Vexierbild US-Amerika

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Vexierbild US-Amerika
(14.4.2005)
Wir alle kennen das irritierende Vexierbild der alten Hexe, die plötzlich als schöne
junge Frau erscheint, je nachdem, wie wir das Bild betrachten. Wir können mit
einer gewissen Übung von einem Bild zum andern wechseln, beide gleichzeitig zu
sehen, will uns jedoch nicht gelingen. Genau dies wollen wir im Folgenden am
Beispiel US-Amerika versuchen. Auch die USA sind nämlich ein solches Vexierbild
mit zwei (oder mehr) Gesichtern - besonders im jetzigen geschichtlichen Moment.
Für viele, die Amerika noch vor der Bush-Ära erlebt haben, ist es (oder war es) ein
Land des Versprechens, der Freiheit und der Demokratie, und gerade sie sind von
den gegenwärtigen - irrational anmutenden - Entwicklungen aufs tiefste frustriert.
Für die meisten ist Amerika heute zu einer wahren Horrorvision geworden, und
jede Lust, dieses Land zu besuchen, ist uns vergangen - dies gilt selbst für
AkademikerInnen, Wirtschaftsbosse und Politiker, die berufshalber regelmäßig in
die USA reisen.
Was ist geschehen? Nach allgemeiner Auffassung hat der Terrorangriff vom 11.9.01
eine völlig neue Lage geschaffen und ist für das gegenwärtige paranoisch-aggressive
Verhalten der USA hauptverantwortlich. Jedenfalls ist das jetzige (böse) Gesicht
Amerikas für die meisten von uns mit dem tradierten Bild der stolzen, an Pallas
gemahnenden, Freiheitssstatue nicht mehr vereinbar. Wie Emma Lazarus‘
prophetische Inschrift zudem verdeutlicht, ist diese imposante Figur ein Symbol der
USA als Zufluchtsort für alle Verfolgten und Ausgestoßenen dieser Erde. Dies soll
nun plötzlich anders sein. Kein Wunder, wenn das neue, abstoßende Gesicht einem
einzigen Mann und dessen Mannschaft zugeschrieben wird: George Bush Jr., der in
wenig vornehmer Weise im Internet als Affe karikiert ist.
Nun stellte der „ugly American“ schon immer ein Gegenbild zum heroischen
Pionier dar, den D.H. Lawrence in der Person des Lederstrumpf gar als Killerseele
apostrophiert. Auch die big stick-Politik der USA ist durchaus nichts Neues, es gab
sie schon immer, wenngleich der spanisch-amerikanische Krieg den Weg zur
jetzigen globalen Machtpolitik geebnet hat. Auch die Verschwörungshysterie hat
eine lange Vorgeschichte, man erinnere sich nur an den (gegen Frankreich
gerichteten) Alien and Sedition Act von 1798. Was dagegen neu scheint, ist die
groteske Diskrepanz zwischen dem Bild der USA als heroischer - quasi-religiöser Verteidiger der Menschenrechte und Ort der demokratischen Freiheiten, wie es den
US-Amerikanern selbst vorschwebt und der Fremdperspektive einer übermächtigen
und (im antiken Sinn) maßlos-übermütigen Weltmacht, die ausschließlich ihren
eigenen Vorteil sucht, sich selbst keine Grenzen setzt und ohne Ruecksicht auf
internationales Recht, das die USA wesentlich mitgeschaffen haben und durch dessen
Mißachtung sie nun ihre besten Traditionen zu zerstören drohen.
Je genauer wir hinsehen, desto unbegreiflicher wird das Vexierbild Amerika. Daß
dieser Kontinent - zunächst für Europäer - seit den kolonialen Anfängen als
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Projektionsfläche fungierte, hat jenes Wunschbild geschaffen, an dem wir heute
noch hangen und dessen Verschwinden wir schon deshalb bedauern, weil es Teil
unserer eigenen Vorstellung geworden ist. Wenn Utopien realisiert werden, sehen
sie meist sehr viel anders aus als im vorgestellten Modell. Allgemein dürfte man
sagen, es gibt soviele Amerika(bilder) als es Betrachter dieses Landes gibt, wobei
jedes Bild stark durch persönliche Erfahrungen gefärbt ist.
