GRÜNE ZUKUNFTSWERKSTATT KLIMASCHUTZ » VIER SZENARIEN Unterstützt durch das Institut für prospektive Analysen „NACHZÜGLER“ Während die Mehrheit der Staaten engagiert in Sachen Klimaschutz und Klimaanpassung vorangeht, entwickelt sich Deutschland zum Nachzügler. Insbesondere in den Phasen, in denen es wirtschaftlich nicht so gut läuft, rücken hier klimapolitische Erwägungen weit nach hinten. Zu lange setzte man auf Industrien wie die Automobilbranche, die in der Vergangenheit zu Wohlstand und wirtschaftlichem Erfolg beigetragen haben. Statt in eine langfristige und grundlegende Erneuerung des Landes zu investieren, prägen Erhaltungsinvestitionen und alte Geschäftsmodelle das Bild. Innovationen und Marktchancen für ein nachhaltiges Entwicklungsmodell werden andernorts generiert. Zum Glück sind noch Puffer im System, aber es ist höchste Zeit zu handeln und das Steuer herumzureißen. „DIE GLOBALE TRANSFORMATION“ In einem gemeinsamen Kraftakt gelingt es der Menschheit, der Herausforderung der Klimakrise zu begegnen und ein global zukunftsfähiges, partnerschaftliches Entwicklungsmodell auf den Weg zu bringen. Dafür ist die Schaffung globaler Institutionen erforderlich, die verbindliche Ziele durchsetzen, den Ausgleich zwischen den Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern fair gestalten und in Konflikten vermitteln. Natürlich gibt es Rückschläge und Umwege, eine besondere Herausforderung liegt darin, über einen langen Zeitraum die Einsicht und Solidarität der Wohlhabenden zu mobilisieren und die weniger Wohlhabenden für einen alternativen Entwicklungsweg zu gewinnen. 2050 scheint es, als habe die Menschheit noch einmal die klimapolitische Kurve gekriegt. Zudem konnten andere globale Entwicklungsziele, wie die Verringerung von Hunger und bessere Teilhabechancen, vorangetrieben werden. Aber auch in Ländern wie Deutschland hat der globale Klimapakt zu neuen Impulsen für Wirtschaft und Gesellschaft geführt. „GEGEN DEN STROM“ Nur eine kleine Gruppe von Staaten, darunter auch Deutschland, setzt unabhängig von Zusagen anderer auf den grundlegenden Umbau von Wirtschaft und Lebensstilen. Am Anfang sind die Kosten und Hindernisse hoch – ein langer Atem ist nötig. Doch letztlich profitiert Deutschland davon, bereits früh in eine klimaverträgliche Infrastruktur investiert zu haben, während andere nun mit den Pfadabhängigkeiten früherer Fehlentscheidungen zu kämpfen haben. Klima-Knowhow aus Deutschland ist heiß begehrt. Darüber hinaus zeigt sich, dass eine nachhaltige Lebensweise eine ganze Reihe von Zusatznutzen mit sich bringen kann. Global gesehen sind jedoch die Aussichten angesichts der immer noch steigenden Emissionen nicht so gut. Und es stellt sich die Frage, ob die Wende noch gelingen kann, wenn sich nicht auch der Rest der Staatengemeinschaft rasch auf den Weg macht. „IM TREIBHAUS“ Energie- und ressourcenintensive Lebensstile dominieren die weltweite Entwicklung. Nicht nur in den aufstrebenden Schwellenökonomien, auch in den Industrieländern stehen Wirtschaftswachstum und Wettbewerbsfähigkeit an erster Stelle. Mit den knapper werdenden Rohstoffen und Lebensgrundlagen nehmen die Konflikte zu. Es geht zunehmend um Versorgungssicherheit, nicht mehr um Klimaschutz. Vielfältige Formen von Protektionismus entstehen. Die globale Erwärmung schreitet ungebremst voran. Die Kosten für die Anpassung an die Folgen der Klimakrise sind dramatisch und überfordern viele Staaten. Für eine Wende fehlt schlicht die Kraft – auch in Deutschland. Extreme politische Einstellungen nehmen stark zu und die Politikstile werden autoritärer, wenn es darum geht, die Abwehr von Klimaflüchtlingen zu verschärfen oder gegenseitige Ressentiments rund um die Schuldfrage für die Klimakrise auszufechten. 10/2015 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | GRÜNE ZUKUNFTSWERKSTATT KLIMASCHUTZ » VIER SZENARIEN | 2 NACHZÜGLER Im Zuge des wirtschaftlichen Abschwungs zu Beginn der 20er Jahre kommt es in Deutschland zu einer Veränderung der Prioritäten. Die Menschen erwarten von der Politik Impulse für Wachstum und Arbeitsplätze. Die Unternehmen fordern Unterstützung in schwierigen Zeiten und lobbyieren erfolgreich gegen jede Maßnahme, die zu einer Einschränkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit führen könnte. Die Regierung gerät derart unter Druck, dass der bereits anvisierte Kohleausstieg erst einmal verschoben wird, um nicht noch für weitere Arbeitsplatzverluste zu sorgen. Schließlich reduziert die heimische Kohle auch die Abhängigkeit von teuren Energieimporten aus unsicheren Herkunftsregionen. Energieintensive Branchen wie etwa die Stahl- und die Papierindustrie erhalten mehr Subventionen, um auf den globalen Märkten