Motetten-Gottesdienst J. S. Bach "Jesu, meine Freude" am Sonntag 13. September 2015 HINWEISE ZUM HÖREN: Pastor Sebastian Borck PREDIGT: Kantorei unter Leitung von Andreas Fischer EINGANGSGEBET Gott, in einer Spannung kommen wir zu dir: Selten war unser Leben so auskömmlich und sicher wie heute. Nicht, dass es keine Fragen gäbe, aber wann vor uns, Gott, und wo neben uns auf der Welt geht es Menschen so gut wie uns? Manch einer scheint darüber den Dank vergessen zu haben und das Bewusstsein, angewiesen zu sein auf ein tieferes Vertrauen: Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Zugleich sind wir konfrontiert mit Menschen, die entwurzelt zu uns kommen, die nichts in der Hand haben, außer vielleicht im tiefsten Innern eine Stimme des Vertrauens: Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Gott, wo die Welt so aus den Fugen ist: Stärke unser Vertrauen in diesem Gottesdienst und hilf uns, Vertrauen mit anderen zu teilen. Das bitten wir dich durch Jesus Christus, unsern Herrn. Amen. 2 LESUNG des Evangeliums nach Matthäus 14, (22-)25-33: … In der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem See. Und als ihn die Jünger sahen auf dem See gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst! und schrien vor Furcht. Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin's; fürchtet euch nicht! Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu. Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, hilf mir! Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? Und sie traten in das Boot, und der Wind legte sich. HINWEISE ZUM HÖREN Liebe Gemeinde, ob wir, ins Leben gerufen, unser Leben bestehen, hängt nicht zuletzt von einem Geheimnis ab, das heutzutage mit einem Fremdwort bezeichnet wird: "Resilienz". Vielleicht kann man es übersetzen mit: innere Stärke und Widerstandskraft. Ein Geheimnis ist das, weil man Resilienz nicht machen und auch nicht wie das 1 x 1 lernen kann. Und doch gehört es heute zu einer der entscheidenden Dimensionen jeder Arbeit in den Kindertagesstätten, die Resilienzkraft zu stärken. Das Leben ist heutzutage nicht mehr wie früher festgefügt, sondern geht in der Familie, im Beruf und darüber hinaus durch Brüche hindurch. Die eine übersteht das, der andere nicht. Der eine vermag traumatisierende Ereignisse zu verarbeiten, die andere nicht und bleibt im Innern tief verstört. Resilienz ist eine geheimnisvolle Kraft – wodurch aber kommt sie zustande? Wodurch wächst ein Selbstund Lebensvertrauen, das metertiefe Wurzeln hat, das auch dann noch hält und trägt oder jedenfalls einen Sinn auf Zukunft dafür offenhält, wenn nichts mehr hält und trägt, wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen ist und einem alles Leben – alles! – zerstört erscheint? Könnte es da, wo nichts mich mehr birgt und mein Vertrauen nicht mehr trägt, einen Bürgen geben, einen Bürgen an meiner statt? In Katastrophen spielen Mütter solch eine Rolle. Depressive sagen, dass solche Stellvertreter ihnen gut getan haben. Und für gesellschaftlich Ausgegrenzte war Jesus solch ein Bürge ihrer Hoffnung auf Teilhabe. Und für Petrus auf dem Meer? – Vielleicht ist er uns besonders nah, uns, die wir Vertrauen haben – und dann auch wieder nicht, weil es uns angesichts von Gegenwind und Wellen leicht verlässt. Was also stiftet Vertrauen, metertiefe