1 1. VORLESUNG / 8.3.2000 / Gabriel Arbeit abschicken bis Anfang

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1. VORLESUNG / 8.3.2000 / Gabriel
Arbeit abschicken bis Anfang WS 2000/01 an:
Prof. Gabriel
c/o PKB
Baumgartner Höhe 1
1140 Wien
+ frankiertes Rückkuvert und so viele Zeugnisse, wie ich brauche
_____________________________________________________________
Symptom = Merkmal entweder berichtet oder beobachtet
Im SS: komplexere Störungen = Syndrome (= Vergesellschaftung einzelner Symptome)
Syndromatologisches Inventar zur Wahrnehmungen einzelner Syndrome = diachron
betrachtet erstaunlich gleichgeblieben (trotz aller neuen statistischen Methoden; einziger
Unterschied = dysphorisches Syndrom /hostile syndrome)
Lange TRADITION, die versucht, alle Symptome eines Patienten unter einen Hut zu
bringen,
ABER:
oft ist es so, daß Patient 2 Krankheiten hat, die nichts miteinander zu tun haben
= KOMORBIDITÄT (= 2 Krankheiten gleichzeitig bei 1 Patient)
-> auch in Psychiatrie, z.B. ab 3. Lebensjahr manisch-depressive Erkrankung in höherem Alter kommt Demenz dazu (-> 2 Krankheiten, die nichts
miteinander zu tun haben; Phänomene dieser Krankheiten können sich
gegenseitig beeinflussen; z.B. kognitive Beeinträchtigungen bei depressiver
Episode -> Kompensation)
HEUTE: andere Definition von Komorbidität:
= gleichzeitiges Vorkommen verschiedener Störungen
Extremfall: gleichzeitiges Bestehen einzelner Merkmale
auf Symptomebene gleichzeitiges Bestehen von 2 deskriptiv unterscheidbaren
Merkmalsgruppen, egal, ob sie pathogenetisch zusammenhängen und ob dahinter
unterschiedliche Ursachen stecken
-> Folge: * Studien über Komorbidität von Depression und Angst (= eigentlich Unfug
in diesem Zusammenhang von Komorbidität zu reden)
* Studien über Eßstörungen: gleichzeitiges Vorkommen von bulimischen
Störungen und subsyndromalen Störungen (d.h. nur bulimische Elemente
ohne das Vollbild der Bulimie) -> ist KEINE Komorbidität
Fazit: Mediziner können kein Latein mehr!
Jede Störung hat Merkmalsprofil mit verschiedenen Schwerpunkten.
Daneben gibt es syndromale Gestalten, aus denen eine weitere Störung entsteht
(= Störung 2. Ordnung, sekundär aus der Primärstörung entstanden)
-> kann zu Problemen mit der Klassifikation führen.
Patient kommt zu bestimmtem Zeitpunkt zum Psychiater;
Störung des Patienten begründet dessen Zuständigkeit.
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ABER:
Psychiater arbeitet nicht an Störung, sondern am Patienten, indem er
versucht, die Merkmale der Störung zurückzudrängen.
Partner des Psychiaters ist nicht die Störung, sondern der von ihr betroffene
Patient!
Patient hat aktive Rolle in multiprofessionellem System.
=> Patient muß ernst genommen werden (was und wie er es formuliert; äußert Ich-Sätze);
gemeinsames Aushandeln von Zielen, die erreicht werden sollen.
Voraussetzung für das Sprechen in Ich-Sätzen = Bewußtsein des eigenen Ichs!
Bewußtsein setzt Wachheit voraus (Bewußtsein entspricht Bewußtseinslage);
vgl. hypnagogischer Sprachzerfall beim Einschlafen
ENTWICKLUNG DER ICH-PSYCHOLOGIE:
* Heinz HARTMANN
* Leo BELLAK (-> praktische Anwendung -> Werk über die Ich-Funktionen bei Gesunden,
Schizophrenen und Neurotikern)
Ich-Funktionen nach BELLAK:
1. Realitätsprüfung
2. Urteilsbildung
3. Wirklichkeitssinn
4. Regulierung von Trieben, Affekten und Impulsen
5. Objektbeziehungen
6. Denkprozesse
7. adaptive Regression im Dienste des Ich
8. Abwehrfunktionen
9. Reizschwelle
10. autonome Funktionen
11. synthetisch-integrative Funktionen
12. aktive Lebensbewältigung und subjektive Kompetenzeinschätzung
=> daraus ergibt sich eine Fülle von Aufgaben, Funktionen und Fertigkeiten
* Luc CIOMPI (Prof. in Bern) und DAUWALDER haben Bellaks Forschungen umgesetzt
in Erhebungsinventar, ebenso
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* Christian SCHARFETTER (-> Psychopathologielehrbuch)
= > Ich-Sätze in eine Ordnung gebracht, auf wenige Begriffe reduziert und in einen
inneren Zusammenhang gebracht.
von innen nach außen = vom Leibnahen zum kulturell Beeinflußten;
die weiter Inneren durchdringen die Äußeren.
Schema von Scharfetter:
Ichstärke
Konsistenz
Aktivität
Vitalität
Demarkation
Identität
Selbstbild
1. Ich-Vitalität:
= Vitalgefühl. Wir erfahren uns bei vollem Bewußtsein als lebendig, leibhaftig
anwesend. -> „Ich kann über meinen Körper verfügen und bin lebendig.“
Schwer beeinträchtigt z.B. bei diversen Störungen => Selbstverletzungen, um zu
spüren, daß man überhaupt lebt.
2. Ich-Aktivität:
Dem Gesunden ist es selbstverständlich, daß er selbst es ist, der lebt, erfährt,
wahrnimmt, fühlt, gestimmt ist, denkt, spricht, sich bewegt, handelt.
Wir = actores, eigentätig (eigenmächtig) in unserem Verstehen und Handeln.
Bei Störung: z.B. jemand anderer beeinflußt meine Gedanken
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3. Ich-Konsistenz und Ich-Kohärenz:
= Beschaffenheit, Kontinuierlichkeit, Zusammenhalt (Kohärenz). Wir erleben uns
als eine Einheit, auch wenn uns Zwiespältiges zu schaffen macht (vgl. Faust: „Zwei
Seelen wohnen ach in meiner Brust“). Wir erfahren uns als Einheit von bestimmter
menschlicher Beschaffenheit, als zusammengehörig in unserem Selbstsein.
4. Ich-Demarkation:
= Unterscheidung zwischen Ich und Nicht-Ich; in Zusammenhang mit
Realitätskontrolle!
Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich kann sein:
* Mauer (-> Autismus, Isolation)
* zerbrochen -> hilfloses Ich wird vom Nicht-Ich überschwemmt
5. Ich-Identität:
ist nicht trennbar vom Leibgefühl. Ist Bewußtsein der eigenen Identität und
Kontinuität (Selbigkeit) trotz Wandels von eigener Gestalt und Umweltgestalten
im Lebensablauf.
Dazu gehört Zeiterleben; darauf beruht Entwicklung des Selbstbildes (wie sehe ich
mich) -> Selbstwertgefühl beruht darauf.
Was nicht ins Konzept vom eigenen Selbst paßt, wird ausgeblendet in
Selbstwahrnehmung (Skotom)
6. Ich-Stärke:
= Resultat aller dieser Dimensionen. Dazu gehören Durchsetzungsvermögen,
Standfestigkeit, etc.
2. VORLESUNG / 16.3.2000 / Gabriel
PATIENTIN
40 Jahre, 3 Kinder, 6-12; jüngstes = Sohn und „Spiralenkind“ -> unerwünschte
Schwangerschaft von Seiten des Mannes (ist 7 Jahre älter als sie); Frau bekommt Kind
trotzdem; während Schwangerschaft: Mann nimmt Frau nicht mehr an, kein Sex, keine
Zärtlichkeit. Mann = immer cool, da von zu Hause aus so erzogen. Kind kommt auf die
Welt, machen vorher alle Tests, um Behinderung auszuschließen
Kind kommt zur Welt, nach 10 Monaten geht Mann allein auf Transatlantikreise -> Frau
fürchtet sich, daß ihm etwas passieren könnte (und sie allein mit drei Kindern dasteht);
Mann kommt wieder heim -> normales Familienleben
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Kind = 5 Jahre -> Mutter bekommt Depressionen (Orientierungslosigkeit; Ängste, vor
allem allein in Geschäfte zu gehen, Appetitlosigkeit und Freßanfälle im Wechsel);
bekommt Medikamente; Frau besteht auf Reise, um aus allem herauszukommen; fliegen
nach Amsterdam -> setzt dort Medikamente ab. Mann nimmt mehr Medikamente => wenn es
ihr schlecht geht, geht es ihm gut; Frau lehnt Medikamente von vornherein ab -> mußte sie
nehmen; war belastend, aber OHNE wäre es nicht gegangen. Trinkt nebenbei Nerventee und
homöopathisches Zeugs.
