Die Schöpfung SERIE ERLEBEN EINE SERIE DER GRALSWELT Der königsblaue Ritter der Tiefe Helgolands einzigartige Hummer Text und Fotos: Reinhardt Wurzel KLARES WASSER umspült nackten, rauhen Fels. Als Insel vor Jahrmillionen geboren, aus 3.000 Metern Tiefe emporgehoben und das Meer heute weit überragend: Helgoland. Vom Wind geschüttelt, von Meer und Brandung umtost und zerklüftet, trotzt der rote Fels den Urkräften der Natur. Unwirtlich und rauh, geradezu feindlich erscheinen das tiefe Meer und die felsigen Abgründe, die weit zum Meeresboden stürzen. Meine Blicke gleiten tief hinab in kalte, nasse Abgründe, suchen und finden im smaragdfarbenen Wasser ein majestätisches Tier. Es bewegt sich geschickt und schwerelos über den felsigen Hang und steigt weiter hinab. Begeistert erkenne ich ihn sofort, den königsblauen Hummer Hegolands, den Ritter der Tiefe – selten geworden, aber immer noch der König aller Krustentiere. Wachsam blicken seine auf langen Stielen sitzenden, mosaikartigen Facettenaugen. Die scherenartigen Schwerter hält er kampfbereit gezogen. Solange er seiner Burg, der Felsengrotte, fern ist, weiß er sich sofort in den Kampf zu stürzen. Schützend wie eine mittelalterliche Rüstung umgibt ihn der tiefblaue Harnisch, ein glänzender Panzer aus farbigem Kalk. 50 Zentimeter Panzerlänge machen ihn praktisch unverwundbar – es sei denn, ein Artgenosse kommt und fordert ihn heraus. Dann entbrennt ein Kampf „bis aufs Messer“, bis die Scheren gebrochen sind und sein Raubtierinstinkt den Hummer zum Kannibalen werden läßt. Doch der Ritter der Tiefe zeigt bisweilen auch feinste Manieren. Wenn ein reizendes 57 GRALSWELT SERIE In gepanzertem Ritterharnisch und spitzem Dornhelm ein achtenswerter Gegner … Burgfräulein erscheint und ihr Pheromon versprüht – einen außergewöhnlichen Parfümcocktail –, dann wandelt er sich. Im Nu läßt er das edle Weibchen an sich heran und wird dafür zum „Ritter ihres Herzens“ geschlagen: Als symbolhafte Geste legt das blaue Hummerweibchen ihre schweren Scheren auf sein Haupt. Ein kurzer Moment, in dem er regungslos verharrt, als Zeichen seines Einverständnisses. Erst dann führt er sie in seine Höhle … Und plötzlich geschieht das wiederkehrende Wunder im Leben der Hummer-Fräuleins – die Häutung: Der stolze Panzer wird gesprengt! Der Länge nach kracht der Rücken auf, und das Weibchen zieht mit unvergleichlichem Geschick Rücken und Kopf, Augen und Antennen aus dem Panzer heraus. Es folgen die beiden Scheren durch geschickte Drehung, und schließlich, mit elegantem Schwung, der restliche Leib sowie der muskulöse Schwanz. Das Weibchen hat sich buchstäblich aus seiner Rüstung geschält! Nun liegt es butterweich und verletzlich neben ihm – und der einzig mögliche Moment für die Paarung ist gekommen. Mit höchst vorsichtigen Berührungen wird die Befruchtung vollzogen. Doch so rücksichtsvoll die Begegnung in der Burg auch war – kaum erhärtet nach Tagen der neue Panzer des Weibchens, mutiert es in der Wahrnehmung seines früheren Beschützers zum ungeliebten Konkurrenten. Es tut also gut daran, ein eigenes Zuhause aufzusuchen … 58 GRALSWELT MONATE VERGEHEN, ein neuer spannender Augenblick ist gekommen. Mit einem Mal legt sich das