Heft 35 - Bilder der Welt

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Die Schöpfung
SERIE
ERLEBEN
EINE SERIE DER
GRALSWELT
Der königsblaue
Ritter der Tiefe
Helgolands einzigartige Hummer
Text und Fotos: Reinhardt Wurzel
KLARES WASSER umspült nackten,
rauhen Fels. Als Insel vor Jahrmillionen geboren, aus 3.000 Metern Tiefe
emporgehoben und das Meer heute
weit überragend: Helgoland. Vom
Wind geschüttelt, von Meer und
Brandung umtost und zerklüftet,
trotzt der rote Fels den Urkräften der
Natur. Unwirtlich und rauh, geradezu feindlich erscheinen das tiefe Meer
und die felsigen Abgründe, die weit
zum Meeresboden stürzen.
Meine Blicke gleiten tief hinab in
kalte, nasse Abgründe, suchen und
finden im smaragdfarbenen Wasser
ein majestätisches Tier. Es bewegt
sich geschickt und schwerelos über
den felsigen Hang und steigt weiter
hinab. Begeistert erkenne ich ihn sofort, den königsblauen Hummer
Hegolands, den Ritter der Tiefe –
selten geworden, aber immer noch
der König aller Krustentiere.
Wachsam blicken seine auf langen
Stielen sitzenden, mosaikartigen Facettenaugen.
Die scherenartigen Schwerter hält er
kampfbereit gezogen. Solange er seiner Burg, der Felsengrotte, fern ist,
weiß er sich sofort in den Kampf zu
stürzen. Schützend wie eine mittelalterliche Rüstung umgibt ihn der tiefblaue Harnisch, ein glänzender Panzer aus farbigem Kalk. 50 Zentimeter
Panzerlänge machen ihn praktisch
unverwundbar – es sei denn, ein Artgenosse kommt und fordert ihn heraus. Dann entbrennt ein Kampf „bis
aufs Messer“, bis die Scheren gebrochen sind und sein Raubtierinstinkt
den Hummer zum Kannibalen werden läßt.
Doch der Ritter der Tiefe zeigt
bisweilen auch feinste Manieren. Wenn ein reizendes
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In gepanzertem Ritterharnisch und spitzem
Dornhelm ein achtenswerter Gegner …
Burgfräulein erscheint und ihr Pheromon versprüht – einen außergewöhnlichen Parfümcocktail –, dann
wandelt er sich. Im Nu läßt er das
edle Weibchen an sich heran und
wird dafür zum „Ritter ihres Herzens“ geschlagen: Als symbolhafte
Geste legt das blaue Hummerweibchen ihre schweren Scheren auf sein
Haupt. Ein kurzer Moment, in dem
er regungslos verharrt, als Zeichen
seines Einverständnisses. Erst dann
führt er sie in seine Höhle …
Und plötzlich geschieht das
wiederkehrende Wunder im Leben
der Hummer-Fräuleins – die Häutung: Der stolze Panzer wird gesprengt! Der Länge nach kracht der
Rücken auf, und das Weibchen zieht
mit unvergleichlichem Geschick
Rücken und Kopf, Augen und Antennen aus dem Panzer heraus. Es
folgen die beiden Scheren durch geschickte Drehung, und schließlich,
mit elegantem Schwung, der restliche
Leib sowie der muskulöse Schwanz.
Das Weibchen hat sich buchstäblich
aus seiner Rüstung geschält! Nun liegt
es butterweich und verletzlich neben
ihm – und der einzig mögliche Moment für die Paarung ist gekommen.
Mit höchst vorsichtigen Berührungen
wird die Befruchtung vollzogen.
Doch so rücksichtsvoll die Begegnung in der Burg auch war – kaum
erhärtet nach Tagen der neue Panzer
des Weibchens, mutiert es in der
Wahrnehmung seines früheren Beschützers zum ungeliebten Konkurrenten. Es tut also gut daran, ein eigenes Zuhause aufzusuchen …
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MONATE VERGEHEN, ein neuer spannender Augenblick ist gekommen.