Schon 1999 in Therapie; Frau gehts gut dabei, Mann macht es ihr herunter. Frau ist abert
enttäuscht von Therapie, weil sie sich erwartet hätte, ohne Medikamente leben zu können,
was aber nicht ging.
Jetzt zum ersten Mal stationär im AKH. Lebte ab Weihnachten ohne Medikamente;
grauenhaftes Weihnachten (Riesenstreiterei; Mann bereitet Fest vor, Kind will nur
Geschenke, sonst nix -> gegenseitige Schuldzuweisungen; anschließend fahren sie auf
Schihütte in der Steiermark. Sind relativ vermögend (Mann = Unternehmer; großer Besitz in
NÖ und Stmk.) -> alle hätten gern miteinander gesprochen. spulen aber nur ihr Programm
herunter; Mann verweigert Gespräch. Frau nimmt Medikamente -> bekommt
Schlafstörungen und Visionen (z.B. träumt, Schwiegervater übermittelt ihr Botschaft ->
Anrufe bei Verwandten frühmorgens). Hört Stimmen: diktieren ihr etwas.
Anruf von altem Jugendfreund, wollte bei ihm Reiki-Sitzung machen; er weist sie auf
Kleinen Prinzen hin -> liest ihn und ist total fertig, vergleicht ihre alten Tagebücher damit ->
glaubt, er wäre in sie verliebt -> offenbart sich ihm -> er mag nicht
Fährt mit Mann auf Urlaub in Semesterferien ohne etwas hergerichtet zu haben -> muß
ständig alles, was ihre Stimmen diktieren auf Zettel schreiben. Hat Gefühl, jemand wäre in ihr
und lasse sie nicht schlafen.
Geht nach Zeugnisverteilung mit Kindern zu McDonald’s -> Chef dort war derjenige, der
ihr die Botschaften diktiert hat -> dieser streitet es aber ab. Anschließend mit Kindern im
Park, Frau fühlt sich von allen beobachtet, läuft wie wild herum -> dabei wird Kopf frei;
toben alle im Park herum.
Familie fährt auf Schiurlaub -> sehr viele Verzögerungen -> Frau hält sie für Tests, ob
sie sich gegen ihren Mann aufzulehnen traut.
Riesenkrach auf Fahrt -> Mann und Frau brüllen einander an mit fremden Stimmen (!).
Frau sieht davor immer wieder rote Autos, die mit ihr auf gleicher Höhe fahren -> Fahrer
schauen sie an -> wollen ihr Stärke und Durchsetzungsvermögen geben
Riesenkrach -> Mann steigt auf der Fahrt aus, Frau fährt mit Kindern allein weiter (Kind hat
eingekotet); alle Leute helfen ihr (glaubt sie alle zu kennen); einer fährt ihr sogar Auto auf
den Berg, weil sie sich nicht Steilstück zu fahren traut.
[Anmerkung von mir: Frau hat immenses Bedürfnis, ihre Geschichte zu erzählen; bleibt
nach dem Gespräch auch im Hörsaal, um Gabriel weiter zuhören zu können...]
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Frau hat offenbar starke Beziehung zu Mutter. Nach Ankunft auf Schihütte, Freunde schon
dort, staunen, daß Mann nicht da. Frau will Mutter anrufen (ist so üblich sich ständig zu
melden...) -> geht mit Handy ins Freie, um besseren Empfang zu haben. Geht immer weiter
in den Wald; erhält Befehl über Handy, sich mitten im Wald nackt auszuziehen und in
den Schnee zu legen -> tut das... Mann von der Bergrettung rettet sie schließlich (glaubt aber,
er wäre auch irgendsoein seltsamer „Beschützer“ gewesen; auch Hüttenwirt spielt ähnliche
Rolle)
* Bekannte Familie hatte Kind, das ein Jahr zuvor in Biotop ertrunken ist. Frau war dabei,
konnte es nicht retten -> Frau hat Schuldgefühle!!!
* 1998 Freundin wurde von deren Mann ermordet!!!
Ansicht der Patientin zu all dem:
Bezeichnet sich als eine Art Medium; irgendjemand will durch sie Infos weiterleiten.
Stimmenhören passierte eher auf gedanklicher als auf akustischer Ebene [Gedankeneingeben].
Führt vieles zurück auf Beziehungsprobleme (Mann lebte immer sein Leben, sie steckte
immer zurück.
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Gabriel dazu:
1) Frau jetzt 1. stationärer Aufenthalt, davor langer Leidensweg mit phasischem Verlauf
-> aber ständige Zweifel, ob das das Wahre ist.
2) Dazu unterschiedlich = Ausnahmezustand, der nicht ihrem Habtualzustand entsprach.
D.h. beide Arten von Zuständen = unterschiedlich. Depressive Zustände sind eher die
phasenhaften Zustände; für Ausnahmezustand hat Patientin kein Attributionsmodell.
3) Verzahnung der depressiven Zustände der Frau und des Mannes: er down, sie high
und umgekehrt. Ursache sieht Frau im Problemprofil ihrer Beziehung. Unterschiedliche
Einstellung zu Medikamenten bei Frau und Mann.
4) Patientin erwartete sich vom Therapeuten, daß er helfen würde -> durch Lösung der
Probleme sollten Depressionen verschwinden (hatte rezidivierende depressive Zustände).
Weckung von Erwartung aufgrund von durchaus begründeten Hypothesen
Î Erwartungen konnten aber nicht erfüllt werden -> Enttäuschung in beiden Partnern
(vgl. Lehrer!!!). Therapeut ist genauso enttäuscht, daß, obwohl er sich so angestrengt
hat, nichts herausgeschaut hat.
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5) wichtig = Unterscheidung von Symptomebene und Problemebene
(Beziehungsproblematik -> die zum Teil eskalierte; trotzdem konnte Auftauchen des
Mannes von Frau als positiv erlebt werden; während AKH-Aufenthalts unternahm Frau
mit Familie gelungenen Familienausflug; es gelang ihr eine blöde Bemerkung, die ihr
herausrutschte und Mann fast wieder auf die Palme brachte, ins Harmlose zu wenden
(eigene Anstrengung!). Problem bei Beziehung ist, daß sie immer noch positiv erlebt
wird; Beziehung, die NUR mehr negativ erlebt wird, ist leichter zu lösen
Positiver Focus:
* positive Beziehung zum Mann
* Gestaltung der Beziehung so, daß man auch auf eigene Kosten kommt
* Anstrengung, um dieses zu erreichen
* Beziehung zu sich selbst als Körper und ob ich auf meine Rechnung
kommt hinsichtlich der Rollen (vgl. 3. Schwangerschaft -> Frau hat
sich durchgesetzt und ist zufrieden damit)
Ausnahmezustand ist nicht abgeschlossen, Patientin hat noch kein Modell dafür
vgl. rote Autos -> Schutzmotiv für eigenes Ich -> Schutzbedürftigkeit des Ichs. Kann sich zu
Nicht-Ich nicht so einfach abgrenzen!
Was mir sonst noch auffiel:
* Patientin ist sehr eloquent; machte Eindruck froh zu sein, über alles erzählen zu können;
wollte erzählen -> achtete darauf, daß sie schön brav ins Mikro sprach
* Patientin blieb im Hörsaal, lauschte interessiert Gabriels Ausführungen (doctor shopping?)
* eigentümlicher Gang der Patientin -> irgendwie steif, ähnlich wie Parkinson-Patient ->
könnte sie Schizophrenie haben und Medikamente nehmen, die ihr das Dopamin
beeinflussen?
PSYCHOPATHO -VORLESUNG / 11.5.2000
EUTHANASIE IM DRITTEN REICH UND HEUTE
3. Reich:
Tötung von „nicht-lebenswertem Leben“
-> es gibt KEIN nicht-lebenswertes Leben!
Aber: vgl. heutige Euthanasie-Debatte dazu (wann darf getötet werden?)
=> im Alter, wenn das Leben zu Ende geht, soll es die Möglichkeit geben, das Leben
früher als es spontan enden würde zu beenden. Derzeit sehr kontroverse
Diskussion;
ähnlich dazu:
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=> am Anfang des Lebens -> Abtreibung (Abbruch einer frühen Schwangerschaft /
Frage: Ist das schon ein Mensch?).
Gesetzlich erlaubt = im 1. Trimenon; Grund = oft: pränatale Diagnose hat ergeben,
daß Kind krank zur Welt kommt, bzw. ein Risikokind sein könnte. Späterer
Abbruch ist auch erlaubt, wenn pränatale Diagnose zeigen würde, daß Fötus krank /
behindert zur Welt kommen könnte.
Aber: im Dritten Reich behördlich verordneter Tod;
Argumentation = ähnlich (Ein solches Leben = Last für die unmittelbar Betroffenen,
bzw. für die, die ihn betreuen müssen, da er nicht selbständig leben kann.)
