Nach der Wahl ist vor der Wahl

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Nach der Wahl ist vor der Wahl
Oft ist von Wahlen als dem „Hochamt der Demokratie“ die Rede. Ob dieser Vergleich mit einem sakralen Vorgang
nun stimmig ist oder nicht – auf jeden Fall sind Wahlen für einen öffentlich-rechtlichen Sender eine besondere
Herausforderung. Bei keinem anderen Themengebiet kommen die gesetzlichen Verpflichtungen zu umfassender
Berichterstattung und Objektivität so sehr zur Geltung. Mit Argusaugen betrachtet die politisch interessierte
Öffentlichkeit jede Programmentscheidung. Alles wird hinterfragt, kritisiert, es gibt Beschwerden bei
Aufsichtsgremien, manchmal Klagen. Das hat auch Vorteile: In keinem anderen Bereich existiert so eine genaue
rechtliche Richtschnur, was in der Berichterstattung akzeptabel ist und was nicht.
2004 war die Wahl des höchsten Amtes im Staat die erste, die ich für den Aktuellen Dienst Fernsehen planen durfte.
Im Vorjahr war es – ein paar Dutzend Wahlen später - wieder soweit.
Die Vorwahlberichterstattung
1. Aktuelle Sendungen
Diese Bundespräsidentenwahl unterschied sich wesentlich von der des Jahres 2004: Der Amtsinhaber trat wieder an.
Das zwang die Sendungsverantwortlichen immer wieder zu unterscheiden, ob Bundespräsident Heinz Fischer die eine
oder andere Veranstaltung in Ausübung seiner Funktion oder als Wahlkämpfer besuchte. Oft lässt sich das nicht
genau feststellen. Grundsätzlich gilt im Wahlkampf in aktuellen Sendungen das Prinzip der Gleichbehandlung. Das
innenpolitische Ressort macht einen genauen Plan, in dem die jeweiligen Wahlkampfauftakte und
Schlussveranstaltungen die Eckpunkte bilden. Dazwischen werden Reportagen über Auftritte der Kandidaten und der
Kandidatin eingeplant. Dieser grobe Raster setzt aber natürlich nicht die Kriterien jeder Nachrichtensendung außer
Kraft, nämlich Neuigkeits- und Nachrichtenwert. Dem Amtsbonus von Heinz Fischer versuchen die „SpinDoktor/innen“ von Barbara Rosenkranz und Rudolf Gehring mit „Aufregern“ zu begegnen, also mit überraschenden
politischen Ansagen, die ihren Schützlingen mediale Aufmerksamkeit bringen sollen. Bei den beiden gelingt das nicht
ganz nach Plan, sie kommen eher mit Themen vor, die ihnen nicht angenehm sind. Bei der FPÖ-Kandidatin
Rosenkranz ist das ihre widersprüchliche Haltung zum Nationalsozialismus, beim Kandidaten der Christlichen Partei
seine Verteufelung der Homosexualität.
2. Interviewformate
Der ORF präsentiert die Spitzenkandidaten und -kandidatinnen vor bundesweiten Wahlen in der Pressestunde, in
Wahlkonfrontationen und – seit 2008 – in einer Fragestunde mit jungem Publikum auf ORF 1.
Bei der Bundespräsidentenwahl kam dazu noch je ein Liveinterview als Studiogast in der ZIB 2, unmittelbar nach
Vorliegen der Voraussetzungen für die Kandidatur. Dieses Kriterium ist besonders umstritten. Denn immer wieder
gibt es selbsternannte „Kandidaten“, die ihre Kandidatur ankündigen, und dann auf eine ORF-Einladung hoffen, da
ihnen ein Fernsehauftritt bei der Sammlung der notwendigen Unterstützungserklärungen helfen würde. Hier muss ein
öffentlich-rechtlicher Sender besonders sensibel und verantwortungsvoll vorgehen. Es gilt zwischen „Juxkandidaten
und -kandidatinnen“ und Personen öffentlichen Interesses zu unterscheiden. So wurde 2010 zwar über Ullrich
Habsburg-Lothringens letztlich erfolglose Ambitionen groß berichtet, weil Verfassungsfragen berührt wurden, bei
anderen wurde hingegen der Stichtag für die Hinterlegung der Unterstützungserklärungen abgewartet.
Von den gewohnten Zweier-Konfrontationen fand nur das Duell Rosenkranz-Gehring statt, weil Heinz Fischer es mit
der Würde des Amtes unvereinbar fand, an einer Diskussion teilzunehmen. Alle drei Bewerbe/innen waren hingegen
bereit, sich bei der ORF-1-Sendung „Wahl 10 – meine Frage“ von Jungwähler/innen befragen zu lassen.
Der Wahlabend
Bei der Wahltagsberichterstattung gilt die Prämisse: Neue Hochrechnungen und das Ergebnis haben im
Sendungsablauf Vorrang. Die Hochrechner/innen des SORA-Instituts haben ab den Mittagsstunden erste interne
Hochrechnungen, die einem ausgewählten Kreis von Sendungsverantwortlichen zugänglich sind. Damit kann man die
Sendungsplanung verfeinern und Abläufe adaptieren, etwa in welcher Reihenfolge Liveschaltungen stattfinden
werden, um Interviews einzuholen. Bei der Bundespräsidentenwahl war das unproblematisch – bekanntlich gab es
schon spannendere Wahlgänge.
Trotzdem ist es der Ehrgeiz der Hochrechner/innen, das Endergebnis unmittelbar nach Wahlschluss so genau wie
möglich vorherzusagen. Und die Kollegen und Kolleginnen von SORA nähern sich diesem Ideal von Wahl zu Wahl
immer mehr an! Das wissen auch die Interviewpartner, die immer seltener die früher übliche Phrase „Schauen wir
einmal, ob sich das im Lauf des Wahlabends noch ändert“ gebrauchen. So ergibt sich in den Wahlsondersendungen
ein Mix aus Hochrechnungen, Endergebnissen aus Bundesländern, Parteireaktionen per Liveschaltung und
Analysegesprächen im Studio. Die Analysen sind unterfüttert mit Daten über Wahlmotive, die in einer
Wahltagsbefragung vom Institut für Strategieanalysen (ISA) für den ORF erhoben werden. Bei den Interviews und
Analysen gilt der Ausgewogenheitsgrundsatz dann nicht mehr im selben Maß wie im Wahlkampf: Meistens wird über
Parteien oder Kandidaten und Kandidatinnen, die überraschend verloren haben, mehr gesprochen, als über den
erwarteten Wahlsieg. So wird im Lauf des Wahlabends aus einem Rückblick auf einen Wahlkampf meist ein Ausblick
auf künftige Wahlgänge, ganz nach dem Grundsatz: Nach der Wahl ist vor der Wahl.
Beitrag: Wolfgang Wagner, Aktueller Dienst Fernsehen
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