mithalten zu können. Vorgaben zu Effizienzsteigerungen werden abgemildert, bereits verabschiedete Standards für Abgasnormen und die energetische Gebäudesanierung zeitlich gestreckt – auch wenn dies zuweilen geltendem EU-Recht zuwider läuft. Ein großer Teil der Mittel der von der deutschen Regierung geschnürten Konjunkturpakete geht in die Förderung der Automobilindustrie, die nach wie vor eine wichtige Säule der deutschen Exportwirtschaft darstellt. Insbesondere die größeren Modelle sind in Fernost und Nordamerika sehr gefragt. Deutsche Unternehmen liefern die Technologie für die Ausbeutung unkonventioneller Öl- und Gasvorkommen sowie die chemischen Grundstoffe für eine hochintensive Bewirtschaftung der Böden. In einigen Industrien werden energieintensive Produktionsstätten in Länder verlagert, in denen die Brennstoffe günstiger und die Auflagen niedriger sind. Dadurch werden zumindest die offiziellen CO 2Emissionen der deutschen Industrie verringert und Deutschland wird seinen internationalen Verpflichtungen etwas besser gerecht. Ungeachtet des wirtschaftlichen Abschwungs wollen es sich die Menschen in Deutschland weiterhin gut gehen lassen: Fernreisen nehmen stetig zu, ebenso der pro Person genutzte Wohnraum. Die Zahl an Elektrogeräten pro Haushalt steigt, zugleich verkürzt sich die Lebensdauer der einzelnen Geräte beständig – ein Ergebnis unternehmerischer Maßnahmen zur Absatzsteigerung. Fluglinien versuchen mit günstigen „All-you-can-fly Programmen“ gegen die Konkurrenz zu punkten und die Auslastung ihrer Maschinen zu verbessern. Langfristige Investitionen in eine klimafreundliche Infrastruktur oder die notwendigen vorausschauenden Anpassungen der Städte und der ländlichen Räume an die Folgen des Klimawandels finden kaum mehr statt. Dagegen wird angesichts der steigenden globalen Nachfrage nach Nahrungsmitteln und dem Verlust an Ackerfläche in den Ländern des Südens die Bewirtschaftung der Ackerflächen in Deutschland ausgeweitet und intensiviert. Die Steigerung der Erträge wird mit vermehrtem Einsatz an Hochleistungsmaschinen, Dünge- und Pflanzenschutzmitteln und dem großflächigen Anbau von gentechnisch veränderten Sorten forciert. Auch in die Massentierhaltung wird stark investiert. Deutschland baut seine Position als einer der weltweit führenden Nahrungsmittelexporteure weiter aus. 10/2015 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | GRÜNE ZUKUNFTSWERKSTATT KLIMASCHUTZ » VIER SZENARIEN | 3 Im Laufe der 30er Jahre verliert Deutschland vollends den internationalen Anschluss im Bereich der Erneuerbare-Energien-Technologien. Die deutschen Unternehmen sind schlicht nicht mehr wettbewerbsfähig, die Billigkonkurrenz aus Fernost hat das Ruder übernommen. In der Konsequenz gehört Deutschland innerhalb der Europäischen Union im Feld der Klimapolitik zu den Bremsern. Auch in anderen Regionen stagniert die wirtschaftliche Entwicklung, aber aufgrund massiver Umweltschäden folgt daraus ein radikales Umsteuern. So hat beispielsweise der Bürgermeister von Peking aufgrund der kaum noch erträglichen Luftverschmutzung durch den immer noch anwachsenden Verkehr Anfang der 30er Jahre ein völliges Verbot von Verbrennungsmotoren im Stadtgebiet eingeführt. Zudem wird ein Plan verabschiedet, mit dem die Industrieproduktion in der Region in absehbarer Zeit von fossilen Brennstoffen auf Strom aus Erneuerbaren Energien umgestellt werden soll. Andere Städte und Ballungsgebiete des Landes folgen. Auch in den USA kommt es unter dem Eindruck von immer häufiger aufeinander folgenden Extremwetterereignissen, Trockenperioden und Überschwemmungen zu einem grundlegenden Politikwechsel. Nachdem sich mehrere Jahre hintereinander eine Kaskade von Waldbränden, Ernteausfällen, Sturmschäden und einigen Hochwassern in Küstenstädten ereignete, wählt die amerikanische Bevölkerung eine Regierung, die die Herausforderung von Klimaschutz und -anpassung zu einem ihrer obersten Ziele macht. Dass die beiden größten globalen Emittenten massiv auf Klimaschutz setzen, beschleunigt auch den bereits begonnenen Wandel in vielen anderen Ländern. Viele Förderinstrumente und Maßnahmen werden weiterentwickelt oder zusätzlich geschaffen. In den 2040er Jahren bricht der Export von hochpreisigen Pkws aus Deutschland langsam ein. Der Anschluss im Feld innovativer Klimatechnologien ist endgültig verloren, Marktführer sind jetzt China und Indien. Die investitionspolitischen Entscheidungen der Vergangenheit, die auf kurzfristige Lösungen statt langfristige Erneuerung setzten, erweisen sich für Deutschland als ein Klotz am Bein. Dennoch gelingt langsam eine Erholung der deutschen Wirtschaft. Durch die mehrmalige Abwertung des Euro sind deutsche Exporte wieder günstiger