Frage: „Ist es wert zu leben?“ stellen alte Menschen oft selber, weil sie durch ihre Krankheit
zu sehr beeinträchtigt sind (-> Freiwilligkeit der Entscheidung. Betroffener äußert Wunsch
von sich aus ständig -> erscheint akzeptabel, weil man Last, die dieser Mensch bedeutet nicht
tragen kann / will)
In Österreich:
Euthanasie = verboten;
in den Niederlanden: Euthanasie = erlaubt, weil dafür (für bestimmte Fälle unter bestimmten
Bedingungen) Strafgesetz außer Kraft gesetzt wird. Allerdings werden
diese Regeln nicht immer vollständig eingehalten.
Ständige Äußerung des Wunsches zu sterben als Bedingung = oft nicht
einhaltbar, weil Betroffener diesen Wunsch gar nicht mehr äußern kann
-> Wunsch wird von ANDEREN geäußert;
in den Niederlanden überdurchschnittlich viele dieser so Getöteten
= Behinderte...
Euthanasie im 3. Reich: logistisch bis ins kleinste Detail geplant; war staatlich verordneter
Mord.
Ausgangspunkt = gegenwärtige Euthanasie-Diskussion / Schwangerschaftsabbruch;
Rückblick zu Euthanasie im Dritten Reich; vorher: Gab es bahnende Faktoren, die diese
Entwicklung begünstigten? (z.B. in Krankheitslehre); inwieweit wirken diese auch auf die
Situation heute?
Merke:
Behinderte waren die 1. Population, die ermordet wurde!
Hartheim bei Linz als Generalprobe für Auschwitz, etc. (zum Teil unter
Einsatz desselben Personals)
Nazizeit:
heute:
Euthanasie = Mord
Euthanasie = aktive Sterbehilfe; Mitleidsmotiv, Erlösungsmotiv spielt bei
Überlegungen IMMER eine Rolle
-> betroffene Person steht im Vordergrund; Wunschäußerung
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3 Arten, auf die Menschen umgebracht wurden:
1. Aktion T4
2. Kindereuthanasie
3. „wilde“ Euthanasie
ad 1) DIE AKTION T4
= benannt nach „Tiergartenstraße Nr. 4“ in Berlin
-> Postadresse einer Zentralstelle zur Tötung von Geisteskranken und Behinderten;
* ab 1939/40 unter Berufung auf Führerbefehl (d.h. es gab für alle diese Maßnahmen KEINE
gesetzliche Grundlage (ABER: für Sterilisierung gab es gesetzliche Grundlage -> zwecks
Vermeidung von Erbkrankheiten). Hitler sollte Gesetz erlassen, lehnte aber ab, weil so ein
Gesetz während des Krieges unter der Bevölkerung zuviel Aufruhr bewirken würde
(-> Mehrheit der Bevölkerung hat dies NICHT getragen!). Führerbefehl wurde zurückdatiert
auf 1. September 1939 (erließ ihn aber erst Ende 1939);
* Inhalt: bestimmte Ärzte werden ermächtigt, im Fall nach strengster Prüfung unheilbarer
und zum Tod führender Erkrankung den Gnadentod zu gewähren.
(ABER: Menschen, die betroffen waren, waren weder unheilbar krank noch todkrank,
hätten sehr wohl weitgehend selbständiges Leben führen können...)
* Durchführung:
binnen kürzester Zeit Errichtung einer Bürokratie;
hauptsächlich erfaßt wurden Insassen von Psychiatrien
-> zentrale Erfassung mittels Meldebogens
-> Zweck: Verbringung in die Mordzentren (wie z.B. nach Hartheim:
war vorher Behindertenheim, zur Nazizeit NUR
Mordzentrum)
In Wien gab es 2 Psychiatrische Krankenhäuser, das größte war der Steinhof (heißt
geographisch „Baumgartner Höhe“; Steinhof und Spiegelgrund = Flurnamen)
Kommission aus Berlin -> unter Berufung auf kriegsbedingte Notwendigkeiten
Erfassung der mehr als 4000 Patienten in kürzester Zeit /Anfang 1940)
-> noch im Frühjahr Deportation nach Hartheim (vom Steinhof ca. 3000 Patienten);
alles OHNE massiven Widerstand durch die Institution selbst (Aber: Bevölkerung
reagierte sehr wohl -> Unruhe)
Was konnte man tun? Verantwortliche waren zu obrigkeitsgläubig -> kein
Widerstand.
Was sie tun hätten können: * zurücktreten;
* die Aktion torpedieren (z.B. durch Streichung von den
Listen)
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Damaliger Direktor von Steinhof war KEIN Nazi (war ein Malteser, aus christlichem
Umfeld; aber: in Zwischenkriegszeit schon entsprechend vorbereitet...)
Patiententransporte erregten Unruhe in Bevölkerung
-> eine Frau fuhr sogar nach Berlin, legte in Führerkanzlei selbst Protest ein.
Nach 1 Jahr Laufzeit -> Einstellung der Aktion T4 -> Predigt des Bischofs von Münster
dagegen als Auslöser; Bischof Memelauer von St.Pölten tat dasselbe.
Insgesamt in Wien ca. 4000-5000 Ermordete in diesem Jahr!
ad 2) KINDEREUTHANASIE:
Gleichzeitig mit Aktion T4 Gründung eines Berliner Reichsausschusses für KinderEuthanasie; in sogenannten „Kinderfachabteilungen“; ca. 30-40 im ganzen Reich;
in Wien war eine der größten = Städtische Nervenklinik am Spiegelgrund (= selbständiges
Spital; dabei sehr großes Erziehungsheim unter Leitung eines Psychologen des Jugendamtes;
von hier kommen Zeitzeugenberichte in der Causa Dr. Heinrich Gross (von Alois Kaufmann
und Dr. Johann Gross)
Aufgabe der Kinderfachabteilungen:
* Diagnostik auf dem Stand der Zeit, d.h. Behinderung, Verhaltensauffälligkeiten wurden als
Krankheit gesehen, z.B. auch Bettnässer, Kinder mit autistischen Zügen -> dahinter liegt
Krankheit, keine Reaktion auf unbekannte Situation.
* Ziel dieser Diagnostik = Prognose für Entfaltungsmöglichkeiten dieser Kinder.
Wies sie auf „erbliche Krankheit“ hin -> keine Aussicht auf Besserung und / oder
schlechte Prognose für Verbesserung, dann über Berlin Tötungserlaubnis einholen ->
Tötung in Einrichtung selbst durchgeführt.
Nach 1945 Volksgerichtsprozesse gegen diverse Ärzte,
z.B. letzter Primar wurde hingerichtet; sein Vorgänger soll in russischem Lager
gestorben sein; diverse Haftstrafen
-> KEINE Rachejustiz, war streng aber gerecht (es gab auch Freisprüche)
In Wien über 700 Kinder am Spiegelgrund gestorben (die meisten davon wurden getötet)
ad 3) „WILDE“ EUTHANASIE:
Nach Einstellung der Aktion T4 wurden in einzelnen Häusern weiter Menschen umgebracht
(OHNE amtliches Brimborium..); auf unterschiedliche Weise (z.B. Dr. Gelni in Gugging
funktionierte E-Schockgerät zu Mordinstrument um...)
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Derzeit Dissertation dazu in Arbeit (Quellen = Akten -> sehr wenige erhalten, da vernichtet,
verjährt und dann vernichtet; dabei taten auch die Behörden mit...)
Ergebnisse dieser Dissertation:
In Psychiatrie starben viele aber auch durch systematische Vernachlässigung
(-> Hunger!)
* Nach Einstellung der T4 bis über Zusammenbruch des 3.Reiches hinaus starben
am Steinhof mehr als bei T4 deportiert
* durchgehendes Merkmal der Verstorbenen = schlechter Allgemeinzustand
(= Marasmus), sehr schlechter Ernährungszustand (= zum Teil Todesursache)
* Viele starben zuletzt an Infektionskrankheiten (-> schlechter Allgemeinzustand
begünstigt dies). Wichtigste Infektionskrankheiten damals waren TBS und Ruhr,
bzw. typhöse Erkrankungen
Institutionen waren total überfüllt (z.B. auch weil andere Einrichtungen hier errichtet
wurden -> z.B. auf dem Steinhof: Lazarett, Arbeitsanstalt für asoziale Frauen)
=> Von 1945 bis 1950 gab es Verfahren und auch Hinrichtungen.
=> Von 50 - 80 dagegen „Zeit des Schweigens“. Heinrich Gross wurde nicht verurteilt, da:
Verjährung (Totschlag nicht Mord...)
Frage: Gibt es in Lehre der Psychiatrie bahnende Faktoren dafür?