Weibchen auf den Rücken, krümmt seinen Schwanz nach innen, und 20.000 kleine Eier werden ausgestoßen. Mit Hilfe einer klebstoffartigen Substanz hängen sie jetzt an seinem breiten Unterleib. Grünlichblau, wie winzige Weintrauben, reifen die Eier, nur versorgt von sauerstoffreichem Wasser. Die Reifezeit des Nachwuchses währt lange – eine Geduldsprobe für die Mutter. Sie kann und darf sich jetzt nicht häuten! Erst nach 12 Monaten, zur Sommerzeit, schlüpfen die Larven. Ohne Vorwarnung empfängt der kalte Atlantik viele tausend winzige Hummerbabys. Die Geschwister treiben hilflos umher, Stürme und Gezeitenströme verdriften sie ins Niemandsland, weit weg von Fels und Schutz. So bedeutet die mutterlose Kinderstube augenblicklich Überlebenskampf – gierige Raubfische wie Dorsch und Aal warten ebenso wie … Artgenossen. Denn ein Hummer frißt nichts lieber als Hummer. Diese extremen Lebensbedingungen gestatten es von einer ganzen Eiablage nur Dreien, eines Tages selbst zum blauen Meeresritter zu werden. ICH BETRETE einen großen Saal. Gurgelnde Geräusche gluckern aus allen Ecken, ein fischartiger Geruch hängt in der Luft, und viele grüne Kästen stehen herum. Wir befinden uns in der Biologischen Anstalt von Helgoland, einem eigenen Reich von tau- send blauen Hummern, der großen Forschungsstation des Alfred-Wegener-Instituts. Kaum trete ich an eines der Einzelbecken heran, greifen massige Scheren nach mir, verteidigt ein großes Hummerexemplar sein Revier. In künstlichen Höhlen leben Tiere aller Altersklassen. Von natürlichem Seewasser umspült, wachsen sie sicher heran. Wären sie nicht hier, so würde kaum mehr eines der Tiere am Leben sein. Prof. Dr. Friedrich Buchholz, Sektionsleiter der Meeresstation, Olaf Goemann, Leiter des Aquariums, und ihre Mitarbeiter haben es Professor Buchholz im „Biologischen Institut“: Hier kümmert man sich um das Überleben der Hummer. Ein blauer Riesenhummer in seinem Zuchtbecken im „Biologischen Institut“. SERIE sich seit vielen Jahren zur Aufgabe gemacht, den Tieren zu helfen. Statistiken belegten nämlich einen völligen Zusammenbruch der Hummerpopulation. Betrug die Fangzahl an Hummern 1937 noch 87.000 Exemplare pro Jahr, beläuft sie sich heute gerade einmal auf 100. Die Verschmutzung der Weltmeere und der Verlust von Höhlen am Felssockel Helgolands als Kriegsfolge riefen nach einem Förderprogramm zur Hummerforschung. Noch kennt man nicht alle Ursachen des Rückgangs und ist am Beginn eines großen Arterhaltungsprogramms. Um den Helgoländer Hummer von der Liste der gefährdeten Arten hoffentlich bald streichen zu können, wird die Population jährlich aufgestockt. Markierte Tiere werden dazu von Tauchern direkt auf dem Meeresgrund ausgesetzt – im Jahr über 600 Kleinhummer! Fänge solcher Tiere werden an die Meeresstation gemeldet. Aus diesen Daten lassen sich Freilandwachstum, Territorialverteilung und Populationsentwicklung der hochsensiblen Art ermitteln. IN DEN Becken pumpen großartige königsblaue Tiere fortwährend Wasser durch den Körper, lange rote Antennen lugen hervor und große Stiel- Ein Hummer-Gruß an alle GralsWelt-Leser! Die orangefarbene Borte umrandet den königsblauen Fächer im Sonnenlicht. augen beobachten