geworden, die Tourismusindustrie profitiert von steigenden Urlauberzahlen, das Bruttoinlandsprodukt steigt an, und die Arbeitslosigkeit ist vergleichsweise niedrig. Die Kehrseite daran: auch die Treibhausgasemissionen steigen wieder an. 2050 Im Jahr 2050 liegen die Treibhausgas-Emissionen zwar um 32 % niedriger als Anfang des Jahrhunderts, von dem Ziel der weitgehenden Klimaneutralität ist man aber noch weit entfernt. Die Folgen des Klimawandels sind inzwischen in allen Regionen der Welt spürbar: In einigen haben sie dazu geführt, dass Gegenden nicht mehr bewohnbar sind, die Zahl der Klimaflüchtlinge ist deutlich 10/2015 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | GRÜNE ZUKUNFTSWERKSTATT KLIMASCHUTZ » VIER SZENARIEN | 4 angestiegen. Die meisten versuchen in Nachbarländer unterzukommen, andere gehen in den Norden. Die Staatengemeinschaft leistet ein Stück weit Unterstützung. In Deutschland fordert der Hitzestress in den Städten jeden Sommer mehr als zehntausend Menschenleben. In weiten Teilen Mecklenburg-Vorpommerns ist das Grundwasser aufgrund des intensiven Frackens inzwischen nicht mehr trinkbar. Dennoch lässt sich der Wandel noch weitgehend gut beherrschen, die Ökosysteme sind halbwegs intakt und in der Lage, sich auf die eine oder andere Weise an die Klimakrise anzupassen. Es hätte deutlich schlimmer kommen können, die Horrorszenarien der Klimawissenschaft haben sich – zum Glück – großteils nicht bewahrheitet. Letztlich ist das denjenigen Ländern und Gesellschaften zu verdanken, die die letzten drei Jahrzehnte für einen ambitionierten Umbau ihrer Wirtschaft genutzt haben. Deutschland gehörte nicht dazu. 10/2015 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | GRÜNE ZUKUNFTSWERKSTATT KLIMASCHUTZ » VIER SZENARIEN | 5 DIE GLOBALE TRANSFORMATION Schließlich ist es der Staatengemeinschaft doch noch gelungen, ein weitreichendes und verbindliches Klimaabkommen auf den Weg zu bringen, das alle Länder einbezieht und klare Perspektiven eröffnet. Noch nie hatte sich die Menschheit ein größeres Ziel gesetzt, doch die Zunahme von Wirbelstürmen und Hitzewellen lieferten die Belege für Warnungen der Klimaforschung. Zugleich setzte sich aufgrund anhaltender Flüchtlingswellen vor allem in der EU die Erkenntnis durch, dass man nicht noch weitere Fluchtursachen verschärfen dürfe. Zu Beginn der 20er Jahre gilt es nun, die Details der Umsetzung des Klimapaktes zu klären und sich gemeinsam auf den Weg zu machen. Zentrales Instrument sind ambitionierte Fahrpläne für die Minderung von Treibhausgasemissionen, die alle Länder ausgehend von ihrer gegenwärtigen Klimabilanz und entsprechend ihrer Fähigkeiten in die Pflicht nehmen. Um das Ziel von einem weltweiten, jährlichen Pro-Kopf-Ausstoß von nicht mehr als zwei Tonnen CO2 bis zur Mitte des Jahrhunderts zu erreichen, wird die Einhaltung der Fahrpläne alle fünf Jahre überprüft. Bei Nichterreichung müssen überkompensierende Ersatzleistungen erbracht werden: mangelnde Klimaschutzbemühungen kommen die Staaten teuer zu stehen. Besteht Spielraum, den nationalen Fahrplan zu beschleunigen, wird er entsprechend aktualisiert. Ein weiteres Herzstück des Pakts – und letztlich die Voraussetzung dafür, dass auch die Schwellenund Entwicklungsländer einwilligten – ist ein umfassender Ausgleichsmechanismus: Anpassungskosten infolge von unvermeidbaren Folgen der Klimakrise werden maßgeblich von den Industrieländern unter Beteiligung der dynamischen Schwellenökonomien finanziert. Neben der fairen Lastenteilung liegt ein weiterer Schwerpunkt in dem Transfer des notwendigen Knowhows. Klimarelevante Technologien werden zu Global Commons erklärt, auf die jede Gesellschaft zugreifen kann. Damit erlebt der Ausbau von Erneuerbaren Energien und E-Mobilität einen globalen Boom. Die Unterstützung des Technologietransfers sowie der Verlust an Patent- und Lizenzgebühren werden über einen Fonds kompensiert, um die Anreize für Forschung und Entwicklung nicht zu verringern. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten läuft der globale CO2-Handel inzwischen weitgehend reibungslos und trägt dazu bei, dass die Verminderung der Emissionen kosteneffizient und im Rahmen der politisch vereinbarten Ziele erfolgt. Nationale ordnungspolitische Instrumente ergänzen den Emissionshandel. So einigen sich die EU-Mitgliedstaaten in den 20er Jahren auf den vollständigen Ausstieg aus der Kohleverstromung bis 2035. Auch andere Regionen setzen auf klar festgelegte Zeitpläne für den Kohleausstieg. Ebenso werden in den meisten Staaten ambitionierte Grenzwerte für klimabelastende Emissionen im Verkehrssektor, in verschiedenen Industriezweigen sowie für die Landwirtschaft beschlossen. Als an den Finanzmärkten