(deutschsprachige Psychiatrie war die führende in der Welt, niemand leistete
Widerstand, wieso?) Der einzige bedeutende Psychiater, der involviert war, war Carl
Schneider (Prof. in Heidelberg)
1) Motiv aus Therapeutik:
Wir müssen alles tun, um zu heilen. Ist ein Fall aber chronisch (d.h. Mensch hat
Einbuße in Alltagsfähigkeiten, die durch Betreuung ersetzt werden müssen),
dann: Leben = lebensunwert (d.h. nicht wert, daß derjenige in dieser
Gesellschaft lebt). Gesellschaft = Utopie einer gesunden / starken
Gesellschaft. Wer das nicht erfüllt, wird ausgemerzt (Sterilisierung, etc.)
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2) maßlose Überschätzung der Gültigkeit der damals noch jungen Genetik:
(Grundinstrumentarium war nicht wie heute die Molekularbiologie, sondern
Familienforschung:
überdurchschnittlich viele Kranke in einzelnen Familien
-> Fazit: das sind Erbkrankheiten
-> maßlose Überschätzung des Erbfaktors in der Krankheitslehre)
* Illusion, durch Verhütung des Nachwuchses solcher Leute kann diese
Krankheit ausgerottet werden
* Vernachlässigung der Chance gesund zu bleiben
ÄHNLICHKEITEN HEUTE:
* Suche nach den Genloci als Verursacher von Krankheiten:
Hoffnung hier genetisch manipulieren zu können (gentechnische Manipulationen)
-> kaum Phänomen an bestimmtem Genlocus festgemacht gefunden Aussage: Das ist
genetisch vererbt.
Gefahr: neue Technologien haben große suggestive Kraft -> Überschätzung
-> katastrophale Folgen drohen!
* wirtschaftliche Gründe für Therapie, etc.
(beginnt erst als Kriegsbeginn war; vgl. Rechenbücher mit Beispielen wieviel die
Verpflegung eines Schwachsinnigen kostet; -> aktive Tötung)
heute: riesen Kostendruck im medizinischen System vieler Länder,
z.B. in England Zugang zu bestimmten Therapien (z.B. zu Dialyse) für Alte
begrenzt -> Vorenthaltung medizinischer Leistungen
* Scheuklappentherapeutik heute:
Psychopathologie hat instrumentellen Charakter in sozialem Prozeß (das wird
aber nicht erkannt); Partner ist nicht die Krankheit, sondern der Patient!
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VORLESUNG / 18.5.2000
WAHN
(= komplexe pathologische Struktur)
Beschrieben werden muß:
1) einzelne Aufbauelemente, aus denen der Wahn besteht
2) Struktur des Wahns (Patient bringt als handelnde Instanz die Aufbauelemente durch
Auswand [= Wahnarbeit] in ein organisiertes Ganzes)
3) Inhalte, um welche es geht
Diverse Themen:
* eigene Gesundheit (Befürchtungen, an einer bestimmten Krankheit zu leiden, sie zu
bekommen, ohne Ereignisrealität dahinter)
* Beziehung zu anderen Menschen (Liebes- / Eifersuchtswahn)
* Wahn, der mit Ressourcen zu tun hat, über die man verfügt (z.B. Verarmungswahn,
Verfügungswahn = besonders bei Manikern „Ich kann mir alles leisten.“)
4) Hintergründe (biographische und Wahnbildung wächst aus der Verfassung des
Betroffenen heraus, d.h. Wahn hängt zusammen mit
* Biographie
* Lebensalter -> z.B. bestimmte Themen = besonders häufig in bestimmtem
Lebensalter bzw. mit lebensaltercharakteristischen Aufgaben
verbunden, z.B. mit Begründung von Beziehungen (Liebeswahn bei
Jüngeren, Eifersuchtswahn eher bei Älteren)
* Geschlechtsbeziehungen:
z. B. Liebeswahn ist typisch für junge Frauen, Eifersuchtswahn ist typisch für
mittelalterliche Männer, zumindest in unserer Kultur
Hintergrund: oft Alkoholismus, mit ca. 50 in sozialen Rollen und im
Selbstbild in Frage gestellt -> biographischer Hintergrund und
kognitive Beeinträchtigung wird anders nicht mehr geschafft
-> Wahn wird entwickelt (organisches Psychosyndrom)
Bei Abstinenz -> Distanzierung vom Wahn gelingt. (vgl. Studie
über Verlauf von Eifersuchtswahn der Alkoholiker unter
Abstinenz- und Rückfallbedingungen)
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FAZIT:
a) Wahn ist keiner nosologischen Kategorie zugeordnet, es gibt ihn überall
-> Wahn ist grundsätzlich bei allen Formen psychischer Erkrankungen, sogar bei
psychogenen Störungen möglich.
b) Erkrankung, bei denen oft Wahn auftritt = schizophrene Erkrankungen, vor allem in
paranoider Form (= die häufigste), d.h. aber umgekehrt nicht, daß bei Auftreten von Wahn
eine Schizophrenie vorliegt.
c) Es gibt auch Wahnbildungen, die den Wahn schwerpunktmäßig haben (z.B. bei
Paranoia, wie von Kraepelin beschrieben); kognitive Leistungsfähigkeit kann durchaus
erhalten sein.
5) Beziehung des Wahnerlebens zum Erleben der Umwelt eines Menschen:
a) polarisierter Wahn: Wahnerleben und Umwelterleben des Betroffenen sind miteinander
verzahnt
b) juxtaponierter Wahn: Mensch fährt „zweigleisig“, d.h. er kann sich wahrnehmend und
handelnd auf die Umwelt beziehen, solange er nicht auf seinen
Wahn angesprochen wird. Wird er aber darauf angesprochen
-> Wahn ist da. (d.h. Wahn beeinträchtigt den Alltag des
Betroffenen)
c) autistischer Weltbezug: Betroffener = ganz in seinem Wahn gefangen, nimmt nicht
mehr Notiz von der Umwelt (Art könnte ein Artefakt sein;
dafür spricht: In heutiger Psychiatrie gibt es ihn nicht (früher
schon...) Lebensumstände spielen wesentliche Rolle
-> Betroffener muß Rückzug vornehmen.
PATIENT, MÄNNLICH:
ca. 25-30 Jahre alt, sitzt im Rollstuhl; sehr eloquent, wirkt sehr ruhig, auch motorisch
(Medikamenteneinfluß!)
Jetzt ¾ Jahr im Spital; bezeichnet seinen Zustand als „Psychose“ -> gibt an „Paranoia“ zu
haben -> Gefühl, daß Mitmenschen über ihn tuscheln;
Stimmenhören -> nur in bestimmten Situationen, dann, wenn es ihm „schlecht ging“. Dieses
Schlechtgehen = „seelische Übelkeit“ (Bezeichnung vom Patienten selbst)
Diesen Zustand erlebte er als sehr negativ; war nicht Angst, nicht Depression, sondern alles;
hat kein Wort dafür.
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Wahrnehmung der Stimmen löste Angst bei ihm aus. Manchmal konnte das Gerede
verstanden werden -> hat es oft aber mißinterpretiert (und als gegen die eigene Person
gerichtet empfunden -> Verfolgungsängste, Angst vor Folter)
Personen, die „tuschelten“, waren meist Nahestehende (Freunde, Familie, Pflegepersonal) ->
biographischer Hintergrund dazu: schlechte Erfahrungen mit nahestehenden Menschen.
Wahrnehmungen = sehr unanschaulich, können nicht in Worte gefaßt werden. Es macht ihn
ganz fertig, daß ihm die Leute auf den Leib rücken.
Krank ist er seit 7 Jahren, seit 4 Jahren in Behandlung; war in Gugging (dort bekam er einen
Namen für seine Krankheit, das empfand er als sehr positiv), im AKH fühlt er sich SEHR
unterstützt, er ist dankbar dafür.
ad Stimmenhören: kommentierende, dialogische Stimmen (überall, auch in vollbesetzter
Straßenbahn [-> illusionäre Verkennung?], vor allem unter Streß [d.h. für ihn: wenn er unter
vielen Leuten ist, wenn er keine Zeit hat.
Schlosser von Beruf (jetzt Pensionist) - als er erkrankte, war er Lehrling; besuchte die
Hauptschule, dann die HTL (Schulabbrecher nach 4 Jahren [also mit ca. 18!] -> wollte
eigentlich Krankenpfleger werden [warum ging er dann in die HTL???], ging nicht -> wurde
Schlosser (hat einen Abschluß); in Rehabilitation Praktika in Pflegeheimen und Spitälern;
wollte in Pflegeschule aufgenommen werden, weiß aber, daß das unrealistisch ist), möchte
auch Gärtner werden (wegen der Ruhe)
Gedanken des Patienten zu seinen Erlebnissen:
-> hielt sich für verrückt, wollte in Behandlung, wußte aber nicht, wohin; traute den
Psychologen seine Behandlung nicht zu.
-> Einsicht, krank zu sein, entwickelte sich erst später. Ausgangspunkt = Beziehungsprobleme
(Angst, betrogen zu werden; große Unsicherheit; Beziehung wurde als sehr belastend
empfunden), 2 Selbstmordversuche, Beziehung dauerte mehrere Jahre.
