Birgit Schlick

Werbung
Birgit Schlick-Steiner:
Der Begriff Biodiversität, „biological diversity“ im englischen
Original, wurde 1988
von E. O. Wilson geprägt, einem Biologen,
der sich unter anderem
sehr stark mit Ameisen beschäftigt hat. Er
unterschied schon damals drei unterschiedliche Ebenen der Biodiversität
und die internationale Union für die Bewahrung der
Natur und natürlicher Ressourcen folgt dieser Unterscheidung; es ist daher immer noch anerkannt,
dass man unter Biodiversität nicht nur die Artenvielfalt sieht, wie das landläu ig der Fall ist. Vielmehr
schließt der Begriff auch Diversität innerhalb von
Arten mit ein, und hier insbesondere die genetische
Diversität. Es zählt nicht nur, wie viele Individuen einer Art vorhanden sind; es zählt auch die genetische
Diversität, die innerhalb der Art existiert, denn diese beein lusst, wie die Art auf Umweltveränderung
reagieren kann. Darüber gibt es eine höhere Ebene,
jene der Biodiversität der Ökosysteme. Und das, was
die meisten Leute unter Biodiversität verstehen,
nämlich die Artenvielfalt, ist zwischen den beiden
beschriebenen Ebenen angesiedelt, es ist die mittlere Ebene.
„Durch Wissen richtige Entscheidungen treffen“
Gespräch mit Birgit Schlick-Steiner, Ökologin
Universität Innsbruck, 18.10.2012
50
HLFS Ursprung im Zukunftsdialog
Birgit Schlick-Steiner:
Über diese Frage könnte man vermutlich viele
Stunden reden. Grundsätzlich kann man eine
ethische Frage stellen:
„Warum sollte uns die Biodiversität kein Anliegen
sein, warum glauben wir Menschen, wir dürfen einfach alles zerstören?“ Leider gibt es ganz humanegoistische Gründe, die alles erschweren. Tatsächlich
spielt die Biodiversität eine ganz wichtige Rolle in
HLFS Ursprung: Warum
sollte der Menschheit die
Biodiversität im Sinne von
nachhaltigem Handeln ein
fundamentales Anliegen sein?
den „Ecosystem Services“, zum Beispiel in Abbauprozessen, im Abpuffern von negativen Einwirkungen
oder in der Reaktion auf starke Umweltveränderungen. Darüber hinaus vermutet man die Existenz einer
„Bank der Superheilmittel“, vor allem in den Tropen.
Pharmazeuten sprechen in diesem Zusammenhang
immer von der Hoffnung, dass es auf der Erde noch
viele Stoffe gibt, die wir entdecken können und die
unter Umständen medizinische Wirkung haben. Ein
weiterer Punkt, der die Wichtigkeit der Biodiversität unterstreicht, ist die Bionik: Der Mensch nimmt
immer wieder Anleihe an verschiedenen Lösungen,
die die Natur hervorgebracht hat. Es gibt also keinen
Grund, warum uns die Biodiversität und ihr Erhalt
nicht wichtig sein sollten!
Birgit Schlick-Steiner
HLFS Ursprung: Die Biodiversität wird im Abschlussdokument zur Konferenz
„Rio+20“ der Vereinten Nationen als wichtiges Handlungsgebiet genannt und ist
in den Medien zum gängigen Schlagwort geworden.
Wie würden Sie als Ökologin
diesen Begriff deϔinieren?
Birgit Schlick-Steiner:
Der Klimawandel hat
hier immer schon einen großen Ein luss
gehabt und der Wandel des Klimas per se
ist nichts Neues. Neu
ist allerdings die Tatsache, dass der Mensch
dazu beiträgt und dass allgemein die Dimension des
menschlichen Eingreifens in die Abläufe unseres
Planeten immer größer wird. Es gab in der Erdgeschichte schon früher schnelle Erwärmungen, die
ungefähr in der Größenordnung der heutigen Erwärmung lagen. So gab es vor allem nach dem letzten
großen Glazialmaximum eine sehr schnelle Erwärmungsphase, aber der große Unterschied zu dieser
Phase besteht darin, dass heute die Habitate fragmentiert sind und die Umweltzerstörung bzw. die
Naturzerstörung ungleich größer ist als damals. Das
bedeutet, dass Rückzugsmöglichkeiten für bedrohte
Arten heute fehlen. Arten, die enge ökologische Ansprüche haben, kommen daher gegenwärtig in große
Schwierigkeiten. Und besondere Probleme stellen
sich natürlich allgemein für Arten, die nicht so mobil
HLFS Ursprung: Im Zusammenhang mit „Rio+20“ wurden auch die Folgen der aktuellen Klimaentwicklungen
betrachtet. Hat der derzeit
stattϔindende Klimawandel
Einϔluss auf die heutige Biodiversität? Wenn ja, wie?