schließlich auch klar wird, dass aufgrund des globalen Klimapakts ein Großteil der fossilen Rohstoffe niemals gefördert werden wird, kommt es zum Platzen der 10/2015 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | GRÜNE ZUKUNFTSWERKSTATT KLIMASCHUTZ » VIER SZENARIEN | 6 Kohlenstoffblase und die Kurse rutschen in den Abgrund – viele Anleger verlieren ihr Geld. Damit gewinnt die anfangs kleine Divestment-Bewegung an Fahrt. Immer mehr Anleger – auch die großen Staats- und Pensionsfonds – ziehen ihr Kapital aus klimaschädlichen Wirtschaftszweigen ab. Am Anfang waren davon praktisch nur Unternehmen betroffen, deren Geschäftsmodelle unmittelbar mit den fossilen Energien verknüpft sind. Inzwischen trifft es auch große Lebensmittelhersteller, Fluglinien und Automobilkonzerne. Es hat sich gezeigt, dass ein Investment, das sich stark an ethischen und nachhaltigkeitsbezogenen Kriterien orientiert, oft die bessere und vor allem sichere Rendite abwirft. Denn Unternehmen werden für die von ihnen verursachten Umweltbelastungen zunehmend stärker zur Kasse gebeten. Andererseits sind auch die Konsumenten kritischer geworden und fragen vermehrt nachhaltige Produkte nach. Zum großen Teil fließt das so frei gewordene Kapital in Investitionen für klimafreundliche Unternehmen und Infrastrukturprojekte, die weitgehend sichere und langfristig planbare Erträge bringen. Der „GREENSEI“, in dem repräsentative Unternehmenswerte der green economy zusammengefasst werden, hat sich inzwischen als wichtiger Börsenindex etabliert. Zur Erreichung der allgemeinen Minderungsziele wird in Deutschland die CO2-Card eingeführt. Nicht mehr nur Unternehmen haben begrenzte Emissionsrechte, sondern auch die Verbraucher werden stärker in die Pflicht genommen. Das individuelle jährlich zur Verfügung stehende CO2-Budget ist zunächst noch großzügig bemessen, wird aber jedes Jahr schrittweise verringert. Die Menschen können entsprechend ihrer Präferenzen entscheiden, wie sie ihr Budget verwenden. Eine Überschreitung des Budgets wirkt wie die Aufnahme eines Dispokredits – man muss das Geliehene plus Zinsen zu einem späteren Zeitpunkt zurückzahlen. Es werden sämtliche Emissionen aufgezeichnet und sind per HandyApp stets abrufbar. Die Crux daran: der gläserne Bürger ist zur Realität geworden. Für die meisten Menschen wird das vor allem bei der Urlaubsplanung relevant, denn Fernreisen werden zunehmend eine Herausforderung. Als zusätzlich zur Begrenzung des individuellen Emissionsbudgets auch noch der „Klima-Soli“ eingeführt wird, um den notwendigen Technologietransfer und die Anpassung an die Folgen des Klimawandels zu finanzieren, nehmen die Proteste zu. Viele empfinden es als ungerecht, in dieser Weise für die Fehlentwicklungen der vergangenen 200 Jahre zur Kasse gebeten zu werden. Der Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft kommt in einigen Ländern besser, in anderen schlechter voran. Zahlreiche Konflikte können erst durch die Schiedsgerichte der GEO, der Global Environmental Organisation, gelöst werden. Ein häufiger Konfliktgrund ist, welchem Land oder Unternehmen bestimmte Emissionen zugerechnet werden sollen. Auch der Zugriff auf Ressourcen muss fair reguliert werden. Ein anderer häufiger Anlass für Streit liegt darin, dass einige Länder ihren Zahlungsverpflichtungen in die Ausgleichfonds nicht genügend oder zu spät nachkommen. Aufgrund der relativ raschen Erfolge bei der Verminderung von klimaschädlichen Emissionen, aber auch, weil sich viele Ökosysteme als anpassungsfähiger als angenommen erweisen, sind die negativen Auswirkungen der Klimakrise auf die Menschheit handhabbar. Es sind noch Puffer im System. 10/2015 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | GRÜNE ZUKUNFTSWERKSTATT KLIMASCHUTZ » VIER SZENARIEN | 7 Die globale Transformation hat einen ökonomischen und sozialen Entwicklungsschub ausgelöst, von dem die meisten Länder stark profitieren. Dennoch fordern die bereits nicht mehr vermeidbaren Folgen der Klimakrise mit der Zeit ihren Preis. Immer wieder kommt es zu Dürreperioden und anderen Extremwetterereignissen, die Menschen dazu zwingen, ihre Heimat zumindest zeitweise zu verlassen. Eine Reihe von Regionen ist auch langfristig unbewohnbar geworden. Bereits 2034 hat sich die Staatengemeinschaft nach langen Verhandlungen im Rahmen der GEO auf die Mumbai-Konvention für Umweltflüchtlinge geeinigt. Ähnlich wie im Rahmen der Flüchtlingskonvention für politisch Verfolgte haben diese seit deren Ratifizierung das Recht auf Unterstützung und Aufnahme in einem anderen Land. Die Kosten der Umsiedlung werden nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit global verteilt. Das führt auch in Deutschland dazu, dass die rechtsnationale Partei, die sich vor allem mit dem Slogan „Gegen die Öko-Diktatur“ profilierte, weiter an Fahrt gewinnt. 