[Patient/Äußeres: sitzt im Rollstuhl wegen Beinverletzung; macht sehr langsame
Bewegungen]
-> Durch Verhalten seiner Freundin erkannte er, daß etwas mit ihm nicht stimmt, sträubte
sich vehement, in eine Behandlung zu gehen; allmähliches Mißtrauen gegen sich selbst
unter Einfluß der Freundin (durch sie richtete er Aufmerksamkeit auf sich selbst)
Gibt es Risikosituationen?
=> Zustand kann jederzeit wiederkommen, depressive Zustände überschneiden sich damit.
In Depression greift er zwecks Betäubung zu Alkohol -> verwendet ihn als Schlafmittel
(eventuell auch in großen Mengen), wird aber noch depressiver dadurch.
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=> Schlafprobleme
=> Kennt auch euphorische Zustände (fühlt sich derzeit in DER Richtung, weil er
Klinikaufenthalt als SEHR positiv erlebt)
=> war schon 1x im AKH wegen schwerer Panikattacken (Angst vor Kontrollverlust, hat
Angst plötzlich aggressiv um sich schlagen zu müssen; Herzrasen -> Medikamentenmißbrauch (5-10 Temesta!). In Rehab-Einrichtung im Kolpinghaus bekam er andere,
richtige Medikamente; hat Aversionen gegen Psychotherapie (hilft ihm nichts)
=> sieht keinen Zusammenhang zwischen Angstattacken und paranoiden Zuständen (außen
total ruhig / innen total unruhig -> dagegen hilft Herumgehen)
Heute:
zieht sich nicht immer rechtzeitig zurück, wenn ihm jemand auf den Leib
rückt; liegt meistens im Bett, raucht am Gang -> hört auch hier Patienten
über ihn tuscheln; verwendet Walkman gegen Stimmenhören. Im Zustand
-> Rückzug; hatte auch Angst, jemandem etwas tun zu können (war aber
noch NIE aggressiv gegen jemanden -> weil rechtzeitig Rückzug)
GABRIEL DAZU:
affektive Befindlichkeit des Patienten
= depressive Zustände, paranoide Zustände. Patient selbst nennt das „seelische Übelkeit“
[Patient = überhaupt sehr sprachgewandt]. Versteht darunter Mißbefinden, das dem seelischen
Erleben zugeordnet ist.
Diese „seelische Übelkeit“ = Grundlage für depressive Zustände (ist keine Depression und
Angst) und Angstattacken (dazu gehört NICHT: aggressive Impulse; dauert nicht mehrere
Stunden)
Depressive Phasen = häufiger, manische Phasen = seltener.
2 Schwerpunkte:
1) Mißtrauen gegenüber der Freundin (ist sich sicher seiner Gefühle ihr gegenüber,
umgekehrt aber nicht)
aber:
Beziehung = trotzdem so tragfähig, daß er sich sagen hat lassen, es stimme
etwas nicht mit ihm -> relativ früh wendete er auf sich selbst pragmatisches
Krankheitsmodell an („Mit mir muß etwas nicht stimmen.“) in Hinblick auf
diese Erlebnisse. Höchster Wahrnehmungsgrad =
-> Stimmenhören ( in Rede und Gegenrede; keine Stimme in direkter Rede)
Stimmenhören immer im Gedränge (körperlich und im übertragenen Sinn)
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-> Patient ordnet alles, was er als paranoid bezeichnet, ihm nahestehenden Personen zu
(entweder buchstäblich oder im übertragenen Sinn)
-> Nähe (= grundsätzliche und physische) macht ihm Probleme.
2) Seelische Übelkeit = auch im Normalbereich und mit besonderer Bedeutung (die tuscheln
über mich, die wollen mir Übles, was kommt da noch?
-> Zukunftsangst und schreckliche Vorstellungen (z.B. Folter); erlebt von verschiedenen
Leuten in verschiedenen Situationen Gleiches
Wieso kann er keine Verbindung zwischen den einzelnen Gruppen herstellen? (meist wird
das getan)
=> er hatte keine Zeit dafür, weil er dahinter kam, daß mit ihm selbst etwas nicht
stimmen könne (intrinsische Explikation) -> bekommt Modelle dafür angeboten
(Freundin) und konnte es auch annehmen -> ging nach Gugging.
=> sehr komplexes psychopathologisches Problem;
Folge: ihm muß mit komplexen Modellen begegnet werden.
zu beschreiben ist:
* einzelne psychopathologische Elemente
* zusammengebautes Ganzes
* Organisationsgrad
* allgemeiner psychopathologischer Hintergrund (= oft ein affektiver, aber auch
kognitiver)
* Weltbezug (polarisierter Weltbezug) kann sich gut distanzieren, hat auch
Handlungmöglichkeiten (weggehen) = vernünftige Taktik!
Im Ansatz organisierter Wahn (Thema Verfolgung; Beziehungsbeeinträchtigung,
aber nicht hochorganisiert = paranoides Syndrom im engeren Sinn; paraphrenes
Syndrom hätte daraus werden können.
erlebnisreich
hochorganisiert
wenig organisiert
erlebnisarm
paraphrenes Syndrom
unsystematische
Paraphrenie
paranoides Syndrom
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VORLESUNG / 25.5.2000
PATIENTIN MIT DEPRESSIONEN:
schneidet sich, verbrennt sich (-> Selbstverletzungstendenzen); verminderter Selbstwert;
problematisches Selbstbild; Grund laut Patientin = Familie
-> stammt aus Vietnam (aus Saigon / Umgebung); mit 6 Monaten adoptiert; Mutter =
Österreicherin, Vater = Australier. In Australien aufgewachsen mit drei anderen
vietnamesischen Kindern (sind aber keine Geschwister).
War schon immer depressiv; seit 1998 in Therapie. 28 Jahre alt; seit 10 Jahren in Österreich
(allein) zwecks Geigenstudiums; will jetzt ihren Job aufgeben wegen Depressionen. Glaubt,
Hauptgrund für alles = Adoption bzw. Identität als Vietnamesin. Will einmal nach Vietnam
zurück, auf der Suche nach den Wurzeln; weiß nicht, wo sie zu Hause ist (In Österreich nicht,
in Australien auch nicht -> hat eine Art Idealbild von Vietnam). Über eigenes Leben in
Vietnam weiß sie nur, daß sie mit 6 Monaten in Waisenhaus gebracht wurde; versuchte vor
einiger Zeit vietnamesisch zu lernen (Schuldgefühle? weil sie weg ist und andere dort
geblieben sind und es ihr besser geht)
Zustand:
will nur schlafen -> tagsüber ja, nachts Schlafstörung; nimmt Medikamente ->
Nebenwirkungen (Schwitzen, Angst, Agoraphobie); Aggressionen gegen sich selbst,
Menschenhaß gelegentlich.
Seit einer Woche im AKH. Haßt ihren Beruf, arbeitet bei Orchester in Linz (seit 1 Jahr
Mitglied des Bruckner-Orchesters). Lernte Geige wegen Eltern, möchte lieber Schriftstellerin
werden.
Zukunftsunsicherheiten -> soll sie in Österreich bleiben, nach Australien (mag sie nicht); lebt
bei alter Frau (diese hat Altersdepression) -> kommen nicht miteinander zurecht; lebt schon
seit 10 Jahren dort; Frau ist für sie ähnlich wie eine Großmutter.
Wenn sie aus dem Spital kommt -> kein Job, muß bei alter Frau ausziehen. Große
Erwartungen der Eltern. Mußte Geige spielen, obwohl sie das gar nicht wollte -> sagte das
aber nie, sondern fraß alles in sich hinein.
Wußte das alles schon vor der Therapie. Seit 8 Jahren hat sie diese Zustände. Hält Studium
aber nicht für verlorene Jahre, kann sich mit Musik aber nicht so ausdrücken wie beim
Schreiben. Kann derzeit keine Musik hören. Glaubt, eine bipolare Störung zu haben -> hat
auch euphorische Phasen.
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Vor AKH-Aufnahme „Nervenzusammenbruch“: Beim Spiel im Orchester konnte sie sich
plötzlich nicht mehr konzentrieren, konnte Noten nicht mehr lesen, lief aus Vorstellung,
sperrte sich auf Klo ein, weinte und schrie.
Ist lesbisch. Wollte mit Therapie herausfinden, wie das entstanden ist. Hatte Alpträume ->
Therapeutin schließt darauf, daß sie als Kind sexuell belästigt wurde. Sie selbst kann sich an
nichts erinnern, was vor dem 6. Lebensjahr passierte. Nach dieser Eröffnung der Therapeutin,
ist Patientin ausgezuckt. Bezeichnet diesen Zustand als Katatonie. In der Therapie wurde
daraufhin neues Problemfeld thematisiert und fokusiert, nämlich die sexuelle Orientierung.
Hatte auch heterosexuelle Kontakte, aber Männer sind für sie wie Plastikpuppen.