51
Birgit Schlick-Steiner:
Es gibt auch hier keine
exakten Zahlen. Man
kann mithilfe einer
Datenbank eine große Zahl von guten Zeitschriften,
die das Peer-Review-System haben, nach Beschreibungen neuer Arten abfragen und so einen Zensus
machen. Auf diese Weise kommt man auf im Schnitt
5 000 bis 10 000 neue Arten pro Jahr.
HLFS Ursprung: Wie viele Arten werden im Durchschnitt
pro Jahr neu entdeckt?
sind und daher nicht ausweichen können. Die Leute
denken beim Begriff „Biodiversität“ ja meist an Säugetiere, aber tatsächlich machen den Großteil der
Biodiversität Insekten und andere sehr kleine Organismen aus, die oft keine großen Distanzen zurücklegen können.
Birgit Schlick-Steiner:
Das ist eine schwierige
Frage, man kann das
nicht genau sagen, weil
es eigentlich keinen
verlässlichen Überblickszensus gibt. Eine Art wird
beschrieben von einem Taxonomen oder auch von
HLFS Ursprung: Wie ist der
aktuelle Artenbestand bzw.
wie viele Arten sind gegenwärtig bekannt?
52
HLFS Ursprung im Zukunftsdialog
einem Hobbyforscher, der in einer Zeitschrift publiziert, dass er eine neue Art entdeckt und ihr einen
Namen gegeben hat. Das kann manchmal zu wirklich
großen Problemen führen, wenn Leute nicht gut vorgehen und jedes Individuum, das irgendwie anders
ausschaut, zu einer neuen Art erheben. Es gibt natürlich exzellente Taxonomen, aber die sind selber in
ihrem Bestand gefährdet.
Im Jahr 1995 gab es den Versuch, einen Überblick
über die Anzahl der beschriebenen Arten zu bekommen und das Resultat waren 1,75 Millionen Arten.
Mittlerweile schätzt man, dass ca. zwei Millionen
Arten beschrieben sind. Es gibt allerdings noch viele
Gebiete, die gar nicht erforscht sind, ein bekanntes
Birgit Schlick-Steiner:
Ganz sicherlich keine
positive Entwicklung!
Das in Zahlen zu fassen,
ist schwierig, es gibt
auch da nur die Möglichkeit, hochzurechnen.
Man kennt nicht alle
existierende Arten und
noch weniger weiß man
über verloren gegangene Arten Bescheid.
Aber auch mit der Beurteilung des Zustands
von jenen Arten, die man kennt, ist es nicht so einfach, man müsste ständig einen Zensus machen und
HLFS Ursprung: Die Vereinten Nationen wollten 1992
mit dem „Übereinkommen
über die biologische Vielfalt“
das weltweite Artensterben
stoppen; 18 Jahre später,
im Jahr 2010, wurde das
„Internationale Jahr der biologischen Vielfalt“ begangen.
Welche Entwicklung hat die
Biodiversität in den letzten
zwei Jahrzehnten genommen?
nachprüfen, ob eine Art noch existiert oder nicht.
Es gibt jedenfalls keinerlei Hinweise darauf, dass
irgendwelche Maßnahmen gegriffen hätten, im Gegenteil: Man schätzt, dass das Artensterben derzeit
100- bis 1 000-mal schneller vor sich geht als in der
Vergangenheit. Man geht davon aus, dass pro Jahr
zigtausende Arten aussterben; manche Schätzungen
belaufen sich sogar an die 100 000 Arten. Das ist jedenfalls ein Vielfaches der Geschwindigkeit früherer
Aussterbeereignisse, die man über Fossilien abschätzen kann. Die Aussagen über frühere Zeiten sind natürlich Schätzungen und auch fehlerbehaftet, aber
man ist sich sehr sicher, dass die Zahl der Arten heute um ein Vielfaches schneller abnimmt als früher.
Birgit Schlick-Steiner:
Einer der Gründe ist
sicherlich die schon
besprochene Klimaerwärmung, kombiniert
mit dem Habitatverlust, den der Mensch verursacht.
Der Klimawandel wirkt als Selektionsdruck auf die
genetische Diversität und nur die Individuen mit
Vorteilen bleiben übrig. Je kleiner eine Population
schon ist, desto stärker wirkt sich in dieser Hinsicht
auch noch eine „schlimme Kraft“ aus, nämlich die
sogenannte genetische Drift, die zu einer Reduktion
der genetischen Diversität in einer Population führt.