2050 Nachdem die weltweiten jährlichen Emissionen von Treibhausgasen um 2030 ihren Höhepunkt erreicht hatten, sind sie rasant gesunken. Bis 2050 konnten sie gegenüber 1990 um rund 80 Prozent reduziert werden. Es scheint gelungen, den globalen Temperaturanstieg bei etwa 1,8 Grad zu stabilisieren. Auch die Zahl der Menschen, die unter extremer Armut leben, konnte um zwei Drittel reduziert werden. Nachhaltige Formen der Landwirtschaft sichern die Ernährung von mehr als acht Milliarden Menschen. In Europa haben sich zugleich die Ernährungsgewohnheiten verändert: So ist eine Schale mit gerösteten Heuschrecken mittlerweile genauso gewöhnlich geworden wie eine Tüte Pommes. Deutschland hat seinen Teil zu einem globalen Wandel beigetragen, indem es - wie viele andere Industrieländer – sowohl finanzielle Verantwortung übernommen als auch seine Wirtschaft und Lebensweise grundlegend erneuert und so alternative, erstrebenswerte Entwicklungsmodelle aufgezeigt und verfügbar gemacht hat. 2050 trägt dieser Wandel Früchte. 10/2015 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | GRÜNE ZUKUNFTSWERKSTATT KLIMASCHUTZ » VIER SZENARIEN | 8 GEGEN DEN STROM Der Staatengemeinschaft ist es trotz mehrfacher Anläufe nicht gelungen, sich auf ein ambitioniertes und verbindliches Klimaabkommen zu einigen. Viele Regierungen lehnen substanzielle Emissionsminderungsziele ab, da sie eine Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Entwicklung ihres Landes befürchten. Nur eine kleine Gruppe von Ländern – darunter Deutschland – beginnt ernsthaft, den Umbau hin zu einer weitgehend klimaneutralen Lebens- und Wirtschaftsweise in die Wege zu leiten. Dies erfordert mutige Führung und viel Überzeugungsarbeit. Nicht wenige stehen einem deutschen Alleingang skeptisch gegenüber. Oft bestimmt das Argument, die deutschen Treibhausgasemissionen würden weniger als drei Prozent des weltweiten Ausstoßes ausmachen, die politische Debatte im Bundestag. Angesichts der schweren Hochwasser an Elbe und Donau, großflächigen Ernteverlusten und zunehmenden Waldbränden in Brandenburg wächst das Bewusstsein, dass der Klimawandel real ist. Die öffentliche und damit auch die politische Stimmung kippt schließlich, als durch anhaltende Extrem-Hagel-Fälle in der bayerischen Hallertau zwei Jahre hintereinander das größte Hopfenanbaugebiet der Welt zerstört wird und sich die Bierpreise verdreifachen. Auch wachsende Teile der Wirtschaft sehen in dem anstehenden Umbau mehr Chancen durch Effizienzgewinne und langfristig tragfähige Geschäftsmodelle als Belastungen und Einbußen bei der Wettbewerbsfähigkeit. Klimaschutz wird als Staatsziel verankert. Wie schon bei der Energiewende blickt die Welt mit Neugier, aber auch mit Skepsis auf these German Musterschulers. Doch es braucht tatsächlich auch einen langen Atem und die Bereitschaft, die Kosten für Investitionen zu tragen, deren Nutzen sich erst – wenn überhaupt – in vielen Jahren auszahlen werden. Unterstützt durch öffentliche Förderung investieren viele deutsche Unternehmen in Effizienzsteigerungen, die dezentrale Eigenproduktion von CO2-armen Energien und die Elektrifizierung der Produktion. Auch Kommunen werden vermehrt energieautark. Daneben wird das Netz ausgebaut, um den zunehmend günstigeren und reichlich vorhandenen Strom aus Erneuerbaren Energien dort verfügbar zu machen, wo er gebraucht wird. Immer mehr Kommunen führen regionale Währungen ein, auch „Trafos“ genannt, um lokale Infrastrukturprojekte zu finanzieren und regionale Wirtschaftskreisläufe zu stärken. Als der Kohleausstieg beschlossen wird, gibt es Widerstand in den betroffenen Revieren. Zusagen für Investitionsinitiativen und sozialverträgliche Übergangsprogramme schaffen jedoch letztlich die notwendige Akzeptanz. Auch das Steuersystem wird grundlegend erneuert. Die Anreize für klimafreundliche Güter, Produktionsverfahren und Investitionen werden erhöht. Auf der anderen Seite werden Konsumstile und Wirtschaftsbereiche, die das Klima belasten, deutlich stärker besteuert. Klimaschädliche Subventionen werden heruntergefahren. In einigen Branchen entsteht daraus ein enormer 10/2015 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | GRÜNE ZUKUNFTSWERKSTATT KLIMASCHUTZ » VIER SZENARIEN | 9 Anpassungsstress, der nicht wenigen Unternehmen massiv schadet. Stiftungen werden in Deutschland nur noch als gemeinnützig anerkannt, wenn sie ihr Stiftungskapital in nachhaltigen Werten angelegt haben. Es bleibt nicht aus, dass der rasche Wandel auch falsche Entscheidungen und fehlgeleitete Investitionen mit sich bringt. Es wird in Kauf genommen, dass