Will Schlaftabletten essen, aber nicht um sich umzubringen. Schneidet sich -> warum, weiß
sie nicht. Ziel dabei = das eigene Blut zu sehen. Hat Gefühl, keinen körperlichen Schmerz
fühlen zu können. Empfinden von Schmerz ist wichtig, weil sie fürchtet, überhaupt keine
Schmerzen empfinden zu können (-> Ablenkung von schwerer Faßbarem auf Körperliches
-> Vergewisserung, überhaupt noch etwas empfinden zu können)
„Selbstverletzung dient zum Sichtbarmachen der seelischen Schmerzen.“
Will sich aber NICHT umbringen. Hat noch viel vor -> z.B. einige ihrer Texte wurden schon
veröffentlicht -> empfindet Freude darüber (ähnlich wie Sonnenstrahlen)
Derzeit:
Umkrempelung ihres Lebens (Lebensentwurfsveränderung) -> Angst. Reaktion der Eltern
darauf: sind besorgt, sie will aber nicht mit ihnen reden und ist froh, daß sie weit weg sind.
Der ihr am nächsten stehende Mensch = Exfreundin und eine Schwester, die auch in
Österreich ist; diese besucht sie aber nicht, empfindet sie als Belastung, streiten sich dauernd.
Am Vortag wieder Selbstverletzung mit brennender Zigarette -> Anlaß war vorhanden;
möchte aber lernen, damit umzugehen.
Hatte März / April ein Hoch, befindet sich jetzt im Tief.
GABRIEL dazu:
Was hat diese Patientin?
=> depressive Zustände (bewirken bei ihr große Verzweiflung),
=> Angst (einerseits situationsbezogen, wie z.B. agoraphobische Zustände, andererseits auf
Perspektiven bezogen)
=> Schlafstörung (Bei Tag Rückzug in Schlaf; bei Nacht Einschlafstörung bis
Schlaflosigkeit)
Arbeitet aber während all dessen in ihrem Beruf und an sich selbst (Therapie)
-> Antriebsstörung dürfte keine herausragende Rolle spielen.
ABER: Suizidalität wird ausdrücklich verneint (hat viele Pläne)
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Hingegen: andere destruktive Akte (für sich nicht gefährlich?) Motive: zu affektiver Seite
der Zustände gehört, daß sie selbst nicht sicher ist, Gefühle zu spüren -> daher
Schnitte / Verbrennungen.
Gefühl während des Zustands = sehr unangenehm. Verletzung,
* um sich zu vergewissern, überhaupt etwas empfinden zu können
* um sich vom seelischen Schmerz ablenken zu können (eigentlich ein Widerspruch)
* körperliche Schmerzen, um das auszudrücken, was ihr anders nicht möglich ist, weil
Seelisches so schwer in Begriffe zu fassen ist -> körperlicher Schmerz = Symbol
dafür (vgl. „Ich will mein Blut sehen.“)
=> Diesem Zustand gegenüber steht ein Hochgefühl. Sie überlegt sich selbst: „Ist das eine
bipolare Störung?“ - man weiß das aber nicht.
Zustand ist über Jahre sich hinziehend, Wechsel innerhalb von einer Woche. Innerhalb des
Zustandes im Zusammenhang mit konkreten Ereignissen abwechselnde „Gefühle“
-> haben mit bestimmten Lebensbereichen zu tun:
* mit Beziehung (zu sich selbst, zu anderen; Beziehungsgeschichte)
* mit Lebensentwurf (Infragestellung von etwas, das mit großen Anstrengungen
aufgebaut wurde, aber es ist nicht alles offen -> Weichenstellung wurde schon
getroffen (lesbisch / will nicht mehr Geige spielen -> ziemlich radikale Abwendung,
kann nicht einmal mehr Musik hören; neue Perspektive = Schreiben (ist kein Einfall
nur so, weil ja bereits Texte publiziert wurden...)
* Wechsel von Partnerbeziehung -> Dominanz zu gleichgeschlechtlicher Beziehung.
* Problem „Wer bin ich?“ -> ausgelöst durch Fragen in Österreich nach ihren
Namensbestandteilen -> Identität geriet ins Wanken (in Australien noch nicht) -> wächst
mit Latenz -> Frage nach den Wurzeln. Suche nach biologischen Eltern ist nicht
wesentlich, sondern: Was bedeutet das Kürzel „Vietnam“? (Ich komme von dort, kann die
Sprache nicht, möchte sie aber gerne können -> Zugehörigkeit zu bestimmter Kultur:
=> familiäre Beziehung ist nicht rekonstruierbar
=> Angenommenwerden durch die Vietnamesen ist nicht vorhanden; sie gehört nicht
dazu (Ablehnung, weil ihre und deren Geschichte nicht gleich ist)
=> kein sprachlicher Zugang (versuchte es, es war aber zu schwierig). Dort will sie
ansetzen (sich verständlich machen können und dann Vietnam, in Augenschein
nehmen).
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Wie schaut’s aus mit den Wurzeln?
Es gibt in ihrem Leben sehr viele Leute (Beziehung zu anderen ist nicht das Problem -> vgl.
Beziehung zur Freundin, zur Schwester, etc. hat Steuerungsmöglichkeiten beim Umgang mit
anderen)
Problem = Umgang mit sich selbst:
Wer bin ich, wer möchte ich sein und werden? Ihr Lebensentwurf ist sehr stark
fremdbestimmt; diverse Erwartungen an sie hat sie erfüllt, hat Diplom als
Leistungsnachweis. Das ist ein Signal für die Eltern -> will sich jetzt von deren
Erwartungen lösen und etwas Eigenes versuchen.
Was ist pathologisch daran? Warum ist sie auf der Psychiatrie? Warum in einer
existentiellen Krise? (kann aber durchaus produktiv und kreativ damit umgehen)
* IHRE Einschätzung ist „Das ist etwas, das ich nicht allein schaffe, wofür ambulantes
Setting nicht ausreicht.
* will ins Spital (= typische Vorstellung der Leute: Wenn’s mir schlecht geht, gehe ich
dorthin, damit mir geholfen wird. Spital ist eine Institution, die Geborgenheit und
Rückzugsmöglichkeit bietet. Dort darf ich Kontakte ANDERS als normal leben.
Erinnerung an Zeit vor dem 6. Lebensjahr ist bei allen Menschen inselhaft und nicht
kontinuierlich. Sexueller Mißbrauch kann von ihr nicht verneint werden (kann es sich nicht
vorstellen, kann sich nicht erinnern. Wenn sie versucht, es sich vorzustellen, erschrickt sie ->
paßt nicht zum Bild, das sie von ihren Eltern hat. Hat Zweifel -> ihre Schwestern haben diese
zustände nicht.
Ist in psychosomatischer Station (-> Psychotherapie)
Fazit:
* Affektive Beschwerden unterscheiden sich von Stereotyp Depression; Depression ist
eng verzahnt mit Problematik, auch in Intensitätsschwankungen (Möglichkeit der
Bipolarität)
* Im Symptomprofil spielen Reaktionen darauf erhebliche Rolle
(Rückzug -> ist alltagsbehindernd; destruktive Akte; dysphorische erregte Akte
auf andere Menschen im einzelnen verständlich -> durch Intensität eventuell selbst
Symptome).
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* Alles eingebettet in ungewöhnliche Lebensentwicklung (steht nicht vor Sackgasse, hat
Perspektiven, mit denen sie aber nicht leicht zurechtkommt. Wechsel des Lebensentwurfs
ist
schwierig -> holt sich Hilfe; komplexe Problematik eines Menschen.
ABER: Mensch in solcher Krise könnte Risiko für manisch-depressive Störung haben
-> daher NICHT auf Möglichkeit einer Krankheit vergessen. Herumwandern
auf schmalem Grat zwischen Verleugnung und Überinterpretation. Es gibt
Lebenskrise und Psychopathologie und umgekehrt -> Hier ist beides
vorhanden.
VORLESUNG 8.6.2000
ANOREXIE UND BULIMIE
werden den psychosomatischen Krankheiten zugeordnet, obwohl es sich eigentlich um
Suchtkrankheiten handelt; in letzten Jahrzehnten rapider Anstieg
-> „Schönheitsideal“ heute.
Entstehung:
Schlankheitsideal
Selbstunzufriedenheit
Diät
Gewichtsverlust
Fasten
Erbrechen
Abführen
Angst vor
Dickwerden
Schuld, Scham, Ekel
übermäßiges
Essen
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ad Selbstunzufriedenheit: Minderwertigkeit, Insuffizienzgefühle = einer der
Zentralkonflikte, d.h. mit nichts zufrieden sein können -> Suche nach Orientierung (vgl.
„Wenn ich bestimmtem Schönheitsideal entspreche, dann bin ich etwas.“)
Minderwertigkeitsgefühl wird auf den Körper projiziert -> Unzufriedenheit wird nicht
intrapsychisch erlebt, sondern auf Körper übertragen.
