Der ausführliche Bericht zum

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POLITISCHER SONDERBERICHT
Ägypten vor den Parlamentswahlen
Steigende Lebensmittelpreise, der tägliche Kampf ums Überleben, eine Inflationsrate von über
zehn Prozent, ein desolates Erziehungswesen, ein korruptes Gesundheitssystem …, die Liste
der Unzufriedenheit beim ägyptischen Volk ist lang. Am 28. November 2010 ist es aufgerufen, ein
neues Parlament zu wählen. Eine der zentralen Fragen wird sein: Wie wirkt sich der Unmut in der
Bevölkerung auf die Wahlen aus?
Bereits in den vergangenen Monaten zeigte die Öffentlichkeit eine wachsende Bereitschaft zu
Streiks und Demonstrationen. Die geringe Beteiligung bei den Wahlen zum ägyptischen
Oberhaus im Frühjahr des Jahres kann als Indiz für Politikverdrossenheit und schwindendes
Vertrauen in die Politik der herrschenden Elite und der Regierungspartei NDP
(Nationaldemokratische Partei) gewertet werden. Bei den nun anstehenden Parlamentswahlen ist
ebenfalls mit einer sehr geringen Wahlbeteiligung zu rechnen. Wie auch immer, ein Sieg der
Regierungspartei NDP gilt als sicher.
Anlass zu weiteren Spekulationen gibt auch die Muslimbruderschaft. Sie steht als nicht
anerkannte Partei in der Opposition, konnte jedoch bei den letzten Wahlen 2005 88 Abgeordnete
(das sind 20 % aller Parlamentssitze) ins Parlament schicken. Es gilt als unwahrscheinlich, dass
sie bei den jetzigen Wahlen ein ähnliches Ergebnis erzielen wird. Ein eventueller Wahlboykott
aller Oppositionsparteien wurde durch Streitigkeiten innerhalb der Parteien wieder verworfen. Es
bleibt die Frage, um wie viel der Stimmenanteil der Regierungspartei NDP die 2/3-Mehrheit
übersteigen wird und welchen (geduldeten) Erfolg die Oppositionsparteien haben werden.
In Hinblick auf die 2011 anstehenden Präsidentschaftswahlen wird mit großem Interesse verfolgt,
ob der seit 1981 regierende und dann 83-jährige Präsident Hosni Mubarak wieder zur Wahl antritt
Politisches System Ägyptens
Ägypten ist nach Artikel eins seiner Verfassung ein „sozialistischer demokratischer Staat“ mit
dem Islam als Staatsreligion (Artikel zwei) und einem Mehrparteiensystem, das in Artikel fünf der
Verfassung verankert ist.
Das ägyptische Parlament (ägyptische Vollversammlung) ist gemäß Artikel 86 der Verfassung die
gesetzgebende Körperschaft, deren Mitglieder auf fünf Jahre gewählt werden. Das Gesetz
schreibt vor, dass mindestens die Hälfte der Mitglieder Arbeiter und Bauern sein müssen.
Stimmberechtigt sind alle Bürger ab dem 18. Lebensjahr, das passive Wahlrecht gilt ab dem 30.
Lebensjahr. Angehörige von Polizei und Militär sind nicht wahlberechtigt.
Seit 1990 beträgt die Zahl der Wahlkreise 222. In jedem Wahlkreis sind nach dem
Mehrheitswahlrecht zwei Abgeordnete zu wählen.
Ins Parlament gewählt werden 508 Abgeordnete, wovon mindestens 64 Frauen sein müssen.
Präsident Mubarak hat per Dekret die Frauenquote vorgegeben. Diese werden in 32 sog.
Frauenwahldistrikten gewählt, wo nur Frauen als Kandidatinnen zugelassen sind. So ist
sichergestellt, dass 12 % der Parlamentssitze von Frauen eingenommen werden.
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Jedes Gouvernorat – in Ägypten gibt es heute 30 Gouvernorate – muss mit mindestens zwei
Frauen im Parlament vertreten sein. Die Gouvernorate Cairo –als Megacity-, sowie Sohag und
Daqahiliya –zwei ländliche Gouvernorate- müssen mit mindestens vier Frauen vertreten sein.
Vom Präsident werden nach den Wahlen noch zehn weitere Abgeordnete bestimmt, so dass die
Gesamtzahl der Parlamentssitze 518 ist. Durch das Recht des Präsidenten, zehn Abgeordnete
nach seiner Wahl zu benennen, soll gewährleistet werden, dass Minderheiten wie Kopten oder
früher Frauen im Parlament vertreten sind. Bei der Wahl 2005 wurden nur sechs Frauen gewählt,
so dass der Präsident sechs weitere als Abgeordnete benannte.