bei manchen Vorhaben zunächst bestimmte Bevölkerungsgruppen stärker belastet werden als andere. Das kostet Wählerstimmen und schmälert die Zustimmungswerte. Auch an anderer Stelle sind durch den Politikwechsel Konflikte vorprogrammiert. So steigt die Zahl der EU-Vertragsverletzungsverfahren und internationalen Schiedsgerichtsverfahren wegen des Vorwurfs wettbewerbsverzerrender Beihilfen und protektionistischer Maßnahmen an. Mitte der 30er Jahre verabschiedet der Bundestag ein Gesetz, wonach deutsche Unternehmen ihre Licence to operate verlieren, wenn sie an ihren ausländischen Produktionsstandorten ökologische Standards unterschreiten. Zudem werden vermehrt hohe Umweltstandards auch für Importe zur Voraussetzung für den Marktzugang gemacht. Klimasensible Vergabekriterien sind für das öffentliche Beschaffungswesen verpflichtend. Mit Bürgeranleihen werden langfristige Infrastrukturprojekte und klimafreundliche Technologien auf den Weg gebracht. In der deutschen Landwirtschaft sind nachhaltige Bewirtschaftungsmethoden zur Norm geworden, um Emissionen zu vermindern und Schäden durch die Folgen der Klimakrise zu verringern. Es wird immer stärker auf Anbausorten und -methoden gesetzt, die die veränderten Wetterverhältnisse besser verkraften und weniger Wasser benötigen. Auch das Umforsten auf einen höheren Anteil an Laubbäumen beginnt das Landschaftsbild vieler Regionen in Deutschland zu verändern. Der Transportsektor verändert sich: Der Schienenverkehr wird massiv erweitert, während der Aus- und Neubau von Straßen nicht mehr benötigt wird. Der Individualverkehr nimmt stark ab, in den Ballungsgebieten werden kostenlose Mobilitätsnetze geschaffen. Viele Wohnbereiche in den Innenstädten werden zu autofreien Zonen erklärt. Dadurch gibt es neue Spielflächen, zudem trifft man sich abends wieder häufiger auf der Straße. Bereits deutlich früher als geplant erreicht Deutschland sein Ziel, 100 Prozent des Stroms aus Erneuerbaren Energien zu gewinnen. Deutschland erhält den Friedensnobelpreis für die vollzogene Energiewende. Doch die globalen Emissionen steigen weiter. In den 2040er Jahren erfordern die stärker werdenden Auswirkungen des Klimawandels neue Konzepte in der Stadt- und Regionalplanung. Um das Mikroklima in den hoch verdichteten städtischen Räumen zu verbessern, werden Wasserwege angelegt, die z.T. auch für den Transport von Menschen und Waren genutzt werden. Fassaden und Plätze werden begrünt, Dächer und Wände in hellen, 10/2015 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | GRÜNE ZUKUNFTSWERKSTATT KLIMASCHUTZ » VIER SZENARIEN | 10 reflektierenden Farben gestaltet. Fassaden werden für die Stromerzeugung mit Algenlack beschichtet. Auf Fahrbahnen wird aus Reibung Energie gewonnen. Sogenannte Wearables messen die Körperdaten und erinnern daran, genug zu trinken oder die Sonne zu meiden. Der Club der Klima-Avantgarde gedeiht als zartes Pflänzchen. Doch insbesondere das Wirtschaftswachstum Asiens und das ungebremste Bevölkerungswachstum treiben die globalen Emissionen nach oben. Die Länder, die sich der zügigen Wende hin zu einer dekarbonisierten Wirtschaft verschrieben haben, stehen zusätzlich vor der Herausforderung, zugleich die Minderung von Treibhausgasen als auch die Anpassung an die Folgen der Klimakrise stemmen zu müssen. In einigen Regionen jedoch sind die Probleme weitaus gravierender: Die weltweite Zahl an Klimaflüchtlingen übersteigt erstmals die Zahl von einer halben Milliarde, Teile des Menschenstroms kommen auch nach Europa. Manche Staaten brechen unter den Lasten zusammen, Gewaltkonflikte nehmen zu. Die relativ bevölkerungsschwachen ländlichen Räume Ostdeutschlands werden Heimat für eine wachsende Zahl von Vertriebenen. Wieder einmal skandieren fremdenfeindliche Gruppen vor den Flüchtlingsunterkünften. 2050 Deutschland und die Klima-Avantgarde scheinen davon zu profitieren, früh auf starken Klimaschutz gesetzt zu haben. Wenngleich weite Teile der Welt noch zögern, so steigen der Export von Umwelttechnologien und die Expertise zur Anpassung massiv an. Ehrgeizige und verbindliche Emissionsreduktionsziele für alle Sektoren haben in Deutschland Investitionen angestoßen und Innovationen vorangetrieben – allerdings war der Preis bisweilen sehr hoch. Start-ups kamen und gingen, ganze Großkonzerne gingen in die Knie, der Frust in Gesellschaft und Wirtschaft ließ sich oftmals nur schwer bändigen. Einer der größten Vorteile liegt darin, dass in Deutschland Energie ausreichend und zu einem sehr günstigen Preis verfügbar ist und keinerlei Energieimporte benötigt werden; investiert wird stattdessen in Bildung und Forschung. Klima-Knowhow aus Deutschland wird in alle Teile der Welt exportiert. Dieser gemeinsame Kraftakt hat auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt gestärkt – man ist stolz auf das Erreichte. Andere Länder hingegen leiden unter den Folgen und Pfadabhängigkeiten früherer Investitionen in CO2-intensive Infrastruktur. Der Umschwung wird ihnen zumindest dadurch erleichtert, dass andere bereits frühzeitig in die Lernkurve investiert haben. Es ist schon sehr heiß geworden. 