Zur Zeit scheint das Vexierbild auf ein simples Vor- und Nachher sowie auf eine
Positiv- und Negativkopie reduziert. Das ist zweifellos eine Verzerrung. In
Wirklichkeit sind beide Seiten des Vexierbildes ebenso wie die scheinbar
unvereinbaren Perspektiven von Eigen- und Fremdeinschätzung seit den kolonialen
Anfängen auf komplexe Weise in der Geschichte angelegt. Bei genauerem Hinsehen
zeigt es sich nämlich, daß die amerikanische Identität immer schon eine ambivalente
war (die Forschungsliteratur spricht in diesem Zusammenhang gewöhnlich von
Paradoxien und Dilemmen), wobei je nach den historischen Bedingungen das eine
oder andere Moment stärker hervortrat .Zwei dieser komplementären, aber auch
konfliktgeladenen, Gegenpole seien hier herausgehoben: Das Spannungsverhältnis
zwischen dem demokratischen Grundprinzip und dem Anspruch auf imperiale
Vorherrschaft einerseits, sowie das Gegensatzpaar von aufklärerischem Impuls und
einem religiös-biblisch fundierten Messianismus anderseits.
Geschichtsmächtig wurden diese scheinbar konfligierenden Elemente vor allem
dadurch, daß sie sich in paradoxer Form gegenseitig hochschaukelten. Das
(gelegentlich doch etwas schlechte) Gewissen der Nation kann sich immer wieder
damit beruhigen, daß selbst in Fällen eklatanter Ungerechtigkeit der eine Pol den
andern legitimiert. Einmal ist es die messianische Sendung der „Stadt auf dem
Berg“, ein andermal die Verpflichtung, als stärkste Macht in dieser Welt endlich für
Ordnung zu sorgen, ein Gedanke, der auf das biblische Bild der Weltherrschaft im
Hinblick auf den kosmischen Endkampf zwischen den Mächten der Finsternis und
des Lichts voraus weist (eine Erwartung, die dem jüdisch-christlichen und dem
islamischen Denken gemeinsam ist), als empire-Konzept aber auch den religiösen
Begriff des Empyreum evoziert, des obersten geistigen Lichtreiches - ein
hoffnungsvolles Bild.
Die Amerikaner waren seit den kolonialen Anfängen bemüht, im Reflex auf ein
quälendes Minderwertigkeitsgefühl, welches sich aus der im Verhältnis zu
Großbritannien (speziell London) nur allzu fühlbaren - und nicht selten als „Exil“
verstandenen - kulturell und intellektuell peripheren Lage heraus natürlicherweise
ergab, als Gegenzug im großen theatrum mundi jene Vorbild- und Führungsrolle zu
übernehmen, welche das Herkunftsland zunächst religiös und dann wirtschaftlich
und machtstrategisch übertreffen sollte. Entscheidend war dabei weniger, wie man
seine Rolle aus einer selbstkritischen Eigenperspektive gesehen spielt, sondern
vielmehr, welche Figur das Land in den Augen Europas und der übrigen Welt
macht. Deshalb der kürzliche Vorwurf Clintons an Bush: Guantanamo ist eine
Schande, denn es beschädigt das Bild der USA in der Welt - die Verletzung der
Menschenrechte war Clinton dabei eher zweitrangig (eine Begründung übrigens, die
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Bushs eigener Argumentationsstrategie entlehnt ist). Die Versuchung, im
Welttheater neben der wirklichen Macht auch eine rhetorisch-grandiose Pose zu
kreieren, ist seit jeher in den USA überdeutlich: Nicht das Auge Gottes, sondern der
Blick der Welt scheint für das Selbstimage der Vereinigten Staaten entscheidend.