aus dem Höhleneingang jede Bewegung. Ich ergreife ein Tier. Wüßte ich nicht, wie und wo – das Kopfbrustschild ist die einzig mögliche Stelle –, so wäre mein Finger in Sekundenschnelle fast oder ganz durchtrennt. Was die Scheren ergreifen, lassen sie nicht mehr los. Ich hebe das majestätische Tier heraus. Wild schnappen die Scheren im 300-Grad-Winkel um sich. Peitschenartig schlagen Schwanz und Schwanzfächer vor und zurück. Nur mit größter Mühe kann ich meinen Hummer halten. Ist schon sein vehementes Verhalten beeindruckend, überraschen mich seine kolossalen Kräfte um so mehr. Sie werden erst deutlich, als wir ihn für ein paar Fotos abbürsten wollen, weil er von Sedimentablagerungen auf seinem Rükken verschmutzt ist. Eine kleine Unaufmerksamkeit – und schon packen die Hummerscheren, schneller als ein Lidschlag, in die Bürste. Nur zu zweit, mit vereinter Kraft, können wir Zangen und Bürste wieder trennen. Wir überlassen dem Hummer dafür eine leere Kunststoff-Flasche als Opfer – und beobachten fasziniert die ausgeprägten Muskelpakete in Schwanz und Zangen – unübertreffliche Waffen und Werkzeuge! Üblicherweise befindet sich die „Hantierschere“ mit ausgeprägtem Sägezahn zu seiner Linken, während die kräftige, mit Höckern versehene „Knakkschere“ vorzugsweise rechts sitzt. Diese dient dem Hummer zum Zertrümmern schaliger Tiere – Krebse, Angriff auf den „Feind“: Glücklicherweise nur eine Plastikflasche! 59 GRALSWELT SERIE Muscheln, Schnecken oder Seeigel. Die linke Schere entspricht zugleich einer Gabel und führt Nahrung zu den Mundmahlwerkzeugen. Da die Helgoländer Population völlig eigenständig ist, geht es um das Leben und Überleben eines jeden Hummers. Nur im harten Inselfelsgrund Helgolands, zwischen 10 bis 50 Metern Tiefe, findet das Tier, das bis zu 90 Jahre alt werden kann, jenen geeigneten Lebensraum, der in den Weiten der Nordsee fehlt. Der „Homarus gammarus“, so die allgemeine Bezeichnung des europäischen Hummers, blickt auf einen erfolgreichen Evolutionsweg zurück. Aber das Krebsgetier – mit seinen ersten Vorfahren, den Gliederfüßlern, vor einer halben Milliarde Jahren – ist auch die älteste bekannte Delikatesse der Welt, bis heute geschätzt und begehrt an allen Ufern der Weltmeere. Es bleibt zu hoffen, daß sich das Verhältnis zwischen Fang und Bestand vernünftig entwickelt. Sonst wird eines Tages auch der letzte Hummer in seinem Aquarium sterben. 60 GRALSWELT Oben: Geschützt trägt das Hummerweibchen ihre 10.00020.000 Eier am „Bauch“. Links: Diese „Weintrauben“ sind gefüllt mit neuem Leben, das nach Entwicklung strebt. Hier reifen die Hummerbabys heran. Ein Wunder der Natur! Nur drei von 100.000 HummerLarven erleben das Erwachsenenalter! Der „königsblaue Ritter der Tiefe“ hat noch einen weiten Weg vor sich! Gerade einmal sechs Zentimeter groß – und schon ohne eine Kinderstube … HUMMERKINDER UND -babys entzücken die Gäste des Biologischen Instituts am meisten. Mit nur zwei Zentimeter Länge sehen sie unter der Lupe aus wie die Großen. Jedes Hummerchen erhält ein eigenes „Einzelzimmer“ in der Größe einer Keksschachtel, ein kleines rotes Kunststoffröhrchen. Denn für unge- störtes Wachstum ist eine persönliche Minihöhle unerläßlich. In