Mit einem Mal legt sich das Weibchen auf den Rücken, krümmt seinen
Schwanz nach innen, und 20.000
kleine Eier werden ausgestoßen. Mit
Hilfe einer klebstoffartigen Substanz
hängen sie jetzt an seinem breiten
Unterleib. Grünlichblau, wie winzige
Weintrauben, reifen die Eier, nur versorgt von sauerstoffreichem Wasser.
Die Reifezeit des Nachwuchses
währt lange – eine Geduldsprobe für
die Mutter. Sie kann und darf sich
jetzt nicht häuten!
Erst nach 12 Monaten, zur Sommerzeit, schlüpfen die Larven. Ohne
Vorwarnung empfängt der kalte Atlantik viele tausend winzige Hummerbabys. Die Geschwister treiben
hilflos umher, Stürme und Gezeitenströme verdriften sie ins Niemandsland, weit weg von Fels und Schutz.
So bedeutet die mutterlose Kinderstube augenblicklich Überlebenskampf – gierige Raubfische wie
Dorsch und Aal warten ebenso wie
… Artgenossen. Denn ein Hummer
frißt nichts lieber als Hummer. Diese
extremen Lebensbedingungen gestatten es von einer ganzen Eiablage nur
Dreien, eines Tages selbst zum blauen Meeresritter zu werden.
ICH BETRETE einen großen Saal. Gurgelnde Geräusche gluckern aus allen
Ecken, ein fischartiger Geruch hängt
in der Luft, und viele grüne Kästen
stehen herum. Wir befinden uns in
der Biologischen Anstalt von Helgoland, einem eigenen Reich von tau-
send blauen Hummern, der großen
Forschungsstation des Alfred-Wegener-Instituts.
Kaum trete ich an eines der Einzelbecken heran, greifen massige
Scheren nach mir, verteidigt ein großes Hummerexemplar sein Revier.
In künstlichen Höhlen leben Tiere
aller Altersklassen. Von natürlichem
Seewasser umspült, wachsen sie sicher heran. Wären sie nicht hier, so
würde kaum mehr eines der Tiere
am Leben sein.
Prof. Dr. Friedrich Buchholz,
Sektionsleiter der Meeresstation,
Olaf Goemann, Leiter des Aquariums, und ihre Mitarbeiter haben es
Professor Buchholz im „Biologischen
Institut“: Hier kümmert man sich um
das Überleben der Hummer.
Ein blauer Riesenhummer in seinem
Zuchtbecken im „Biologischen
Institut“.
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sich seit vielen Jahren zur Aufgabe
gemacht, den Tieren zu helfen. Statistiken belegten nämlich einen völligen Zusammenbruch der Hummerpopulation. Betrug die Fangzahl an
Hummern 1937 noch 87.000 Exemplare pro Jahr, beläuft sie sich heute
gerade einmal auf 100. Die Verschmutzung der Weltmeere und der
Verlust von Höhlen am Felssockel
Helgolands als Kriegsfolge riefen
nach einem Förderprogramm zur
Hummerforschung. Noch kennt
man nicht alle Ursachen des Rückgangs und ist am Beginn eines großen
Arterhaltungsprogramms. Um den
Helgoländer Hummer von der Liste
der gefährdeten Arten hoffentlich
bald streichen zu können, wird die
Population jährlich aufgestockt.
Markierte Tiere werden dazu von
Tauchern direkt auf dem Meeresgrund ausgesetzt – im Jahr über 600
Kleinhummer! Fänge solcher Tiere
werden an die Meeresstation gemeldet. Aus diesen Daten lassen sich
Freilandwachstum, Territorialverteilung und Populationsentwicklung
der hochsensiblen Art ermitteln.
IN DEN Becken pumpen großartige
königsblaue Tiere fortwährend Wasser durch den Körper, lange rote Antennen lugen hervor und große Stiel-
Ein Hummer-Gruß an alle GralsWelt-Leser!