Das hörte sich in John Winthrops berühmten Worten noch anders an: the eies of all
people are uppon us; so that we shall deal falsely with our God . . . we shall be made
a . . . by-word through the world (letzteres ganz im Ton der frühen Jeremiaden).
Bush spielt die Rolle, die er sich als Nimrodscher Terrorismusbekämpfer selbst
gegeben hat, nicht ohne Erfolg, aber die Rolle, die ihm der in Amerikas
Grundwerten eingeschriebene geschichtliche Auftrag erteilt, diese Rolle hat er
bislang nicht erfüllt. Wenn eine Nation nicht selbst befolgt, was sie andern als Ideale
verkündet, und wenn ihre Interventionen mehr Schaden stiften als der Schaden, den
die Interventionen beseitigen sollten (wie bereits Twains The Connecticut Yankee in
King Arthur‘s Court und Saul Bellows Henderson the Rain King unvergesslich ins
Bild gebracht haben), und wenn dazu noch der konkrete Erfolg nach herkömmlicher
puritanischer Doktrin ein Zeichen göttlichen Wohlwollens darstellt, dann steht es
eher fragwürdig um Bushs weltgeschichtliche Statur. Eine Gesamtbeurteilung seiner
Leistung ist aber noch verfrüht.
Was nun die spezifisch amerikanische Form der Selbstlegitimation angeht, welche
die Amerikaner selbst als historisches Vermächtnis seit frühesten Zeiten befeuert hat
und die ihnen - nach eigenem Verständnis - als religiös-mythische und moralische
Verpflichtung sogar literaliter aufgetragen ist, so muß dies den nicht-Amerikanern,
zumal den als post-mythologisch sich verstehenden Europäern, als schiere Hybris
vorkommen. Bleibt die schwierige Frage, wieweit dies heute eine unbewußte bzw.
eine sich nicht zugestandene Selbsttäuschung darstellt, an welche die Amerikaner in
für Außenstehende kaum verständlicher Weise ohne Einschränkung glauben oder
doch glauben wollen und mit der sie (zumindest in ihren eigenen Augen) auch
unrechtmäßiges Handeln - jesuitisch - jederzeit zu rechtfertigen vermögen. Ob sich
die USA zur Klärung ihrer Verdrängungsmechanismen nicht doch einmal auf
Freuds Couch legen sollten?
Es ist dies eine Form von religiös-politischer Selbstbeglaubigung, die unter dem
Tocquevilleschen Etikett American Exceptionalism schon die ersten puritanischen
Kolonisten und dann die gesamte Gründerzeit bestimmt hat und als solche auch in
die politische Theorie Eingang fand. In American Exceptionalism: A Double-Edged
Sword (1986) hat Seymour Martin Lipset zu diesem Thema eine brilliante Studie
geliefert. Interessant ist die Feststellung, daß bei Lipset der naheliegende Begriff der
Instrumentalisierung (des Religiös-Mythischen) gar nicht vorkommt. Richard
Hofstadter hat den Sachverhalt folgendermaßen auf den Punkt gebracht: Amerika als
Nation hat gar keine Ideologie, es ist vielmehr sein Schicksal, selbst eine Ideologie
zu sein.
Zunächst dürfte man annehmen, daß der demokratische Gedanke in seiner christlich3
egalitären Wertvorstellung, wie dies neben Whitman auch von Melville und vielen
anderen Autoren wie Crane und Williams zelebriert wurde, mit dem politischen
Willen nach gewaltsamer Landnahme und nach imperialer Vorherrschaft eher
kollidieren müßte, doch wird schon in den ersten Fahrten puritanischer Übersiedler
nach dem neuen Kontinent deutlich, wie sehr sich diese als saints von den strangers
abzusetzen gedenken. Diese binäre Vorstellung verstärkt sich noch in der
genozidartigen Ausmerzung der indianischen Bevölkerung sowie in der Sklaverei im
Süden, und sie hat sich auf Grund der anfänglich rassisch-religiösen Dominanz des
anglo-amerikanischen Bevölkerungsteils in der Begegnung mit anderen Minoritäten
bis weit ins 19. Jahrhundert und darüber hinaus erhalten. Die Vereinigten Staaten
waren keineswegs die Begründer und Förderer multikulturellen Zusammenlebens,
wie das heute von ihnen selbst als a nation of nations gerne gesehen wird, im
Gegenteil. Dazu spricht die leidvolle Geschichte verschiedener Minoritäten eine zu
deutliche Sprache.