Parteien in Ägypten
In Ägypten gibt es 24 zugelassene Parteien in einem Spektrum von den sozialistisch
ausgerichteten Nasseristen über eine liberale Splitterpartei bis zu der ursprünglich religiös
verankerten Al-Wafd Partei, der ältesten Partei Ägyptens.
In fast allen diesen Parteien gibt es seit Jahren ständig Streitereien in der Führungsebene, so
dass ein überzeugendes Wahlkonzept nur sehr schwer zu erreichen ist.
Mit dem Aufruf zu einem Wahlboykott wollte der Friedensnobelpreisträger und frühere Chef der
Atombehörde Mohamed El Baradei, der als möglicher Kandidat für die Präsidentenwahl 2011 von
großen Teilen der jungen Bevölkerung unterstützt wird, die Oppositionsparteien zum Verzicht bei
der Aufstellung von Kandidaten bewegen. Als jedoch führende Persönlichkeiten der NDP
versicherten, dass die Parlamentswahlen 2010 „frei“ und „fair“ verlaufen sollen, ist die Al-Wafd
Partei als eine der ersten Parteien von denn „Wahlverweigerern“ ausgeschert. Unter dem Slogan
„Es ist höchste Zeit“ tritt sie jetzt mit 176 Kandidaten an. Oppositionelle Zeitungen mutmaßten,
dass der Al-Wafd Partei von der NDP Zusagen über eine bestimmte Anzahl von
Parlamentssitzen gemacht wurden.
Nach der Entscheidung der Al-Wafd haben sich auch andere Parteien für eine Wahlbeteiligung
entschlossen. Der Versuch mit einem gemeinsamen Parteienblock (Egypt Youth Partei, Al-Ghad,
Liberale Partei, Al-Geel, Misr Al-Arabi, die Grünen und Al Takaful) bei den Wahlen anzutreten, ist
jedoch an offenen Reibereien zwischen den Parteien gescheitert. Zusammen sollten ca. 350
Kandidaten ins Rennen geschickt werden. Die linksgerichtete Tagammu Partei tritt bei den
Wahlen mit 76 Kandidaten an.
Die 1928 von Hassan al-Banna gegründete Muslimbruderschaft ist in Ägypten seit 1954
verboten. Führende Parteifunktionäre wurden und werden bis heute verfolgt und verhaftet. Durch
die große Zahl von Sympathisanten wird sie jedoch von der Regierung bis heute „geduldet“. Sie
konnte bei den Parlamentswahlen 2005 mit sogenannten unabhängigen Kandidaten 88
Parlamentssitze erringen. Spekuliert wurde, dass es ohne Wahlmanipulation weite mehr Sitze
gewesen seien. Bei den damaligen Wahlen, die an drei Wochenenden durchgeführt wurden,
hatten die Kandidaten der Muslimbrüder am ersten Wahlwochenende schon so erhebliche
Gewinne erzielt, dass an den darauffolgenden zwei weiteren Wahltagen stark manipuliert wurde,
um die für Verfassungsänderungen notwendige 2/3-Mehrheit nicht zu gefährden. Die
Muslimbrüder wurden die stärkste Oppositionskraft im Parlament und waren so für die Regierung
eine schwer einzuschätzende „Gefahr“.
Bei den Wahlen 2010 kandidieren 150 Anhänger oder Mitglieder der Muslimbrüder als
unabhängige Kandidaten. Da in Ägypten keine religiösen Parteien und somit auch keine
religiösen Wahlslogans erlaubt sind, treten die aufgestellten Kandidaten unter dem Motto
„Beteiligung und Wettbewerb“ an. Damit soll die Zahl der Verhaftungen der Kandidaten vor dem
Urnengang möglichst gering gehalten werden. Seit Wochen ist jedoch in den Zeitungen von
zahlreichen Verhaftungen von Anhängern der Muslimbrüder, darunter viele Kandidaten für die
Parlamentswahl, zu lesen.
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Beobachtungen zum Wahlkampf
US-Außenministerin Hillary Clinton forderte bei einem Treffen mit Staatspräsident Hosni Mubarak
freie, faire und transparente Parlamentswahlen – eine Forderung, die auch schon ihre
Vorgängerin Condoleezza Rice 2005 an den ägyptischen Präsidenten gestellt hat. Dennoch war
der Wahlbetrug enorm.
Ausländische Wahlbeobachter werden von der Regierung abgelehnt, weil ihr Einsatz als
Einmischung in die inneren Angelegenheiten Ägyptens angesehen wird. Um diese Tatsache zu
entschärfen, hat die nationale Wahlkommission lokale NGOs (Nicht-Regierungs-Organisationen)
und Menschenrechtsorganisationen aufgefordert, am Wahltag den Ablauf der Wahlen zu
beobachten. Dies wurde aber von den meisten Organisationen abgelehnt.