Die orangefarbene Borte umrandet den königsblauen Fächer im Sonnenlicht.
augen beobachten aus dem Höhleneingang jede Bewegung. Ich ergreife
ein Tier. Wüßte ich nicht, wie und
wo – das Kopfbrustschild ist die einzig mögliche Stelle –, so wäre mein
Finger in Sekundenschnelle fast oder
ganz durchtrennt. Was die Scheren
ergreifen, lassen sie nicht mehr los.
Ich hebe das majestätische Tier heraus. Wild schnappen die Scheren im
300-Grad-Winkel um sich. Peitschenartig schlagen Schwanz und
Schwanzfächer vor und zurück. Nur
mit größter Mühe kann ich meinen
Hummer halten. Ist schon sein vehementes Verhalten beeindruckend,
überraschen mich seine kolossalen
Kräfte um so mehr. Sie werden erst
deutlich, als wir ihn für ein paar Fotos abbürsten wollen, weil er von Sedimentablagerungen auf seinem Rükken verschmutzt ist. Eine kleine Unaufmerksamkeit – und schon packen
die Hummerscheren, schneller als ein
Lidschlag, in die Bürste. Nur zu
zweit, mit vereinter Kraft, können
wir Zangen und Bürste wieder trennen. Wir überlassen dem Hummer
dafür eine leere Kunststoff-Flasche
als Opfer – und beobachten fasziniert
die ausgeprägten Muskelpakete in
Schwanz und Zangen – unübertreffliche Waffen und Werkzeuge! Üblicherweise befindet sich die „Hantierschere“ mit ausgeprägtem Sägezahn
zu seiner Linken, während die kräftige, mit Höckern versehene „Knakkschere“ vorzugsweise rechts sitzt.
Diese dient dem Hummer zum Zertrümmern schaliger Tiere – Krebse,
Angriff auf den „Feind“:
Glücklicherweise nur eine Plastikflasche!
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Muscheln, Schnecken oder Seeigel.
Die linke Schere entspricht zugleich
einer Gabel und führt Nahrung zu
den Mundmahlwerkzeugen.
Da die Helgoländer Population
völlig eigenständig ist, geht es um das
Leben und Überleben eines jeden
Hummers. Nur im harten Inselfelsgrund Helgolands, zwischen 10 bis
50 Metern Tiefe, findet das Tier, das
bis zu 90 Jahre alt werden kann, jenen
geeigneten Lebensraum, der in den
Weiten der Nordsee fehlt.
Der „Homarus gammarus“, so
die allgemeine Bezeichnung des europäischen Hummers, blickt auf einen erfolgreichen Evolutionsweg zurück. Aber das Krebsgetier – mit seinen ersten Vorfahren, den Gliederfüßlern, vor einer halben Milliarde
Jahren – ist auch die älteste bekannte
Delikatesse der Welt, bis heute geschätzt und begehrt an allen Ufern
der Weltmeere. Es bleibt zu hoffen,
daß sich das Verhältnis zwischen
Fang und Bestand vernünftig entwickelt. Sonst wird eines Tages auch
der letzte Hummer in seinem Aquarium sterben.
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Oben: Geschützt trägt das
Hummerweibchen ihre 10.00020.000 Eier am „Bauch“.
Links: Diese „Weintrauben“ sind
gefüllt mit neuem Leben, das nach
Entwicklung strebt. Hier reifen die
Hummerbabys heran. Ein Wunder
der Natur!
Nur drei von 100.000 HummerLarven erleben das Erwachsenenalter!
Der „königsblaue Ritter der Tiefe“
hat noch einen weiten Weg vor
sich!
Gerade einmal sechs Zentimeter
groß – und schon ohne eine Kinderstube …
HUMMERKINDER UND -babys entzücken die Gäste des Biologischen
Instituts am meisten. Mit nur zwei
Zentimeter Länge sehen sie unter der
Lupe aus wie die Großen. Jedes
Hummerchen erhält ein eigenes
„Einzelzimmer“ in der Größe einer
Keksschachtel, ein kleines rotes
Kunststoffröhrchen. Denn für unge-
störtes Wachstum ist eine persönliche
Minihöhle unerläßlich.