den planktonangereicherten Becken verhelfen spezielle aufwärtsströmende Wasserkreisel den kleinen Tieren über die kritischste Lebensphase hinweg. Auf diesem Weg werden die Hummerlarven leicht auseinandergehalten, ansonsten würde Kannibalismus die natürliche Auslese allzu sehr unterstützen. Da Hummer ein Außenskelett besitzen – beim Menschen gibt das Innenskelett dem Körper Halt –, können sie durch den sie umgebenden Panzer nicht kontinuierlich wachsen. Alle Monate, später beträgt der Abstand mehrere Jahre – muß der Hum- SERIE mer daher aus seinem alten Panzer schlüpfen. Der Vorgang dauert nur zehn Minuten. Dabei zieht der Hummer seinen ganzen Körper, Glied für Glied, selbst Zangen und Fühler, Augen und Kiemen, aus dem harten Panzer. Durch Auspressen des Blutes kann er selbst die dicken Muskeln der Zangen durch die schmalen Gelenke ziehen. Frisch gehäutet, preßt er mit kräftigem Druck wieder Blut in die Muskeln, die anschwellen und die neue starke Form erhalten. Sofort pumpt der Hummer den Körper mit Wasser voll, und die verschrumpelte Haut dehnt sich bis zur neuen, wenige Millimeter bis Zentimeter veränderten Größe (die lange Wachstumszeit ist der Grund, die ihn für eine kommerzielle Aufzucht unrentabel macht). Augenblicklich frißt er kalkhaltige Substanzen, auch Teile seines alten Panzers, die eilig zur Härtung der Haut benötigt werden. Solange dies nicht der Fall ist, schwebt er in großer Lebensgefahr. Nur dieser Prozeß der Häutung ermöglicht dem Hummer stetiges Wachstum. Die Natur gibt ihm dabei auch ein besonderes Geschenk: Verliert der Hummer im Kampf Scheren oder Beine, so werden diese bei der nächsten Häutung nachgebildet. Er kann seine Scheren in Gefahr sogar bewußt abwerfen. Zwei bis drei Häutungen vergehen, dann sind gänzlich neue Gliedmaßen gewachsen. Eine Forscherin zieht einen interessanten Vergleich zum Prozeß der Häutung: „Geht es uns Menschen denn anders? Auch wir müssen im Leben oft alte Strukturen aufgeben, werfen althergebrachte Meinungen über Bord, lösen uns von den Schalen verkrusteter Verhaltensweisen, um innerlich neu zu wachsen. Und in dieser Phase der Neuorientierung, auf dem neuen Boden der Unerfahrenheit, sind wir ungeschützt und werden oft angegriffen und ausgenutzt.“ Die Schöpfung erleben – wer genauer hinsieht, für den hält die Natur so manches wertvolle Gleichnis bej reit … Deutschlands einzige Hochseeinsel Helgoland feiert ein bedeutendes Jubiläum: den 50. Jahrestag der Wiederfreigabe nach dem Zweiten Weltkrieg. Hier ist die Heimat der „königsblauen Ritter der Tiefe“. Helgolands Hummer sind einzigartig. Rekord: Ein 1960 gefangener 85 Jahre alter Riesenhummer mit 10 Kilo Gewicht und 88 cm Länge. »Wir hatten vier kanadische Hummer im Becken. Plötzlich lag am Morgen ein Fünfter dabei. Der neue Hummer hatte zudem keinen Gummi um die Scheren. Wir dachten sofort, dies ist ein Scherz eines Mitarbeiters. Als ich ihn herausnahm, war natürlich alles klar. Ich hielt einen butterweichen, frisch gehäuteten Hummer in der Hand, das andere war seine alte Schale. Und er gefiel mir, schließlich wog er jetzt 600 Gramm mehr!« Stephan Leisenheimer, Besitzer der „Mocca-Stuben“, Helgoländer Hummer-Restaurant 61 GRALSWELT