10/2015 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | GRÜNE ZUKUNFTSWERKSTATT KLIMASCHUTZ » VIER SZENARIEN | 11 IM TREIBHAUS Man hatte sich zwar darauf einigen können, dass alle Vertragsparteien das 2-Grad-Limit verbindlich anerkennen – mehr aber auch nicht. Konkrete Verpflichtungen für jedes Land wurden immer wieder aufgeschoben. Letztlich sind es noch immer die alten Konfliktlinien und Interessensgegensätze, die das Handeln der Akteure prägen. Mitte der 20er Jahre erlebt die Staatsverschuldung in verschiedenen Regionen der Welt einen neuen Höhepunkt und verschärft die globalen Ungleichheiten noch mehr. Viele Schwellen- und Entwicklungsländer sehen Verpflichtungen zum Klimaschutz als Einschränkung ihres Rechts auf wirtschaftliche Entwicklung. Gleichzeitig hält sich der Eifer der von Abstiegsängsten bedrohten Industrienationen, ihre Emissionen rasch herunterzufahren, in Grenzen. Die Zusagen zur finanziellen Unterstützung für Klimaschutz und Anpassung in den Ländern des Südens bleiben weit hinter den Erwartungen zurück. Letztlich mangelt es an wirkungsvollen Sanktionsmechanismen. Auch wenn es in den offiziellen Kommuniqués so nicht ausgesprochen wird, aber der Versuch einer global koordinierten Klimapolitik ist gescheitert. Ressourcen- und energieintensive Lebensstile breiten sich als dominantes Entwicklungsmodell auf der ganzen Welt aus. Eine Folge davon ist der massive Zugriff auf die noch vorhandenen Ressourcen. Durch den intensiven Einsatz von Fracking gelingt es, den Preis für Öl und Gas auf einem moderaten Niveau zu halten. Auch in Deutschland wird verstärkt auf Fracking gesetzt, um die Abhängigkeit von Energieimporten zu verringern. Als wahre Fundgrube erweisen sich die Lagerstätten in der Arktis, welche Russland im Wettlauf mit dem Westen erschließt und ausbeutet. Zugleich kommt die Motorisierung Asiens so richtig in Schwung: Auf dem indischen Subkontinent setzen die Menschen auf kleine, aber konventionelle Fahrzeuge, die schnell und teilweise vom Staat subventioniert auf den Markt drängen. Über Neu Delhi bilden sich Smogwolken ähnlich wie über Peking. In den 30er Jahren nehmen die Umweltbelastungen in Deutschland zwar spürbar zu, sind aber noch handhabbar. Statt Klima-Alarmismus dominiert die Annahme, dass die Veränderungen wohl doch nicht so schlimm sind bzw. handhabbar bleiben werden. Eine weit verbreitete Ansicht ist, dass es wohl insbesondere andere Regionen und Bevölkerungen treffen wird. In Deutschland haben sich die Bedingungen für den Weinbau in Brandenburg und MecklenburgVorpommern deutlich verbessert, Obstsorten, die man früher importieren musste, wachsen nunmehr auf der Schwäbischen Alb. Man genießt das Dolce Vita im Süden der Republik, wenn nicht gerade wieder eine Malaria-Plage ausbricht. Eine Reihe von warmen Sommern verleiten die Bundespräsidentin zu dem viel zitierten Satz, dass „der Klimawandel ja auch seine Sonnenseiten“ habe. Die Ostsee hat sich touristisch gesehen zur Toskana des Nordens entwickelt, dagegen ist Skiurlaub nur noch was für sehr Reiche, denn die Alpen sind so gut wie schneefrei und auch die 10/2015 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | GRÜNE ZUKUNFTSWERKSTATT KLIMASCHUTZ » VIER SZENARIEN | 12 künstliche Beschneiung wird zunehmend aufwendiger. 2028 führen die deutschen Bundesländer dreimonatige Sommerferien ein. In den meisten Schwellen- und Entwicklungsländern hat das Wirtschaftswachstum dazu beigetragen, dass die Menschen nunmehr über deutlich bessere Möglichkeiten verfügen, sich gegen die Folgen des Klimawandels zu schützen. Doch während die globale Mittelklasse sich langsam und stetig an das rauere Klima anpasst, leben noch immer Hunderte Millionen arm und abgehängt. Mit der Zeit nehmen die Engpässe bei verschiedenen Rohstoffen zu. Die NATO-Mitgliedstaaten erklären den Zugang zu strategischen Ressourcen und die Versorgungssicherheit im Energiebereich zur zentralen Säule der neuen Sicherheitsstrategie des Bündnisses. Erste Länder greifen zu protektionistischen Maßnahmen und forcieren ihre Interessen in anderen Regionen. Die Zunahme klimawandelbedingter Krankheiten trägt ebenfalls dazu bei, dass die Grenzen undurchlässiger werden. Die Zunahme an Klimaflüchtlingen ist keine Schlagzeile mehr wert – zu alltäglich ist das Sterben vielerorts geworden. Es