Fortbildungsreihe Klinik Rheinhöhe 2016 „Jungs am Limit“ Abstract zum Vortrag: „Jungs und ihre Väter“ Die klassische Psychoanalyse ging davon aus, dass ein Vater im Leben seiner Kinder erst ab etwa dem 3. Lebensjahr Bedeutung erlangt. Für die Söhne sollte er als Rivale um die Gunst der Mutter und als Identifikationsobjekt dienen („Ödipuskomplex“). Derzeit geht man aber davon aus, dass Väter schon sehr viel früher für ihre Kinder wichtig sind. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, wenn man bedenkt, dass es sich bei dem Verhältnis zwischen Vater, Mutter und Kind vom Tag der Zeugung an um ein Dreiecksverhältnis („Triangulierung“) handelt. Leider flüchte(te)n manche Väter, ausgestattet mit der Information, dass sie in den ersten Jahren ihrer Kinder nicht so wichtig seien, verstärkt in die Arbeit, um dann oft überforderte und frustrierte Mütter zu hinterlassen, die dann zwischen Überversorgung, Wut und Schuldgefühlen pendel(te)n. Dietmar Eglinsky wird zunächst die „Krise der Jungs“ aus kinder- und jugendpsychiatrischer Perspektive skizzieren. Geschlechtsspezifische Häufungen diverser psychiatrischer Krankheitsbilder (z.B. ADHS, Autismus, Störung des Sozialverhaltens etc.) sollen dann u.a. aus evolutionsbiologischer, entwicklungspsychologischer und kulturhistorischer Sicht betrachtet werden. Im Vortrag von Fabian Escher wird am Anfang ein kurzer Überblick über die Geschichte der Vaterforschung stehen. Im Anschluss wird die potenziell entwicklungsfördernde Funktion des Vaters beleuchtet. Hierbei soll deutlich werden, in welchen Bereichen der kindlichen Entwicklung der Vater Unterstützung bieten kann. Zudem sollen die von Vätern typischerweise eingesetzten Mittel hierzu dargelegt werden. Vor diesem Hintergrund wird auf die aktuelle Krise der Väter eingegangen. Dabei werden die Gründe und das Ausmaß der „Krise der Väter“ beschrieben. Im zweiten Teil des Vortrags werden die Auswirkungen der väterlichen Krise für die kindliche Entwicklung dargestellt und mögliche Implikationen diskutiert. Die beiden Vortragsteile sollten ausreichend Anregungen für die abschließende Diskussion mit dem Publikum liefern. Vielleicht kommen wir einer Antwort auf die Frage näher, ob die „neuen Väter“ den zunehmend orientierungslos wirkenden „Jungs in der Krise“ zu Vorbildern werden können …. Seite 1 von 5 Die Referenten: Dr. med. Dietmar Eglinsky, geb. 1967 Studium der Medizin in Mainz und Frankfurt/M. Promotionsarbeit über die Familiarität des Alkoholismus Weiterbildung zum Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie im Landekrankenhaus Wunstorf Seit 2003 ärztliche Tätigkeit in unterschiedlichen Bereichen der vitos Klinik Rheinhöhe, derzeit stv. Klinikdirektor Dipl.-Psych. Dr. Fabian Escher, geb. 1987 Studium der Psychologie in der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Promotionsarbeit und diverse wissenschaftliche Publikationen zum Einfluss der väterlichen Erziehung auf ihre Söhne Seit 2012 Ausbildung zum staatlich ausgebildeten Psychoanalytiker / tiefenpsychologischen Psychotherapeuten am Alfred Adler-Institut in Mainz Seit 2013 Projektmitarbeiter am Fachbereich Sozialwissenschaften, Medien u. Sport der Universität Mainz Seite 2 von 5 Zahlen, Daten, Fakten zur Fortbildungsreihe „Jungs am Limit“: Jungs … von Anfang an schon Loser? Von Geburt an sind Jungen nicht nur krankheitsanfälliger als Mädchen, sie sind auch durch ihr Verhalten gefährdet. Schon die Embryonalentwicklung und die Geburt stellen für Jungen ein höheres Risiko dar als für Mädchen. Es werden im Vergleich zu 100 Mädchen in Deutschland 106 Jungen geboren. Doch liegt das Verhältnis von Mädchen und Jungen, die ihre Geburt oder die