Lassen Sie mich ganz stark vereinfachen: Wir alle
sind ja diploide Organismen, wir haben zwei Kopien
des Erbguts in uns, an die nächste Generation wird
aber nur eine Kopie weitergegeben; welche das ist,
können wir nicht beein lussen, das ist Zufall. So werden manche Allele ixiert, weil sie sich durch Zufall
durchsetzen, und andere gehen verloren. Die genetische Drift wirkt umso stärker, je kleiner die Population ist, das ist ein Teufelskreis: Je kleiner nämlich die
Population ist, desto mehr kann auch Inzucht entstehen und die damit verbundene Inzuchtdepression.
Die Aspekte Habitatfragmentierung und Verkleinerung der Populationen sind also höchst relevant. Und
dazu kommt dann noch, dass Arten sehr eng aufeinander angewiesen sind und eine Kettenreaktion in
Gang kommen kann.
HLFS Ursprung: Und welche
Ursachen stehen hinter dieser
Beschleunigung des Artensterbens?
Birgit Schlick-Steiner
Beispiel sind die Tropen. Wenn man hier in ein neues Gebiet geht, kommt man mit 100 bis 1 000 neuen
Arten in einer Organismengruppe heraus. Und dazu
kommt noch, dass es in Gebieten, die bereits gut erforscht sind, sogenannte „kryptische Arten“ gibt: Ein
klassischer Morphologe, der nur nach äußerlichen
Merkmalen untersucht, würde nie denken, dass seine Untersuchungsobjekte mehreren Arten angehören. Arten sind vor allem dann schwer als solche
erkennbar, also kryptisch, wenn sie gerade in der
Entstehung oder noch nicht sehr lange von anderen
Arten getrennt sind.
Es gibt also viele Faktoren, die es schwierig machen
zu sagen, wie viele Arten es auf der Erde genau gibt.
HLFS Ursprung: Wie kann
man sich diese Kettenreaktion vorstellen?
Birgit Schlick-Steiner:
Da sind noch viele Zusammenhänge
unerforscht. Ein Beispiel
kennt man, das betrifft eine bestimmte Schmetterlingsart: Wenn bei steigender Temperatur die Futterp lanze dieses Schmetterlings nicht mit in kühlere
Höhen wandert, stirbt er aus. Gleiches passiert natürlich, wenn die Futterp lanze infolge veränderter
Bedingungen ausstirbt. Genauso geschieht es bei
Parasiten, wie Säugetierparasiten, aber auch Insek53
HLFS Ursprung: Und wie
kann man sich die Auswirkungen solcher Aussterbeereignisse auf den Menschen
vorstellen?
Birgit Schlick-Steiner:
Das führt uns wieder
zurück zur Ausgangsfrage: Sobald Biodiversität verloren geht, wie
infolge von Aussterbeereignissen, sind die von Ökosystemen erbrachten Leistungen gefährdet und das wirkt sich auf den
Menschen aus. Es gibt hier drei Aspekte, die wichtig sind: Da wäre zum einen die Produktivität eines
Ökosystems. Viele Versuche zeigen, dass die Produktivität höher ist, wenn die Artenvielfalt höher ist.
Und auch die Stabilität von Ökosystemen ist von der
Vielfalt der Arten abhängig: Ein Ökosystem lässt sich
weniger leicht aus dem Gleichgewicht bringen, zum
Beispiel durch invasive Arten, wenn die Biodiversität
höher ist.
Man vermutet auch einen Zusammenhang bei der
Resilienz, die beschreibt, wie schnell ein Ökosystem
nach einer Störung wieder in seinen Ausgangszustand zurückkommt. Auch hier wird vermutet, dass
die Biodiversität eine große Rolle spielt.
Und natürlich kann der Verlust von Biodiversität sich
noch auf viele andere Weisen auf den Menschen auswirken. Ein Beispiel ist die schon erwähnte Vielfalt
in den Tropen, wo man etwa noch viele Substanzen
entdecken könnte, die für den Menschen möglicherweise gewinnbringend wären.
54
HLFS Ursprung im Zukunftsdialog
HLFS Ursprung: Wäre
Gentechnik eine Lösung, um
Artensterben aufzuhalten
und Pϔlanzen oder Tiere an
das sich verändernde Klima
anzupassen?