Wird Abnehmen eine genug lange Zeit durchgeführt, kommt man in einen Regelkreis, damit
beginnt die Psychopathologie. Bis dahin = Patient völlig unauffällig (brav, fleißig, in der
Schule tolle Noten, usw.). Eßstörung ist eine Art verspätete Pubertät, ein Versuch sich
abzugrenzen.
=> psychischer UND physiologischer Regelkreis (Körper weiß nicht mehr, ob er hungrig
oder satt ist -> daher bei Bulimie Überessen, bei Anorexie überhaupt nicht mehr essen)
Wahrnehmung nur mehr über den Körper, nicht über innere Befindlichkeit („Weil ich
heute 1kg mehr wiege, fühle ich mich schlecht.“) = Reduktion auf sich selbst, Versuch
autonom, unabhängig von den anderen zu sein (-> kein Verlangen mehr, kein Verlangen nach
Gesellschaft; Betroffener hat eine Art Hochgefühl, ähnlich dessen, das auch Jogger erleben ->
hängt zusammen mit der Endorphinausschüttung).
Anorexia nervosa (Magersucht)
ICD-10 und DSM-IV enthalten wenig Psychopathologisches.
1) Körpergewicht unter 15% des erwarteten Gewichts
2) Gewichtsverlust durch Diät, Erbrechen, Laxantien, Hyperaktivität, Appetitzügler oder
Diuretika
Psychopathologisch relevant =
Anorexie ist eine
3) Körperschemastörung (Essen nur noch nach 80km auf dem Heimtrainer; Essen als
Belohnung, etc. Perfektionismus -> auch wenn Großes geleistet wird externe Attribuierung,
z.B. Prüfung = zu leicht, das einzige, was zählt, ist das Gewicht („Abitur kann jeder
machen, aber nicht mit 34 kg.“)
4) weight-phobia: starke Angst vor Gewichtszunahme wird auf Körper projiziert; Angst ist
abgespaltet von mir selbst -> mein Körper macht mir Angst. Je weniger
man wiegt, umso ärger wird die Angst -> daher: Riesenangst vor der
Therapie
-> kein Krankheitsgefühl und keine Krankheitseinsicht („Krank sind
meine Eltern, ich könnte jederzeit essen.“)
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5) zwanghafte Ritualisierung des Tages (Anorektiker fühlen sich verloren, es gibt keinen
Halt mehr, auch nicht in der Familie, weil diese nicht umgehen kann mit Anorexie und nur
Angst um den Patienten hat)
* minutenmäßige Einteilung des Tagesplanes gibt Gefühl des Haltes (zwanghafte
Einteilung des Tages bis auf die Minute). Anorektiker muß pausenlos beschäftigt
sein, sonst Gefahr sich selbst wahrzunehmen -> Vermeidung der eigenen
Wahrnehmung
Merke: Anorektiker brauchen SEHR lange zum Essen, weil sie alles total zerkleinern.
Sinn: Anorektiker muß ständig die Kontrolle haben.
* Verlust jeglicher Spontaneität; Nahrung ist nicht mehr Lust und Genuß, sondern
nur mehr Kalorienzählen (Nahrung = auf Zahl reduziert) -> Anorektiker brauchen
sehr lange zum Einkaufen, weil sie sich nicht entscheiden können.
* Anorektiker sind sehr ernste Menschen;
* Anorexie hat eventuell mit Vaterbild zu tun (Väter sind meist sehr leistungsorientiert,
Mütter mit der Erziehung der Kinder überfordert)
* Viele Anorektiker wiegen oft unter 30kg.
* Anorexie = ichsyntone Störung (daher keine Krankheitseinsicht!),
d.h. „ich bin Anorexie“ = „ich beziehe mein Ich über die Krankheit.“
-> Symptome werden nicht als fremd erlebt. Behandlung würde bedeuten, daß man
mir mein Ich wegtherapiert -> Folge: Dann bin ich nichts mehr.
=> Wenn sie körperlich schwach werden (Kreislaufstörungen, etc.) -> gehen sofort in
Therapie, weil sie ihre Autonomie verloren haben.
=> Gehen auch in Therapie bei Konzentrations- / Merkfähigkeitsstörung (Hirn wird
durch Hungern kleiner, ist aber individuell) -> Verlust der Kontrolle über meine
Autonomie droht!
Ab ca. 45kg haben Frauen keine Regel mehr -> aber bei ½ der Patienten fällt Regel schon
vorher aus, dann erst beginnt das Hungern)
=> Selbstvorwürfe, despektierliches Umgehen mit sich selbst
=> Horten von Lebensmitteln (ist typisch für Sucht, vgl. Alkoholiker!); nicht wird
weggeworfen (-> sparsam und geizig)
=> Am schlimmsten ist für einen Anorektiker die Normalität (fühlen sich dann als ein
Nichts, wie ein Sandkorn in der Wüste)
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=> Zusammensein mit Freunden ist leere Zeit,
=> Anorektiker muß immer Höchstleistungen vollbringen, sei’s beim Studieren oder im
Sport.
=> Essen ist verboten; wenn gegessen wird -> Gefühl von Scham, Schuld, Ekel.
=> Warum mehr Frauen betroffen sind: Frau darf von Kleinkind an vieles nicht, was Mann
darf; muß vor allem schön sein; anorektische Männer sind meist sehr trainiert -> zerstören
sich die Gelenke durch Übertraining)
Bulimia nervosa (Eß-Brechsucht)
Patienten sind oft normalgewichtig; Krankheit ist von außen nicht erkennbar.
1) andauernde Beschäftigung mit Essen:
Freßattacken, bei denen große Mengen Nahrung in sehr kurzer Zeit konsumiert werden
-> Bulimiker sind triebhafter (Freßanfälle = Triebdurchbrüche), abhängiger als
Anorektiker.
2) entgegensteuernde Verhaltensweisen:
* Erbrechen
* Laxantienabusus
* Diät
* Appetitzügler, Schilddrüsenhormone, Diuretika
3) weight phobia (eventuell weniger stark als bei Anorektikern). Keine soziale Isolierung;
Bulimie ist eine heimliche Sucht, Bulimiker erscheinen nach außen hin angepaßt;
Schuldgefühle und Minderwertigkeitsgefühle; Gefühl der inneren Leere.
=> Anorexie und Bulimie können ineinander übergehen
(ca. 30% von Anorexie zur Bulimie)
Merkmale:
* wiederholte Episoden von Freßanfällen (große Nahrungsmengen in kurzer Zeit)
* Eßverhalten kann während eines Freßanfalls nicht unter Kontrolle gehalten werden
* gegessen werden leicht gleitende Nahrungsmittel, Schinken, Weißbrot,...
* Maßnahmen zur Verhinderung einer Gewichtszunahme
* mindestens 2 Freßanfälle pro Woche über drei Monate hinweg
* andauernde, übertriebene Beschäftigung mit Figur und Gewicht
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Sucht geht bei Bulimie bis zur Beschaffungskriminalität (um sich die Rieseneßmengen
leisten zu können)
Bulimie wurde 1980 von der Anorexie getrennt, relativ neue Krankheit (Anorexie gibt es
schon seit ca. 1860 -> Kaiserin Elisabeth als Trendsetterin -> vgl. Schönheitsideal bei Rubens
und heute)
=> Bulimiker = sehr autoaggressiv (vgl. Folgen des Kotzens und der Abführmittel),
empfindet extreme Schuld-Scham-Ekel-Gefühle vor sich selbst..
=> Manche essen tagsüber nichts, haben dann Freßattacke abends (soziale Isolation -> man
kann abends nirgendwo hin, weil man seinen täglichen Freßanfall hat...)
Anorexie:
Bulimie:
10-12% tödlich (= gefährlichste aller psychischen Erkrankungen inklusive der
körperlichen Erkrankungen)
ist noch nicht bekannt (man kennt sie ja erst seit 20 Jahren)
Von Anorexie bleibt nichts zurück (Ex-Patientin kann Kinder bekommen, etc.)
Bei Bulimie: Zahnstatus ändert sich; Verätzungen der Speiseröhre; Aussehen verändert sich
(Kaugummi, Hamsterbacken)
Bei chronischem Verlauf:
* Anorektiker pendeln sich auf Untergewicht ein,
* bei Bulimie wird die Quantität der Freßmenge geringer
=> Effekt des Ausgebranntseins.
Therapie: Dauer 3-5 Jahre und länger (für beide)
VORLESUNG 15.6.2000
PATIENTIN MIT EßSTÖRUNG
20 Jahre alt; will jetzt nach der Matura anfangen zu arbeiten.
Grund für Klinikaufenthalt:
* Schwierigkeiten mit dem Essen
* Schwierigkeiten mit Entscheidungen
* Schwierigkeiten mit den Mitmenschen
Seit sie ganz klein ist, weiß sie nicht, was sie auf Frage „Was möchtest du?“ sagen soll; eher
problemlos, wenn ihr ein Vorschlag gemacht wird.