Die nationale Wahlkommission (Higher Elections Commission) hat am 7. November 2010 die
Liste der zur Wahl zugelassenen Kandidatinnen und Kandidaten bekannt gegeben. Offiziell hat
damit der Wahlkampf begonnen. Vorgegeben ist, dass religiöse Institutionen wie Kirchen und
Moscheen wie auch die Freiräume vor diesen Einrichtungen nicht für Wahlveranstaltungen
genutzt werden dürfen. Auch staatliche Einrichtungen wie Schulen oder Universitäten fallen unter
diese Vorgabe. Damit sollen die Kandidaten der Muslimbrüder, die sowohl an den Universitäten
als auch in den Moscheen zahlreiche Anhänger haben, geschwächt werden.
Um den massiven „Einkauf“ von Stimmen einzuschränken, hat die Wahlkommission bestimmt,
dass kein Kandidat mehr als 200.000,-- LE (ägyptisches Pfund, 25.000,- EURO) für seine
Wahlkampagne ausgeben soll.
Eine Bewegung von Studenten, Internetbenutzern und Intellektuellen, die sich unter dem Namen
„6. April“ zusammengefunden haben, (der Name geht auf die gewaltsam niedergeschlagenen
Streiks in der Textilstadt Mahala zurück) hat sich vorgenommen, die Bürger auf Ihre Rechte und
Pflichten bei den Wahlen aufmerksam zu machen und über den Wahlablauf zu berichten.
Ausblick und Prognose zur Parlamentswahl am 28.11.2010
Angesichts der gegenwärtigen politischen Strukturen und Machtverhältnisse scheint das
Wahlergebnis weitestgehend vorgegeben. Alles andere als eine klare 2/3-Mehrheit der NDP wäre
eine Überraschung.
Nachdem die Al-Wafd Partei durch „Zusagen“ aus der Allianz der Wahlboykotteure
ausgebrochen ist, kann davon ausgegangen werden, dass sechs bis acht Kandidaten der AlWafd „gewählt“ werden. Dazu dürften dann etwa gleich viel Kandidaten der verschiedenen
kleineren Parteien wie Liberale, Al-Tagammu und Nasseristen ins Parlament kommen.
Die große Frage ist, wie viele als unabhängig kandidierende Muslimbrüder „gewählt“ oder besser
„zugelassen“ werden Sicherlich wird das Ergebnis von 2005 nicht mehr erreicht werden. Will die
NDP ihre 2/3-Mehrheit, die für Verfassungsänderungen notwendig ist, behalten, dann könnte wie
bisher mit ca. 85 Oppositionellen gerechnet werden. Falls die antretenden kleineren Parteien
etwa 20 gewählte Vertretern vorweisen können, dürfte den Muslimbrüdern ca. 60 bis 65 Sitze
zugestanden werden – eine Zahl, die der internationalen Staatengemeinschaft zeigen soll, dass
„fair“ gewählt wurde. Sicherlich ist das auch ein Zeichen an die Muslimbruderschaft, sich bei der
Präsidentenwahl 2011 dem NDP Kandidaten gegenüber „loyal“ zu verhalten. Deren
Führungsspitze hat dies bereits mehr oder weniger zugestanden.
Die Parlamentswahlen werden kein Spiegel der politischen Meinung Ägyptens sein – noch
weniger ein Barometer der derzeitigen sozialen Stimmungslage. Es gibt in Ägypten eine lange
Tradition Wahlen zu fälschen. Durch Internet, Facebook und eine Vielzahl ausländischer Sender
werden aber Wahlbehinderungen und Wahlfälschungen heute einer breiten Öffentlichkeit
zugänglich gemacht. Ob das zu massiveren Protesten und einem Aufbegehren des Volkes gegen
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die bestehende Korruption reicht, bleibt dahingestellt. Die kommenden Monate werden zeigen
wie weit belastbar die Geduld des ägyptischen Volkes noch sein wird.
Die NDP ist angetreten, die wirtschaftlichen und sozialen Reformen voran zu treiben – ein
Versprechen, das schon 2005 gegeben wurde und das bisher nur im Bereich der Wirtschaft
umgesetzt wurde.
Herausgeber: Christian J. Hegemer, Leiter IBZ
Autor: Wolfgang Mayer
Lazarettstr. 33 – 80636 München –
Tel.: +49 (0)89 1258-369 – FA X: +49 (0)89 1258-359
E-Mail: [email protected] – Homepage: www.hss.de
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