erste Lebenswoche nicht überleben, bei 100 zu 140. Ganz offensichtlich sind Jungen schlechter als Mädchen in der Lage, sich der Welt außerhalb des Mutterleibes anzupassen. Die bundesweite Statistik über die Todesursachen von Kindern und Jugendlichen zeigt, aus welchen Gründen die Sterblichkeitsrate der Jungen auch nach der Geburt höher ist als die der Mädchen: Jungen sind nicht nur krankheitsanfälliger, sondern auch im Alltag gefährdeter. Ihr geschlechtsspezifischer Leichtsinn bzw. ihr Unvermögen, gefährliche Situation angemessen einzuschätzen, kostet zahlreiche Jungen das Leben: Unter 20 Jahren sterben fast dreimal mehr Jungen als Mädchen durch Verletzungen. (Ursachen der tödlichen Verletzungen sind fast zu 80 Prozent Unfälle, von denen mehr als die Hälfte im Straßenverkehr passieren.) Jungs … unsere „Bildungsverlierer“? Auf 100 Hauptschülerinnen kommen 130 Hauptschüler. Auf 100 Mädchen einer Förderschule kommen 170 Jungen. An den Gymnasien sind Jungen mittlerweile leicht in die Minderheit geraten. Mädchen schließen das Gymnasium zudem häufiger mit dem Abitur ab. Im Jahr 2005 lagen die Mädchen mit einem Anteil von 57 Prozent aller Abiturienten und Abiturientinnen klar vorne. Jungs … psychisch besonders gefährdet? Nach internationalen Studien leidet jeder fünfte Jugendliche an einer psychischen Störung. In der „Bella-Studie“ (Befragung seelisches Wohlbefinden und Verhalten), die die mentale Gesundheit auf der Basis der großen epidemiologischen Erhebung des KiGGS Surveys in Deutschland untersuchte, befanden sich bei 24,9 Prozent der Jungen und 22,2 Prozent der Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren auf der Basis eines Fragebogens psychische Auffälligkeiten (die aber keinesfalls mit psychiatrischen Diagnosen gleichgesetzt werden dürfen). Im kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich sehen wir, dass Jungen in folgenden Krankheitsbildern deutlich überrepräsentiert sind: hyperkinetische Störung (ADHS) Autismus Lese-Rechtschreibstörung Sprachentwicklungsstörung Zwangsstörungen Mädchen zeigen dagegen eine höhere Häufigkeit im Bereich der Essstörungen, der Angststörungen und der depressiven Störungen. Seite 3 von 5 Ein ganz gravierender Unterschied stellt sich beim Vergleich der Geschlechter im Bereich der Störung des Sozialverhaltens bzw. der kriminellen Entwicklung dar. Hier sind männliche Jugendliche ganz eindeutig überrepräsentiert. Und schließlich: Der vollendete Suizid gehört mit einem Anteil von fast 15 Prozent zu den häufigsten Todesursachen bei Kindern und Jugendlichen. Statistisch gesehen vollenden allerdings dreimal mehr Jungen als Mädchen einen Suizid. Entwicklungsaspekte: Jungs sind von Beginn an anders! Nach Doris Bischof -Köhler (apl. Psychologie-Professorin an der Universität München, Forschungsschwerpunkte Entwicklungspsychologie und Genderforschung) sind Jungen im Mutterleib motorisch etwas aktiver als Mädchen. Auch in den ersten Lebenswochen sind sie häufiger unruhig, sie schreien rascher und länger und geraten schneller in einem Zustand der Überreiztheit. Sie sind schwieriger zu beruhigen, schlafen weniger und fordern mehr Aufmerksamkeit. Mädchen sind in den ersten Lebenswochen leichter zu trösten. Sie zeigen insgesamt stabilere emotionale Zustände, was mit der Tatsache in Zusammenhang gebracht wird, dass Mädchen bei der Geburt neuronal reifer sind. Mädchen lassen sich von den ersten Lebenstagen an leichter vom Anblick eines Gesichts gefangen nehmen. Sie drehen häufiger den Kopf in Richtung einer menschlichen Stimme. Sie suchen öfter als Jungen den Blickkontakt und halten diesen länger aufrecht. Jungen wenden dagegen den Blick häufiger ab. Mädchen reagieren