Was den Willen zur geographischen Expansion angeht, so erwies sich der Glaube an
die eigene rassische und kulturelle Überlegenheit - als Reaktion auf das dem
Herkunftsland gegenüber stark verspürte Unterlegenheitsgefühl - und die damit
verbundene überhöhte Selbsteinätzung (auch hinsichtlich der südlichen Nachbarn)
zusammen mit dem messianischen Gedanken eines göttlichen Auftrags zur
Erweiterung der Herrschaft immer wieder als unwiderstehlicher Motor. Während
sich die frühen Puritaner noch als nachahmenswertes Modell religiöser Haltung
verstanden, projizierte sich dies rasch auf die politisch-territoriale Inbesitznahme
fremden Staatsgebiets. Selbst der durch und durch sich demokratisch verstehende
Whitman schob das Gebiet der Staaten bald bis an den Atlantik und weit in den
Norden vor, und er träumte bereits von einer Grenze im Süden, die weite Teile
Mexikos, Zentralamerika, Cuba und die Caribbean umfaßte.
So wie mythisch-visionär gesehen die Wissenschaften als translatio studii zusammen
mit der staatlichen Macht und der translatio libertatis historisch von Osten nach
Westen wanderten, verstanden sich auch die frühen Kolonisten - hier zeigt sich
einmal mehr der defensiv-kompensatorische Reflex - gerne als Erben der hebräischgraeco-römischen Kultur und als die von der Vorsehung erwählten Nachfolger
vergangener Weltreiche, das Britische mit eingeschlossen. Die Monroedoktrin von
1823 bewies das gestiegene Selbstvertrauen der jungen Nation, ein Selbstvertrauen,
das seither - und zurecht - mit den beiden Weltkriegen noch eine unerhörte
Steigerung erfuhr und die USA nach dem Kollaps der Sowjetunion zur
unbestrittenen militärischen und wirtschaftlichen Weltmacht Nummer Eins werden
ließ. Die entscheidende Zielrichtung hin zum globalen Empire wurde allerdings
schon im (vorerwähnten) Jahr 1898 festgelegt, das als Scharnierjahr gelten darf, wie
uns Thomas Schoonover in Uncle Sam‘s War of 1898 and the Origins of
Globalization magistral vorführt. In diesen Zusammenhang gehört auch die
konservativ getönte Präsidentschaft Theodore Roosevelts, der mit der
Hochstilisierung männlicher Tugenden die schon länger praktizierte big-stick policy
in Amerikas Außenpolitik salonfähig machte.
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Die Privatisierung der Gewalt, wie kürzlich Spillmann in der NZZ beklagt hat, ist
somit nichts Neues, sondern findet seine Wurzeln in der Idee eines manifest destiny,
eines providentiellen Auftrags zum amerikanischen Empire, dessen Grenzen sich mit
der Erstarkung der jungen Nation laufend verschoben, wobei von Anfang an das
internationale Recht von den Vereinigten Staaten unbeachtet blieb. Kein Wunder,
daß die Idee des Völkerbundes (von Präsident Woodrow Wilson persönlich portiert)
in Amerika selbst skeptisch aufgenommen wurde und die Nation dem Völkerbund
nie beitrat; in ähnlicher Weise werden zur Zeit auch die Beschlüsse der UNO und
des internationalen Gerichtshofs von den USA ganz einfach ignoriert. Man erinnert
sich an die kürzliche Warnung Phyllis Schlaflys (einer führenden Figur der
religiösen Rechten), die 1998 Clintons diesbezügliche Absichten scharf kritisierte:
international treaties are a direct threat to us. Hier zeigt sich das Doppelgesicht der
Vereinigten Staaten besonders eklatant. Dem Prinzip der Demokratie und der
Freiheit soll weltweit zum Durchbruch verholfen und damit eine gerechte
Weltordnung eingerichtet werden, dies jedoch nur unter dem imperialen Diktat
Amerikas, dem sich die andern Staaten zu unterwerfen haben - ein klassisches
Beispiel von Orwellschem double-speak.