gelingt auch nach Jahren nicht, sich auf gemeinsame Unterstützungsmaßnahmen oder gar Quoten für die Aufnahme der betroffenen Menschen zu einigen. Die meisten Staaten setzen vielmehr auf die verstärkte Grenzsicherung, um den illegalen Zustrom zu verringern. Nach dem Vorbild Europas bauen auch die anderen OECD-Staaten Schutzwälle um ihre Grenzen, um Klimaflüchtlinge abzuhalten. Eine verlangsamte wirtschaftliche Dynamik wirkt sich zwar positiv auf die Emissionsbilanzen einiger Staaten aus, aber auch auf ihre Fähigkeit, in Klimaschutz zu investieren. Zugleich steigen die Belastungen von vielen Staaten im Zuge der zunehmenden Anzahl und Stärke von Extremwetterereignissen. In Deutschland verringert Mitte der 30er Jahre eine neuerliche Jahrhundertdürre zum zweiten Mal in Folge die Ernteerträge drastisch. Weltweit erreichen die Sturmschäden eine bisher nicht gekannte Höhe. Zwei der sieben weltweit größten Rückversicherer knicken ein und müssen Insolvenz anmelden. Die Branche erklärt Extremwetterereignisse als nicht mehr versicherbar – neue Policen wird es nicht mehr geben. Der Folgen des gemeinsam verschuldeten Klimawandels tragen fortan die Privatpersonen alleine. Trotzdem wird ein erneuter Versuch für eine global koordinierte Minderung des Ausstoßes von Treibhausgasen gestartet. Die Delegationen der verbliebenen 92 beteiligten Staaten einigen sich darauf, dass die globale Erwärmung langfristig nicht mehr als 3 Grad über das vorindustrielle Niveau steigen darf. Entsprechende verbindliche Maßnahmen werden aber auf die Zeit nach der Krise verschoben. In den 40er Jahren steigen die Weltmarktpreise für die konventionellen Nahrungsmittel drastisch an, ebenso die Preise für Ackerflächen. Lebensmittel aus Algen und Wasserlinsen bilden die Basis für eine ausreichend proteinhaltige Ernährung für immer größere Teile der Weltbevölkerung. Fleisch wird zunehmend industriell aus Zellkulturen erzeugt. Gemüse, Kaffee oder Tierfleisch sind für viele nicht mehr bezahlbar. Kleinkinder erhalten künstlich hergestellte Vitamine und Nahrungsergänzungsmittel. Auch in Deutschland müssen die Menschen einen steigenden Anteil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben. Zahlreiche Entwicklungsländer führen eine strikte Geburtenkontrolle ein. Weite Teile der 10/2015 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | GRÜNE ZUKUNFTSWERKSTATT KLIMASCHUTZ » VIER SZENARIEN | 13 Bevölkerung werden sterilisiert. Die EU und die Vereinten Nationen geben finanzielle Unterstützung für die Umsetzung der Programme. Eine große Herausforderung stellt der schneller als erwartet ansteigende Meeresspiegel dar. Weltweit müssen die Küstenstädte klimafest gemacht werden – eine historisch beispiellose Mammutaufgabe. An Deutschlands Küste wird stark in den Ausbau der Dämme investiert, Dörfer müssen weichen, um mehr Flutungsflächen zu schaffen. Die Ölförderländer einigen sich 2042 mit dem Abuja-Accord auf eine Verdreifachung des Ölpreises. Die Industrie- und Schwellenländer geraten daraufhin in eine tiefe Rezession. Neun Monate später marschieren EU-Truppen in Libyen und Nigeria ein, um die Interessen der westlichen Wertegemeinschaft zu wahren. Die USA schießen Schwefelaerosole in die Atmosphäre, um die Sonnenstrahlung etwas zu vermindern. Auch andere Staaten greifen unilateral in das Klimasystem ein, zum Beispiel indem sie in die Stoffkreisläufe in den Ozeanen einwirken. Dadurch versauern die Meere weiter und die letzten Korallen sterben noch schneller aus als gedacht. Vor allem auf der Südhalbkugel werden die Biosysteme massiv beeinträchtigt – zusätzlich zu den Auswirkungen des Klimawandels. In vielen Ländern haben über die letzten Jahre extreme politische Einstellungen stark zugenommen und Parteien an die Regierung gebracht, die versprochen haben, hart durchzugreifen. Auch in den demokratischen Gesellschaften werden die Politikstile autoritärer. Vielfältige und komplexe Konfliktkonstellationen machen weitere Versuche einer international koordinierten Klimapolitik vollends zunichte. 2050 Die ökonomischen Ungleichheiten haben stark zugenommen – sowohl zwischen einzelnen Staaten und Regionen wie auch innerhalb von Gesellschaften. Die allgemeine Knappheit von Rohstoffen, Trinkwasser und Nahrungsmitteln verschärft in allen Teilen der Welt die Konflikte. Internationale Institutionen und Konfliktlösungsmechanismen haben jedwede Bedeutung verloren. Oft gilt das Recht des Stärkeren. Die weltwirtschaftliche Schwäche hat dazu geführt, dass die globalen Emissionen von Treibhausgasen nicht mehr gestiegen sind. Doch die Erderwärmung nimmt ihren Lauf. 10/2015 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | GRÜNE ZUKUNFTSWERKSTATT KLIMASCHUTZ » VIER SZENARIEN | 14