vom ersten Lebenstag an sensibler auf Emotionsäußerungen von anderen und lassen sich leichter durch das Schreien anderer Babys anstecken. Jungen greifen bereits im Alter von sechs Monaten eher als Mädchen nach einem Spielzeug, das ein anderes Kind hält. Sie werden im Vergleich zu Mädchen als weniger ängstlich wahrgenommen und sind eher bereit, ihre nahe Umwelt zu erkunden, ein Merkmal, das sich im Alter von zwölf Monaten noch deutlicher zeigt. Die Krise der Jungs - mögliche Ursachen 1. Evolutionsbiologischer Erklärungsansatz: Vermutlich hat die menschliche Evolution über zehntausende Jahre hinweg zu einer geschlechtsspezifischen Selektion geführt: Auf der männlichen Seite kam es zu einer Häufung erkundungsfreudiger, durchsetzungsmotivierter und körperlich robuster Verhaltensweisen Auf der weiblichen Seite kam es eine stärkere Tendenz zur emotionalen Beziehung, Bindung und Pflege. Menschheitsgeschichtlich macht die Aufteilung: Männer = Jäger, Frauen = Sammlerinnen absolut Sinn, denn es hätte den Fortbestand der Sippe bedroht, schwangere und stillende Frauen den Gefahren von Jagd nach Mamuts oder kriegerischen Kämpfen auszusetzen. Seite 4 von 5 2. Der fehlende Vater? Prominente „vaterlose“ Kinder sind zum Beispiel Mario Adorf (uneheliches Kind einer Röntgenassistentin und eines kalabrischen Chirurgen), Jean-Paul Sartre (früher Tod des Vaters), Hansi Hinterseer (hat ein zerrüttetes Verhältnis zu seinen Eltern, er wuchs bei den Großeltern auf.) Die Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie, Entwicklungspsychologin und Eltern-SäuglingsTherapeutin Mechtild Papousek betont, dass Säuglinge mit einem überlebenswichtigen - und deshalb biologisch verankerten - Bedürfnis nach Schutz, emotionaler Sicherheit und Nähe ausgestattet sind: Die angeborene, in Belastungs- und Gefährdungssituationen aktivierte Bindungsenergie des Babys (Rufen, Schreien, Anklammern, Folgen, Nähe suchen) lösen auf Seiten der sozialen Umwelt eine komplementäre angeborene Verhaltensbereitschaft aus, dem Baby durch Zuwendung, Körperkontakt und Beruhigungsstrategien prompt und angemessen Schutz und Sicherheit zu geben. Inzwischen weiß man, dass auch Männer eine biologisch verankerte Verhaltensbereitschaft für Zuwendung, Körperkontakt und Beruhigung ihres Kindes verfügen: Anne Storey, Psychologin der Memorial University of Newfoundland, fand heraus, dass sich schon während der Schwangerschaft der Partnerin auch beim Mann die Werte der Hormone Cortisol, Prolaktin und Testosteron verändern. Dass der Cortisolspiegel insbesondere in den Wochen vor der Geburt ansteigt, muss nicht verwundern. Die erhöhten männlichen Prolaktinwerte überraschen dagegen, war doch Prolaktin lange Zeit allein als Milch bildendes Hormon bei der Frau angesehen worden, das darüber hinaus der mütterlichen Bindungsbereitschaft förderlich sei. Letzteren Effekt hat das Prolaktin offenbar aber auch bei werdenden Vätern! Gleichzeitig sinken ihre Testosteronwerte nach der Geburt des Kindes, zum Teil um ein Drittel. Nach einigen Monaten pendeln sie sich dann wieder auf Normalhöhe ein. Auch dieser Umstand wird als Beitrag der Natur gewertet, Männer in ihrer frühen Bindung zum Nachwuchs zu unterstützen. Väter sind also von Natur aus ebenso gut wie die Mutter ausgestattet, die Befindlichkeit ihres Kindes zu deuten und entsprechend zu reagieren. Besteht Hoffnung? 2006: Einführung des Elterngeldes. Inanspruchnahme der Elternzeit durch Väter: 3,5 Prozent. 2009 waren es bereits 24 Prozent. 2011 nahmen 27 Prozent der Väter Elternzeit. (Bei den Müttern hat sich in den letzten Jahren wenig verändert: 95 Prozent der Mütter nehmen Elternzeit und Elterngeld in Anspruch.) Seite 5 von 5