wurzeln, Resilienz? – Das etwa ist der Fragehorizont, auf den das Lied im Gesangbuch Jesu, meine Freude eine gern gesungene, bilderreiche, vielleicht aber doch uns Heutigen auch letztlich fremde Antwort gibt. Johann Sebastian Bach hat dieses von Johann Franckkurz nach dem 30jährigen Krieg gedichtete und von Johann Crüger in Melodie gebrachte Lied seiner wohl bekanntesten Motette Jesu, meine Freude zugrunde gelegt. Bevor wir die Motette hören, möchte ich versuchen, Ihnen einige Hinweise zum Hören zu geben. Ich will die Motette nicht erklären, das kann man auch gar nicht. Ich will Sie auf einiges aufmerksam machen, vielleicht fällt Ihnen dadurch etwas auf. Hören aber müssen Sie dann selbst, und Sie werden Ihre je ganz eigene Zwiesprache haben. Also: 5 Hinweise, 5 weitere Schlüssel zum Hören (denn der Hinweis auf den Fragehorizont, auf den die Motette Antwort gibt, ist vielleicht auch schon einer): 1. Bachs Vokalmusik ist Gottesdienstmusik, nimmt biblische Texte auf, verbindet sie mit Chorälen, ja baut diese weiter aus und steht insgesamt nicht für sich selbst, sondern ganz im Dienst der Verkündigung. Auch wenn manch einer zu Bachs Zeit seine Kantaten voller Orchester, Arien und musikalischer Effekte als opernhaft und vom Geistlichen ablenkend empfand – Bach wollte nichts anderes als hinweisen auf Gott. All seine Kantaten, Oratorien, Messen und Motetten hat er zur Ehre Gottes geschrieben, 3 zur Aufführung in Gottesdiensten oder, wie wohl unsere Motette, in Trauergottesdiensten. Verkündigung waren sie, Ausdruck seines Glaubens und Gottvertrauens. So liegen der Motette Jesu, meine Freude Text und Melodie des Chorals zugrunde, alle 6 Liedstrophen. Auf dem Übersichtsblatt habe ich das durch die Kästen sichtbar zu machen versucht. Dazwischen stehen einzelne Verse aus dem 8. Kapitel des Römerbriefes. Sie fundieren theologisch, wovon im Lied die Rede ist – eine Art Tiefen-kommentar; davon später mehr. 2. Bachs musikalische Formensprache ist Barock. 1685 in Eisenach geboren, 1750 in Leipzig gestorben, hat er seine Motetten in seiner Zeit ab 1723 als Thomaskantor in Leipzig komponiert, polyphon mit selbständigen Stimmen und in einer insgesamt wie bis in die einzelne Form hinein besondere Ausdruckssprache für Bewegungen im Text und menschliche Regungen. Seufzer kann man hören, Brummen kann man hören, Dissonanzen spürt man im Ohr und Ruhe auch. Sogar das Nichts werden Sie hören. Bei aller inneren Vielfalt ist das Ganze in klare Maße gefasst. Auf dem Blatt habe ich unten die Taktzahlen angegeben; es gibt einen mittleren Satz, und die Wegstrecke vor ihm und nach ihm ist etwa gleich lang. So wie das Lied beginnt: Jesu, meine Freude, so endet es auch: Jesu, meine Freude – und in Bachs Motette ist das genauso. Alles steht im Dienst dieser einen Aussage Jesu, meine Freude, die entfaltet und begründet wird. Die 6 Liedstrophen und die 5 eingeschobenen Römerbrief-Verse sind in strenger Symmetrie aufgebaut. Den Rahmen bilden die 1. und die 6. Strophe des Liedes. Auch der 2. und der vorletzte Satz der Motette entsprechen einander in der Melodieführung. (Durch die Linien unten auf dem Blatt ist das aufgezeigt.) Die Mitte bildet eine 5-stimmige Doppelfuge mit dem Text Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich. Vor und nach dieser Mitte stehen jeweils 