In den planktonangereicherten
Becken verhelfen spezielle aufwärtsströmende Wasserkreisel den kleinen
Tieren über die kritischste Lebensphase hinweg. Auf diesem Weg werden die Hummerlarven leicht auseinandergehalten, ansonsten würde
Kannibalismus die natürliche Auslese
allzu sehr unterstützen.
Da Hummer ein Außenskelett besitzen – beim Menschen gibt das
Innenskelett dem Körper Halt –, können sie durch den sie umgebenden
Panzer nicht kontinuierlich wachsen.
Alle Monate, später beträgt der Abstand mehrere Jahre – muß der Hum-
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mer daher aus seinem alten Panzer
schlüpfen. Der Vorgang dauert nur
zehn Minuten. Dabei zieht der Hummer seinen ganzen Körper, Glied für
Glied, selbst Zangen und Fühler, Augen und Kiemen, aus dem harten
Panzer. Durch Auspressen des Blutes kann er selbst die dicken Muskeln
der Zangen durch die schmalen Gelenke ziehen. Frisch gehäutet, preßt
er mit kräftigem Druck wieder Blut
in die Muskeln, die anschwellen und
die neue starke Form erhalten. Sofort
pumpt der Hummer den Körper mit
Wasser voll, und die verschrumpelte
Haut dehnt sich bis zur neuen, wenige Millimeter bis Zentimeter veränderten Größe (die lange Wachstumszeit ist der Grund, die ihn für eine
kommerzielle Aufzucht unrentabel
macht). Augenblicklich frißt er kalkhaltige Substanzen, auch Teile seines
alten Panzers, die eilig zur Härtung
der Haut benötigt werden. Solange
dies nicht der Fall ist, schwebt er in
großer Lebensgefahr.
Nur dieser Prozeß der Häutung
ermöglicht dem Hummer stetiges
Wachstum. Die Natur gibt ihm dabei
auch ein besonderes Geschenk: Verliert der Hummer im Kampf Scheren
oder Beine, so werden diese bei der
nächsten Häutung nachgebildet. Er
kann seine Scheren in Gefahr sogar
bewußt abwerfen. Zwei bis drei Häutungen vergehen, dann sind gänzlich
neue Gliedmaßen gewachsen.
Eine Forscherin zieht einen interessanten Vergleich zum Prozeß der
Häutung: „Geht es uns Menschen
denn anders? Auch wir müssen im
Leben oft alte Strukturen aufgeben,
werfen althergebrachte Meinungen
über Bord, lösen uns von den Schalen
verkrusteter Verhaltensweisen, um
innerlich neu zu wachsen. Und in
dieser Phase der Neuorientierung,
auf dem neuen Boden der Unerfahrenheit, sind wir ungeschützt und
werden oft angegriffen und ausgenutzt.“
Die Schöpfung erleben – wer genauer hinsieht, für den hält die Natur
so manches wertvolle Gleichnis bej
reit …
Deutschlands
einzige Hochseeinsel Helgoland feiert ein
bedeutendes Jubiläum: den 50.
Jahrestag der Wiederfreigabe nach
dem Zweiten Weltkrieg. Hier ist die
Heimat der „königsblauen Ritter
der Tiefe“. Helgolands Hummer
sind einzigartig.
Rekord: Ein 1960 gefangener 85
Jahre alter Riesenhummer mit 10
Kilo Gewicht und 88 cm Länge.
»Wir hatten vier kanadische
Hummer im Becken.
Plötzlich lag am Morgen ein
Fünfter dabei. Der neue
Hummer hatte zudem keinen Gummi um die Scheren.
Wir dachten sofort, dies
ist ein Scherz eines Mitarbeiters. Als ich ihn herausnahm, war natürlich alles
klar. Ich hielt einen butterweichen, frisch gehäuteten
Hummer in der Hand,
das andere war seine alte
Schale. Und er gefiel mir,
schließlich wog er jetzt
600 Gramm mehr!«
Stephan Leisenheimer,
Besitzer der „Mocca-Stuben“,
Helgoländer Hummer-Restaurant
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