Birgit Schlick-Steiner:
Das ist eine sehr gefährliche Frage. Man
könnte natürlich Enzyme einschleusen, die
eben ein Überleben bei
höheren Temperaturen
ermöglichen und auf diesem Weg dem Hauptaspekt
des Klimawandels begegnen. Die Freisetzung von
gentechnisch modi izierten Organismen ist allerdings ein sehr heikles Thema. Da gibt es ganz unterschiedliche Meinungen, auch bei uns im Haus; manche inden es weniger problematisch, andere mehr.
Ich glaube, dass man einfach viel zu wenig weiß, das
ist wie die Büchse der Pandora. Man könnte Situationen herbeiführen, die man nicht im Griff hat.
HLFS Ursprung: Sie haben
sich in Ihrer Forschung
intensiv mit Ameisen und
ihrem Verhalten beschäftigt.
Was können wir Menschen
aus diesen Beobachtungen
lernen?
Birgit Schlick-Steiner:
Es ist natürlich verlockend, Parallelen zu
sehen. Ameisen sind
auch sozial organisiert,
wobei sie eine Stufe höher gegangen sind: Man
indet bei ihnen Eusozialität, was bedeutet, dass gewisse Individuen zum
Wohl der Allgemeinheit auf ihre Fortp lanzung verzichten, das ist beim Menschen nicht so. Aber es gibt
natürlich sehr viele Analogien; auch bei den Ameisen
läuft das Leben oft alles andere als harmonisch ab,
es geht bis hin zum Meuchelmord: Es gibt Ameisen,
die in der Nähe eines Nestes einer fremden Arbeiterin au lauern, diese töten und sich dann mit deren
Geruch gewissermaßen „einschmieren“, damit sie
besser in das fremde Nest eindringen können. Einmal angekommen bringen sie die dortige Königin um
und übernehmen sozusagen das fremde Ameisenvolk. Dieses hilft ihnen, die eigene Brut aufzuziehen,
nach und nach sterben die Arbeiterinnen des Ausgangsvolkes natürlich aus, weil die alte Königin nicht
mehr da ist, und die Invasoren hatten eine wirksame
Starthilfe bei der Aufzucht der eigenen Brut. Es gibt
weitere Ähnlichkeiten, zum Beispiel bei der Arbeitsteilung: Im Ameisenstaat gibt es Müllfrauen, die dafür zuständig sind, den Müll aus dem Nest zu transportieren.
Es gibt auch ein paar Bereiche, in denen der Mensch
von den Ameisen lernen kann, zum Beispiel im Umgang mit unvorhersehbaren Stauproblemen, wenn
eben sieben Unfälle gleichzeitig passieren und alle
Autobahnen blockiert sind. Die Funktionsweise von
Ameisenstraßen bzw. die Algorithmen dahinter sind
hier hochinteressant, wie etwa auch im Zusammenhang mit Telefonnetzen und der Frage, wie man
Netzüberlastungen Herr werden kann.
Man sollte aber natürlich nichts vermenschlichen
und nicht sagen: „Die Ameisen machen es so, der
Mensch sollte es auch so machen!“ Ich denke, man
sollte sie einfach fasziniert betrachten und schmunzeln über die Ähnlichkeiten, die es gibt.
Birgit Schlick-Steiner:
Das ist natürlich nicht
ganz einfach: Zentral
ist sicherlich, dass man
versucht, die Landschaftszerschneidung hintanzuhalten und den CO2HLFS Ursprung: Wie können
wir alle durch unser tägliches
Tun zum Erhalt der Biodiversität beitragen?
Ausstoß zu minimieren. Man sollte sich beispielsweise überlegen, welche Mobilität wirklich nötig ist und
welche nicht, wo braucht man das Auto, wo nicht.
Auch das Kaufverhalten ist ein wesentlicher Punkt:
Wozu braucht man Äpfel aus Südafrika? Und die
Förderung von biologischem Landbau wäre wichtig.
Birgit Schlick-Steiner
tenparasiten, wenn die Wirte aussterben. Auch Bestäubung ist ein wichtiger Faktor: Bestimmte P lanzen brauchen etwa ganz gewisse Hymenopteren und
wenn deren Zahl abnimmt, gehen der P lanze die Bestäuber verloren. Es gibt viele solcher Fälle, wo das
Zusammenspiel der Arten sehr eng ist, und, wenn
eine Art ausstirbt, auch die andere verschwindet.
Man sollte also auf jeden Fall Mobilität und Konsumverhalten überdenken! Und natürlich ist die Bildung
grundlegend, ich inde es daher ganz toll, wenn eine
Schule sehr aktiv ist! Erst durch Wissen kann man
richtige Entscheidungen treffen!
INTERVIEW Sarah Grabner, Hannah Christina
Mösenbichler
55
Herunterladen