3 Sätze mit je einem Terzett in der Mitte. – Also: auch wenn sich nach und nach etwas entfaltet: es geht um 1 Aussage, 1 Zusammenhang. – Deshalb haben wir uns auch dagegen entschieden, die Motette im Gottesdienst aufzuteilen; Sie werden sie gleich im Ganzen hören. Im Einzelnen: Achten Sie darauf, wie einzelne Worte musikalisch mit Affekt versehen werden. Im 3. Satz kracht und blitzt es, eine gewisse Dramatik ist zu hören, und der Bass hält basso ostinato dagegen. Auch im 5. Satz werden Sie Trotz, Seufzer, Toben, Abgründe, Brummen, aber auch Vertrauen und Ruhe hören können. Und mit dem Trotz wird eine besondere Widerstandskraft markiert; das wiederholt sich durch die Motette: Weg mit allen Schätzen …, Gute Nacht, o Wesen …, Weicht, ihr Trauergeister … – Resilienz hat mit klaren Imperativen zu tun. Immer wieder im Ganzen werden Sie hören, dass etwas in eine laufende Bewegung kommt. Das ist dann der Fall, wenn nicht vom Fleisch, von Tod und Sünde, sondern vom Geist die Rede ist, der in uns wohnt und in dem wir wandeln. Im 2.Satz, im mittleren 6.Satz, im 8. Kehren solche Läufe immer wieder – bis hin zum 10.Satz, wo von der Auferweckung Jesu Christi die Rede ist. Es ist eine Geist- und Auferstehungstheologie, die vom Irdischen befreit Es ist nun nichts, die widerstandsfähig macht Trotz dem alten Drachen, die mit Christus verbindet und einen inmitten von Tod und Trauer lebendigen Lebens gewiss und fröhlich macht: Jesu, meine Freude ! 3. Bachs Glaube inmitten barocker Lebens- und Todesfülle Barock ist eine Feier von des Lebens Überschwang. Überall schwellt und drängt, jauchzt und schwingt eine Urkraft sondersgleichen – in der Dichtung, in der Architektur, in der Malerei, in der Musik. Auf der anderen Seite solch barocker Lebenshaltung und heißer Lebensliebe steht der Tod und lauert überall. Als Bach 35jährig mit seinem Fürsten Leopold unterwegs ist, aller Dynamik und Schaffenskraft voll, und dann nach Hause zurückkehrt, findet er ganz und gar unerwartet von seiner Freu nur noch das Grab vor. Mit seinen 4 Kindern findet er rasch eine neue Partnerin, Anna Magdalena Wülken. Am Ende sind es 20 Kinder, die Bach geboren wurden, 11 hat er zu Grabe getragen, 9 haben ihn überlebt. So haben das viele erlebt. Was muss da in Bach vorgegangen sein? Wie ist es möglich, dass er weder in barockem Lebenseros aufgegangen, noch im Grauen des Todes untergegangen ist? – Die Antwort: Das Lied des Glaubens hat er gesungen! 4 Gerade weil er so sehr um den Tod, den Zerfall des Leibes, um die Zusammenhänge von Sünde und Tod als lebenszerstörerischen Mächten, um Verwesung und Fäulnis der Welt mitten im Leben wusste, hat Bach auf eine andere, allem Fleischlichen entgegengesetzte Macht gesetzt: auf die lebendige, Leben schaffende Macht des auferweckten Jesus Christus, auf die Macht des Geistes, die all denen in den Herzen wohnt, die ihr Vertrauen auf Christus setzen. Bachs Motette ist ein Siegeslied der Weltüberwindung, aus tiefster Stille und in kraftvollem Glaubenstrotz, ein Bekenntnis von jemandem, der wahrlich immer wieder dem Tod, seiner Zerstörung und seinem Gestank ausgesetzt war und der da, am Rande des Lebens, wo Zeit und Ewigkeit sich treffen, die Fülle des Lebens hinter sich lassend, in der Einsamkeit vor Gott ganz auf Jesus Christus, den entscheidenden Überwinder gesetzt hat. Von diesem Glauben hat er Ausdruck gegeben bis in alle Melodien, alle großen Kompositionen und alle Details hinein. 