanen Verfahren vor. In einer eigenen Studie
zur transkutanen Vagusnervstimulation
(tVNS) bei pädiatrischen Epilepsiepatienten beobachtete Prof. Schulze-Bonhagen
„klare Responder“. Möglicherweise seien
das diejenigen, die von einem implantierten
Stimulationsgerät profitieren könnten.
Für die Effektivität der transkutanen Trigeminusstimulation spricht das Ergebnis einer
Phase-II-Studie mit 42 therapieresistenten
Epilepsiepatienten. Unter der Stimulation
mit 120 Hz kam es nach 18 Wochen zu einer
signifikanten Anfallsreduktion (> 50 %) in
30,2 % der Fälle. Unter einer 2-Hz-Stimulation war dies nur zu 21,1 % gegeben. Eine
Studie zu dem Verfahren soll nun auch in
Deutschland aufgelegt werden.
Sollten sich die transkutanen Verfahren bewähren, könnten sie von jedem Neurologen
Medikamente
Stimulation
Zulassung und Erstattung
1. Zulassung und Erstattung
Für Medikamente gibt es ein kompliziertes Verfahren, das nach der
Zulassung die Nutzenbewertung
und Preisverhandlung vorsieht und
so manche Firma veranlasst, ihr
Medikament wieder vom Markt zu
nehmen. In Zukunft wird es wohl
auch für die Stimulationsverfahren,
die derzeit nach dem Medizinproduktegesetz zugelassen werden, ein
solches Verfahren geben, mutmaßte
der Kollege. Zudem seien die Stimulationsgeräte teuer und in der Klinik
sei man vom Verhandlungserfolg des
kaufmännischen Leiters abhängig,
ob man ein gutes Zusatzentgeld bekomme. „Ist das nicht der Fall, sind
Stimulationsgeräte für Krankenhäuser ein Desaster.“
2. Nachgewiesene Wirksamkeit
Für alle Antikonvulsiva liegt Evidenz
für ihre Wirksamkeit aus prospektiven, placebokontrollierten Doppelblindstudien vor. Bei den Stimulationsverfahren ist man von diesem
Niveau weit entfernt. So kann man
für die Beurteilung der Vagusnervstimulation (VNS) nur drei Studien
mit Placebokontrolle heranziehen,
von denen nur zwei positiv ausfielen.
Zudem erscheint Prof. Bien zweifelhaft, dass angesichts der hohen Heiserkeitsraten die Verblindung funktioniert hatte.
Aktuelle Studienergebnisse zu den verschiedenen Stimulationsverfahren
 Vagusnervstimulation
Das Ergebnis von Prof. Biens Vergleichstest auf einem Blick
niederschwellig statt einer medikamentösen Kombinationsbehandlung eingesetzt
werden. Dies ermögliche, die Indikation für
die Langzeitbehandlung via implantierter
Devices zu prüfen, so Prof. Schulze-Bonhage.
 Thalamusstimulation
Setzt man die Stimulation im Thalamus an,
erzielt man eine Anfallsreduktion von 40 %
im Vergleich zu 14,5 % in der Kontrollgruppe, so das Ergebnis einer Studie.
 Stimulation im Anfall
Die Behandlung einzelner Anfälle ist mit der
Tachykardie-getriggerten Vagusnervstimulation und der EEG-getriggerten Stimulation
des epileptischen Fokus (sofern dieser bekannt ist) möglich. „Die Responderraten sind
nicht so hoch, wie wir sie wünschen, sie sind
aber definitiv besser als die von Antiepileptika,“ argumentierte Prof. Schulze-Bonhage.
Hochwertig nachgewiesene
Wirksamkeit
Verträglichkeit
Erfahrung
Mobilität für Patienten
Reversibilität
Dosierungs-Dimensionen
Syndrom-/Ursachenspezifität
Noch „schlimmer“ werde es bei
der Thalamusstimulation. Die in
einer Studie geschilderte Überlegenheit (s.u.) gelte nur für den letzten
von drei Beobachtungsmonaten,
weshalb die FDA die Zulassung des
Verfahrens abgelehnt habe. Für die
responsive Neurostimulation gebe es
nur eine positive Studie. Prof. Bien:
„Hier geht der Punkt eindeutig an
die Medikamente.“
3. Verträglichkeit
Für die Patienten ist in puncto Lebensqualität nicht die Anfallsfrequenz
maßgebend, sondern die Nebenwirkungsrate der Behandlung. Und hier
haben beide Therapieoptionen ihre
Probleme. Wer die Nase vorn hat,
kann (noch) nicht entschieden werden, meinte der Kollege.
Bei den verschiedenen Stimulationsverfahren ist mit Heiserkeit
(15 %), Schmerzen (6–16 %), Hypund Parästhesien (3–16 %), Depression (3–15 %), Gedächtnisstörungen (2,5–14 %) und Infektionen
(2–9 %) zu rechnen. Die Nebenwirkungen der medikamentösen Therapie lassen sich reduzieren, indem
man z.B. Komorbidität berücksichtigt, initial niedrig dosiert, dann langsam die Dosis steigert und eine niedrigstmögliche Erhaltungsdosis wählt.
4. Erfahrung
Medikamente werden seit Jahrzehnten bei Millionen von Patienten eingesetzt. Die Vagusnervstimulation ist
weltweit seit 16 Jahren in Gebrauch,
etwa 75 000 Patienten wurden bislang damit behandelt. Mit den anderen Verfahren hat man deutlich
weniger Erfahrung.
5. Mobilität
Auch Epilepsiepatienten wollen mobil sein. Ihre Medikamente können
sie überall kaufen und einnehmen.
Für den Einsatz und die Wartung
von Stimulationsgeräten sind sie an
spezielle Zentren gebunden.
5. Reversibilität
Medikamente haben ganz selten irreversible Nebenwirkungen. Bei den
Stimulationsverfahren ist dagegen
u.a. mit Hautnarben, bei der VNS
mit einem Kabel um den Vagusnerv,
das ein 7T-MRT unmöglich macht,
bei Thalamusstimulation und responsiver Neurostimulation mit
einer Trasse durch das Hirngewebe
zu rechnen.
6. Dosierungsdimensionen
Medikamente haben eine einzige
Dosierungsdimension, rauf oder
runter. Damit korrelieren der Blutspiegel und meistens auch Wirkung
und Nebenwirkung. Bei der Stimulation gibt es etliche Dimensionen,
die beeinflusst werden können –
Impulsbreite, Amplitude, Frequenz,
Dauer der On- und Off-Zeiten,
Stimulationsort. Prof. Bien: „Als
Wissenschaftler kann ich mir nicht
vorstellen, wie man Studien designen soll, die Auskunft darüber geben
können, was hier wichtig ist. Der
Punkt geht an die Medikamente.“
8. Syndrom- bzw. Ätiologiespezifität
Manche Antiepileptika wirken syndrom-, Everolimus und Immuntherapeutika ätiologiespezifisch (s.o.).
Bei den Stimulationsverfahren ist
dieser Anspruch überhaupt nicht
erfüllt. Für die Thalamus- und responsive Neurostimulation kann
man zumindest sagen, dass sie fokal
wirken.
Das Fazit von Prof. Bien: Klarer Sieger nach Punkten: die Medikamente.
Birgit Maronde
Quelle: 52. Jahrestagung der Deutschen
Gesellschaft für Epileptologie e.V.
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