Anatol Lieven führt diese Haltung wesentlich auf die anti-modernistische und
populistisch-rassistische Ideologie der Jacksonian Democracy zurück, die einen
ausländerfeindlichen und brachial nationalistischen Kurs steuerte. In einem
aufschlußreichen Vortrag an der Universität Göttingen hat kürzlich der frühere
Sicherheitsberater Clintons, Charles Kupchan, in aller Offenheit erklärt, was das
Ziel der Vereinigten Staaten sei: Power, möglichst unbegrenzte Macht. Dahinter
erscheint leicht erkennbar der alte koloniale Traum eines amerikanischen (poströmischen) Imperiums, wobei noch offen bleibt, ob dies heute ausschließlich zu
egoistischen nationalen Zwecken angestrebt wird oder aber zur Errichtung einer
genuinen Pax Americana, einer friedlichen Weltordnung, führen soll. Bisher ist
letzteres eher ein rhetorisch geschickt inszeniertes Alibi geblieben.
An dieser Stelle ist es nützlich, die Meinung der Kunstschaffenden in USA selbst zu
befragen. Die vehementen Kritiken an Nixon und Bush durch Gore Vidal u.a. sind
bekannt. Weniger bekannt sind die Reaktionen früherer Schriftsteller auf die Idee
einer imperial republic, wie sie neuerdings von Jeffrey W. Westover vorgestellt
wurden. Am Beispiel von Robinson Jeffers‘ Shine, Perishing Republic und von
Robert Frosts Our Doom to Bloom zeigt sich die gespaltene Identität der Nation in
aller Schärfe. Der Angriff Jeffers wird von Frost ironisch pariert. Die innere
Spannung zwischen Republik und Empire, so erweist es sich, muß immer aufs neue
ausgetragen werden, wobei in Frosts Text unklar bleibt, ob dies zu einer abrupten
Katastrophe oder einer Verwandlung der Nation zu neuem Wachstum und zu neuer
Blüte führen wird. Es wäre interessant, die entsprechenden Reaktionen auch in der
Popkultur genauer zu untersuchen. Der demokratische Gedanke und die Ambition
auf ein Imperium in Nachfolge des römischen und britischen Weltreichs verharren
jedenfalls in einem bis heute nicht gelösten Spannungsverhältnis, das immer wieder
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zu neuen kulturellen und politischen Lösungsversuchen herausfordert.
Der Zusammenhang zwischen Minderwertigkeitsgefühl, einem kompensatorischen
rassisch-kulturellen Überheblichkeitsdenken, einem ganz und gar unpuritanischen
Mangel an Selbsterforschung, oberflächlischer moralischer Selbstgerechtigkeit und
militärischem Hegemoniestreben ist historisch wie psychologisch gesehen komplex.
Etwas von dieser Komplexität ist in Quentin Andersons Konzept des imperial self
eingefangen. Emerson, Whitman, James (hinzuzufügen wären u.a. Thomas Wolfe
und Saul Bellow), sie alle wollen auf je eigene Weise die Totalität der Welt
erfahren, um sie für sich imaginativ oder realiter nach Hause zu tragen; das
Gettymuseum mag dafür als visuelle Ikone dienen. Bezieht man noch Kritiker wie
Leslie A. Fiedler oder Richard Slotkin (Regeneration through Violence) mit ein,
wird deutlich, wie schwer es dem US-Amerikaner fällt, das Andere - kulturell und
gendermäßig - ohne Violenz zu akzeptieren und zu integrieren. Fremdes wird meist
gewaltsam vereinnahmt, das eigene politische System - als unbesehen bestes - andern
aufoktruiert, ohne die kulturellen Verschiedenheiten zu berücksichtigen. Während
an den Universitäten Multikulturalität zur sozialen Revolution emporstilisiert wurde,
blieb Interkulturalität ein Stiefkind nicht nur der Akademia, sondern auch der
Politik.