4. Bachs Fremdheit für den aufgeklärten Protestantismus So glauben zu können wie Bach, ist uns Heutigen wohl verwehrt. Solch Christus-Innigkeit erscheint uns fremd. Davon sind wir durch den Graben der Aufklärung getrennt. Eher sind wir mit unserem Glauben wie Petrus, den auf hoher See Zweifel überkommen. Weil es immer so war und weil es so in der Bibel steht, können wir noch lange nicht glauben. Vorgegebene Autorität und toter Buchstabe schaffen keinen Glauben. Glücklicherweise müssen wir aber auch keine BlinderGehorsams-Christen sein, sondern können prüfen, worauf wir unser Vertrauen setzen und wer Bürge für eine Hoffnung sein soll, die alles Leben trägt und über alles Leben hinausgeht. In das Lied und die Motette Jesu, meine Freude tauchen wir ein – und bleiben doch aufgeklärte Christenmenschen, die auch Nichtglauben und Zweifel ernstnehmen. In seiner Geschichte der Kirchenmusik hat Johann Hinrich Claussen auf diese Fremdheit Bachs für uns heute aufmerksam gemacht. Nicht Kleinglaube ist das, sondern erwachsener Glaube, einer der eben nicht den Knoten der Geschichte so auseinander gehen lassen will: die Vernunft mit dem Unglauben und das Christentum mit Fundamentalismus und Barbarei. Nein, ein aufgeklärter, glaubwürdiger Glaube mit Jesus Christus als Bürgen – darum geht es. Wir sind durch die Aufklärung vom Barock getrennt. Doch gerade in seiner Fremdheit übt Bach auf uns einen Reiz aus. 5. Bachs Motette als Einladung zum Vertrauen Luther war überzeugt, dass der geistlichen Musik "eine verborgene und entschieden auf Gott sich beziehende Kraft" zugrunde liegt. Die Töne senken sich in das Gemüt des Menschen und bewegen die Regungen des Herzens, bringen es in "Schwank", wie Luther sagt. Sie erneuern das Zentrum des Menschen, sein Herz. Es kommt zur Rekreation, zur Wiederherstellung und Erneuerung des Herzens. Melodie und Text bleiben haften, und im Gedächtnis bildet sich ein Raum, in dem Töne, Lebenssinn und Vertrauen eine tiefere Einheit bilden und sozusagen im Herzen Wohnung nehmen. Es sind die Töne. Die einen leiten, bei aller Fremdheit und dank aller Fremdheit innerlich mitzugehen: Jesu, meine Freude, außer dir soll mir auf Erden nichts sonst Liebers werden. Es ist ein Angebot zur Identifikation: Unter deinem Schirmen bin ich vor den Stürmen aller Feinde frei. Und es gibt wohl kaim eine schönere Möglichkeit, die eigenen Widerstands- und Relisilienzkräfte zu stärken als innerlich mitzusingen: Weicht, ihr Trauergeister, denn auch im Leide bleibst du: Jesu, meine Freude. Und es mag sein, dass wir ergriffen sind – wie Petrus auf dem Meer von Jesu Hand. Liebe Gemeinde, Hinweise zum Hören sind das, 5 Schlüssel: 1. Bachs Vokalmusik als Gottesdienstmusik 2. Bachs musikalische Formensprache des Barock 3. Bachs Glaube inmitten barocker Lebens- und todesfülle 4. Bachs Fremdheit für den aufgeklärten Protestantismus 5. Bachs Motette als Einladung zum Vertrauen. Hinweise zum Hören – mehr nicht. Hören Sie selbst! 5 PREDIGT: Jesu, meine Freude Motette BWV 227 von Johann Sebastian Bach SENDUNG: (Römerbrief 8, 31f. 38f) Ist Gott für uns – wer kann wider uns sein? Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn. GD-Hinw.z.Hören-150913