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Dauer = ca. 6 Jahre; Anfang schleichend; durch Schwester (3 Jahre älter), die meinte, sie wäre
zu dick; Patientin macht ihr das Abnehmen nach. Schwester hatte Anorexie.
Wie erlebte die Patientin das? -> Nicht-Essen der Schwester störte sie, wollte es ihr
nachmachen.
Mutter: „Iß doch DU, sei DU doch gscheit...!“ -> Patientin ißt noch weniger. Mit 16 schon
einmal stationär im AKH; niedrigstes Gewicht 32kg im Jahr 1996 (Größe = 1,62); hatte noch
nie eine Regel.
Eßverhalten:
kann sich nicht entscheiden, was sie essen soll; dann Frust, wenn allein zu Hause (Mutter in
Arbeit; Patientin möchte sie bestrafen) -> Nascherei, ißt bis ihr schlecht wird. Mutter setzt ihr
Essen vor, wenn das nicht so ist, ißt sie gar nichts. (-> Entscheidungsproblem). Das ist aber
nur zu Hause so -> Panik, daß ihr die Mutter zu viel gibt -> ganze Kommunikation zu Hause
dreht sich nur ums Essen.
Patientin selbst kann nicht kochen.
Patientin war in der Schule normal, keine Streberin, hatte auch Vierer.
Betreibt keinen übermäßigen Sport (vor 1. Spitalsaufenthalt schon) ist motorisch eher
unruhig, kann nicht stillsitzen.
Körperliche Beschwerden: Magenweh (nach dem Essen), kennt nicht wirklich
Hungergefühl.
sozialer Bereich: hat schon Kontakte zu Leuten außerhalb der Familie, aber nicht besonders
intensiv. Eltern sind geschieden (Patientin war 1 Jahr alt).
Wurde jetzt künstlich ernährt, weil zuwenig Gewichtszunahme; empfand große Angst
dabei:
* Angst vor dem Schlauch (Nasensonde)
* Angst vor den anderen
Glaubt nicht, daß sie Anorexie hat, will nicht als Anorektikerin abgestempelt sein.
Patientin ist sehr unsicher über sich selbst; weiß auch nicht, ob sie irgend etwas an sich
selbst mag; hält sich für unverträglich, kommt sich schlecht vor. (streitsüchtig, will nicht
nachgeben, Dickschädel; will nicht zugeben, wenn sie im Unrecht ist; wenn sie einmal zu
einer eigenen Meinung gekommen ist, will sie diese auch durchsetzen)
Ist nun seit 1 Woche im AKH (hat gerade die Matura gemacht) -> keine Krankheitseinsicht
(fühlt sich im Spital fehl am Platz; findet nicht, daß sie ein Problem hat; im Vergleich zu
anderen Patienten geht es ihr ja gut; fühlt sich nicht krank)
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ad Eßverhalten:
Wenn ihr die Mutter etwas gibt, protestiert sie -> hält dieses Protestieren für
zwanghaft, denn oft hätte sie schon gern etwas mehr zu essen gehabt.
Tageseinteilung dreht sich ums Essen (nicht zu spät essen -> schädlich; nicht zu kurz
hintereinander essen)
Reaktion der Mutter: Schau, du bist so dünn, kommst ins Spital -> setzt die Patientin
unter Druck (meint’s aber nur gut) -> Patientin schaltet auf stur, fühlt sich von der
Mutter „entmündigt“.
Frage: Wie hätte Mutter reagieren sollen?
Patientin: „eh so ähnlich...“, aber mit weniger Druck; hätte ihr lieber gut zureden
sollen.
Zielgewicht der Patientin = 42kg, hat aber schon wieder Angst vor dem Schwerwerden
-> weil sie dann ja nichts Besonderes mehr ist.
Steigt 2x pro Tag auf die Waage -> hat Angst vor der Zahl darauf; wollte IMMER nur
dünner als die Schwester sein.
Kommentar:
* Gefühl für Schwester = Rivalität -> Es ging immer um die Aufmerksamkeit der Mutter;
Mutter = alleinerziehend, berufstätig, ziemlich überfordert damit.
* Patientin grenzt sich sehr stark von anderen Patienten ab -> Suche nach eigener
Identität; weiß nicht, wie sie sich entscheiden soll; Oppositionsrolle aus Mangel an
eigener Identität / eigener Entscheidungsfreiheit. Gehört nirgends richtig dazu („Ich
bin die absolut Gesündeste auf der Station.“)
* Patientin paßt nicht wirklich ins Schema; hat klassische Anorexie, muß das aber
verstecken (vor allem vor sich selbst)
* sehr ambivalentes Verhältnis zur Mutter -> extrem aggressiv, gleichzeitig tut es ihr sehr
leid, wie weh sie der Mutter tut.
* Zwangsernährung der Patientin mit Nasensonde brachte Riesenturbulenzen für die
gesamte Station
* Typisch pubertäres Verhalten (z.B. „Ich komme um 2 Uhr früh heim, fürchte mich zwar
so spät außer Haus zu sein, muß es aber durchsetzen.“)
Patientin ist 20 Jahre -> im Geist, Verhalten, Sprache, emotionalem Ausdruck
hingegen 13.14 Jahre.
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* Verhalten ist teilweise sehr aggressiv; ist aber Angst und Not, darf daher nicht persönlich
genommen werden. Permanente Abwertung („die ganze Behandlung ist ein
Holler...“)
-> dagegen: Angehörige müssen sich sicher sein, dann ist Kommunikation wenigstens
auf einer Seite stabil.
* Eltern müssen Stabilität geben, Leitlinie setzen -> Patient muß sich auf sie verlassen
können
Warum kommen Patienten trotzdem unter Sondengewicht?
-> Austesten der Grenzen: „Kann ich mich auf das verlassen, was die auf der Station
mir sagen?“.
Daher: Behandler müssen konsequent sein.
Suche nach Halt, kaum gefunden -> Versuch ihn zu überwinden (wenn Regeln dann
aber umgestoßen werden, hat Patient überhaupt keinen Halt mehr, daher unbedingt
vermeiden!)
Funktionen des Abmagerns:
1) Abmagern ist eine Kompromißlösung; Versuch einer Abgrenzung von anderen,
Versuch der Autarkie durch ein Suchtmittel; kommt vor in Familien, in denen es kein
Ich gibt, keine Konflikte, etc. -> Anorexie hilft zu einem Ich zu kommen.
2) Bei Anorexie kann ich autonom sein, ohne mich trennen zu müssen (kann in Familie
bleiben). Ich lasse mir nichts vorschreiben, postuliere das auch stark, bin aber im „Hotel
Mama“ -> emotional noch nicht so alt wie körperlich.
3) Bei Anorexie extreme Wünsche nach Nähe, nach im Mittelpunkt Stehen, daß Person sie
abwehren muß; je abwehrender umso größer sind die Verschmelzungswünsche.
2 Gipfel: 1x in Pubertät, 1x nach 20 -> an Übergangszeiten -> vom Kind zum
Erwachsenen, von Ausbildung zum Beruf.
4) Aggression gegen Primärobjekte, ohne sich aggressiv zu erheben (=> ganze
Verwandtschaft beschuldigt Mutter, wie krank ihre Tochter schon ausschaut); Hungerstreik
als Aggression.
5) Anklage ohne anzuklagen
6) Gewinn von Aufmerksamkeit ohne offene Konkurrenz (veränderte Wahrnehmung -> die
offensichtlich Dünnste erlebt die anderen als noch dünner)
7) Rivalität ohne offen zu rivalisieren
30
Dias:
-> Hungern = aggressiver Akt, gegen sich selbst und als Ausdrucksmittel, wurde als
politisches Kampfmittel eingesetzt -> erzeugt immer Gegenaggression (genauso wurde
früher Anorexie auch behandelt)
-> Angst vor dem Essen: „Wenn ich etwas in den Mund stecke -> Zunahme bzw. fresse ich
mich voll“
-> Werbung „Slim and fit“
-> Verleugnung der geschlechtlichen Identität; Verlust der eigenen Identität (eigene
Identität kann nicht mehr wahrgenommen werden); Normalität = Beendigung der eigenen
Identität („Ich bin Anorexie“); vgl. Antwort der Patientin auf was für Positiva sie hat: „Ich
weiß es nicht.“
-> Isolierung; Gefühle = abgespalten, werden nicht wahrgenommen, nicht gehabt.
-> Anorexie = ernst sein; streng zu sich selbst sein; massives Leiden; massive
Selbstquälerei.
-> Je dünner, umso schwerfälliger in Gedanken: kreisen nur mehr; alles wird hinterfragt,
relativiert
-> Oft genügen 5-6kg, um gesamte Pathologie zu ändern.
-> Je niedriger das Gewicht, umso stärker ausgeprägt ist die Pathologie
-> Medikamente helfen nicht; Astronautenkost
-> oft massive Familienproblematik (halten zusammen gegen „Außenfeind“)
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