Der imperiale Anspruch auf eine Vorreiterrolle macht es den Vereinigten Staaten trotz Emerson, Thoreau und vielen anderen - praktisch unmöglich, den notwendigen
Perspektivenwechsel zu vollziehen und andere Nationen und Kulturen in ihrer
Eigenart zu erkennen und zu verstehen, geschweige denn zu schätzen und sich von
ihnen bereichern zu lassen. An dieser US-zentrischen Haltung haben auch die
hochstehenden Thinktanks und die (oft als un-American verurteilten) Künstler und
Akademiker nichts zu ändern vermocht. Deshalb erscheint den Amerikanern jede
fremde Kultur zunächst einmal als (potentieller) Feind. Auf diese Weise ist jedoch
keine zukunftssichernde Politik zu erreichen.
Die zweite ungelöste Spannung ist die zwischen antik inspiriertem und europäisch
vermitteltem Aufklärungsdenken sowie dem protestantisch-kalvinistischen Beharren
auf dem biblischen Wort als Kerygma, als bindende Verkündigung. Nirgendwo auf
der Welt ist diese Spannung zwischen Athen und Jerusalem so deutlich wie in den
USA. Der religiöse Aspekt, erstmals von Tocqueville als konstitutives Element der
amerikanischen Demokratie herausgestellt, scheint im Augenblick zu dominieren,
jedenfalls wird er von Bush Jr. in mitunter fast obsessiver Weise für die
persönlichen und nationalen politischen Interessen instrumentalisiert. Ob und wann
der Aufklärungsgedanke wieder zu seiner historisch rechtmäßigen Rolle
zurückfinden wird, läßt sich heute noch nicht sagen, doch ist der Streit zwischen den
beiden ein ebenso fortdauernder wie jener zwischen Demokratie und imperialem
Ehrgeiz.
Zu berücksichtigen ist hier die Tatsache, daß aufklärerisches Denken auf dem neuen
Kontinent zum erstenmal in der politischen Praxis konkret realisiert wurde, wie dies
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Ralf Dahrendorf in seiner Schrift Die angewandte Aufklärung dargestellt hat. Was
Dahrendorf nicht untersucht, ist die Frage, in welcher Form die USA als Nation
eine Phase der Aufklärung erlebt haben. Die Frage scheint überflüssig, ja absurd
angesichts der Tatsache, daß die Ideologie der Revolution durchtränkt war vom
politischen und literarischen Gedankenreichtum der römischen Republik als Modell.
Aufklärerische Elemente waren bekanntlich grundlegend für die Declaration of
Independence und sie wurden auch im politischen Kampf um die Unabhängigkeit
vielfach heran gezogen, obgleich mit stark instrumentellem Charakter, wie Frank
Kelleter in Amerikanische Aufklärung für die Periode der Revolution belegt.
Festzustellen bleibt, daß im sogenannten Zeitalter des Federalism die politische
Diskussion ein aufgeklärtes Niveau besaß, das in der Welt wohl einzigartig ist; auch
alle höheren Bildungsinstitutionen, allen voran die Universität Princeton (unter
ihrem schottischen Präsidenten Witherspoon), waren von aufgeklärtem Gedankengut
motiviert.
Eine Aufklärung im europäischen Sinn hat in den USA jedoch nur begrenzt
stattgefunden, dafür war - speziell im orthodox-illiberalen Süden - das literalistischreligiöse Element (und der hieraus entspringende allgemeine Atheismusverdacht) zu
stark, wenngleich Reformbewegungen aufklärerisches Gedankengut wiederholt zu
integrieren versuchten. Dem steht auch die Tatsache vieler aufgeklärter
Gründerfiguren wie Madison, Jefferson, Hamilton, Rush, Washington und Franklin
nicht entgegen, zumal diese ihrerseits von einer durchaus religiösen Grundstimmung
und zahlreichen betont religiösen Familien der Gründergeneration konterkariert
waren und aufklärerische Ideen bald in den providentiellen historischen Auftrag des
Manifest Destiny-Gedankens eingingen. Insgesamt wurde die Revolution, wie
Bernard Baylin in Faces of the Revolution gezeigt hat, stark durch religiöse
Impulse genährt. Aus diesem Grund wäre ein Dialog zwischen dem aufklärerischen
und religiösen Gedankengut als den zwei Grunddominanten der historischen
Entwicklung erst noch zu führen. Hierzu hat John C. Shields in The American
Aeneas: Classical Origins of the American Self - als Gegenstück zu Sacvan
Bercovitchs The Puritan Origins of the American Self gedacht - eine viel
versprechende Möglichkeit eröffnet.
Wenn die USA - wie der Historiker Pierre Wenger in seiner Schrift "Ist Amerika
im Begriff, sein größtes Werk selber zu zerstören?" (Ms. Juli 2002) erläutert hat gegenwärtig ihre eigenen demokratisch fundierten nationalen und internationalen
politischen Errungenschaften wie die Haager Landkriegsordnung von 1907, Rechte
der Kriegsgefangenen (besonders schockierend deshalb die Behandlung der
Gefangenen in Guantanamo), Schutz der Zivilbevölkerung; Völkerbund von 1919;
Die Vereinigten Nationen von 1945 und zuletzt auch noch das Den Haager
Kriegsverbrechertribunal, wenn also die USA all dies dem schieren nationalen
Machtstreben und dem Ziel eines hegemonialen amerikanischen Imperiums opfern,
werden sie damit ihren historisch verbürgten demokratischen Grundprinzipien
untreu und laufen in ihrer Selbstüberschätzung Gefahr, das geschichtliche Schicksal
Assyriens zu teilen. Keine Nation der Welt ist nämlich stark genug, die übrigen
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Mächte dauerhaft zu kontrollieren, ohne sich in einem endlosen Überwachungs- und
Vielfrontenkrieg zu erschöpfen, wie der paranoisch gehetzte Protagonist in Kafkas
Erzählung Der Bau exemplarisch zeigt. Arnold Toynbee kommt zm Schluß: Great
empires do not die by murder, but suicide - sie fallen nicht äußeren Feinden zum
Opfer, sondern zerstören (zuerst) sich selbst. Die wohl größte Gefahr zur Zeit liegt
in der Neuauflage des historisch alten Dilemmas der USA zwischen den Polen
Sicherheit und Freiheit bzw. Demokratie und Freiheit. Mit der exklusiven Betonung
der Sicherheit gehen nicht nur die demokratischen Grundfreiheiten verloren,
sondern auch die Dimension des Ethischen. Dieser Problematik soll ein eigener
Aufsatz gewidmet werden.
Eine Großmacht wie die Vereinigten Staaten aus europäischer Sicht kritisieren zu
wollen, also aus der Außenperspektive, bleibt natürlich immer fragwürdig. Das
Handeln und Denken der USA jedoch an ihrem eigenen Anspruch und ihren eigenen
historischen Idealen zu messen, mit dem sie in der Geschichte angetreten sind, und
diese dann als zu leicht zu befinden, das ist eine sachlich begründete - immanente Kritik, der sich die Vereinigten Staaten zuletzt selbst stellen müssen, wenn sie ihre
Glaubwürdigkeit als torchbearer of democracy and liberty für eine bessere Zukunft
und als Verteidiger der Menschenrechte für eine gerechtere Gesellschaft nicht aufs
Spiel setzen wollen. Wollte man noch die Abschiedsrede des ersten Präsidenten
George Washington - des Vaters der Nation - mit der gegenwärtigen Politik der
USA in Bezug setzen, fällt das Urteil über das heutige Verhalten der USA in fast
allen von Washington und später auch von Jefferson angesprochenen Belangen freundschaftlicher Verkehr mit allen, Handel statt kriegerische Expansion,
Unabhängigkeit und keine einseitigen Bindungen an andere Nationen - höchst
beunruhigend aus. War es vormals ein Anspruch der Neuen Welt, der zynischen
europäischen Politik eine superior morality entgegen zu setzen, so läßt sich jetzt
nicht ohne Ironie, aber doch mit einer gewissen Enttäuschung, ja Trauer
beobachten, wie die USA den anfangs von ihnen heftig bekämpften „korrupten
Imperialismus“ der Europäer kopieren und weiterführen - Stoff für eine griechische
Tragödie.
Natürlich muß der Handelnde in einem bestimmten Sinn gewissenlos sein (Goethe),
denn ein zu hohes Maß an Selbstreflexion verhindert gerade die Fähigkeit zur Tat
(Hamlets Tragik). Aus der Sicht der USA ist dies genau die Schwäche Europas, wie
Condoleezza Rice kürzlich nach den Wahlen zur europäischen Verfassung kritisiert
hat, während Jeremy Rifkin gerade umgekehrt argumentiert und den „sozialen
europäischen Traum“ im Gegensatz zum „kapitalistischen amerikanischen Traum“
den USA als menschlich und soziopolitisch überlegenes Vorbild vor Augen hält.
Hier zeigt sich das letzte und wohl irritierendste Vexierbild: Beide - Europa und
USA - vermissen bzw. schätzen an einander stets das, was jeder bei sich selbst als
den höchsten Wert erachtet und am andern vermißt, nämlich politisches Handeln
einerseits (USA) und Reflexion anderseits (Europa).
Im Moment scheint es jedenfalls, als ob die USA ihre Ideologie des Friedens
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(Spillmann) ad acta gelegt hätten. Statt dessen verfolgen sie eine Politik der „kleinen
Kriege“, weil große als zu riskant empfunden werden, wie aus einem internen
Dokument hervorgeht, an dessen Niederschrift politische Koryphäen wie Huntington
und Kissinger mitgewirkt haben. Damit rückt T.S. Eliots Endzeitvision bedenklich
näher: This is the way the world ends / This is the way the world ends / Not with a
bang but a whimper.
Zitierte/Benutzte Literatur
Ralf Dahrendorf, Die angewandte Aufklärung (1968).
Jackson T. Lears, No Place of Grace: Antimodernism and the Transformation of
American Culture (1981).
Kurt Spillmann, Amerikas Ideologie des Friedens (1984).
Seymour Martin Lipset, American Exceptionalism. A Double-Edged Sword (1986).
David S. Shields, Oracles of Empire (1990).
Jeffrey H. Richards, Theater Enough. American Culture and the Metaphor of the
World Stage (1991).
John C. Shields, The American Aeneas. Classical Origins of the American Self
(2001).
Frank Kelleter, Amerikanische Aufklärung (2002).
Roland Hagenbüchle, “US-Amerika – eine religiöse oder säkulare Nation?”
Schweizer Monatshefte 3 (März 2003).
Thomas D. Schoonover, Uncle Sam‘s War of 1898 and the Origins of Globalization
(2003).
Jacques Derrida, Schurken (2003), Originaltitel: Voyous. Deux essais sur la raison.
Jacques Derrida, Schurken (Suhrkamp, 2003). Original title: Voyous. Deux essais sur
la raison (Paris: Galilée, 2003).
Jeffrey W. Westover, The Colonial Moment (2004).
Anatol Lieven, America Right or Wrong. An Anatomy of American Nationalism
(2004).
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